Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

Dr. Imre Farago ging, die Hände auf dem Rücken, mit kurzen napoleonischen Schritten vor der Barriere auf und ab. Er war klein, stattlichen Leibesumfanges – auch darin glich er dem korsischen Sieger – zum Unterschied von jenem indessen war er glattköpfig; der kleine zu einer Bürste verschnittene Schnurrbart schimmerte rötlich.

Dr. Imre Farago hielt den Zwicker in der Rechten. Er ließ den Metallrand auf dem Daumen der Linken erregt tanzen; plötzlich, mitten in seiner Wanderung innehaltend, blieb er vor dem Königlichen Oberstaatsanwalt Belvárosi stehen.

»Sagen Sie das im Ernst, Herr Königlicher Oberstaatsanwalt?«

Der Gefragte, groß schmalschultrig, schwarzhaarig, Magyare in Reinkultur, in jeder Handbewegung seiner Würde bewußt, blickte über den kleinen Anwalt, der dort lächelnd vor ihm stand, gelassen hinweg.

»Ich halte es mit der Würde meines Amtes für unvereinbar, auf die Frage, ob ich etwas im Ernst meine, überhaupt zu antworten. Der Herr Rechtsanwalt Farago darf es in jedem Falle und zu jeder Zeit als eine Selbstverständlichkeit unterstellen, daß ich alles, was ich sage, im Ernst meine.«

»Dann darf ich bitten,« erwiderte der Verteidiger, nicht im geringsten durch die abweisende Tonart irritiert, »dann darf ich den Herrn Oberstaatsanwalt bitten, dem Königlich Ungarischen Gerichtshof gütigst erklären zu wollen, wie er zu der Meinung gelangt ist, daß das Feuer in dem Englischen Pavillon auf Betreiben der Frau Fürstin Klausenburg angelegt ist.«

Der Präsident sagte mit seiner scharfen, hellen Stimme:

»Herr Dr. Farago: der Herr Oberstaatsanwalt hat selbstverständlich das Recht, eine Vermutung zu äußern. Genau wie Sie, Herr Verteidiger, berechtigt sind, alle Dinge zu betonen, die für die Unschuld Ihrer Klientin sprechen. Ich muß Sie bitten, von Ihrer bisherigen Taktik, die fast einem Verhör des Herrn Oberstaatsanwalts gleichkommt, abgehen zu wollen.«

Der kleine Doktor Farago lächelte. Man erzählte sich von ihm: er wäre Ungarns größter Schauspieler geworden, wenn er nicht zufällig den Einfall gehabt hätte, Ungarns größter Verteidiger zu werden. Er lächelte so aufreizend, daß der Oberstaatsanwalt wie hilfesuchend auf den Präsidenten blickte.

»Herr Präsident«, sagte Farago. »Ich muß Ihnen gestehen, daß mich Ihre Worte mit tiefer Trauer erfüllen. Wir sind versammelt, um das Recht zu suchen – ich darf annehmen, daß wir uns über diese elementarste Aufgabe einig sind, Herr Präsident ...!«

Der Gefragte nickte ungeduldig.

»Es ist nun eins der grundlegendsten Kriterien des Rechtsuchens, wenn ich nicht irre, daß diejenigen, die dieses Recht suchen, von einer Prämisse zur andern schreiten. Und daß sie nicht, wie der Herr Königliche Oberstaatsanwalt, von außen herein unbewiesene Behauptungen als gegebene Tatsachen in die Wagschale zu werfen versuchen. Darf ich fragen, ob der Herr Präsident auch über diesen Punkt mit mir einig ist?«

»Gewiß, Herr Doktor Farago.«

»Dann bitte ich um die Erlaubnis, aus der Theorie in die Praxis übergehen zu dürfen. Ich bitte dem Herrn Oberstaatsanwalt ins Gesicht sagen zu dürfen, daß er einen Versuch macht, den der Herr Präsident selbst als unzulässig, damit also als verwerflich bezeichnet. Denn er versucht in der Tat, unbewiesene, im Gang der Untersuchung noch gar nicht gefundene, Dinge aus dem Nichts hervorzuholen, in der Absicht, uns glauben zu machen, daß diese Dinge bewiesen seien. Der Herr Oberstaatsanwalt rechnet, darüber kann kaum ein Zweifel sein, damit, daß die juristisch ungeschulten Herren Geschworenen Bewiesenes vom Unbewiesenen nicht so recht unterscheiden können; er versucht sie also im Sinne der Anklage, gegen die Angeklagte, zu beeinflussen. Ich bitte ergebenst, dies konstatieren zu dürfen, und ich spreche ferner die Bitte aus, daß derartige Versuche des Herrn Oberstaatsanwalts von jetzt an unterbleiben. Denn sonst dürfe sich mein verehrter Gegner nicht wundern, wenn meine Repliken mehr und mehr zu jener Art Verhör werden, wie sie einem Manne gegenüber, der fortwährend versucht, gegen die Vorschriften des Gesetzes zu verstoßen, am Platze sind«.

Der Oberstaatsanwalt erhob sich. Totenbleich, mit Augen, in deren Tiefe es dunkel glühte.

»Ich muß den Herrn Präsidenten um Schutz gegen derart unerhörte Anwürfe bitten. Der Herr Verteidiger glaubt es seinem Rufe – ich will nicht so taktlos sein, zu sagen: seinem Spitznamen – schuldig zu sein, hier um den Beifall der Galerie zu buhlen.«

»Herr Oberstaatsanwalt!« schrie der Verteidiger. Aber in seinen Augen war ein so völlig ruhiger Ausdruck, daß man ihm ansah: er lachte innerlich über den erregten schwarzhaarigen Herrn dort drüben.

Der Vorsitzende hob die Hand. »Ich möchte im Interesse der Sache bitten, meine Herren, diese persönliche Kontroverse zu beenden. Ich nehme an, daß die Herren im Ernst nicht die Absicht haben, sich gegenseitig zu kränken. In der Hitze des Gefechts unterläuft gelegentlich ein Wort, das schärfer ist als man beabsichtigte.«

»Ich möchte betonen«, sagte der Anwalt, »daß ich persönlich vor der Person und den Fähigkeiten des Herrn Königlichen Oberstaatsanwalts Belvárosi die größte Hochachtung habe.«

Aus dem Zuhörerraum kam unterdrücktes Lachen; zwei oder drei applaudierten. Der Vorsitzende rügte dies würdelose Verhalten mit ein paar scharfen Worten. Darauf erklärte Herr Oberstaatsanwalt Belvárosi, daß er gegen die Person des Herrn Doktor Farago nichts einzuwenden habe.

Der große Saal des Schwurgerichts war von Menschen erfüllt bis in den letzten Winkel. An einem langen Tisch machten die Korrespondenten fast aller europäischen Staaten eifrig Notizen. Der Heiland am Kreuz, der über dem Sitz des Präsidenten hing, blickte in eine unabsehbare Reihe bleicher und erregter Gesichter, um die sich langsam eine graue dunstige Schicht zu bilden schien. Fast als ob ein Gewebe von Erregung, Furcht, Hoffnung, Spannung sich in diesem Saale sichtbar materialisiere. Die Angeklagte saß, äußerlich ruhig, hinter ihrem Verteidiger. Ihr volles Haar war in einem einfachen tiefen Nackenknoten zusammengehalten; ein matter grauer Schimmer lag darüber, der der kaum Fünfzigjährigen etwas Matronenhaftes gab. Ihr dunkles Kleid war hochgeschlossen; sie blickte starr geradeaus. Selbst die Ausführungen ihres Verteidigers, seine blitzschnellen Ausfälle, seine temperamentvolle Art, mit der er um jeden Zollbreit Bodens kämpfte, schienen sie wenig zu berühren.

»Die Zeugin Vilma Bereny!«

Durch den Saal ging Bewegung. Es war, als ob die Atmosphäre sich verdichtete; man fühlte, daß das Netz um die Angeklagte sich in diesem Augenblick fester schloß.

Die Aufgerufene trat herein: jung, sieghaft, mit einem stolzen und ruhigen Lächeln in ihren irisierenden Augen. Kein Mann konnte sich der Schönheit dieser Frau entziehen; sie war sich dessen offenbar bewußt, als sie einen lächelnden Blick in der Runde warf.

Der Einzige, der eine Ausnahme zu machen schien, war wieder der Doktor Farago. Er sah ihr mit einem Gemisch von Staunen und Mißbilligung entgegen, so wie man jemanden betrachtet, an dessen Anzug man einen peinlichen Defekt bemerkt. Er sah auf ihren hellgrauen Fehmantel, seine Blicke glitten betroffen abwärts zu ihren hellgrau bestrumpften schlanken Beinen, immer war dieser halb mitleidige halb boshafte Ausdruck in seinem Blick – der tatsächlich die Wirkung hatte, daß Vilma Berény, diese stolze, sichere Vilma Berény, unsicher wurde und suchend an sich niedersah. Sie konnte nichts entdecken; blitzschnell sah sie auf den Verteidiger; da er sie noch immer mit diesem sozusagen achselzuckenden Blick musterte, verlor sie vollends ihre Beherrschung. Doktor Farago trieb dieses kleine lustige Spiel so weit, daß er Blickfühlung suchte mit einem imaginären Bekannten in einem imaginären Winkel des Saals – so als ob er sich stumm mit ihm über irgend etwas Unmögliches in der Erscheinung dieser Zeugin unterhalte.

