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IV.

Die Tür der drahtlosen Telephonkabine rollte zurück. Der Boy erschien, die Depesche in der Hand.

Er hastete, das Couvert emporhaltend, den Wagenkorridor hinunter:

»Ein Telegramm für Herrn Peter Thornquist!«

Das Rattern des D-Zuges verschlang seine Worte. Ein paar Reisende blickten flüchtig auf. Er lief weiter.

»Ein Telegramm für Herrn Peter Thornquist!«

Susie Lacombe saß mit ihrem Begleiter im Coupé Erster Klasse des zweiten Wagens. Die beiden waren allein; durch die Fenster, die weit geöffnet waren, floß weich und lind das Sonnengold des frühen Nachmittags. Zur Linken blitzte das silberne Band der Donau.

Peter Thornquist war in den Anblick des leuchtenden Bildes versunken; Susie betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Der Zugwind hatte eine Strähne seines dunklen Haares in die Stirn geweht; das gab seinem Gesicht einen Zug von Weichheit, der in auffallendem Gegensatz zu seinem eigentlichen Wesen stand. Seine dunklen Augen blickten bestimmt und beherrscht auf die vorübergleitende Landschaft. Dieser ruhige junge Mensch war geistig und körperlich durchtrainiert; man erkannte es an jeder seiner Bewegungen. Er sah nicht aus wie jemand, der einer Frau zuliebe eine Torheit begeht.

»Ein Telegramm für Herrn Peter Thornquist!«

Sie blickte unruhig auf ihr Gegenüber. Das Abteil war vom Lärm des Zuges so sehr erfüllt, daß er nichts gehört hatte. Nebenan öffnete sich die Tür des Coupés. Jemand trat heraus. Sie konnte ihn im schrägen Winkel ihrer Blickrichtung undeutlich erkennen: sie schrak zusammen ...

»Herr Peter Thornquist ...?« sagte draußen der Boy.

In diesem Augenblick wandte ihr Begleiter den Kopf. Er erhob sich und öffnete mit einer hastigen Bewegung die Tür.

»Bitte ...!«

Im gleichen Augenblick verschwand der Reisende wieder ins nächste Coupé; sie hörte das Zurückrollen der Tür, die mit einem Krach ins Schloß schnappte. Thornquist trat wieder ein. Er stieß mit dem Ellenbogen die Tür zu; dann riß er den Umschlag auf und las die Depesche.

»Hier«, sagte er lächelnd.

Sie überflog hastig das Telegramm mit bangen Augen. Es lautete:

Nehmen Sie heute D-Zug Wien–Budapest, abgehend Zweiundzwanzig Uhr Dreißig Südbahnhof. Abteil drei des ersten Wagens für Sie reserviert. Die beiden mitfahrenden Herren werden sich legitimieren und Ihnen weitere Instruktionen geben.

S. L. Y.

Susie gab das Telegramm zurück, mit einem nervösen Flimmern in den Augen, das ihm entging.

»Ist das nicht eine glückliche Fügung?« fragte er lächelnd. »Sie müssen mit dem Nachtexpreß nach Wien; Herr Ladinser wünscht, daß ich Sie begleite. Im selben Augenblick bekomme ich von meiner vorgesetzten Stelle den Auftrag, mit dem Nachtexpreß nach Wien zu fahren. War das nicht ein herrliches Zusammentreffen?«

Susie nickte gedankenvoll.

»Und nun lautet meine neue Instruktion: mit dem Halbelf-Uhr-Zug heute abend nach Budapest fahren ... mit demselben Zuge, mit dem Sie reisen. Ist das nicht wirklich Glück, das ich habe?«

»Ja ja«, sagte sie zerstreut. »Es ist wirklich ein glücklicher Zufall.«

»Denn ich muß Ihnen offen gestehen –« er lächelte, ein ganz kleines bißchen verlegen werdend: »Ich weiß noch immer nicht recht, wofür ich mich im andern Falle entschieden haben würde.«

»Nicht für mich?« fragte sie, ihm mit leiser Koketterie zulächelnd.

