Joseph Roth
Hiob
Joseph Roth

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VIII

Zwei Wochen später rollte in einer großen Staubwolke ein kleiner, zweirädriger Wagen vor das Haus Mendel Singers und brachte einen Gast: Es war Kapturak.

Er berichtete, daß die Papiere bereit waren. Sollte eine Antwort in vier Wochen von Schemarjah, genannt Sam, aus Amerika kommen, so würde die Abreise der Familie Singer gesichert sein. Nur dieses hatte Kapturak sagen wollen; und daß ein Vorschuß von zwanzig Rubeln ihm angenehmer wäre, als wenn er das Geld später von der Summe Schemarjahs abziehen müßte.

Deborah ging in die Rumpelkammer aus faulen Holzplanken, die in dem kleinen Hof stand, zog die Bluse über den Kopf, holte ein verknotetes Taschentuch aus dem Busen und zählte sich acht harte Rubel in die Hand. Dann stülpte sie die Bluse wieder über, ging ins Haus und sagte zu Kapturak: »Das ist alles, was ich bei den Nachbarn auftreiben konnte. Sie müssen sich damit zufriedengeben.«

»Einer alten Kundschaft sieht man was nach!« sagte Kapturak, schwang sich auf sein federleichtes, gelbes Wägelchen und verschwand alsbald in einer Staubwolke.

»Kapturak war bei Mendel Singer!« riefen die Leute im Städtchen. »Mendel fährt nach Amerika.«

In der Tat begann bereits die Reise Mendel Singers nach Amerika. Alle Leute gaben ihm Ratschläge gegen die Seekrankheit. Ein paar Käufer erschienen, Mendels Häuschen zu besichtigen. Man war bereit, tausend Rubel dafür zu zahlen, eine Summe, für die Deborah fünf Jahre ihres Lebens gegeben hätte.

Mendel Singer aber sagte: »Weißt du, Deborah, daß Menuchim zurückbleiben muß? Bei wem wird er bleiben? Billes verheiratet im nächsten Monat seine Tochter an den Musikanten Fogl. Bis sie ein Kind bekommen, können die jungen Leute Menuchim behalten. Dafür geben wir ihnen die Wohnung, und wir nehmen kein Geld.«

»Ist es schon für dich eine ausgemachte Sache, daß Menuchim zurückbleibt? Es sind noch ein paar Wochen mindestens bis zu unserer Abreise, bis dahin tut Gott sicher ein Wunder.«

»Wenn Gott ein Wunder tun will«, erwiderte Mendel, »wird er es dich nicht vorher wissen lassen. Man muß hoffen. Fahren wir nicht nach Amerika, so geschieht ein Unglück mit Mirjam. Fahren wir nach Amerika, so lassen wir hier Menuchim zurück. Sollen wir Mirjam allein nach Amerika schicken? Wer weiß, was sie anstellt, allein unterwegs und allein in Amerika. Menuchim ist krank, daß ihm nur ein Wunder helfen kann. Hilft ihm aber ein Wunder, so kann er uns folgen. Denn Amerika ist zwar sehr weit; aber es liegt dennoch nicht außerhalb dieser Welt.«

Deborah blieb still. Sie hörte die Worte des Rabbi von Kluczýsk: »Verlaß ihn nicht, bleibe bei ihm, als wenn er ein gesundes Kind wäre!« Sie blieb nicht bei ihm. Lange Jahre, Tag und Nacht, Stunde um Stunde hatte sie auf das verheißene Wunder gewartet. Die Toten im Jenseits halfen nicht, der Rabbi half nicht, Gott wollte nicht helfen. Ein Meer von Tränen hatte sie geweint. Nacht war in ihrem Herzen, Kummer in jeder Freude gewesen seit Menuchims Geburt. Alle Feste waren Qualen gewesen und alle Feiertage Trauertage. Es gab keinen Frühling mehr und keinen Sommer. Winter hießen alle Jahreszeiten. Die Sonne ging auf, aber sie wärmte nicht. Die Hoffnung allein wollte nicht sterben. »Der bleibt ein Krüppel«, sagten alle Nachbarn. Denn ihnen war kein Unglück zugestoßen, und wer kein Unglück hat, glaubt auch nicht an Wunder.

Auch wer Unglück hat, glaubt nicht an Wunder. Wunder geschahen vor ganz alten Zeiten, als die Juden noch in Palästina lebten. Seitdem sind keine mehr gewesen. Dennoch: Hatte man nicht mit Recht merkwürdige Taten des Rabbi von Kluczýsk erzählt? Hatte er nicht schon Blinde sehend gemacht und Gelähmte erlöst? Wie war es mit Nathan Piczeniks Tochter? Verrückt war sie gewesen. Man brachte sie nach Kluczýsk. Der Rabbi sah sie an. Er sagte seinen Spruch. Dann spuckte er dreimal aus. Und Piczeniks Tochter ging frei, leicht und vernünftig nach Haus.