Vilma Berény wurde blaß.

»Fräulein Berény«, sagte der Vorsitzende. Die Zeugin zuckte bei der Anrede zusammen – eine Nervosität, die ein Erfolg des Herrn Doktor Farago war. »Fräulein Berény – Sie wissen, um was es sich hier handelt. Die Fürstin Klausenburg steht unter der schweren Anklage des Mordes. Was können Sie uns in dieser Sache mitteilen?«

Die Gefragte zuckte die Achseln. »Ich will alles sagen, was ich weiß. Aber es ist nicht viel.«

»Sagten Sie etwas, Herr Doktor Farago?«

»Nein.«

»Sie sind am Abend vom Siebzehnten – nicht wahr – Sie sind am Abend, vielleicht auch in der Nacht vom Siebzehnten auf den Achtzehnten September 1921 auf Schloß Klausenburg gewesen?«

»Ja.«

»Was wollten Sie dort?«

»Mein Vater hatte mir einen Brief an die Fürstin gegeben.«

»Weiter nichts?«

»Nein.«

»Der Inhalt des Briefes ist nicht besonders wichtig. Es handelt sich um ein Darlehen. Nicht wahr?«

»Ja. Die Fürstin schlug die Bitte meines Vaters ab.«

»Was taten Sie nun?«

Zögernd antwortete die Zeugin:

»Ich ... ich fuhr nach Pápocz zurück.«

Doktor Farago hustete.

Der Präsident warf einen schnellen Blick hinüber zu dem Anwalt, der zur Abwechslung den Kneifer aufgesetzt hatte und die Zeugin von der Seite betrachtete, wie man etwa einen Seiltänzer beobachtet, der ein halsbrecherisches Kunststück vollführt: lächelnd, staunend, mitleidig.

»Fräulein Berény«, sagte der Präsident. »Hier stimmt etwas nicht. Bleiben Sie dabei, daß nur die Absicht, den Brief abzugeben, Sie nach Klausenburg geführt hat?«

Vilma Berény antwortete nicht.

»Das wäre nämlich kaum verständlich. Wenn man von jemandem ein Darlehen erbitten will, so pflegt man sich nicht just den Tag auszusuchen, an dem der Betreffende eine große Gesellschaft gibt.«

»Ich kann nichts anderes sagen«, antwortete Vilma Berény leise.

Doktor Farago trat auf die Zeugin zu. Er machte eine fragende Handbewegung gegen den Präsidenten; dieser nickte.

Man glaubte das Atmen des menschenerfüllten Saals zu hören. Der Verteidiger sagte leise:

»Wissen Sie, Fräulein Berény, daß Ihr Vater wenige Tage vor seinem Tode mir erklärt hat, er wisse nichts von einem Brief an die Fürstin Klausenburg? Er habe Sie nie, weder am Siebzehnten September 1921 noch sonst jemals zu der Fürstin Klausenburg geschickt?«

Alles sah auf Vilma Berény, die erbleichend auf den kleinen Mann dort vor sich sah.

»Hier ist die eidesstattliche Bekundung Ihres Vaters. Erkennen Sie seine Handschrift?«

Die Gefragte nickte zögernd.

»Und im übrigen ist hier das Notariatssiegel des Herrn Doktor Fejervary. Ihres Hausanwalts. Wünschen Sie, daß ich Herrn Doktor Fejervary hereinbitte? Er wartet nämlich draußen.«

»Nein«, sagte Vilma Berény leise. »Dieser Brief ist von meinem Vater geschrieben; er enthält die Wahrheit.«

»Wer hat also den Brief an die Fürstin geschrieben?«

»Ich.«

»Wenn ich sehr ungalant wäre, mein Fräulein, würde ich jetzt von einem Betrugsversuch sprechen. Und von einer Urkundenfälschung. Aber Sie dürfen völlig beruhigt sein: ich habe eine viel zu hohe Meinung von Ihnen – und ich bin ein viel zu überzeugter Bewunderer Ihrer glänzenden Eigenschaften, als daß mir ein solcher Gedanke auch nur im entferntesten durch den Kopf ginge. Sie wußten selbstverständlich von vornherein, daß die Fürstin Klausenburg ablehnen würde. Und Sie haben diesen Brief nur nach Schloß Klausenburg getragen, weil Sie ...« der Anwalt warf einen schnellen Blick in Vilma Berénys Gesicht ... »... weil Sie auf Schloß Klausenburg jemanden wußten, dem Sie zu begegnen wünschten. Stimmt das, Fräulein Berény?«

»Es stimmt.«

»Würden Sie sich entschließen können, uns zu verraten, wer die Person war, der Sie zu begegnen wünschten?«

Der Staatsanwalt nahm das Wort. »Fräulein Berény ist selbstverständlich berechtigt, die Beantwortung dieser Frage zu verweigern, wenn sie sich durch ihre Aussage irgendwie belastet.«

»Dann möchte ich die Aussage verweigern.«

»So«, sagte Doktor Farago. »Sie möchten die Aussage verweigern. Tja. Das ist sehr schade. Denn wenn es nach Fräulein Berény geht, erfahren wir überhaupt nicht, was eigentlich in jener Nacht auf Schloß Klausenburg vor sich gegangen ist.«

»Ich glaube, wir wissen es ungefähr«, sagte der Oberstaatsanwalt Belvárosi.

»Glücklicherweise gibt es noch einen Menschen, der um den Zweck des Besuches des Fräulein Berény weiß: das ist die Frau Fürstin Klausenburg.«

Die Angeklagte hob den Kopf.

»Wollen Sie uns darüber Auskunft geben, Frau Fürstin?« fragte der Vorsitzende mit einem höflichen Neigen des Kopfes.

»Ich möchte Sie bitten, mir diese Antwort zu ersparen, Herr Präsident.«

Herr Doktor Farago schüttelte traurig den Kopf. »Es muß schwer sein, ein Aristokrat zu sein«, sagte er. Wieder stieg Lachen auf; selbst der Präsident lächelte. »An allen möglichen Ecken des Lebensweges, an denen wir Bürgerlichen unbekümmert vorübergehen, sind Widerhäkchen, in denen sich der Ehrbegriff des Aristokraten unweigerlich verfängt. Welches Hindernis erblicken Sie hier, Durchlaucht? Was hindert Sie zu sagen: Der und Der? Da es um Ihren Kopf geht?«

Die Fürstin machte eine kleine halb beschwichtigende, halb hochmütige Handbewegung.

»Gut«, sagte Farago. »Dann muß ich selbst es sagen.«

Die Fürstin stand auf. »Ich verbiete es Ihnen, Doktor Farago!«

»Ich bedaure. Meine Pflicht als Ihr Verteidiger steht mir höher als Ihre Standesbegriffe. Nehmen Sie es mir nicht übel, Durchlaucht: wenn Sie naiv genug sind, über derartige Kindlichkeiten zu straucheln – so bedürfen Sie einer starken Hand, die Sie darüber hinwegführt.« Und mit erhobener Stimme fuhr Herr Doktor Farago fort: »Der Herr, den Fräulein Berény auf Schloß Klausenburg zu sprechen wünschte, war der Graf Michael Faludi

Nervöses Tuscheln ging durch den Saal; unterdrückte Ausrufe kamen aus den letzten Bankreihen. Der Vorsitzende wandte sich an die Zeugin; sein Gesicht war um eine Schattierung härter.

»Ist das wahr, was Herr Doktor Farago sagt?«

Vilma Berény, unter der Aufmerksamkeit des ganzen Saals, sah mit scheuen Augen in das Gesicht des Verteidigers, das nun gleichmütig, fast freundlich, dreinschaute.

Zögernd nickte sie.

»Sie haben uns also vorhin die Unwahrheit gesagt?« Da die Zeugin keine Antwort gab, sagte der Vorsitzende mit harter Stimme: »Danken Sie Gott, daß Sie noch nicht vereidigt sind. Im übrigen setze ich Ihre Vereidigung aus, bis Ihr Anteil in dieser ganzen Angelegenheit geklärt ist. Was wünschten Sie von dem Grafen Faludi?«

Vilma Berény zuckte hilflos die Achseln. »Ich muß bitten, mir die Antwort auf diese Frage zu erlassen.«

Doktor Farago putzte angelegentlich den Kneifer.

»Dann werde ich mir erlauben, abermals für Fräulein Berény in die Bresche zu springen. Nicht wahr, gnädiges Fräulein: Sie liebten den Grafen Faludi?«

Empört antwortete Vilma Berény:

»Ich bitte mich gegen die Beleidigungen des Herrn Verteidigers in Schutz zu nehmen.«

»Herr Doktor Farago fragt im Interesse seiner Klientin, Er hat nicht die Absicht, Sie zu beleidigen.«

Der Anwalt ging mit seinen eigentümlich schlürfenden Schritten, die immer aussahen als ob er ein Wild beschleiche, auf seine Aktentasche zu. Er knipste sie auf und nahm, fast ohne zu suchen, einen kleinen rechteckigen Karton heraus; offenbar ein Bild. Der ganze Saal folgte ihm mit den Augen, als er, in der einen Hand den Kneifer, in der andern den Karton, auf die Zeugin zuschlürfte. Er hielt den Karton wie ein interessantes, vielleicht galantes, kleines Schriftstück in der Hand. Vilma Berény warf einen Blick darauf; ihre Hand griff haltsuchend nach der Barriere. Sie schloß die Augen und sagte tonlos:

»Es ist wahr. Ich habe den Grafen geliebt.«

Der Präsident war der kleinen Szene mit wachsender Aufmerksamkeit gefolgt. Er streckte die Hand nach dem Karton aus. Der Anwalt, mit einem wie entschuldigenden Blick auf die Zeugin, übergab ihm das Beweisstück. Der Präsident warf einen Blick darauf und sagte erstaunt:

»Dieses Bild stellt ein kleines Mädchen dar. Was bedeutet das?«

»Es ist die Tochter des Herrn Grafen Faludi«, antwortete der Anwalt leise.

