Joseph Roth
Hiob
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil

X

Ein paar hundert Jahre früher war ein Ahne Mendel Singers wahrscheinlich aus Spanien nach Wolynien gekommen. Er hatte ein glücklicheres, ein gewöhnlicheres, jedenfalls ein weniger beachtetes Schicksal als sein Nachfahre, und wir wissen infolgedessen nicht, ob er viele Jahre oder wenige gebraucht hat, um in dem fremden Land heimisch zu werden. Von Mendel Singer aber wissen wir, daß er nach einigen Monaten in New York zu Hause war.

Ja, er war beinahe heimisch in Amerika! Er wußte bereits, daß old chap auf amerikanisch Vater hieß und old fool Mutter, oder umgekehrt. Er kannte ein paar Geschäftsleute aus der Bowery, mit denen sein Sohn verkehrte, die Essex Street, in der er wohnte, und die Houston Street, in der das Kaufhaus seines Sohnes lag, seines Sohnes Sam. Er wußte, daß Sam bereits ein American boy war, daß man good bye sagte, how do you do und please, wenn man ein feiner Mann war, daß ein Kaufmann von der Grand Street Respekt verlangen konnte und manchmal am River wohnen durfte, an jenem River, nach dem es auch Schemarjah gelüstete. Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God's own country hieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York eigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem. Das Beten dagegen nannte man Service und die Wohltätigkeit ebenso. Sams kleiner Sohn, zur Welt gekommen knapp eine Woche nach der Ankunft des Großvaters, heißt nicht anders denn MacLincoln und wird in einigen Jahren, husch, geht die Zeit in Amerika, ein College boy. My dear boy nennt den Kleinen heute die Schwiegertochter. Vega heißt sie immer noch, merkwürdigerweise. Blond ist sie und sanft, mit blauen Augen, die Mendel Singer mehr Güte als Klugheit verraten. Mag sie dumm sein! Frauen brauchen keinen Verstand, Gott helfe ihr, amen! Zwischen zwölf und zwei muß man Lunch essen und zwischen sechs und acht ein Dinner. Dieser Zeiten achtet Mendel nicht. Er ißt um drei Uhr nachmittags und um zehn Uhr abends, wie zu Hause, obwohl eigentlich zu Hause Tag ist, wenn er sich zum Nachtmahl setzt, oder auch früher Morgen, wer kann es wissen. All right heißt einverstanden, und statt ja! sagt man yes! Will man einem etwas Gutes wünschen, so wünscht man ihm nicht Glück und Gesundheit, sondern prosperity. In der nächsten Zukunft schon gedenkt Sam, eine neue Wohnung zu mieten, am River, mit einem parlour. Ein Grammophon besitzt er schon, Mirjam leiht es manchmal bei der Schwägerin aus, und er trägt es in getreuen Armen durch die Straßen wie ein krankes Kind. Das Grammophon kann viele Walzer spielen, aber auch Kol Nidre. Sam wäscht sich zweimal am Tag, den Anzug, den er manchmal am Abend trägt, nennt er Dreß. Deborah war schon zehnmal im Kino und dreimal im Theater. Sie hat ein seidenes, dunkelgraues Kleid. Sam hat es ihr geschenkt. Eine große, goldene Kette trägt sie um den Hals, sie erinnert an eines der Lustweiber, von denen manchmal die heiligen Schriften erzählen. Mirjam ist Verkäuferin in Sams Laden. Sie kommt nach Mitternacht heim und geht um sieben Uhr morgens weg. Sie sagt Guten Abend, Vater! Guten Morgen, Vater! und weiter nichts. Hier und da hört Mendel Singer aus Gesprächen, die an seinen Ohren vorüberrinnen, wie ein Fluß vorbeirinnt an den Füßen eines alten Mannes, der am Ufer steht, daß Mac mit Mirjam spazierengeht, tanzen geht, baden geht, turnen geht. Er weiß, Mendel