Andere Menschen haben Glück, dachte Deborah. Für Wunder muß man auch Glück haben. Mendel Singers Kinder haben aber kein Glück! Sie sind eines Lehrers Kinder!

»Wenn du ein vernünftiger Mensch wärest«, sagte sie zu Mendel, »so würdest du morgen nach Kluczýsk fahren und den Rabbi um Rat fragen.«

»Ich?« fragte Mendel. »Was soll ich bei deinem Rabbi? Bist einmal dort gewesen, fahr noch einmal hin! Glaubst an ihn, dir wird er einen Rat geben. Du weißt, daß ich nichts davon halte. Kein Jude braucht einen Vermittler zum Herrn. Er erhört unsere Gebete, wenn wir nichts Unrechtes tun. Wenn wir aber Unrechtes tun, kann er uns strafen!«

»Wofür straft er uns jetzt? Haben wir Unrecht getan? Warum ist er grausam?«

»Du lästerst ihn, Deborah, laß mich in Ruh', ich kann nicht länger mit dir reden.« Und Mendel vertiefte sich in ein frommes Buch.

Deborah griff nach ihrem Schal und ging hinaus. Draußen stand Mirjam. Sie stand da, gerötet von der untergehenden Sonne, in einem weißen Kleid, das jetzt orangen schimmerte, mit ihren glatten, glänzenden schwarzen Haaren und sah gradaus in die untergehende Sonne mit ihren großen, schwarzen Augen, die sie weit offenhielt, obwohl sie die Sonne ja blenden mußte. Sie ist schön, dachte Deborah, so schön bin ich auch einmal gewesen, so schön wie meine Tochter – was ist aus mir geworden? Mendel Singers Frau bin ich geworden. Mirjam geht mit einem Kosaken, sie ist schön, vielleicht hat sie recht.

Mirjam schien ihre Mutter nicht zu sehn. Sie beobachtete mit leidenschaftlicher Genauigkeit die glühende Sonne, die jetzt hinter einem schweren, violetten Wall von Wolken versinken wollte. Seit einigen Tagen stand diese dunkle Masse jeden Abend im Westen, kündigte Sturm und Regen an und war am nächsten Tag wieder verschwunden. Mirjam hatte beobachtet, daß in dem Augenblick, in dem die Sonne untergetaucht war, drüben in der Kavalleriekaserne die Soldaten zu singen begannen, eine ganze Sotnia begann zu singen, immer dasselbe Lied: »Polubil ja tibia za twoju krasotu.« Der Dienst war zu Ende, die Kosaken begrüßten den Abend. Mirjam wiederholte summend den Text des Liedes, von dem sie nur die ersten zwei Verse kannte: »Ich habe dich liebgewonnen, deiner Schönheit wegen.« Ihr galt das Lied einer ganzen Sotnia! Hundert Männer sangen ihr zu. Eine halbe Stunde später traf sie sich mit einem von ihnen oder auch mit zweien. Manchmal kamen drei.

Sie erblickte die Mutter, blieb ruhig stehen, wußte, daß Deborah herüberkommen würde. Seit Wochen wagte die Mutter nicht mehr, Mirjam zu rufen. Es war, als ginge von Mirjam selbst ein Teil des Schreckens aus, der die Kosaken umgab, als stünde die Tochter schon unter dem Schutz der fremden und wilden Kaserne.

Nein, Deborah rief Mirjam nicht mehr. Deborah kam zu Mirjam. Deborah, in einem alten Schal, stand alt, häßlich, ängstlich vor der goldüberglänzten Mirjam, hielt ein am Rande des hölzernen Bürgersteigs, als befolgte sie ein altes Gesetz, das den häßlichen Müttern befahl, einen halben Werst tiefer zu stehen als die schönen Töchter.

»Der Vater ist bös, Mirjam!« sagte Deborah.

»Laß ihn böse sein«, erwiderte Mirjam, »deinen Mendel Singer.«

Zum erstenmal hörte Deborah den Namen des Vaters aus dem Munde eines ihrer Kinder. Einen Augenblick schien es ihr, daß hier eine Fremde sprach, nicht Mendels Kind. Eine Fremde – weshalb sollte sie auch »Vater« sagen? Deborah wollte umkehren, sie hatte sich geirrt, sie hatte zu einem fremden Menschen gesprochen. Sie machte eine kurze Wendung. »Bleib!« befahl Mirjam – und Deborah fiel es zum erstenmal auf, mit welch harter Stimme ihre Tochter sprach. Eine kupferne Stimme, dachte Deborah. Sie klang wie eine der gehaßten und gefürchteten Kirchenglocken.