Der Vorsitzende wandte den Kopf zu Vilma Berény, die, die Augen gesenkt, vor ihm stand. »Was hat das mit der Aussage des Fräulein Berény zu tun?«

Doktor Farago antwortete: »So seltsam es klingt, Herr Präsident – ich möchte dafür plädieren, daß man Fräulein Berény die Antwort auf diese Frage erläßt.«

Durch den Saal ging ein leises beifälliges Raunen.

»So so«, nickte der Präsident. »Danach können wir wohl als erwiesen annehmen, daß Sie den Grafen Faludi an jenem Abend zu sprechen wünschten. Wollen Sie uns also jetzt sagen, Fräulein Berény, wie Ihre Unterhaltung mit ihm verlaufen ist? Oder wollen Sie sich weiterhin durch den Verteidiger der Frau Fürstin, durch Herrn Rechtsanwalt Dr. Farago, Lügen strafen lassen?«

»Ich will aussagen. Graf Faludi liebte mich; ich liebte ihn. Seine Besuche auf Schloß Klausenburg kamen zur Kenntnis meines Vaters. Er stellte mich vor die Alternative: entweder den Grafen zu heiraten oder alle Beziehungen zu ihm abzubrechen. Der Graf war in der letzten Zeit kühler gegen mich geworden – eine Frau fühlt, wenn Unheil im Anzüge ist, Herr Präsident! Ohne daß es mir jemand gesagt hatte, wußte ich, daß die Gefahr auf Schloß Klausenburg lag. Darum ging ich in jene Gesellschaft. Ich wollte den Grafen vor die letzte Alternative stellen: jene – oder ich!«

»Wo erreichten Sie den Grafen?«

»Ich traf ihn im Park. Ich erinnerte ihn an alles: an seine Liebe – an seine Schwüre. An sein ...« ihr Blick wanderte zu dem Bild hinüber, das vor dem Vorsitzenden lag, ... »er zuckte die Achseln. Dann sagte er mir unumwunden: ›Ich liebe Prisca Klausenburg. Verzeih mir – es ist stärker als ich; ich weiß, daß ich unrecht an dir handle – aber ich bin dieser Frau verfallen mit Leib und Seele‹ Ich erklärte ihm, daß ich alles tun werde, um diese Verbindung zu hintertreiben. Daß ich zur Mutter gehen würde, um ihr zu sagen: so steht es um den Grafen und mich – er ist ein routinierter und skrupelloser Frauenjäger – deine Tochter würde unglücklich an seiner Seite werden.«

»Vielleicht liebte er die Prinzessin Prisca wirklich?« fragte Dr. Farago freundlich. Jede seiner Fragen hatte fühlbar den Zweck, die Zeugin zu einer unüberlegten Antwort zu treiben.

»Genau so sehr wie er mich wirklich geliebt hat, Herr Doktor Farago«, antwortete Vilma Berény schluchzend; und keiner war im Saal, der in diesem Augenblick nicht mit ihr fühlte. »Der Graf gehört zu den Männern, die nur so lange lieben, wie sie nicht besitzen – und die in jenem Augenblick eine Frau fortwerfen, da sie sie im Arm gehalten haben.«

»Was taten Sie, nachdem Ihnen der Graf diese Absage erteilt hatte?«

Zögernd kam die Antwort:

»Ich suchte die Prinzessin Prisca auf. Ich sagte ihr alles.«

»Sie haben mit der Prinzessin gesprochen? Das ist neu. Was antwortete sie Ihnen?«

Die Gefragte machte eine hilflose Handbewegung, »Sie glaubte mir nicht. Sie liebe den Grafen. Ich sei eine Verleumderin.«

»Und dann ...?«

»Dann trat die Fürstin-Mutter plötzlich auf uns zu. Sie sagte stirnrunzelnd: ›Ich kann mich nicht erinnern, Fräulein Berény eingeladen zu haben‹ So ging ich.«

»Hat jemand noch eine Frage zu stellen?«

»Bitte«, antwortete Doktor Farago. »Nur eine Kleinigkeit wollte ich noch wissen. Sie waren im Wagen nach Schloß Klausenburg gekommen. Nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Wann verließen Sie das Schloß?«

»Etwa zwischen neun und zehn Uhr abends. Genau weiß ich es nicht.«

»Bestimmt nicht nach zehn Uhr?«

Unsicher werdend antwortete die Zeugin: »Ich glaube nicht.«

»Wieviel Zeit brauchen Sie, um nach Pápocz zu fahren?«

»Ungefähr drei Stunden.«

»Wie kommt es, Fräulein Berény, daß Sie erst gegen Morgen heimgekommen sind? Zwischen sechs und sieben Uhr in der Frühe. Wo waren Sie inzwischen?«

»Mein Gott ...« Mit tränenschwimmenden Augen sah die Gefragte auf das Auditorium, das sie interessiert, vielleicht mit einem leise erwachenden Argwohn betrachtete – »nun ja – ich begreife, daß Sie mich diese Dinge fragen müssen – um die Wahrheit zu sagen: ich war völlig verzweifelt. Ich hatte Selbstmordgedanken... ich irrte am Flußufer entlang – immer mit dem Entschluß kämpfend: ein Ende zu machen.«

»Das läßt sich hören«, sagte der Staatsanwalt. »Die Erklärung scheint mir absolut plausibel.«

»Und Ihr Wagen?« erkundigte sich Doktor Farago. »Ihre Pferde? Ließen Sie das Gefährt solange an der Chaussee stehen, während Sie sich damit beschäftigten, am Ufer des Flusses umherzuirren?«

Die Gepeinigte preßte die Hände vors Gesicht und rief in trostlosem Weinen:

»Schützen Sie mich vor diesem furchtbaren Verhör!«

»Ich kann Sie nicht davor schützen«, antwortete der Präsident. »Herr Doktor Farago hat mit Recht auf eine Lücke in Ihren Bekundungen hingewiesen. Auch ich muß Sie bitten, uns Auskunft zu geben, wo Sie in der Nacht gewesen sind.«

»Ich sagte es bereits ...«

»Was Sie uns erzählen, klingt nicht sehr überzeugend«, nahm Doktor Farago das Wort. »Man jagt nicht auf einer Chaussee dahin, um sich plötzlich darauf zu besinnen, daß man eigentlich besser daran täte, Selbstmord zu begehen. Die verzweifelte Stimmung, die zum Selbstmord führt, paßt nicht zu dem Tempo einer dahinstürmenden Rosselenkerin.«

»Ich hoffte, wir würden am nächsten Baum zerschellen.«

»Ich konstatiere, daß Fräulein Berény sich widerspricht. Sie hat uns eben erzählt, sie sei am Ufer des Flusses herumgeirrt, in der Absicht ...«

»Ich glaube«, unterbrach ihn der Staatsanwalt, »wir alle können uns in die Stimmung eines Menschen, der vor dem Selbstmord steht, kaum hineindenken. Es wäre durchaus möglich, daß jemand auf die eine Weise und auf die andere Weise ein Ende zu machen versucht – und daß er schließlich, mürbe, zerschlagen, unfähig den letzten traurigen Entschluß zu fassen, heimkehrt. Vielleicht beschämt über die eigene Feigheit.«

»Hm.« Doktor Farago schürzte die Lippen. »Möglich wäre es immerhin. Aber ich darf auf eine Äußerung meiner Frau Mandantin hinweisen, die der ausgezeichnete Herr Untersuchungsrichter Doktor Saebenspurgk protokolliert hat. Danach hat die Frau Fürstin beim Anblick der Zeugin Berény aufgeschrien: ›Dort geht die Mörderin meiner Tochter!‹«

Vilma Berény erhob sich betroffen, schweigend. Sie wandte sich zu der Fürstin herum – die beiden Frauen starrten sich an.

»Haben Sie das gesagt, Frau Fürstin?«

»Ja«, antwortete die Gefragte »Ich habe es gesagt, Fräulein Berény.«

»Das ist eine unerhörte Anschuldigung!« Ihre Augen weiteten sich, ihre Stimme schwoll fast zu einem Schreien an. »Das wagen Sie zu sagen, Durchlaucht? Das wagen Sie von mir zu behaupten? Glauben Sie, wir alle wüßten nicht, warum Sie Ihre Tochter – Sie, Frau Fürstin! – umgebracht haben? Oh ... halten Sie uns nicht für töricht weil wir Ungarn sind und keine Engländer! Ich weiß, daß wir in Ihren Augen minderwertig sind – aber das hat Sie nicht gehindert, einen von uns so zu lieben, daß Sie seinetwegen einen Mord begangen haben! Jawohl, Frau Fürstin! Ich meine den Grafen Faludi! Der an mir genau so treulos gehandelt hat wie an Ihnen – der Sie ausgelacht hat, als Sie ihn an seine Liebesbeteuerungen erinnerten, die ihm so glatt von den Lippen gingen ... Und der Sie hohnlächelnd gefragt hat: ob Sie im Ernst als Rivalin Ihrer eigenen Tochter auftreten wollten ...«

Hochrufe kamen aus dem Saal; das Magyarenblut hatte sich im Nu an der zündenden Rede entflammt. Hinzu kam wohl die Anspielung an die Rassenfremdheit der Angeklagten.