Singer, daß Mac kein Jude ist, die Kosaken sind auch keine Juden, so weit ist es noch nicht, Gott wird helfen, man wird sehen. Deborah und Mirjam leben gut miteinander. Friede ist im Haus. Mutter und Tochter flüstern miteinander, oft, lange nach Mitternacht, Mendel tut, als ob er schliefe. Er kann es leicht. Er schläft in der Küche, Frau und Tochter schlafen im einzigen Wohnraum. Paläste bewohnt man auch in Amerika nicht. Man wohnt im ersten Stock! Ein Glücksfall. Wie leicht hätte man auch im zweiten, im dritten, im vierten wohnen können! Die Treppe ist schief und schmutzig, immer finster. Mit Streichhölzern beleuchtet man auch am Tage die Stufen. Es riecht warm, feucht und klebrig nach Katzen. Aber Mäusegift und Glassplitter, in Sauerteig zerrieben, muß man immer noch, jeden Abend, in die Ecken legen. Deborah scheuert jede Woche den Fußboden, aber so safrangelb wie zu Hause wird er niemals. Woran liegt das? Ist Deborah zu schwach? Ist sie zu faul? Ist sie zu alt? Alle Bretter quietschen, wenn Mendel durch die Stube geht. Unmöglich zu erkennen, wo Deborah jetzt das Geld verbirgt. Zehn Dollar in der Woche gibt Sam. Dennoch ist Deborah aufgebracht. Sie ist ein Weib, manchmal reitet sie der Teufel. Sie hat eine gute, sanfte Schwiegertochter, Deborah aber behauptet, Vega treibe Luxus. Wenn Mendel derlei Reden hört, sagt er: »Schweig, Deborah! Sei zufrieden mit den Kindern! Bist du noch immer nicht alt genug, um zu schweigen? Hast du mir nicht mehr vorzuwerfen, daß ich zu wenig verdiene, und quält es dich, daß du mit mir nicht streiten kannst? Schemarjah hat uns hierhergebracht, damit wir alt werden und sterben in seiner Nähe. Seine Frau ehrt uns beide, wie es sich gehört. Was willst du noch, Deborah?« Sie wußte nicht genau, was ihr fehlte. Vielleicht hatte sie gehofft, in Amerika eine ganz fremde Welt zu finden, in der es möglich gewesen wäre, das alte Leben und Menuchim sofort zu vergessen. Aber dieses Amerika war keine neue Welt. Es gab mehr Juden hier als in Kluczýsk, es war eigentlich ein größeres Kluczýsk. Hatte man den weiten Weg über das große Wasser nehmen müssen, um wieder nach Kluczýsk zu kommen, das man in der Fuhre Sameschkins hätte erreichen können? Die Fenster gingen in einen finsteren Lichthof, in dem Katzen, Ratten und Kinder sich balgten, um drei Uhr nachmittags, auch im Frühling, mußte man die Petroleumlampe anzünden, nicht einmal elektrisches Licht gab es, ein eigenes Grammophon hatte man auch noch nicht. Licht und Sonne hatte Deborah wenigstens zu Hause gehabt. Gewiß! Sie ging dann und wann mit der Schwiegertochter ins Kino, zweimal war sie schon in der Untergrundbahn gefahren, Mirjam war ein nobles Fräulein, mit Hut und Seidenstrümpfen. Brav war sie geworden. Geld verdiente sie auch. Mac gab sich mit ihr ab, besser Mac als die Kosaken. Er war der beste Freund Schemarjahs. Man verstand zwar kein Wort von seinen unaufhörlichen Reden, aber man würde sich daran gewöhnen. Er war geschickter als zehn Juden und hatte noch gewiß den Vorteil, keine Mitgift zu verlangen. Schließlich war es doch eine andere Welt. Ein amerikanischer Mac war kein russischer Mac. Mit dem Geld kam Deborah auch hier nicht aus. Das Leben verteuerte sich zusehends, vom Sparen konnte sie nicht lassen, das gewohnte Dielenbrett verdeckte bereits achtzehnundeinhalb Dollar, die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln gefroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts.