»Bleib hier, Mutter!« wiederholte Mirjam, »laß ihn allein, deinen Mann, fahr mit mir nach Amerika. Laß Mendel Singer und Menuchim, den Idioten, hier.«

»Ich habe ihn gebeten, zum Rabbi zu fahren, er will nicht. Allein fahr' ich nicht mehr nach Kluczýsk. Ich habe Angst! Einmal schon hat er mir verboten, Menuchim zu verlassen, und wenn seine Krankheit Jahre dauern sollte. Was soll ich ihm sagen, Mirjam? Soll ich ihm sagen, daß wir deinetwegen wegfahren müssen, weil du, weil du – – –«

»Weil ich mich mit Kosaken abgebe«, ergänzte Mirjam, ohne sich zu rühren. Und sie fuhr fort: »Sag ihm, was du willst, es soll mich gar nichts angehn. In Amerika werde ich noch eher tun, was ich will. Weil du einen Mendel Singer geheiratet hast, muß ich nicht auch einen heiraten. Hast du denn einen bessern Mann für mich, was? Hast du eine Mitgift für deine Tochter?«

Mirjam erhob ihre Stimme nicht, auch ihre Fragen klangen nicht wie Fragen, es war, als spräche sie gleichgültige Dinge, als gäbe sie Auskunft über die Preise des Grünzeugs und der Eier. Sie hat recht, dachte Deborah. Hilf, guter Gott, sie hat recht.

Alle guten Geister rief Deborah zu Hilfe. Denn sie fühlte, daß sie ihrer Tochter recht geben mußte, sie selbst sprach aus ihrer Tochter. Deborah begann, ebenso vor sich selbst Angst zu haben, wie sie noch vor einer kurzen Weile vor Mirjam Angst gehabt hatte. Bedrohliche Dinge ereigneten sich. Der Gesang der Soldaten klang unaufhörlich herüber. Noch ragte ein kleiner Streifen der roten Sonne über das Violett.

»Ich muß fort«, sagte Mirjam, löste sich von der Mauer, an der sie gelehnt hatte, leicht wie ein weißer Schmetterling flatterte sie vom Bürgersteig, ging mit raschen, koketten Füßen die Straßenmitte entlang, hinaus in die Richtung, in der die Kaserne lag, dem rufenden Gesang der Kosaken entgegen.

Fünfzig Schritte vor der Kaserne, in der Mitte des kleinen Pfades zwischen dem großen Wald und dem Getreide Sameschkins, erwartete sie Iwan.

»Wir fahren nach Amerika«, sagte Mirjam.

»Wirst mich nicht vergessen«, mahnte Iwan. »Wirst immer um diese Stunde, beim Untergang der Sonne, an mich denken und nicht an die andern. Und vielleicht, wenn Gott hilft, komme ich dir nach, wirst mir schreiben. Pawel wird mir deine Briefe vorlesen, schreib nicht zuviel geheime Dinge von uns beiden, sonst muß ich mich schämen.« Er küßte Mirjam, stark und viele Male, seine Küsse knatterten wie Schüsse durch den Abend. Ein Teufelsmädel, dachte er, nun fährt sie hin, nach Amerika, ich muß mir eine andere suchen. So schön wie die ist keine mehr, noch vier Jahre muß ich dienen. Er war groß, bärenstark und schüchtern. Seine riesigen Hände zitterten, wenn er ein Mädchen anfassen sollte. Auch war er in der Liebe nicht heimisch, alles hatte ihm Mirjam beigebracht, auf was für Gedanken war sie nicht schon gekommen!