Doktor Farago hauchte auf seinen Kneifer.

»Die schönsten Reden des Fräulein Berény haben uns leider nicht die Antwort auf die Frage gebracht, was sie in der Zeit von zehn Uhr abends bis sieben Uhr früh getan hat.«

»Haben Sie uns über diesen Punkt Mitteilungen irgendwelcher Art zu machen, Herr Verteidiger?«

»Nein.«

Der Präsident erteilte mit einer Handbewegung dem Staatsanwalt das Wort.

Oberstaatsanwalt Belvárosi erhob sich. »Draußen ist ein Zeuge. Er hat eine wichtige Aussage zu machen, die, wie ich glaube, diesem Prozeß die entscheidende Wendung geben wird. Ich bitte ihn zu vernehmen.«

Die Tür ging auf. Ein breitschultriger Fünfziger trat ein. Er hatte das Aussehen eines gutgenährten Kleinstädters, von dunkler Hautfarbe, mit dem höflichen Selbstbewußtsein eines wohlwollenden Geschäftsmannes.

»Wie heißen Sie?«

»Smirno Petrovich.«

»Sind Sie kein Ungar?«

»Ich bin geborener Kroate. Aber ich bin ungarischer Staatsangehöriger.«

»Was haben Sie uns in dieser Sache zu sagen?«

Der Ankömmling wandte den Kopf zur Rechten. Er sah auf den Verteidiger, der ihn mit halb geschlossenen Augen betrachtete. Sein Blick glitt über die Geschworenen; über das Richterkollegium; der Anblick der vielen Menschen, ihrer erwartungsvollen Augen, das feierliche Schweigen in diesem Raume, alles schien ihn zu verwirren. Dann blickte er, in einer plötzlichen Eingebung, auf den Staatsanwalt, der ihm ermutigend zunickte. Augenblicklich schien er seine Sicherheit wiederzugewinnen.

»Nun?«

»Ich war in der Nacht vom Siebzehnten auf den Achtzehnten September 1921 Aushilfsdiener auf Schloß Klausenburg.«

Doktor Farago wandte sich an die Fürstin:

»Durchlaucht – kennen Sie diesen Mann?«

»Nein.«

»Nun –« der Präsident machte eine begütigende Handbewegung – »das würde nicht viel beweisen, denke ich.«

»Aber ich kenne die Frau Fürstin«, sagte Petrovich eifrig. »Und auch ihre Tochter, die Prinzessin Prisca.«

»Was haben Sie uns über die beiden Damen zu sagen?«

Herr Petrovich preßte die Hände ineinander. »Es war eine harte Nacht, damals auf Schloß Klausenburg. Wir hatten tüchtig gearbeitet, aber wir hatten auch gute Trinkgelder bekommen. Es war kurz nach drei Uhr in der Nacht, als mein Dienst zu Ende war. Ich ging durch den dunklen Park. Da sah ich, daß ich mich verirrt hatte. Das Schloßtor lag auf der andern Seite. Eben wollte ich zurückgehen, da sah ich aus dem Dunkel die Gestalt einer Frau auftauchen. Zu meinem Erstaunen erkannte ich die Frau Fürstin Klausenburg.«

»Sagten Sie nicht, es wäre sehr dunkel im Park gewesen?«

»Das Licht aus dem Pavillon fiel auf ihr Gesicht. Das interessierte mich weiter nicht. Ich wollte schon fortgehen – da öffnete die Frau Fürstin die Tür zum Pavillon. In dem hellen Lichtschein, der herausdrang, erkannte ich die junge Prinzessin Prisca. Es fiel mir auf, daß Mutter und Tochter sich zu so später Stunde an so abgelegener Stelle ein Rendezvous gaben. Plötzlich hörte ich einen lauten Wortwechsel. Interessiert trat ich näher. Da schlug die Tür des Pavillons zu. Aber ich spähte durch ein Fenster. Da sah ich, daß die beiden Frauen sich um irgend etwas stritten«

»Woran erkannten Sie das?« fragte der Präsident.

»Sie gingen auf einander zu, gestikulierten wild und schrien sich an.«

»Hörten Sie, was sie sagten?«

»Der Name Faludi kam vor. Weiter konnte ich nichts verstehen. Plötzlich zog die Fürstin zu meinem Entsetzen einen Revolver und schoß zweimal auf ihre Tochter. Die Tochter brach zusammen.«

Die Fürstin sprang auf. »Er lügt!«

Aber auch die Zuhörer waren aufgesprungen. Sie schrieen durcheinander. Zwei, drei riefen: »Mörderin!«

Der Präsident ergriff die Glocke. Aber durch sein Signal hindurch hörte man das Geschrei der Zuhörer, das immer rasender anschwoll. »Mörderin! An den Galgen mit ihr!«

»Was taten Sie nun?« erkundigte sich der Vorsitzende.

»Ich klopfte wie irrsinnig an die Tür des Pavillons. Plötzlich wurde sie aufgerissen; die Fürstin stürzte an mir vorüber. Drinnen lag die Prinzessin leblos ausgestreckt. Ich beugte mich über sie; sie atmete schwach.«

»Und nun?«

»Dann lief ich zum Schloß, um die Dienerschaft zu alarmieren. Aber unterwegs fiel mir ein: kein Mensch wird dir glauben, was du da erzählst. Niemand wird es wagen, die Frau Fürstin für die Mörderin ihrer Tochter zu halten. Der einzige Zeuge: die Frau Fürstin selbst ... man wird dich für den Mörder der Prinzessin halten ... die Mutter selbst wird gegen dich zeugen. Da entschloß ich mich zu tun, als ob ich nichts gesehen hätte; ich rannte auf die Landstraße hinunter. Erst nach vielen Stunden kam ich zur Ruhe. Und ich hätte auch nie gesprochen, Herr Präsident – wenn ich nicht erfahren hätte, daß die Frau Fürstin jetzt die Dreistigkeit besitzt, die Tat zu leugnen.«

Der Präsident blickte stumm im Kreise. Da war die Wendung, die dem Prozeß das entscheidende Gepräge gab. Er sah auf die Fürstin, die sich erhoben hatte; sie hatte die Augen geschlossen; vielleicht rang sie mit einer Ohnmacht – vielleicht war es die Erkenntnis, daß jetzt alles zusammengebrochen sei.

Doktor Farago nahm das Wort. »Der Herr Zeuge hat uns zwar darüber belehrt, warum er so lange geschwiegen hat. Aber ich muß gestehen: ich kann mich seiner Logik nicht anschließen. Ein so erschütterndes Erlebnis macht man nicht mit sich allein ab. In jedem Menschen wohnt schließlich ein Urgefühl: der Begriff von Schuld und Sühne. Der Instinkt der Gerechtigkeit, Die Stimme des Gewissens muß dem Zeugen zugeflüstert haben: geh zum Oberstuhlrichter – melde ihm, was du gesehen hast – damit ein Verbrechen gesühnt werde.«

»Nun, Herr Doktor,« sagte der Präsident – »ich glaube, das hat der Herr Zeuge wohl heute getan.«

»Nach sieben Jahren!«

»Ich bin anderer Meinung als der Herr Verteidiger«, nahm der Staatsanwalt das Wort. »Ein so erschütterndes Erlebnis, wie es der Zeuge gehabt hat, mag den einen dazu bringen, das Furchtbare hinauszuschreien – den andern, sich in verzweifeltes und grübelndes Schweigen zu hüllen. Offenbar ist der Herr Zeuge von dieser zweiten Art. Er hatte, ein einfacher Mann, einen blinden Respekt vor seiner hohen Herrin. Mit Entsetzen sah er, daß diese Frau, eine Fürstin, ein gemeines Verbrechen verübte ...«

»Nein! Nein!« schrie die Fürstin auf.

»Hinzu kam – er selbst hat es gesagt – die Furcht, man könnte gar ihn verdächtigen. Ist das alles zusammengenommen nicht Grund genug, zu schweigen?«

»Ich glaube, der Herr Staatsanwalt hat recht«, entschied der Präsident. »Sind Sie bereit, Zeuge Petrovich Ihre Aussage zu beschwören?«

»Gewiß.«

»Hat jemand an den Zeugen noch Fragen zu richten?«

»Es könnte sein,« sagte Doktor Farago, »daß ich immerhin noch einiges wissen möchte. Die Aussage des Zeugen kommt völlig überraschend. Ich möchte die veränderte Rechtslage mit meiner Klientin durchsprechen.«

»Gut.« Der Vorsitzende erhob sich. »Ich schließe die Sitzung für eine Stunde.«

*

Der kleine Kossuth-Keller in der Alkotmánystraße, einen Steinwurf von der Königlichen Kurie entfernt, füllte sich langsam. Es war keiner in diesem verräucherten dunklen, ein bißchen unheimlichen Raume, der nicht mit seinem Nebenmann von dem Prozeß Klausenburg geplaudert hätte. Die ehrfurchtgebietende Gestalt des Präsidenten thronte an einem reservierten Tisch zur Rechten; eben tauchte auch das Asketengesicht des Königlichen Oberstaatsanwalts Belvárosi auf. Ein paar Gäste, denen aus irgend einem vielleicht nicht schwer zu erratenden Grunde an seiner Freundschaft gelegen sein mochte, erhoben sich; er grüßte leicht, ohne eine Miene zu verändern, und ging auf den Tisch des Präsidenten zu; schon erschien der Kellner.