Nein, sie wußte nicht genau, was ihr fehlte, Menuchim fehlte ihr. Oft, im Schlaf, im Wachen, beim Einkaufen, im Kino, beim Aufräumen, beim Backen hörte sie ihn rufen. Mama! Mama! rief er. Das einzige Wort, das er sprechen gelernt hatte, mußte er jetzt schon vergessen haben. Fremde Kinder hörte sie Mama rufen, die Mütter meldeten sich, keine einzige Mutter ließ freiwillig von ihrem Kinde. Man hätte nicht nach Amerika fahren dürfen. Aber man konnte ja immer noch heimkehren!

»Mendel«, sagte sie manchmal, »sollen wir nicht umkehren, Menuchim sehn?«

»Und das Geld und der Weg und wovon leben? Glaubst du, daß Schemarjah so viel geben kann? Er ist ein guter Sohn, aber er ist nicht Vanderbilt. Es war vielleicht Bestimmung. Bleiben wir vorläufig! Menuchim werden wir hier wiedersehn, wenn er gesund werden sollte.«

Dennoch heftete sich der Gedanke an die Abreise in Mendel Singer fest und verließ ihn niemals. Einmal, als er seinen Sohn im Geschäft besuchte (im Kontor saß er, hinter der gläsernen Tür, und sah die Kunden kommen und gehn und segnete im stillen jeden Eintretenden), sagte er zu Schemarjah: »Von Menuchim hört man noch immer nichts. Im letzten Brief von Billes war kein Wort über ihn. Was glaubst du, wenn ich hinüberführe, ihn anzusehn?« Schemarjah, genannt Sam, war ein american boy, er sagte: »Vater, es ist unpraktisch. Wenn es möglich wäre, Menuchim hierherzubringen, hier würde er sofort gesund. Die Medizin in Amerika ist die beste in der Welt, grad hab' ich's in der Zeitung gelesen. Man heilt solche Krankheiten mit Einspritzungen, einfach mit Einspritzungen! Da man ihn aber nicht hierherbringen kann, den armen Menuchim, wozu die Geldausgabe? Ich will nicht sagen, daß es ganz unmöglich ist! Aber gerade jetzt, wo ich und Mac ein ganz großes Geschäft vorbereiten und das Geld knapp ist, wollen wir nicht davon reden! Warte noch ein paar Wochen! Im Vertrauen gesagt: Ich und Mac, wir spekulieren jetzt in Bauplätzen. Jetzt haben wir ein altes Haus in der Delancy Street abreißen lassen. Ich sage dir, Vater, das Abreißen ist fast so teuer wie das Aufbauen. Aber man soll nicht klagen! Es geht aufwärts! Wenn ich daran denke, wie wir mit Versicherungen angefangen haben! Treppauf, treppab! Und jetzt haben wir dies Geschäft, man kann schon sagen: dieses Warenhaus! Jetzt kommen die Versicherungsagenten zu mir. Ich seh' sie mir an, denke mir: Ich kenn' das Geschäft, und werfe sie hinaus, eigenhändig. Alle werfe ich hinaus!«

Mendel Singer begriff nicht ganz, weshalb Sam die Agenten hinauswarf und weshalb er sich darüber so freute. Sam fühlte es und sagte: »Willst du mit mir ein breakfast nehmen, Vater?« Er tat, als ob er vergessen hätte, daß der Vater nur zu Hause aß, er schuf sich gerne eine Gelegenheit, den Abstand zu betonen, der ihn von den Sitten seiner Heimat trennte, er schlug sich auf die Stirn, als ob er Mac wäre, und sagte: »Ach so! Ich habe vergessen! Aber eine Banane wirst du essen, Vater!« Und er ließ dem Vater eine Banane bringen.

»Apropos Mirjam«, fing er wieder an, mitten im Essen, »sie macht sich. Sie ist das schönste Girl hier im Geschäft. Wäre sie bei einem Fremden, man hätte ihr längst eine Stellung als Modell angeboten. Aber ich möchte nicht, daß meine Schwester ihre Figur für fremde Kleider hergibt. Und Mac will es auch nicht!« Er wartete, ob der Vater etwas über Mac sagen würde. Aber Mendel Singer schwieg. Er war nicht argwöhnisch. Er hatte den letzten Satz kaum gehört. Er ergab sich der innigen Bewunderung seiner Kinder, insbesondere Schemarjahs. Wie klug er war, wie schnell er dachte, wie fließend sprach er Englisch, wie konnte er auf Klingelknöpfe drücken, Laufjungen anschnauzen, er war ein Boß.

