Joseph Roth
Das Spinnennetz
Joseph Roth

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IX

Manchmal kam der Bruder des toten Klitsche. Er diente bei der Reichswehr, er nahm die strammste Haltung an, wenn er sprach, er sagte in einer Minute fünfzehnmal Herr Leutnant und besaß dennoch eine unbestimmte Vertraulichkeit mit allen Dingen dieses Zimmers. Sein Auge grüßte Tapeten, Decke, Diele wie alte Bekannte. Er war auf diesem Sofa gelegen, auf diesem Stuhl gesessen, und er sah dem toten Klitsche ähnlich. So ähnlich, daß Theodor das Angesicht des Toten nicht vergessen konnte und nicht, weshalb er eigentlich hier saß, arbeitete, arbeitete und wuchs.

Wäre dieser Bruder Klitsches nicht gewesen, Theodor hätte innegehalten – er wußte es nicht bestimmt, wahrscheinlich hätte er gerastet. Nach einer Pause sehnte er sich manchmal. Dann aber stieg das Angesicht Klitsches auf und Günthers, und Theodor arbeitete. Er hat beide getötet, nicht umsonst hat er sie getötet. Den einen anzuzeigen war seine Pflicht gewesen, den anderen, der vielleicht schon tot war, ehe er den Schlag erhalten hatte, zu töten, das war eine Aufgabe, die Früchte tragen sollte.

Aber es kamen Abende, an denen Theodor sich mit der Frage beschäftigen mußte, ob die Toten endgültig tot seien. Dann ging er in die Kaiser-Wilhelm-Diele, in die kleine Bar, wo man ihn kannte, guten Tag, Herr Leutnant, sagte und seinen Besuch schätzte. Ein paar Kameraden seiner Gruppe umschmeichelten ihn, machten ihm Platz in der Mitte, sahen ihm auf den Mund und – erkannten sie an den ersten Sätzen, daß es eine lustige Geschichte würde, dann lachten sie und waren erschüttert von Theodors Humor. Theodor kannte viele Geschichten, er war Held und Mittelpunkt aller, er hatte nicht umsonst jahrelang zugehört und gelacht; jetzt wußte er, daß der Erzählende Mittelpunkt sein mußte. Manchmal auch vergaß er und glaubte, manches selbst erlebt zu haben. Denn er trank, und auch der Beifall berauschte ihn, und er saß rittlings auf hohem Barstuhl, und ihm war, als galoppierte er.

Er hörte das Gelächter der Freunde aus der Ferne, die Musik, die im großen Saale spielte und unhörbar gewesen war, rückte näher, sie spielte das Lied vom schwarzbraunen Mädchen, und es war Theodor zum Weinen traurig, und er wunderte sich nur, daß die Bardame lächelte.

Er trank noch einen Gemischten und sank vom Stuhl und erwachte morgens.

Oh, wie gern hätte er sich einer anderen Art der Entspannung hingegeben! Es war schön hinauszufahren, der Sommer lag breit und mächtig über der Welt, und in den Wäldern war... In den Wäldern gefiel es Theodor nicht, die Toten lagen in den Wäldern, sie wurden von Würmern gefressen, und grünes Gras sproßte aus ihrem Gebein.

Einmal kam die Ruhe, spät, auf den Gipfeln erst war sie, weit war der Weg und Theodor müde.

Aber es trieb ihn zu den Gipfeln, er sah sie nicht, kannte sie nicht, er konnte sie sich kaum vorstellen. In ihm schrie es: aufwärts, um ihn schrie es: aufwärts, schon kannte er die Wege, schon war er ein Gruppenführer, schon lebte er mit Journalisten gut, er kannte den großen Politiker Hilper, er ging auf die Galerie des Reichstags, er hörte sich selbst schon reden, er sah sich in diesem Saal, an der Spitze seiner Leute, hörte seinen schrillen Pfiff, er schlug auf die Abgeordneten, verjagte sie, er schrie: Hoch die Diktatur! Oben, hoch oben in der Nähe des Diktators, stand Theodor.

Er entsann sich seiner alten Methode: er trat in direkten Verkehr mit Hohen und Höchsten. Jetzt kannte er sie. Über seinem »Major Seyfarth« stand der »Marinekapitän Hartmut«. Theodor ersann Pläne; er suchte das Leben, die Gewohnheiten jüdischer und sozialistischer Männer zu erkunden; manches erfuhr er, anderes erfand er. Er schrieb im »Nationalen Beobachter« über eine erfundene Verbindung eines Politikers mit französischen Spionen und schlug ein Attentat vor. Er war klug und fand Anhaltspunkte für jede Beschuldigung. Er übertrieb, korrigierte Tatsachen, sein Verdacht ruhte auf irgendeinem Ereignis. Manchmal erriet er eine geheime Verbindung. Journalisten machten ihn auf unscheinbare Vorfälle aufmerksam. Er schickte seine Spione aus. Er wußte, daß jeder dieser Spitzel übertrieb. Er vergrößerte ihre Übertreibungen. Er arbeitete Pläne zur Befreiung gefangener Organisationsmitglieder aus. Er sendete die Pläne nach München – an den Kapitän Hartmut. Er verdiente zumindest Geld. Er verfaßte Rechnungen. Unzufriedene Spitzel begütigte er durch kameradschaftlichen Händedruck. Es gab Dumme, sie ließen sich alles gefallen. Sie warteten.

Aber die Stelle S, »Major Seyfarth«, sendete Rügen und Ermahnungen, bestellte Theodor nach München. Theodor hatte Ausreden. Theodor ging vom »Major Seyfarth« zum »Kapitän Hartmut«. Er war ein alter Herr, er trug spärliches Haar über der Glatze, von hinten nach vorn gekämmtes, und er lauschte mit dankbarer, aber nie gestillter Gier einem Kompliment, einer Schmeichelei. Theodor erkannte ihn. Manchmal ließ er ein vorsichtiges Urteil über die Stelle S fallen. Einmal sagte Theodor: Wenn er nicht die Stelle S hätte, sondern den Kapitän selbst – das wäre anders. Er brauchte einen freien Geist, er, Theodor Lohse.

Er vergaß, daß Trebitsch lebte; daß Trebitsch verdienen mußte; daß auch der Rechnungen verfaßte; daß es seine Aufgabe war, Theodor zu überwachen. Und Trebitsch teilte mit, daß Theodor im Eifer dieses übertrieben, jenes falsch gesehen hatte. Oh, er besaß zuverlässige Augen und Ohren, der Jude Trebitsch.

Theodor bereitete die Befreiung eines Untersuchungsgefangenen vor. Er fuhr nach Leipzig. Einer der Aufseher war Wachtmeister in Theodors Kompanie gewesen. Ihn wollte er für die Organisation gewinnen. Er teilte nach München gute Fortschritte mit. Und erhielt den Besuch eines Mannes mit dem schriftlichen Befehl, heute noch, spätestens morgen, auf das Gut Lukscha in Pommern mit fünfzig Männern abzureisen.


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