Sie umarmten sich, wie gestern und vorgestern, mitten im Feld, eingebettet zwischen den Früchten der Erde, umgeben und überwölbt von dem schweren Korn. Willig legten sich die Ähren hin, wenn Mirjam und Iwan niedersanken; noch ehe sie niedersanken, schienen sich die Ähren zu legen. Heute war ihre Liebe heftiger, kürzer und gleichsam erschreckt. Es war, als müßte Mirjam schon morgen nach Amerika. Der Abschied zitterte schon in ihrer Liebe. Während sie ineinanderwuchsen, waren sie sich schon fern, durch den Ozean voneinander getrennt. Wie gut, dachte Mirjam, daß nicht er fährt, daß nicht ich zurückbleibe. Sie lagen lange matt, hilflos, stumm, wie Schwerverwundete. Tausend Gedanken schwankten durch ihre Hirne. Sie merkten nicht den Regen, der endlich gekommen war. Er hatte sachte und tückisch begonnen, es dauerte lange, bis seine Tropfen schwer genug waren, das dichte, goldene Gehege der Ähren zu durchbrechen. Plötzlich waren sie den strömenden Wassern preisgegeben. Sie erwachten, begannen zu laufen. Der Regen verwirrte sie, verwandelte die Welt vollends, nahm ihnen den Sinn für die Zeit. Sie dachten, es sei schon spät, sie lauschten, ob sie die Glocken vom Turm hören würden, aber nur der Regen rauschte, immer dichter, immer dichter, alle andern Stimmen der Nacht waren unheimlich verstummt. Sie küßten sich auf die nassen Gesichter, drückten sich die Hände, Wasser war zwischen ihnen, keins von beiden konnte den Körper des andern fühlen. Hastig nahmen sie Abschied, ihre Wege trennten sich, schon war Iwan in Regen eingehüllt und unsichtbar. Nie mehr werde ich ihn sehen! dachte Mirjam, während sie nach Hause lief. Die Ernte kommt. Morgen werden die Bauern erschrecken, weil ein Regen mehrere bringt.

Sie kam nach Hause, wartete eine Weile unter dem Dachvorsprung, als wäre es möglich, in einer kurzen Minute trocken zu werden. Sie entschloß sich, ins Zimmer zu treten. Finster war es, alle schliefen schon. Sie legte sich leise, naß, wie sie war, sie ließ ihre Kleider am Körper trocknen und rührte sich nicht mehr. Draußen rauschte der Regen. Alle wußten schon, daß Mendel nach Amerika ging, ein Schüler nach dem andern blieb vom Unterricht weg. Jetzt waren es nur noch fünf Knaben, auch sie kamen nicht zu regelmäßigen Zeiten. Die Papiere hatte Kapturak noch nicht gebracht, die Schiffskarte hatte Sam noch nicht geschickt. Aber schon begann das Haus Mendel Singer zu zerfallen. Wie morsch muß es doch gewesen sein, dachte Mendel. Es ist morsch gewesen, und man hat es nicht gewußt. Wer nicht achtgeben kann, gleicht einem Tauben und ist schlimmer daran als ein Tauber – so steht es irgendwo geschrieben. Hier war mein Großvater Lehrer; hier war mein Vater Lehrer, hier war ich ein Lehrer. Jetzt fahre ich nach Amerika. Meinen Sohn Jonas haben die Kosaken genommen, Mirjam wollen sie mir nehmen. Menuchim – was wird mit Menuchim? Noch am Abend dieses Tages begab er sich zu der Familie Billes. Es war eine frohe Familie, es schien Mendel Singer, daß sie unverdient viel Glück hatte; alle Töchter waren verheiratet, bis auf die jüngste, der er eben sein Haus anbieten wollte, alle drei Söhne waren dem Militär entgangen und in die Welt gefahren, der eine nach Hamburg, der andere nach Kalifornien, der dritte nach Paris. Es war eine fröhliche Familie, Gottes Hand ruhte über ihr, sie lag wohl gebettet in Gottes breiter Hand. Der alte Billes war immer heiter. Alle seine Söhne hatte Mendel Singer unterrichtet. Der alte Billes war ein Schüler des alten Singer gewesen. Weil sie einander schon so lange kannten, glaubte Mendel, ein kleines Anrecht an dem Glück der Fremden zu haben.

Der Familie Billes – sie lebten nicht im Überfluß – gefiel der Vorschlag Mendel Singers. Gut! – das junge Paar wird das Haus übernehmen und Menuchim dazu. »Er macht gar keine Arbeit«, sagte Mendel Singer. »Es geht ihm auch von Jahr zu Jahr besser. Bald wird er mit Gottes Hilfe ganz gesund sein. Dann wird mein älterer Sohn Schemarjah herüberkommen, oder er wird jemanden schicken und Menuchim nach Amerika bringen.«

»Und was hört Ihr von Jonas?« fragte der alte Billes. Mendel hatte schon lange nichts von seinem Kosaken gehört, wie er ihn im stillen nannte – nicht ohne Verachtung, aber auch nicht ohne Stolz. Dennoch antwortete er: »Lauter Gutes! Er hat lesen und schreiben gelernt, und er ist befördert worden. Wenn er kein Jude wäre, wer weiß, vielleicht wäre er schon Offizier!« Es war Mendel unmöglich, im Angesicht dieser glücklichen Familie mit dem schweren Übergewicht seines großen Unglücks auf dem Rücken dazustehn. Deshalb streckte er den Rücken und log ein bißchen Freude vor.