Er zuckte die Achseln. »Also rund heraus: die Wahl wäre mir schwer geworden. Sie können das vielleicht nicht ermessen, was es für einen Mann bedeutet: seiner Pflicht zuwiderzuhandeln.«

Sie wies auf die Landschaft dort draußen. »Sehen Sie die Türme – dort, im Dunst? Das ist Wien.«

Er sah ihr bewundernd in die Augen. »Wie graziös Sie sind! Ihre Bewegungen erinnern mich an Lillian Gish.«

Sie hob verstohlen den Blick.

»Und ich darf Ihnen sagen,« er beugte sich vor und nahm ihre Hand, »ich bin glücklich, daß ich diese Reise mit Ihnen fortsetzen darf.«

Sie lehnte sich lächelnd, mit einem befreiten Aufatmen, zurück. »Was haben Sie eigentlich gedacht, als Sie mich an jenem Nachmittag in Berlin wiedersahen?«

Er zuckte unschlüssig die Achseln. »Das ist schwer zu beschreiben.«

»Freuten Sie sich?« fragte sie.

»Ich glaube, es war mehr als Freude. Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen: seit jener Nacht in New York habe ich immer an Sie gedacht. Ich hoffte tagaus, tagein. Wie ein Kind. Können Sie sich das vorstellen? Ich wußte, diese Frau – Susie Lacombe hatte Sie der Beamte genannt – diese Frau wird dir wieder begegnen. Du wirst mit ihr sprechen. Du wirst ihr tausend Dinge sagen.«

»Tausend Dinge? Davon haben Sie bisher, glaube ich, kaum zwei oder drei gesagt.«

»Es ist so schwer«, sagte er traurig.

»Warum denn, um Gottes willen?«

»Weil ich jetzt erfahren habe, daß Sie eine Prinzessin sind. Das alles ist so furchtbar hinderlich: die Anrede – die Distanz – ich glaube fast, Ihre Gefühlswelt ist eine ganz andere als die meine.«

»Aber diese Prinzessin –« ihr Lächeln wurde stärker und sicherer – »aber diese Prinzessin ist doch Ihre Frau. Wenigsten –« beeilte sie sich hinzuzufügen – »wenigstens vor den Behörden«.

Er wiegte den Kopf. »Eine Komödie. Die bald zu Ende sein wird.«

Sie warf einen Blick auf das Telegramm, das zusammengefaltet auf dem Fenstertischchen lag.

»Was bedeutet das: ›S. L. Y.‹?«

Er schien die Frage nicht gehört zu haben. »Über eines habe ich mir bisher vergeblich den Kopf zerbrochen«, sagte er sinnend. »Darf ich davon sprechen?«

Sie nickte. »Ich kann mir schon denken, was Sie wissen wollen.«

»Warum sind Sie in jener Nacht in mein Zimmer gekommen? Vor wem sind Sie geflohen? Weshalb wurden Sie von den Beamten verfolgt?«

Eine kleine Pause entstand. Er betrachtete sie aufmerksam. Vielleicht ein kleines bißchen mißtrauisch. Vielleicht auch nur mit dem zärtlichen Blick des Verliebten.

»Was würden Sie von mir denken«, begann sie zögernd, »wenn ich jetzt sagen würde: bitte erlassen Sie mir die Antwort auf diese Frage?«

Ein Windstoß trug den Rauch der Lokomotive herein; er schloß das Fenster mit einem schnellen Ruck.

»Ich habe natürlich kein Recht, die Antwort von Ihnen zu fordern.«

»So meine ich es nicht. Sagen wir einmal: wenn ich Sie nun einfach bitten würde: wir wollen über diese Sache später einmal sprechen. Vielleicht, wenn wir uns ein bißchen näher kennen gelernt haben?«

Die Landschaft dort draußen wurde häuserreicher. Der Bahnkörper verbreiterte sich; Waggons standen zur Rechten, zur Linken rangierbereit auf abzweigenden Schienensträngen.

» Wien ...« sagte er.

Sie blickte forschend in sein Gesicht, über dem ein leiser kaum merkbarer Unmut lag.

»Wenn ich Sie jetzt etwas fragen würde«, begann sie lächelnd, »würden Sie mir die gleiche Antwort geben...?«

»Nein«, sagte er bestimmt.