Merkwürdig – selbst in diesem neutralen Fleckchen Erde fühlte man die bedrohliche Nähe des schicksalerfüllten Hauses dort drüben: man spürte die Ausstrahlungen seiner Macht im gedämpften Klang der Stimmen, in den beherrschten Bewegungen; man ging, stand, sprach sozusagen mit einem furchtsamen Blick auf den Herrn Königlichen Oberstaatsanwalt Belvárosi.

Nur einer machte eine Ausnahme. Das war der Herr Hof- und Gerichtsadvokat Doktor Imre Farago, der, zwickerbewaffnet, strahlend vor Eßlust, hinter einem gehäuften Teller jener herrlichen ungarischen Suppe saß, die offiziell Krautsuppe heißt und die der Ungar Korhelyleves nennt, was auf Deutsch Lumpensuppe bedeutet. Sie besteht aus Rahm und Fett, vermischt mit Kraut, Pökelfleisch und Wurst. Man sagt dieser Suppe nach, sie habe eine so suggestive Wirkung, daß sie die erbittersten politischen Gegner während der Mahlzeit zu Freunden mache.

Doktor Farago also löffelte behaglich seine Lumpensuppe, als irgendwo eine Glocke klingelte. Er blickte flüchtig auf. Der Kellner erschien und meldete:

»Herr Doktor Farago: Ihre Überlandverbindung!«

Worauf Doktor Farago, ein großes Stück Wurst in den Mund schiebend, die Hände auf dem Rücken, durch den Raum schlürfte, gefolgt von ehrfürchtigen, bewundernden und neugierigen Blicken. Selbst der Präsident und der Oberstaatsanwalt sahen ihm nach. Doktor Belvárosi zuckte die Achseln und lächelte; der Präsident nickte bestätigend. »Er will sich einen guten Abgang schaffen«, sagte der Oberstaatsanwalt.

»Ich denke, wir werden in zwei Stunden fertig sein«, antwortete der Präsident. »Ich bin übrigens auf acht Uhr zum Reichsverweser geladen; er wünscht Bericht über den Prozeß. Das wird eine späte Sitzung werden; Seine Exzellenz hat einen Haussekt – einen Törley, sage ich Ihnen ... ach nein, lieber Belvárosi, ich sage es Ihnen nicht; denn ich weiß ja, daß Sie keinen Alkohol trinken und keinen Tabak anrühren.«

Belvárosi lachte.

»Ich weiß nicht: soll ich Sie beneiden – oder soll ich Sie bemitleiden. Für mich fängt das Leben eigentlich erst recht an, wenn ich die Königliche Kurie verlasse; ich glaube, für Sie hört es dann auf.«

Der Oberstaatsanwalt verzog den Mund. »Ich nehme meistens Arbeit mit nach Hause, Herr Präsident.«

»Auch das noch!« seufzte der andere. »Wann werden Sie Minister werden?«

Die Tür der Telephonzelle ging schnappend auf. Die beiden sahen hinüber; Herr Doktor Farago kam zurück, gleichmütig, den Kneifer in der Hand. Er grüßte freundlich. Der Präsident dankte, der Oberstaatsanwalt schien die Geste übersehen zu haben.

»Er sieht unruhig aus«, sagte Belvárosi, jenem nachblickend. »Ich kenne das: je gefaßter er sich gibt, desto schlechter steht das Barometer. Er übertreibt grundsätzlich nach der entgegengesetzten Seite. Vielleicht hält er das für schauspielerische Tüchtigkeit. Wenn man aber seine Technik erst kennt, braucht man seine Gesten nur umzudrehen – und man hat die Wahrheit in der Hand.«

Der Präsident folgte dem Advokaten mit den Augen.

»Sie sind ein großer Menschenkenner, Herr Oberstaatsanwalt. Aber ich fürchte, bei diesem kleinen Farago läßt Sie Ihre Wissenschaft im Stich. Er ist von einer anderen Rasse als wir: er denkt anders. Das ist seine Stärke ...«

Mahnend ging die Schalmeiglocke. Der Präsident stand auf; der Oberstaatsanwalt stand auf. Alles stand auf. Alles drängte zum Ausgang. In wenigen Minuten war der Kossuth-Keller geleert.

Nur der Herr Doktor Farago saß noch behaglich bei seinem Kaffee. Der Präsident streifte ihn mit einem fragenden Blick. Doktor Farago nickte.

»Béla! Einen Marillenschnaps!«

*

Der Herbstnachmittag klebte müde und neblig hinter den Fenstern des Gerichtssaales. Einzelne Lampen brannten; das Zwielicht wuchs, es gab den Dingen eine fühlbar trostlose Nuance. Man raunte sich ins Ohr: daß das Todesurteil gesichert sei.

Die Fürstin selbst mochte die Wellen spüren, die unsichtbar durch den Raum gingen; sie war blasser, ihre Haltung war weniger sicher als am Vormittag. Wo blieb Farago? Ihr Blick irrte zur Tür. Nur sein junger Substitut hatte vor ihr Platz genommen. Er blätterte gewichtig im Aktenstück.

Der Präsident hielt ein Telegramm in der Hand, dessen Inhalt er mehrmals nachdenklich überflog.

»Ich habe dem Gerichtshof eine Mitteilung zu machen«, sagte er mit ernster Stimme. »Eine traurige Mitteilung: die Zeugin Fräulein Vilma Berény hat sich nach ihrem Fortgang vom Gericht das Leben genommen.«

Seltsam – die Nachricht machte wenig Eindruck. Zu sehr waren alle Gehirne in den Bann der großen Tragödie eingefangen; eine kleine Figurantin in diesem Spiel lebte nicht mehr – das war der Lauf der Welt; hier stand wichtigeres auf dem Spiel. Ein paar mochten flüchtig an die junge temperamentvolle Schönheit denken, die vor wenigen Stunden frisch und blühend vor dieser Schranke erschienen war.

»Hat die Verteidigung zu diesem Ereignis irgendwelche Anträge zu stellen?«

Der Substitut des Herrn Doktor Farago stand auf. Er wurde puterrot; es war, als ob sich leise Heiterkeit bemerkbar mache. Aber ihm fiel zum Glück das Richtige ein. Er sagte darum schlicht:

»Die Verteidigung behält sich alle Anträge vor.«

Die Heiterkeit wurde stärker.

Der Präsident faltete das Telegramm zusammen und nahm die Zeugenliste.

»Baron Banffy!«

Der Gerichtsdiener ging zur Tür. Er öffnete sie und rief auf den Korridor hinaus:

»Baron Banffy!«

Nach einer Weile kehrte er zurück mit der Meldung:

»Der Baron Banffy ist nicht erschienen.«

Kopfschüttelnd las der Präsident den zweiten Namen vor:

»Graf Erdödyi!«

Der Gerichtsdiener ging an die Tür. Er rief den Namen hinaus. Dann kehrte er zurück mit der Meldung:

»Der Zeuge Graf Erdödyi ist nicht erschienen!«

Der Präsident sah zum Oberstaatsanwalt hinüber.

Der Prinz Juhász!«

Der Gerichtsdiener rief den Namen auf. Er kehrte zurück mit der Meldung: auch der Prinz Juhász sei nicht erschienen.

Der Vorsitzende schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Was bedeutet das? Hat die ganze Nachbarschaft des Schlosses Klausenburg die Flucht ergriffen? Die drei Zeugen waren mit ihren Damen in der Mordnacht Gäste der Angeklagten. Sie könnten uns vermutlich manches sagen, was von Wichtigkeit ist.« Er blätterte ungeduldig in der Liste: »Der Graf Erdmannsdorf! Der Ritter von Stephany! Die Baronin Corvin!«

Der Gerichtsdiener meldete: daß keiner der Zeugen zur Stelle sei.

Den Stuhl hinter sich fortstoßend stand der Vorsitzende auf.