Er ging in die Abteilung für Hemdblusen und Krawatten, um seine Tochter zu sehn. »Guten Tag, Vater!« rief sie, mitten im Bedienen. Respekt erwies sie ihm, zu Hause war es anders gewesen. Sie liebte ihn wahrscheinlich nicht, aber es stand auch nicht geschrieben: Liebe Vater und Mutter! sondern: Ehre Vater und Mutter! Er nickte ihr zu und entfernte sich wieder. Er ging nach Hause. Er war getrost, er ging langsam in der Mitte der Straße, grüßte die Nachbarn, freute sich an den Kindern. Er trug immer noch seine Mütze aus schwarzem Seidenrips und den halblangen Kaftan und die hohen Stiefel. Aber die Schöße seines Rocks pochten nicht mehr mit hastigem Flügelschlag an die rohledernen Schäfte. Denn Mendel Singer hatte in Amerika, wo alles eilte, erst gelernt, langsam zu wandern.

Also wanderte er durch die Zeit dem Greisenalter entgegen, vom Morgengebet zum Abendgebet, vom Frühstück zum Nachtmahl, vom Erwachen zum Schlaf. Am Nachmittag, um die Stunde, in der zu Hause seine Schüler gekommen waren, legte er sich auf das Roßhaarsofa, schlief eine Stunde und träumte von Menuchim. Dann las er ein bißchen in der Zeitung. Dann ging er in den Laden der Familie Skowronnek, in dem Grammophonapparate, Platten, Notenhefte und Gesangstexte gehandelt, gespielt und gesungen wurden. Dort versammelten sich alle älteren Leute des Viertels. Sie sprachen über Politik und erzählten Anekdoten aus der Heimat. Manchmal, wenn es spät geworden war, gingen sie in die Wohnstube der Skowronneks und beteten sehr schnell ein Abendgebet.

Auf dem Heimweg, den Mendel ein wenig auszudehnen suchte, ergab er sich der Vorstellung, daß ihn zu Hause ein Brief erwartete. Im Brief stand klar und ausdrücklich, daß erstens: Menuchim ganz gesund und vernünftig geworden war; zweitens: daß Jonas wegen eines geringfügigen Gebrechens den Dienst verlassen hatte und nach Amerika kommen wollte. Mendel Singer wußte, daß dieser Brief noch nicht gekommen war. Aber er versuchte gleichsam, dem Brief eine günstige Gelegenheit zu geben, auf daß er Lust bekomme einzutreffen. Und mit einem leisen Herzklopfen zog er den Klingelknopf. In dem Augenblick, in dem er Deborah erblickt, ist es vorbei. Noch war der Brief nicht da. Es wird ein Abend sein wie jeder andere.

An einem Tage, an dem er einen Umweg machte, um nach Hause zu gelangen, sah er an der Ecke der Gasse einen halbwüchsigen Jungen, der ihm aus der Ferne bekannt erschien. Der Junge lehnte in einem Haustor und weinte. Mendel hörte ein dünnes Wimmern, es drang, so leise es auch war, bis zu Mendel, auf die gegenüberliegende Seite der Straße. Wohlvertraut war Mendel dieser Laut. Er blieb stehen. Er beschloß, zu dem Knaben zu treten, ihn auszufragen, ihn zu trösten. Er setzte sich in Gang. Plötzlich, das Wimmern wurde lauter, stockte Mendel in der Straßenmitte. Im Schatten des Abends und des Haustors, in dem der Junge kauerte, schien er Menuchims Umriß und Haltung zu bekommen. Ja, so, vor der Schwelle seines Hauses in Zuchnow, hatte Menuchim gekauert und gewimmert. Mendel machte noch ein paar Schritte. Da huschte der Knabe ins Haus. Mendel trat bis zur Tür. Da hatte der finstere Hausflur den Jungen schon aufgenommen. Noch langsamer als zuvor ging Mendel heim.

Nicht Deborah kam an die Tür, als er schellte, sondern sein Sohn Sam. Mendel blieb einen Augenblick an der Schwelle. Obwohl er auf nichts anderes als auf eine überraschende Freude vorbereitet war, ergriff ihn doch die Angst, es könnte ein Unglück geschehen sein, ja, dermaßen war sein Herz an Unglück gewöhnt, daß er immer noch erschrak, selbst nach einer langen Vorbereitung auf das Glück. Was kann einem Mann wie mir, dachte er, überraschend Fröhliches widerfahren? Alles Plötzliche ist böse, und das Gute schleicht langsam.