»Ich nehme Sie beim Wort. Also: was bedeutet S. L. Y.?«

Er lachte. »Jetzt bleibt mir keine Wahl. S. L. Y. heißt: Scotland Yard. Wissen Sie, was Scotland Yard ist?«

Sie nickte. »Die Londoner Polizeizentrale.« Und indem sie ihn mit großen fast erschreckten Augen ansah, fragte sie:

»Sind Sie ein Detektiv von Scotland Yard?«

Die Räder hämmerten über die Einfahrtsweichen des West-Bahnhofs; der Zug fuhr langsamer.

»Nicht eigentlich«, antwortete er. »Ich habe die Welt ein paarmal bereist; dabei hatte ich durch Zufall Gelegenheit, ein paar kriminelle Rätsel zu lösen: in Montreal den Fall Bob Bantam; in Sydney das Rätsel der Selbstmordepidemie. Die Herrschaften in London wurden auf mich aufmerksam; als ich zurückkehrte, machte mir Scotland Yard ein Angebot. Da mein Geld inzwischen aufgebraucht war, nahm ich an. Seither stehe ich gelegentlich in Diensten von Scotland Yard: für besondere Missionen.«

»Und darf ich fragen, welcher Art Ihre augenblickliche Mission ist?«

Die Bremsen zogen an. Der Zug fuhr hämmernd in die dunkle Halle des Wiener West-Bahnhofs ein.

Thornquist wies auf das Telegramm. »Auch wenn ich Ihnen diese Frage beantworten wollte – ich könnte es nicht. Sie haben selbst gelesen, daß ich meine Informationen erst heute abend, im Zuge nach Budapest, empfangen werde.«

Susie faßte nach ihrem Koffer. Er kam ihr höflich zuvor.

»Wenn nun die Mission, die Sie heute abend erhalten, Sie in eine feindselige Stellung zu mir bringen würde?« fragte sie, ihn über die Schulter ansehend. »Wofür würden Sie sich entscheiden?«

Er blickte sie verdutzt an; dann brach er in ein herzliches Lachen aus. »Meine Mission gilt irgend einem Verbrechen; das ist sicher. Was hätten Sie, die junge schöne Prinzessin Prisca, wohl mit einem Verbrechen zu tun?«

Gepäckträger erklommen die Trittbretter. Wanden sich in die Abteile. Stürmten mit dem Gepäck auf den Bahnsteig hinunter.

Thornquist ging voran, den Weg für Susie bahnend.

Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie wandte sich um. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen war es Ladinser.

»Sie?« fragte sie verwirrt.

»Was steht in dem Telegramm?« flüsterte er.

Sie wies warnend auf Thornquist, der vor ihr ging; Ladinser machte eine abwehrende Handbewegung.

»Wir fahren mit dem Abendzuge nach Budapest: um Zehn Uhr Dreißig. Im Abteil erwartet er Informationen von Scotland Yard.«

Eben ging Thornquist die Stufen hinunter, die auf den Bahnsteig führten. Er wandte sich um. Susie nickte ihm hastig zu.

»Haben Sie den ungarischen Diktionär studiert, den ich Ihnen gab?«

»Gewiß.«

»Können Sie die ungarischen Fragen beantworten, die man Ihnen stellen wird?«

»Ich hoffe.«

»Hören Sie, Susie: Sie müssen Thornquist dahin bringen, daß er den Zehn-Uhr-Dreißig-Zug versäumt.«

»Versäumt?« wiederholte sie verwundert. Eben stand sie am Trittbrett des Waggons; er umklammerte ihren Arm.

»Morgen früh«, flüsterte er beschwörend – »morgen früh beginnt der Schwurgerichtsprozeß in Budapest. Gegen die Fürstin Klausenburg. Wenn Thornquist heute abend den Zug erreicht, ist alles aus: auf der Fahrt wird er erfahren, wer Sie sind – und Sie werden morgen auf dem Schwurgericht in Budapest als Hochstaplerin verhaftet. Sie müssen sich heute als eine kluge und verführerische Frau erweisen, Susie: Sie müssen ihn dahin bringen, heute nacht mit Ihnen in Wien in ein Hotel zu gehen.«

Sie errötete. »Verlangen Sie das im Ernst von mir?« fragte sie empört.

Er wiegte beruhigend den Kopf. »Ich weiß, Sie sind klug. Taktvoll. Schlau. Sie werden ihm alles versprechen – und ihm nichts gewähren.«

»Ich kann es nicht.«

»Wollen Sie die arme Fürstin Klausenburg retten?«

»Ja«, murmelte sie gequält.