Es wurde ausgemacht, daß Mendel Singer sein Haus vor einfachen Zeugen der Familie Billes zur Benutzung übergeben würde, nicht vor dem Amt, denn das kostete Geld. Drei, vier anständige Juden als Zeugen genügten. Inzwischen bekam Mendel einen Vorschuß von dreißig Rubeln, weil seine Schüler nicht mehr kamen und das Geld zu Hause ausging.

Eine Woche später rollte noch einmal Kapturak in seinem leichten Wägelchen durch das Städtchen. Alles war da: das Geld, die Schiffskarte, die Pässe, das Visum, das Kopfgeld für jeden und sogar das Honorar für Kapturak.

»Ein pünktlicher Zahler«, sagte Kapturak. »Euer Sohn Schemarjah, genannt Sam, ist ein pünktlicher Zahler. Ein Gentleman, sagt man drüben ...«

Bis zur Grenze sollte Kapturak die Familie Singer begleiten. In vier Wochen ging der Dampfer »Neptun« von Bremen nach New York.

Die Familie Billes kam Inventur aufnehmen. Das Bettzeug, sechs Kissen, sechs Leintücher, sechs rot-blau karierte Bezüge nahm Deborah mit, man ließ die Strohsäcke zurück und das spärliche Bettzeug für Menuchim.

Obwohl Deborah nicht viel zu packen hatte und obwohl sie alle Stücke ihres Besitzes im Kopfe behielt, blieb sie doch unaufhörlich in Tätigkeit. Sie packte ein, sie packte wieder aus. Sie zählte das Geschirr und zählte noch einmal. Zwei Teller zerbrach Menuchim. Er schien überhaupt seine stupide Ruhe allmählich zu verlieren. Er rief seine Mutter öfter als bisher, das einzige Wort, das er seit Jahren aussprechen konnte, wiederholte er, auch wenn die Mutter nicht in seiner Nähe war, ein dutzendmal. Er war ein Idiot, dieser Menuchim! Ein Idiot! Wie leicht sagt man das! Aber wer kann sagen, was für einen Sturm von Ängsten und Sorgen die Seele Menuchims in diesen Tagen auszuhalten hatte, die Seele Menuchims, die Gott verborgen hatte in dem undurchdringlichen Gewande der Blödheit! Ja, er ängstigte sich, der Krüppel Menuchim. Er kroch manchmal aus seinem Winkel selbständig bis vor die Tür, hockte an der Schwelle, in der Sonne wie ein kranker Hund und blinzelte die Passanten an, von denen er nur die Stiefel zu sehen schien und die Hosen, die Strümpfe und die Röcke. Manchmal griff er unvermutet nach der Schürze seiner Mutter und knurrte. Deborah nahm ihn auf den Arm, obwohl er schon ein ansehnliches Gewicht hatte. Dennoch wiegte sie ihn im Arm und sang zwei, drei abgerissene Strophen eines Kinderliedes, das sie selbst schon ganz vergessen hatte und das in ihrem Gedächtnis wieder zu erwachen begann, sobald sie den unglücklichen Sohn in den Armen fühlte. Dann ließ sie ihn wieder niederhocken und ging an die Arbeit, die seit Tagen lediglich aus Packen und Zählen bestand. Plötzlich gab sie es wieder auf. Sie blieb eine Weile stehen, mit nachdenklichen Augen, die denen Menuchims nicht unähnlich waren; so ohne Leben waren sie, so hilflos in einer unbekannten Ferne nach den Gedanken suchend, die das Gehirn zu liefern sich weigerte. Ihr törichter Blick fiel auf den Sack, in dem die Polster eingenäht werden sollten. Vielleicht, fiel es ihr ein, konnte man Menuchim in einen Sack nähen? Gleich darauf erzitterte sie bei der Vorstellung, daß die Zollrevisoren mit langen, scharfen Spießen die Säcke der Passagiere durchstechen würden. Und sie begann, wieder auszupacken, und der Entschluß durchzuckte sie zu bleiben, wie der Rabbi von Kluczýsk gesagt hatte: »Verlaß ihn nicht, als wenn er ein gesundes Kind wäre!« Die Kraft, die zum Glauben gehörte, brachte sie nicht mehr auf, und allmählich verließen sie auch die Kräfte, deren der Mensch bedarf, um die Verzweiflung auszuhalten.