»Das ist eine Verabredung! Das ist abgekartetes Spiel! Durchlaucht: können Sie uns erklären, warum keiner von den Zeugen, die in jener Nacht auf Ihrem Feste waren, erschienen ist?«

Die Fürstin hob den Blick. »Ich weiß zufällig, daß die Baronin Corvin am Lido ist. Hoffentlich glauben Sie nicht im Ernst, Herr Präsident, daß zwischen den nicht erschienenen Zeugen und mir irgend ein Einvernehmen besteht.«

»Ich muß Sie bitten, Frau Fürstin, es meinem pflichtmäßigen Ermessen zu überlassen, was ich glauben oder nicht glauben soll. Fest steht: das Ausbleiben der Zeugen ist mehr als auffällig. Ich muß Ihnen eine kleine Überraschung bereiten: das Gericht wußte bereits, daß die Zeugen nicht erscheinen würden. Alle diese Herrschaften sind plötzlich von rätselhaften Krankheiten befallen worden, die sie zwangen, nach der Riviera, nach Ägypten, nach Italien abzureisen. Hier besteht irgend ein Zusammenhang. Man will Sie schonen: man will nicht, daß eine Frau, die einen ungarischen Adelsnamen trägt, verurteilt wird.«

»Selbst das glaube ich nicht, Herr Präsident«, sagte die Fürstin. Sie warf einen fragenden Blick auf den vor ihr sitzenden Substituten, dessen hoher Kragen blendend weiß vor ihr leuchtete. Er erhob sich pflichtschuldig:

»Im Namen meiner Mandantin muß ich gegen die Unterstellung Verwahrung einlegen, Ihre Durchlaucht könnte direkt oder indirekt die Abreise der Zeugen veranlaßt haben.«

Der Präsident machte eine ungeduldige Handbewegung; schleunigst nahm der Substitut wieder Platz.

»Ich darf Ihnen erklären, Herr Präsident«, fuhr die Fürstin fort, »daß alle die ungarischen Aristokraten, deren Namen Sie eben verlesen haben, meine Feinde sind. Vielleicht mit Ausnahme der Baronin Corvin.« »Ich sagte es Ihnen schon, Durchlaucht: ich glaube nicht eigentlich, daß Sie die Inspiratorin dieser Flucht sind. Aber ich bin überzeugt, daß diese Flucht eine Rücksichtnahme gegen Sie bedeutet... Herr Oberstaatsanwalt – bitte!«

Doktor Belvárosi erhob sich. Mit seiner seltsam hellen Stimme, in deren Tiefe eine erbarmungslose Härte klang, sagte er, jedes Wort gleichmäßig betonend:

»Es ist der Anklagebehörde zur Kenntnis gekommen, daß Sie, Frau Fürstin, einen gewissen Stefan Ladinser gedungen haben.«

»Das ist eine Lüge!«

»Ich muß Sie bitten, sich zu mäßigen. Ich wiederhole: einen gewissen Stefan Ladinser.«

»Und ich wiederhole; das ist ... das ist ... Ich kenne Stefan Ladinser. Warum sollte ich leugnen, daß ich ihn kenne? Er ist unternehmungslustig ...« der Staatsanwalt nickte ironisch, »... ich habe ihn gebeten, alle Beweise, die für meine Schuldlosigkeit sprechen, zu sammeln ... ist das ...«

Zum ersten Male verlor die Angeklagte die Haltung. Schluchzend fuhr sie fort:

»Ist es eine Sünde, wenn jemand, den man des Mordes anklagt, sich verteidigt? Wenn er Beweise sucht, die diese Anklage entkräften sollen?«

»Es ist nicht ganz so wie Sie sagen, Frau Fürstin Klausenburg. Sie haben diesem Ladinser eine halbe Million versprochen, wenn er Ihre Tochter – Ihre Tochter, Frau Fürstin – die Sie laut Zeugenaussage am Siebzehnten September 1921 getötet haben ...«

»Das ist eine neue Lüge!«

»... wenn er diese Tochter lebend in den Gerichtssaal bringt.«

»Ist das nicht mein gutes Recht?«

»Die geladenen und nicht erschienenen Zeugen nun, Frau Fürstin, sind die Einzigen, die die Prinzessin Prisca kennen. Die sie rekognoszieren könnten. Glücklicherweise scheint sich Herr Ladinser eines besseren besonnen zu haben. Aber gesetzt den Fall: diese Tür würde sich jetzt öffnen und eine Dame würde hereintreten mit den Worten: ›Ich bin die verloren geglaubte Prinzessin Prisca Klausenburg‹ – so wäre niemand da, der diese Behauptung widerlegen könnte. Und hier, in dieser Tatsache, erblickt das Gericht den Beweggrund für die plötzliche Abreise, ich darf wohl sagen: für die plötzliche Flucht der geladenen Zeugen. Daß die plötzliche Abreise dieser Zeugen also in Ihrem Interesse lag, bedarf keiner Beweisführung.«

»Sie sprechen, Herr Oberstaatsanwalt, als ob ich des Mordes an meiner Tochter überführt wäre!«

»Sie sind überführt!«

»Nein! Nein!« die Stimme der Angeklagten schwoll zu einem Schreien an – »Nein! Nein! Das ist nicht wahr! Der Zeuge hat gelogen!«

»Der Zeuge steht unter dem Schutz des Gerichts. Sie dürfen ihn nicht beleidigen.«

»Und im übrigen: Sie sagen, es wäre jetzt niemand da, der die Prinzessin kennt? Der sie rekognoszieren könnte? Bin ich nicht da? Ihre Mutter? Bin ich nicht die Erste, die ihr Kind erkennen würde?«

In das Gesicht des Oberstaatsanwalts trat ein Lächeln. Ein kleines, böses, hartes Lächeln. Das war die Wendung, auf die er gewartet hatte. Mit sanfter Stimme sagte er:

»Es ist nicht zu leugnen, Durchlaucht: daß Sie die Erste sein werden, die erkennen würde, ob die Eintretende Ihre Tochter ist – oder ob sie eine Schwindlerin ist. Aber da das Eintreten der lebenden Prinzessin gleichbedeutend wäre mit dem Zusammenbruch der Anklage gegen Sie – so dürfen wir die Vermutung aussprechen, daß Sie die Eintretende als Ihre Tochter anerkennen würden – selbst wenn eine Negerin in den Saal treten würde.«

Kichern kam durch den Raum. Man fühlte es: die Stimmung war wieder gegen die Fürstin umgeschlagen.

»Ich wäre bereit, einen Eid auf die Wahrheit zu leisten.«

»Das glaube ich Ihnen ohne weiteres, Durchlaucht. Aber leider werden Sie nach dem Gesetz dieses Landes nicht in die Lage kommen, diesen Eid zu leisten. Wir möchten Sie nicht in den Gewissenszwang bringen, sich durch einen Meineid das Leben zu retten.«

Die Tür ging auf. Herein trat der Rechtsanwalt Farago. Endlich ... Er machte ein gleichmütiges Gesicht. Ohne jemanden anzusehen, schlürfte er auf seinen Tisch zu.

»Ich glaube,« sagte der Präsident mit einem kleinen ärgerlichen Seitenblick auf den Verteidiger, »wir dürfen die Beweisaufnahme als beendet betrachten. Oder hat jemand noch eine Frage zu stellen?«

Eben erhob sich Doktor Farago, um irgend etwas zu sagen, als es leise an die Tür pochte. Der Gerichtsdiener sah fragend auf den Präsidenten; der zuckte die Achseln.

Es klopfte zum zweiten Male.

Auf ein Zeichen des Präsidenten ging der Gerichtsdiener zur Tür und öffnete sie eine Spanne weit.

Draußen mochte jemand stehen, den man nicht sah. Der Gerichtsdiener sprach ein paar leise hastige Worte – er wandte halb den Kopf in den Gerichtssaal hinein. Dann drückte er die Tür unentschlossen wieder zu und trat mit schnellen Schritten vor die Schranke. Erst jetzt sah man, daß er vor Erregung blaß geworden war. Er sagte mit lauter, ein wenig bebender Stimme:

»Die Prinzessin Prisca Klausenburg!«

»Was ist das?« Der Präsident stand auf; der Staatsanwalt stand auf; die Angeklagte hatte sich halb erhoben; sie hielt die Rechte mit gespreizten Fingern, wie in der Abwehr gegen eine unmögliche, befremdliche, unfaßbare Nachricht von sich gestreckt. Die Zuhörer auf den Bänken waren aufgesprungen; der ganze Gerichtssaal starrte auf den Gerichtsdiener, der diese unglaubliche Meldung gebracht hatte.

»Die Prinzessin Prisca Klausenburg?« wiederholte der Präsident ungläubig. »Aber das ist doch nicht möglich ...!«

Doktor Farago legte den Bleistift quer vor sich zu Häupten des Aktenstücks. Dann nahm er ihn wieder in die Rechte – das einzige Zeichen einer leichten Nervosität – und indem er gebieterisch auf die Tür zeigte, eine Geste, die ihn in diesem Augenblick tatsächlich seinem großen Vorbild, dem kleinen Napoleon, ähnlich machte, sagte er:

»Ich beantrage, die Prinzessin Prisca Klausenburg zu vernehmen!«

»Ja, ja«, erwiderte der Präsident. »Natürlich. Natürlich werden wir sie vernehmen. Wir werden jeden vernehmen, der uns in dieser Angelegenheit etwas zu sagen hat. Aber ich darf daran erinnern, daß hier eine Zeugin auftritt, deren Tod längst bewiesen ist.«

»So so«, nickte Doktor Farago. »Längst bewiesen. Nun: wir werden ja hören.«

Der Gerichtsdiener ging zur Tür. Er riß sie weit auf, machte eine einladende Handbewegung und sagte mit lauter amtlicher Stimme:

»Die Zeugin Prinzessin Prisca Klausenburg!«

Man glaubte in der lautlosen Stille, die sich in diesem Augenblick über den Saal legte, das Klopfen der Herzen zu hören. Nichts regte sich; es schien, als ob in der ganzen schweigenden Menschenversammlung der Atem stocke; man hörte das feine Rieseln des Regens auf den Fenstersimsen; es war, als ob die rinnende Zeit selbst in diesem Augenblick still stehe.