»Dann müssen Sie dem guten Werk zuliebe dies Opfer bringen, Susie. Sie werden alle Künste spielen lassen. Er muß sich rasend in Sie verlieben. Er muß Ihnen so rettungslos verfallen sein, daß er seine Pflicht darüber vergißt. Er darf nur den einen Wunsch haben: Sie in den Armen zu halten. Mit Gewähren und Versagen, mit Lächeln, mit Schluchzen – mit Ja und Nein müssen Sie ihn dahin bringen, daß er den verhängnisvollen Nachtzug nicht erreicht

Thornquist kam, ungeduldig, der Menge entgegen, auf den Wagen zu. Er spähte durch das Coupéfenster.

Susie riß sich los; sie ging hastig die Stufen hinunter, ihm entgegen.

*

Der Wagen fuhr den Kärtnerring herunter. Die beiden, noch das Neunzig-Kilometer-Tempo des Steyr im Blut, sahen sich mit verhaltenem Lächeln in die Augen.

Susie blickte verstohlen zurück. Dort war wieder das Auto. In der Währingerstraße hatte sie es zuerst bemerkt.

Eilfertig kam der Portier aus dem Hause. Der Steyr hielt.

Ein Flaneur zog grüßend den Hut. Huldigung eines Unbekannten an eine schöne Frau: Wiener Art.

Alle Dinge waren eingehüllt in diese weiche Atmosphäre, die der Nacht von Wien jene prickelnde spielerische Erotik gab. Über dieser ganzen Stadt schien es wie Musik zu liegen.

Flüsternd sagte Thornquist:

»Bitte bleiben Sie im Wagen. Ich lasse die Koffer bringen.«

Susie blickte zur Rechten. Dort stand das Auto; es hielt jenseits des Hochstrahlbrunnens. Ladinser ...? ging es ihr durch den Kopf. Aber sie wußte im selben Augenblick, daß es nicht Ladinser war.

»Wir haben das Doppelzimmer für die Herrschaften reserviert«, sagte der Empfangschef, während der Lift emporglitt.

»Reserviert ... Doppelzimmer ...?« Thornquist schüttelte den Kopf.

Der Lift hielt. Die beiden stiegen aus.

»Bitte.« Der Empfangschef ging voran.

Flügeltüren taten sich auf. Das Licht warf zärtliche und kosende Reflexe auf seidenbespannte Wände, die den Raum in farbige Helle tauchten. In prismenklirrenden Kristallüstern brach sich hundertfach das Licht, das gedämpft aus unsichtbaren Quellen strahlte. Der hohe Raum schimmerte in sonnenähnlichem Glanz.

»Herr und Frau Thornquist, nicht wahr?«

»Allerdings.« Thornquist nickte ungeduldig ... »Ich habe dem Gepäckträger die Koffer nur zur Aufbewahrung gegeben. Ich habe ihm ausdrücklich gesagt, daß wir mit dem Halb-Elf-Uhr-Zuge weiterfahren.« Der Empfangschef zuckte die Achseln. »Die Herrschaften wünschten ein Appartement, hat der Gepäckträger ausgerichtet. Bitte, mein Herr: dies ist das Schlafzimmer; und dort: die Tür zum Badezimmer ...«

»Das muß ein Mißverständnis sein«, unterbrach ihn Peter ärgerlich. »Schaffen Sie meine Koffer zum ...«

»Wie herrlich!« sagte eine Frauenstimme bewundernd.

Es war Susie, die unbemerkt eingetreten war.

»Denken S... denke dir: der Gepäckträger hat dieses Zimmer für uns bestellt!«

Susie lachte. Einen schnellen Blick auf die Armbanduhr werfend sagte sie:

»Wir haben noch eine ganze Stunde Zeit ...«

Der Empfangschef, der seine Chance erkennen mochte, bestätigte, mit einer Verbeugung gegen die junge Frau:

»Es ist das Fürstenzimmer, gnä' Frau. Wir vermieten es hauptsächlich an Hochzeitsreisende.«

Peter räusperte sich.

»Wie reizend«, sagte Susie. Als Peter sie erstaunt ansah, erkannte er, daß sie die Blumen meinte, die ihr eben der Empfangschef in einer Vase darbot: hellrote Rosen.