Es war, als hätten sie, Deborah und Mendel, nicht freiwillig den Entschluß gefaßt, nach Amerika zu gehn, sondern als wäre Amerika über sie gekommen, über sie hergefallen, mit Schemarjah, Mac und Kapturak. Nun, da sie es bemerkten, war es zu spät. Sie konnten sich nicht mehr vor Amerika retten. Die Papiere kamen zu ihnen, die Schiffskarten, die Kopfgelder. »Wie ist es«, fragte Deborah einmal, »wenn Menuchim plötzlich gesund wird, heute oder morgen?« Mendel wiegte eine Weile den Kopf. Dann sagte er: »Wenn Menuchim gesund wird, nehmen wir ihn mit!« Und sie ergaben sich beide schweigend der Hoffnung, daß Menuchim morgen oder übermorgen gesund von seinem Lager aufstehen würde, mit heilen Gliedern und einer vollkommenen Sprache.

Am Sonntag sollen sie fahren. Heute ist Donnerstag. Zum letztenmal steht Deborah vor ihrem Herd, die Mahlzeit für den Sabbat zu richten, das weiße Mohnbrot und die geflochtenen Semmeln. Offen brennt das Feuer, zischt und knistert, und der Rauch erfüllt die Stube wie an jedem Donnerstag seit dreißig Jahren. Es regnet draußen. Der Regen drängt den Rauch aus dem Schornstein zurück, der alte gezackte, vertraute Fleck im Kalk des Plafonds zeigt sich wieder in seiner feuchten Frische. Seit zehn Jahren hätte das Loch in den Schindeln des Daches ausgebessert werden sollen, die Familie Billes wird es schon machen. Gepackt steht der große, eisenbeschlagene, braune Koffer, mit seiner soliden Eisenstange vor dem Schlitz und mit zwei funkelnden, neuen, eisernen Schlössern. Manchmal kriecht Menuchim an sie heran und läßt sie baumeln. Dann gibt's ein unbarmherziges Klappern, die Schlösser schlagen gegen die eisernen Reifen und zittern lange und wollen sich nicht beruhigen. Und das Feuer knistert, und der Rauch erfüllt die Stube.

Am Sabbat-Abend nahm Mendel Singer Abschied von seinen Nachbarn. Man trank den gelblich-grünen Schnaps, den einer selbst gebrannt und mit trockenen Schwämmen durchsetzt hat. Also schmeckt der Schnaps nicht nur scharf, sondern auch bitter. Der Abschied dauert länger als eine Stunde. Alle wünschen Mendel Glück. Manche betrachten ihn zweifelnd, manche beneiden ihn. Alle aber sagen ihm, daß Amerika ein herrliches Land ist. Ein Jude kann sich nichts Besseres wünschen, als nach Amerika zu gelangen.

In dieser Nacht verließ Deborah das Bett und ging, die Hand sorgsam gewölbt um eine Kerze, zum Lager Menuchims. Er lag auf dem Rücken, sein schwerer Kopf lehnte an der zusammengerollten, grauen Decke, seine Lider standen halb offen, man sah das Weiße seiner Augen. Bei jedem Atemzug zitterte sein Körper, seine schlafenden Finger bewegten sich unaufhörlich. Er hielt die Hände an der Brust. Sein Angesicht war im Schlaf noch fahler und schlaffer als am Tag. Offen standen die bläulichen Lippen, mit weißem, perlendem Schaum in den Mundwinkeln.

Deborah löschte das Licht. Sie hockte ein paar Sekunden neben dem Sohn, erhob sich und schlich wieder ins Bett. Nichts wird aus ihm dachte sie – nichts wird aus ihm. Sie schlief nicht mehr ein.

Am Sonntag, um acht Uhr morgens, kommt ein Bote Kapturaks. Es ist der Mann mit der blauen Mütze, der einmal Schemarjah über die Grenze gebracht hat. Auch heute bleibt der Mann mit der blauen Mütze an der Tür stehen, lehnt es ab, Tee zu trinken, hilft dann wortlos den Koffer hinausrollen und auf den Wagen stellen. Ein bequemer Wagen, vier Menschen haben Platz. Die Füße liegen im weichen Heu, der Wagen duftet wie das ganze spätsommerliche Land. Die Rücken der Pferde glänzen, gebürstet und blank, braune, gewölbte Spiegel. Ein breites Joch mit vielen silbernen Glöckchen überspannt ihre schlanken und hochmütigen Nacken. Obwohl es heller Tag ist, sieht man die Funken sprühn, die sie mit ihren Hufen aus dem Schotter schlagen.

Noch einmal hält Deborah Menuchim auf dem Arm. Die Familie Billes ist schon da, umzingelt den Wagen und hört nicht auf zu reden. Mendel Singer sitzt auf dem Kutschbock, und Mirjam lehnt ihren Rücken gegen den des Vaters. Nur Deborah steht noch vor der Tür, den Krüppel Menuchim in den Armen.