Susie Lacombe trat ein.

Sie blieb einen Moment zögernd stehen. Ihre dunklen Augen schweiften durch den Saal. Sie blieben auf dem harten Asketengesicht des Oberstaatsanwalts haften;

sie wanderten weiter, dort, der breitschultrige ältere Herr mochte der Vorsitzende dieses Tribunals sein; und hier, nahe dem Fenster, war der Sitz der Angeklagten. Sie sah die Frau, die hoch aufgerichtet, totenblassen Antlitzes, ihr entgegenstarrte; sie sah ihr in die Augen – der Blick der Frau dort oben bohrte sich in den ihren. Vor ihr saß ein kleiner glattköpfiger Herr, der sie wohlwollend anlächelte. Offenbar ein Freund. Wahrscheinlich der Verteidiger. Er winkte ihr verstohlen. Sie nickte unmerklich und ging langsam auf ihn zu. Die Frau dort über ihm, auf dem erhöhten Sitz, machte eine Bewegung, die sie nicht verstand. Eben wollte sie irgend ein Wort sagen: eine Begrüßung, eine Erklärung – da kam die Stimme des älteren Herrn dort drüben, des Präsidenten, durch den Saal:

»Ist das Ihre Mutter?«

Susie drehte zusammenfahrend den Kopf zu ihm hinüber; wieder blickte sie zu der Frau dort zu ihrer Rechten, die sie unverwandt anstarrte; sie trat einen, zwei Schritte auf sie zu. Die Frau dort erhob sich taumelnd, kam mit wankenden Knien die Stufen herunter. Sie breitete ihre Arme aus, zitternd, wie eine unendlich schwere Last schleppend; sie trat mit einem plötzlichen Schrei auf sie zu, legte die Arme um ihre Schultern, und sank schluchzend an ihr nieder.

»Ist das Ihre Mutter?« wiederholte der Präsident. Er war, sichtlich nicht ohne Bewegung, dem Vorgang gefolgt.

Der Gerichtsdiener kam herbei; ein paar Männer, vielleicht Beamte, vielleicht Zuhörer, bemühten sich um die Fürstin. Sie erhob sich wankend, immer noch ihre Augen in die der jungen Zeugin getaucht.

Der Oberstaatsanwalt erhob sich brüsk. »Ich muß Verwahrung einlegen«, sagte er mit scharfer Stimme – zum ersten Male in diesem Prozeß schien er wirklich erregt – »Protest gegen die frivole Komödie, die hier vor unsern Augen gespielt wird. Hier wird das Tribunal zur Szene – das ist eine Entwürdigung, eine Düpierung des Gerichts, gegen die ich die allerschärfsten Maßnahmen beantragen muß.«

»Prinzessin Prisca«, der Vorsitzende maß die Zeugin mit einem strengen Blick. »Bitte treten Sie vor diese Schranke. Beantworten Sie die Fragen, die ich an Sie stellen werde.«

Susie gehorchte zögernd.

Der Vorsitzende betrachtete sie forschend. Sie war jung, schön, rassig; in ihren dunkelbraunen Augen lag ein sonniges Leuchten.

»Zeugin – Sie wissen, daß Sie mit Ihrem Erscheinen in diesen Prozeß eine fundamentale Wendung bringen. Nicht wahr?«

»Ja.«

»Hat Ihnen irgend jemand eine Belohnung versprochen dafür, daß Sie mit dieser Behauptung vor der Königlichen Kurie erscheinen?«

Susie schüttelte den Kopf.

»Das bedeutet: Sie kommen freiwillig?«

»Ich hörte, daß man die ... daß man meine Mutter des Mordes angeklagt hat. Darum bin ich gekommen.«

»Können Sie sich legitimieren? Wenn Sie die Prinzessin Prisca sind, müssen Sie Papiere besitzen, die es beweisen.«

Zögernd antwortete Susie:

»Leider nicht. Meine Papiere sind, wenn ich nicht irre, im Gewahrsam meiner Mutter gefunden worden.«

In schnellem Tempo, fast als ob er ihr auf die Fersen trete, fragte der Präsident:

»Woher wissen Sie das?«

Susie zuckte die Achseln. Dann, während sie den forschenden Blick des Vorsitzenden auf sich ruhen fühlte, sagte sie:

»Ich habe es in der Zeitung gelesen.«

»So so,« wiederholte der Präsident murmelnd. »Sie haben es in der Zeitung gelesen ...« und indem er ihr plötzlich ins Gesicht sah, fragte er: »Ist es Ihnen bekannt, daß man die Leiche der Prinzessin Prisca in den Trümmern des englischen Pavillons gefunden hat?«

Susie warf einen erschreckten Blick hinüber zu der Fürstin; wieder sahen sich die beiden Frauen an. Die Fürstin schüttelte, vielleicht unbewußt, vielleicht absichtlich, den Kopf.

»Noch eines möchte ich Sie fragen: kennen Sie einen gewissen Stefan Ladinser

Ein gebieterisches Klopfen kam vom Tische des Verteidigers. Der Präsident wandte unwillig den Kopf. Doktor Farago war aufgestanden. Er wies mit dem Bleistift auf die Tür, mit diesem glänzenden, violetten, glanzpapierumkleideten Bleistift, der in seiner Hand wirkte wie ein kleiner Feldherrnstab:

»Ich stelle den Antrag, den Zeugen Smirno Petrovich, der uns die Geschichte von dem Mord im englischen Pavillon erzählt hat, hereinzurufen. Es haben sich ein paar kleine Unstimmigkeiten ergeben, die ich klarstellen möchte.«

»Herr Verteidiger,« sagte der Präsident in ziemlich unfreundlichem Ton, »da die Prozeßleitung in diesem Saal mir untersteht und nicht Ihnen, so möchte ich Sie bitten, meine Amtshandlungen nicht zu unterbrechen.«

»Herr Präsident,« antwortete Doktor Farago mit einer Verbeugung – »da die Wahrnehmung der Interessen der Angeklagten in diesem Prozeß meine Angelegenheit ist, so möchte ich bitten, sie mir nicht durch rein formale Einwendungen zu erschweren.«

»Ich habe die Zeugin gefragt,« fuhr der Präsident mit erhobener Stimme fort, »ob es ihr bekannt ist, daß man die Leiche der Prinzessin gefunden hat. Ich habe sie ferner gefragt, ob sie einen gewissen Stefan Ladinser kennt ...«

»Eben darum, Herr Präsident. Ich darf ohne weiteres annehmen, daß Ihnen genau wie mir nur ein Ziel vorschwebt: die Wahrheit zu finden. Das bedeutet: den Schuldigen – nicht einen Schuldigen.«

»Ich begreife nicht, was das mit meinen Fragen an die Zeugin zu tun hat.«

»Sie werden es sofort verstehen, wenn Sie den Zeugen Petrovich nochmals gehört haben.«

Der Präsident blickte hinüber zum Oberstaatsanwalt. Der sagte, ein wenig ungeduldig:

»Ich bin zwar der Meinung, daß hier zugunsten eines kleinen theatralischen Effekts ...«

»Herr Oberstaatsanwalt!«

»... um aber nicht in den Ruf zu kommen, daß ich mit verbissener Beharrlichkeit auf formalen Spitzfindigkeiten bestehe, möchte ich bitten, dem Ersuchen des Herrn Verteidigers stattzugeben. Zumal ich nicht wüßte, was uns der Zeuge Petrovich, der einen vernünftigen und besonnenen Eindruck gemacht hat, seinen Ausführungen noch Überraschendes hinzuzufügen haben sollte.«

»Der Zeuge Smirno Petrovich!«

Der Aufgerufene trat ein. Breitschultrig, breitspurig durch und durch gutsituierter, ein wenig eigensinniger Geschäftsmann.

»Nun, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Präsident.

Doktor Imre Farago nahm den Zwicker von der Nase, blickte prüfend hindurch, schüttelte den Kopf, zog ein grünseidenes Taschentuch, was leises Gelächter auslöste, putzte die Gläser gewissenhaft und umständlich. Setzte den Zwicker wieder auf und schaute mit neugierigen Augen den dunkelhäutigen Mann an, der mit abweisendem Gesicht vor ihm stand. Plötzlich sagte er:

»Ich glaube, der Herr Zeuge ist noch gar nicht vereidigt?«

Petrovich wandte sich entschlossen zum Richtertisch herum. Die Bewegung hatte offenbar zwei verschiedene Bedeutungen: erstens, daß Herr Petrovich bereit sei, sich der Formalität der Vereidigung auf der Stelle zu unterwerfen – und zweitens, daß er eine Unterhaltung mit diesem kleinen unangenehmen Herrn, in dem er den Feind fühlen mochte, ablehne.

»Sprechen Sie mir die Eidesformel nach!«

Der Aufgeforderte hob die Hand.