Die Stimme Schemarjahs aber beruhigte ihn bald. »Komm nur!« sagte Sam. Er zog den Vater an der Hand ins Zimmer. Deborah hatte zwei Lampen angezündet. Seine Schwiegertochter Vega, Mirjam und Mac saßen um den Tisch. Das ganze Haus kam Mendel verwandelt vor. Die zwei Lampen – sie waren von der gleichen Art – sahen aus wie Zwillinge, und sie beleuchteten weniger das Zimmer als sich selbst gegenseitig. Es war, als ob sie sich zulachten, eine Lampe der andern, und das erheiterte Mendel besonders. »Setz dich, Vater!« sagte Sam. Er war nicht neugierig, Mendel, er fürchtete schon, es werde jetzt eine von den amerikanischen Geschichten kommen, die alle Welt veranlaßten, fröhlich zu sein, und an denen er keine Freude finden konnte. Was wird schon geschehen sein? dachte er. Sie werden mir ein Grammophon geschenkt haben. Oder sie haben beschlossen, Hochzeitstag zu feiern. Er setzte sich sehr umständlich. Alle schwiegen. Dann sagte Sam – und es war, als entzündete er die dritte Lampe im Zimmer: »Vater, wir haben fünfzehntausend Dollar auf einen Schlag verdient.«

Mendel erhob sich und reichte allen Anwesenden die Hand. Zuletzt gelangte er zu Mac. Ihm sagte Mendel: »Ich danke Ihnen.« Sam übersetzte sofort die drei Worte ins Englische. Mac erhob sich nun ebenfalls und umarmte Mendel. Dann begann er zu sprechen. Er hörte nicht mehr auf. An diesem Abend sprach außer Mac kein anderer mehr. Deborah rechnete die Summe in Rubel um und wurde nicht fertig. Vega dachte an neue Möbel in der neuen Wohnung, besonders an ein Klavier. Ihr Sohn sollte Klavierstunden nehmen. Mendel dachte an einen Abstecher nach Hause. Mirjam hörte nur Mac reden und bemühte sich, möglichst alles zu verstehen. Da sie seine Sprache nicht ganz verstand, meinte sie, Mac spreche zu klug, um verstanden zu werden. Sam überlegte, ob er das ganze Geld in sein Kaufhaus stecken sollte. Nur Mac dachte wenig, machte sich keine Sorgen, schmiedete keine Pläne. Er sprach, was ihm einfiel.

Am nächsten Tag fuhren sie nach Atlantic City. »Eine schöne Natur!« sagte Deborah. Mendel sah nur das Wasser. Und er erinnerte sich an jene wilde Nacht daheim, in der er mit Sameschkin im Straßengraben gelegen hatte. Und er hörte das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche. »Bei uns zu Hause«, sagte er plötzlich, »ist die Erde so weit wie in Amerika das Wasser.« Er hatte es gar nicht sagen wollen. »Hörst du, was der Vater sagt?« meinte Deborah. »Er wird alt!« Ja, ja, ich werde alt, dachte Mendel.

Als sie nach Hause kamen, lag im Türspalt ein dicker, geschwollener Brief, den der Postbote nicht hatte durchstecken können. »Siehst du«, sagte Mendel und bückte sich, »dieser Brief ist ein guter Brief. Das Glück hat angefangen. Ein Glück bringt das andere, gelobt sei Gott. Er helfe uns weiter.«

Es war ein Brief von der Familie Billes. Und es war in der Tat ein guter Brief. Er enthielt die Nachricht, daß Menuchim plötzlich zu reden angefangen hatte.

»Der Doktor Soltysiuk hat ihn gesehn«, schrieb die Familie Billes. »Er konnte es nicht glauben. Man will Menuchim nach Petersburg schicken, die großen Doktoren wollen sich den Kopf über ihn zerbrechen. Eines Tages, es war Donnerstagnachmittag, er war allein zu Haus, und es brannte im Ofen wie jeden Donnerstag, fiel ein brennendes Scheit heraus, und jetzt ist der ganze Fußboden verbrannt, und die Wände muß man tünchen. Es kostet ein schönes Stück Geld. Menuchim lief auf die Straße, er kann auch schon ganz gut laufen, und schrie: ›Es brennt!‹ Und seit damals spricht er ein paar Worte.

Schade nur, daß es eine Woche war nach Jonas' Abreise. Denn Euer Jonas war hier, auf Urlaub, er ist wirklich schon ein großer Soldat, und er hat gar nicht gewußt, daß Ihr in Amerika seid. Auch er schreibt Euch hier, auf der anderen Seite.«

Mendel wendete das Blatt um und las:

»Lieber Vater, liebe Mutter, lieber Bruder und liebe Schwester!