Plötzlich läßt sie von ihm. Sie setzt ihn sachte auf die Schwelle, wie man eine Leiche in einen Sarg legt, steht auf, reckt sich, läßt ihre Tränen fließen, über das nackte Gesicht nackte Tränen. Sie ist entschlossen. Ihr Sohn bleibt. Sie wird nach Amerika fahren. Es ist kein Wunder geschehen.

Weinend steigt sie in den Wagen. Sie sieht nicht die Gesichter der Menschen, deren Hände sie drückt. Zwei große Meere voll Tränen sind ihre beiden Augen. Die Pferdehufe hört sie klappern. Sie fährt.

Sie schreit auf, sie weiß nicht, daß sie schreit, es schreit aus ihr, das Herz hat einen Mund und schreit. Der Wagen hält, sie springt aus ihm, leichtfüßig wie eine Junge. Menuchim sitzt noch auf der Schwelle. Sie fällt vor Menuchim nieder. »Mama, Mama!« lallt Menuchim. Sie bleibt liegen.

Die Familie Billes hebt Deborah hoch. Sie schreit, sie wehrt sich, sie bleibt schließlich still. Man trägt sie wieder zum Wagen und bettet sie auf das Heu. Der Wagen rollt sehr schnell nach Dubno.

Sechs Stunden später saßen sie in der Eisenbahn, im langsamen Personenzug, zusammen mit vielen unbekannten Menschen. Der Zug fuhr sachte durch das Land, die Wiesen und die Felder, auf denen man erntete, die Bauern und Bäuerinnen, die Hütten und Herden grüßten den Zug. Das sanfte Lied der Räder schläferte die Passagiere ein. Deborah hatte noch kein Wort gesprochen. Sie schlummerte. Die Räder der Eisenbahn wiederholten unaufhörlich, unaufhörlich: Verlaß ihn nicht! Verlaß ihn nicht! Verlaß ihn nicht!

Mendel Singer betete. Er betete auswendig und mechanisch, er dachte nicht an die Bedeutung der Worte, ihr Klang allein genügte, Gott verstand, was sie bedeuteten. Also betäubte Mendel seine große Angst vor dem Wasser, auf das er in einigen Tagen gelangen sollte. Manchmal warf er einen gedankenlosen Blick auf Mirjam. Sie saß ihm gegenüber, an der Seite des Mannes mit der blauen Mütze. Mendel sah nicht, wie sie sich an den Mann schmiegte. Der sprach nicht zu ihr, er wartete auf die kurze Viertelstunde zwischen dem Anbruch der Dämmerung und dem Augenblick, in dem der Schaffner die winzige Gasflamme entzünden würde. Von dieser Viertelstunde und später von der Nacht, in der die Gasflammen wieder ausgelöscht wurden, versprach sich der Mann mit der blauen Mütze allerhand Wonnen.

Am nächsten Morgen nahm er von den alten Singers einen gleichgültigen Abschied, nur Mirjam drückte er die Hand in stummer Herzlichkeit. Sie waren an der Grenze. Die Revisoren nahmen die Pässe ab. Als man Mendels Namen ausrief, erzitterte er. Ohne Grund. Alles war in Ordnung. Sie passierten.

Sie stiegen in einen neuen Zug, sahen andere Stationen, hörten neue Glockensignale, sahen neue Uniformen. Sie fuhren drei Tage und stiegen zweimal um. Am Nachmittag des dritten Tages kamen sie in Bremen an. Ein Mann von der Schiffahrtsgesellschaft brüllte: »Mendel Singer!« Die Familie Singer meldete sich. Nicht weniger als neun Familien erwartete der Beamte. Er stellte sie in einer Reihe auf, zählte sie dreimal, verlas ihre Namen und gab jedem eine Nummer. Da standen sie nun und wußten nichts mit den Blechmarken anzufangen. Der Beamte ging fort. Er hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber die neun Familien, fünfundzwanzig Menschen, rührten sich nicht. Sie standen in einer Reihe auf dem Bahnsteig, die Blechmarken in den Händen, die Bündel vor den Füßen. An der äußersten Ecke links, weil er sich so spät gemeldet hatte, stand Mendel Singer.