In diesem Augenblick sagte Doktor Farago:

»Ich möchte verhüten, daß der Zeuge einen Meineid leistet.«

Der Präsident sah stirnrunzelnd auf. »Was Sie da sagen, Herr Doktor Farago, kommt einer Beleidigung gleich. Der Zeuge steht unter dem Schutz des Gerichts.«

»Gewiß, Herr Präsident. Aber ich glaube: auch die Angeklagte steht unter dem Schutz des Gerichts.«

Herr Petrovich drehte sich um und sagte etwas auf Kroatisch, was niemand verstand.

»Sie müssen schon deutlicher werden, Herr Doktor Farago. Wenn Sie nicht wünschen, daß dieser Herr Sie wegen der Kränkung zur Verantwortung zieht.«

Doktor Farago zog die Uhr, »Ich erwarte einen Zeugen. Er muß jeden Augenblick hier sein. Da ich aber seine Aussage kenne, werde ich sie mit Erlaubnis des Königlichen Gerichtshofs kurz vortragen.«

»Wer ist dieser Zeuge?«

»Der Amtmann Arpád Rudnay, Königlich-Ungarischer Domänenverwalter auf Schloß Klausenburg.«

»Rudnay ... ich erinnere mich: die Regierung hat ihn als Verwalter eingesetzt. Was hat Herr Rudnay uns Wichtiges zu sagen?«

»Darf ich einige Fragen an den Zeugen Petrovich stellen?«

»Bitte.«

»Herr Petrovich ... was ich Sie jetzt fragen möchte, betrifft Ihr eigenstes Interesse. Von Ihnen wird es abhängen, ob Sie diesen Saal als ein freier Mann verlassen werden – oder als ... oder nicht.«

Petrovich zuckte die Achseln und sah Herrn Doktor Farago von oben bis unten an.

»Sie haben uns eine anschauliche Schilderung des Mordes gegeben. Nun sind im Park nur wenige Lampen; das werden Sie wissen, denn Sie waren ja, wie Sie sagen, vorübergehend auf Schloß Klausenburg in Dienst. Wenn auch nur an einem einzigen Abend. Wie war es Ihnen möglich, in dieser halben Dunkelheit zu erkennen, wen Sie vor sich hatten? Vielleicht war es gar nicht die Fürstin? Vielleicht war es ebensowenig die Prinzessin?«

Der Staatsanwalt unterbrach den Fragenden. »Sie scheinen den Zeugen nicht ganz richtig verstanden zu haben. Er hat niemals behauptet, daß er die Szene im Licht der Parklampen beobachtet habe. Vielmehr hat er uns ausdrücklich erzählt, wie die Sache vor sich gegangen ist: die Tür des Pavillons wurde aufgerissen; helles Licht flutete heraus. Die Tür schloß sich wieder; durch die Scheibe beobachtete der Zeuge den Mordvorgang. Nicht wahr, Herr Petrovich?«

Der Zeuge nickte eifrig.

»Hier eben liegt die kleine Unstimmigkeit, auf die ich den Zeugen aufmerksam machen möchte. Ich habe mit Herrn Rudnay zu Beginn der Pause telephoniert. Es wird Sie interessieren zu hören, meine Herren: daß der englische Pavillon gar keine Beleuchtung hatte

»Was ist das?« Der Präsident sah den Zeugen erstaunt, ehrlich entrüstet an. »Was ist das?«

»Der Pavillon ist auch niemals in Benutzung gewesen. Er war vollgepackt mit alten Möbeln. Es war einfach physisch nicht möglich, daß sich dort die Damen ein Rendezvous gegeben haben können.«

Eine kleine Pause trat ein. Der Präsident heftete seinen durchdringenden Blick auf den Kroaten, der schweigend vor ihm stand, den Hut in der Hand drehend. Der Instinkt des Kriminalisten mochte ihm sagen: dieser Mann hat gelogen.

Er betrachtete den sich förmlich unter seinen Blick Windenden finster. Dann sagte er plötzlich:

»Warum haben Sie das Gericht getäuscht?«

Der andere zuckte hilflos die Achseln.

Der Vorsitzende schlug mit der Faust auf den Tisch; erschrocken fuhr der Zeuge zusammen.

»Wenn Sie mir nicht haarklein alles gestehen, lasse ich Sie auf der Stelle verhaften!«

»Man hat mir Geld dafür gegeben ...« sagte der Ertappte leise.

»Geld ... damit Sie falsches Zeugnis ablegen sollten?«

»Ja.«

»Wer hat Ihnen dieses Geld gegeben?«

»Muß ich diese Frage beantworten?«

»Selbstverständlich.«

»Darf ich dem Herrn Zeugen ein wenig zuhilfe kommen?« mischte sich Doktor Farago in das Verhör. »Herr Petrovich: hier ist eine Liste der Nachbarn der Frau Fürstin. Sie sind nicht erschienen. Sie sind sämtlich krank geworden und mußten abreisen. Ist Ihr Auftraggeber unter diesen Herrschaften? Lesen Sie die Namen genau durch.«

Herr Petrovich setzte eine Brille auf und überflog die Namen gewissenhaft mit den Augen.

»Ja«, sagte er. »Der Name ist darunter.«

»So ungefähr habe ich es mir gedacht,« sagte Farago. »Herr Präsident – Sie sehen: ein Komplott. Ein feiges, niedriges, gemeines Komplott gegen die landfremde Frau: bestimmt, sie ins Verderben zu stürzen. Denn, Herr Präsident, ich erkläre es feierlich: die Fürstin Klausenburg ist unschuldig!«

Beifallklatschen klang auf.

*

Der Gerichtshof kam von einer kurzen Beratung zurück. Der Präsident verkündete: »Obwohl eine der Angeklagten ungünstige Zeugenaussage widerlegt worden ist, besteht der dringende Verdacht des Mordes gegen die Angeklagte weiter. Das Verfahren nimmt daher seinen Fortgang. Insbesondere ist die Auffindung der Leiche der verbrannten Prinzessin Prisca Klausenburg, die die Angeklagte selbst rekognosziert hat, von so grundlegender Bedeutung, daß alle Gegenbeweise dadurch ad absurdum geführt werden. Weiteres Beweismaterial wird beschafft werden.«

Der Präsident machte eine kleine Pause. Er wandte sich an Susie Lacombe und sagte, ihr ins Gesicht sehend:

»Was Sie betrifft, so ist das Gericht überzeugt, daß Sie nicht die Prinzessin Prisca sind. Es verkennt nicht den menschenfreundlichen Zweck, den Sie verfolgt haben; es will deshalb von Ihrer Bestrafung absehen. Unter der Bedingung, daß Sie diesen Saal und dieses Land augenblicklich verlassen und dorthin zurückkehren, woher Sie gekommen sind – unter dieser Bedingung sollen Sie frei sein.« Der Präsident zog die Uhr. »Ich stelle Ihnen eine Frist von fünf Minuten. Wenn Sie in dieser Zeit den Saal nicht verlassen haben, so sind Sie verhaftet.«

Alles blickte auf Susie, die den Sprechenden schweigend angehört hatte. Sie mochte den versteckten Trick dieser spitzfindigen Erklärung herausfühlen; sie sagte, auf die Angeklagte blickend:

»Ich werde bleiben.«

»Sie werden bleiben?« wiederholte der Vorsitzende, scheinbar erstaunt. »Sie werden bleiben?«

»Bestrafen Sie mich, wenn Sie es vor den Gesetzen verantworten können. Dies ist meine Mutter – und ich bin ihre Tochter – mein Platz ist an ihrer Seite.«

In diesem Augenblick brauste ein Beifallssturm durch den Saal, der alles mit sich fortriß: alle Bedenken – alle Zweifel – und alle juristischen Spitzfindigkeiten, Die Zuhörerschaft mochte fühlen, daß der Vorsitzende, in den Spuren Salomos wandelnd, die Zeugin auf die Probe gestellt hatte – und sie jubelte der jungen, schönen Frau zu, die diese Probe so glänzend bestanden hatte. Man zerbrach die Barrieren – Trampeln – Lachen – Eljen-Rufe – Schluchzen kam durch den Saal. Alles stürmte auf die Angeklagte, auf die wiedergefundene Prinzessin Prisca zu – man umringte Mutter und Tochter – man schüttelte ihnen die Hände. Jubelrufe umschwirrten sie, Glückwünsche, Dankgebete.

Auch Doktor Imre Farago war sichtlich gerührt. Er hatte mit der einen Hand die Rechte der Mutter erfaßt, mit der andern die Linke der Tochter. Er sagte ihnen hundert erfreute und schmeichelnde Dinge. Die Augen der Fürstin Hannah schwammen in Tränen. Er blickte verstohlen auf die junge Prinzessin. Und er sah, daß ihr Gesicht unbeweglich war, ihre Augen ausdruckslos, wie die eines Menschen, der einem fremden und gleichgültigen Ereignis beiwohnt.

Aber der Herr Doktor Imre Farago hatte die Aufgabe übernommen: die Fürstin Klausenburg vor der Verurteilung zu retten. Und nicht: zu untersuchen, ob die Zeugin, die diese Rettung vollbracht hatte, die echte Prinzessin Prisca war – oder nicht.

*

Unter dem Druck des Volkswillens brach die Anklage zusammen. Die Angeklagte wurde vorläufig in Freiheit gesetzt. Das offizielle Urteil, eine rein formale Angelegenheit, war in den nächsten Tagen zu erwarten.


 << zurück weiter >>