Ihr seid also in Amerika, es hat mich getroffen wie ein Blitz. Ich bin zwar selbst schuldig, denn ich habe Euch niemals oder, ich erinnere mich, nur einmal geschrieben, dennoch, wie gesagt, es hat mich getroffen wie ein Blitz. Macht Euch nichts daraus. Es geht mir sehr gut. Alle sind gut zu mir, und ich bin gut zu allen. Besonders gut bin ich zu den Pferden. Ich kann reiten wie der beste Kosak und im Galopp mit den Zähnen ein Taschentuch vom Boden aufheben. Solche Sachen liebe ich und das Militär auch. Ich werde bleiben, auch wenn ich ausgedient habe. Man ist versorgt, man hat zu essen, alles befiehlt man von oben, was nötig ist, man braucht nicht selbst zu denken. Ich weiß nicht, ob ich es so schreibe, daß Ihr es ganz genau versteht. Vielleicht könnt Ihr das gar nicht verstehen. Im Stall ist es sehr warm, und ich liebe die Pferde. Sollte einmal einer von Euch herüberkommen, so könnt Ihr mich sehn. Mein Kapitän hat gesagt, wenn ich ein so guter Soldat bleibe, kann ich ein Gesuch machen an den Zaren, das heißt an Seine hochwohlgeborene Majestät, damit meinem Bruder die Desertation vergeben und vergessen wird. Das wäre meine größte Freude, Schemarjah in diesem Leben noch zu sehn, wir sind ja zusammen aufgewachsen.

Sameschkin läßt Euch grüßen, es geht ihm gut.

Man sagt hier manchmal, daß ein Krieg kommen wird. Sollte er wirklich kommen, so müßt Ihr darauf vorbereitet sein, daß ich sterbe, so wie ich darauf vorbereitet bin, denn ich bin ein Soldat. Für diesen Fall umarme ich Euch ein für allemal und für immer. Aber seid nicht traurig, vielleicht bleibe ich am Leben.

Euer Sohn Jonas«

Mendel Singer legte die Brille ab, sah, daß Deborah weinte, und ergriff nach langen Jahren zum erstenmal wieder ihre beiden Hände. Er zog ihre Hände vom verweinten Angesicht und sagte beinahe feierlich: »Nun, Deborah, der Herr hat uns geholfen. Nimm den Schal, geh hinunter, und bring eine Flasche Met.«

Sie saßen am Tisch und tranken den Met aus Teegläsern, sahen sich an und dachten das gleiche. »Der Rabbi hat recht«, sagte Deborah. Deutlich diktierte ihr die Erinnerung die Worte, die lange in ihr geschlafen hatten: »Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.«

»Das hast du mir nie gesagt«, meinte Mendel.

»Ich hatte es vergessen.«

»Mit Jonas hätte man auch nach Kluczýsk fahren müssen. Die Pferde liebt er mehr als uns.«

»Er ist noch jung«, tröstete Deborah. »Vielleicht ist es gut, daß er die Pferde liebt.« Und weil sie keine Gelegenheit, boshaft zu sein, vorübergehn ließ, sagte sie noch: »Von dir hat er die Liebe zu den Pferden nicht.«

»Nein«, sagte Mendel und lächelte friedfertig.

Er begann, an eine Heimkehr zu denken. Jetzt konnte man vielleicht bald Menuchim nach Amerika bringen. Er zündete eine Kerze an, löschte die Lampe aus und sagte: »Geh schlafen, Deborah! Wenn Mirjam nach Hause kommt, werde ich ihr den Brief zeigen. Ich bleibe heute wach.«

Er holte aus dem Koffer sein altes Gebetbuch, heimisch war es in seiner Hand, er schlug mit einem Griff die Psalmen auf und sang einen nach dem andern. Es sang aus ihm. Er hatte die Gnade erfahren und die Freude.

Auch über ihm wölbte sich Gottes breite, weite, gütige Hand. Von ihr beschirmt und ihr zu Ehren sang er einen Psalm nach dem andern. Die Kerze flackerte in dem leisen, aber eifrigen Wind, den Mendels schaukelnder Oberkörper entfachte. Mit den Füßen schlug er den Takt zu den Versen der Psalmen. Sein Herz jubelte, und sein Körper mußte tanzen.


 << zurück weiter >>