Er hatte während der ganzen Fahrt mit Frau und Tochter kaum ein Wort gesprochen. Beide Frauen waren auch stumm gewesen. Jetzt aber schien Deborah die Schweigsamkeit nicht mehr ertragen zu können. »Warum rührst du dich nicht?« fragte Deborah. »Niemand rührt sich«, erwiderte Mendel. »Warum fragst du nicht die Leute?« »Niemand fragt.« »Worauf warten wir?« »Ich weiß nicht, worauf wir warten.« »Glaubst du, ich kann mich auf den Koffer setzen?« »Setz dich auf den Koffer.«

In dem Augenblick aber, in dem Deborah ihre Röcke gespreizt hatte, um sich niederzulassen, erschien der Beamte von der Schiffahrtsgesellschaft und verkündete auf russisch, polnisch, deutsch und jiddisch, daß er alle neun Familien jetzt in den Hafen zu geleiten gedenke; daß er sie in einer Baracke für die Nacht unterbringe; und daß morgen, um sieben Uhr früh, die »Neptun« die Anker lichten werde.

In der Baracke lagerten sie, in Bremerhaven, die Blechmarken krampfhaft in den geballten Fäusten, auch während des Schlafs. Vom Schnarchen der fünfundzwanzig und von den Bewegungen, die jeder auf dem harten Lager vollführte, erzitterten die Balken, und die kleinen, gelben, elektrischen Birnen schaukelten leise. Es war verboten worden, Tee zu kochen. Mit trockenem Gaumen waren sie schlafen gegangen. Nur Mirjam hatte ein polnischer Friseur rote Bonbons angeboten. Mit einer großen, klebrigen Kugel im Mund schlief Mirjam ein.

Um fünf Uhr morgens erwachte Mendel. Er stieg mühsam aus dem hölzernen Behälter, in dem er geschlafen hatte, suchte die Wasserleitung, ging hinaus, um zu sehen, wo der Osten liege. Dann kehrte er zurück, stellte sich in eine Ecke und betete. Er flüsterte vor sich hin, aber während er flüsterte, packte ihn der laute Schmerz, krallte sich in sein Herz und riß daran so heftig, daß Mendel mitten im Flüstern laut aufstöhnte. Ein paar Schläfer erwachten, sahen hinunter und lächelten über den Juden, der in der Ecke hüpfte und wackelte, seinen Oberkörper vor- und rückwärts wiegte und Gott zu Ehren einen kümmerlichen Tanz aufführte.

Mendel war noch nicht fertig, da riß der Beamte die Tür auf. Ein Seewind hatte ihn in die Baracke geweht. »Aufstehen!« rief er ein paarmal und in allen Sprachen dieser Welt.

Es war noch früh, als sie das Schiff erreichten. Man erlaubte ihnen, ein paar Blicke in die Speisesäle der ersten und zweiten Klasse zu werfen, ehe man sie ins Zwischendeck hineinschob. Mendel Singer rührte sich nicht. Er stand auf der höchsten Stufe einer schmalen, eisernen Leiter, im Rücken den Hafen, das Land, den Kontinent, die Heimat, die Vergangenheit. Zu seiner Linken strahlte die Sonne. Blau war der Himmel. Weiß war das Schiff. Grün war das Wasser. Ein Matrose kam und befahl Mendel Singer, die Treppe zu verlassen. Er begütigte den Matrosen mit einer Handbewegung. Er war ganz ruhig und ohne Furcht. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Meer und trank Trost aus der Unendlichkeit des bewegten Wassers. Ewig war es. Mendel erkannte, daß Gott selbst es geschaffen hatte. Er hatte es ausgeschüttet aus seiner unerschöpflichen, geheimen Quelle. Nun schaukelte es zwischen den festen Ländern. Tief auf seinem Grunde ringelte sich Leviathan, der heilige Fisch, den am Tage des Gerichts die Frommen und Gerechten speisen werden. »Neptun« hieß das Schiff, auf dem Mendel stand. Es war ein großes Schiff. Aber mit dem Leviathan verglichen und mit dem Meer, dem Himmel und der Weisheit des Ewigen, war es ein winziges Schiff. Nein, Mendel fühlte keine Angst. Er beruhigte den Matrosen, er, ein kleiner, schwarzer Jude auf einem riesengroßen Schiff und vor dem ewigen Ozean, er drehte sich noch einmal im Halbkreis und murmelte den Segen, der zu sprechen ist beim Anblick des Meeres. Er drehte sich im Halbkreis und verstreute die einzelnen Worte des Segens über die grünen Wogen: »Gelobt seist Du, Ewiger, unser Herr, der Du die Meere geschaffen hast und durch sie trennest die Kontinente!«

In diesem Augenblick erdröhnten die Sirenen. Die Maschinen begannen zu poltern. Und die Luft und das Schiff und die Menschen erzitterten. Nur der Himmel blieb still und blau, blau und still.


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