»Aus dem Park von Schönbrunn«, sagte er stolz.

»Ich habe einen schrecklichen Durst!« seufzte Susie, »Haben Sie nicht irgend etwas zu trinken? Vielleicht eine Flasche Sekt?«

»Sehr wohl.«

»Und ein paar Biskuits. Es ist gesünder«, setzte sie erläuternd hinzu.

»Zweimal Teegebäck ...«

»Und eine Schachtel Zigaretten.«

»Sofort.«

Der Empfangschef machte eine tiefe Verbeugung und ging hinaus.

Susie trat ans Fenster. Sie schob die Seidenvorhänge ein wenig auseinander. Aus dem Dunkel des Schwarzenbergplatzes stieg die Flammengarbe der Leuchtfontäne Zum Nachthimmel empor. Sie betrachtete gedankenversunken das strahlende Wunder.

Thornquist trat an ihre Seite. Sie nahm seine Hand.

»Diese herrliche Fahrt nach dem Kahlenberg!« sagte sie leise. »Sie hat mich völlig berauscht. Wie schön diese Stadt ist! Wir in Amerika kennen nur: Tempo ... Arbeit ... Geldverdienen ... Hier haben die Menschen eine so graziöse Art, nichts zu tun. Dabei sehen sie glücklich aus. Mir scheint, es geht auch ohne unsere entsetzliche Hast.«

Er sah ihr in die Augen, lächelnd, sichtlich von ihrer Stimmung mitgerissen. Auf ihrem Gesicht lag der Widerschein der Flammengarbe dort drüben.

»Wenn ich nur wüßte, wie der Gepäckträger auf den Einfall gekommen ist, dies Zimmer zu bestellen ...«

»Allmächtiger! Wollen Sie ihn zur Verantwortung ziehen?«

»Nein,« sagte er lächelnd. »Ich möchte mich bei ihm bedanken.« Aber während sie betroffen, mit einem Evalächeln, den Kopf zu ihm emporhob, setzte er bereits hinzu: »Immerhin: wissen möchte ich doch, wie er auf den Gedanken gekommen ist.«

»Ich bin ein ganz kleines bißchen müde«, sagte sie. Sie sah verlangend auf den Divan. »Das macht die lange Fahrt.«

Es klopfte. Man brachte den Sekt. Das Teegebäck. Und die Zigaretten.

Während Peter die Gläser füllte, streckte sich Susie wohlig auf dem gobelinbespannten Divan aus.

»Bringen Sie mein Glas hierher. Nein. So nicht. Rücken Sie einen Stuhl heran. Stellen Sie Ihr Glas auf den Fußboden: dort! So ist es richtig. Und nun setzen Sie sich zu mir.«

Er trank ihr zu.

»Wundervoll«, sagte sie, das Glas, das sie in einem Zuge geleert hatte, ihm von neuem entgegenstreckend. »Geben Sie mir ... Ich glaube übrigens ...« ihre Stimme wurde leiser, »es macht einen schlechten Eindruck, wenn wir Sie zueinander sagen. Man könnte uns belauschen.« Und mit erhobener Stimme fuhr sie fort: »Gib mir noch ein Glas Sekt!«

Er füllte die Gläser von neuem; wieder tranken sie.

»Eine Zigarette!«

Sie formte andächtig ein paar kleine Rauchringe.

»Ich weiß, woran du jetzt denkst«, seufzte sie.

»Nun?« fragte er lächelnd.

»An deinen geliebten Südbahnhof. Du hast doch nur die eine Angst: daß du den Zug versäumen könntest.«

Er lachte. Aber das hinderte ihn nicht, einen schnellen Blick auf die Uhr zu werfen. »Wir haben noch dreiviertel Stunde.«

Sie warf sich unmutig herum. »Es ist unerträglich zu wissen, daß du in diesen herrlichen Räumen, in dieser herrlichen Stimmung bloß immer denkst: wir haben noch dreiviertel Stunde – jetzt sind es nur noch vierzig Minuten ... jetzt nur noch achtunddreißig ...« Und indem sie ihm zärtlich die Arme um den Nacken legte, sagte sie: »Hast du ganz vergessen, daß du eine Frau hast?«

Er wich ihrem Blick aus. »Ich habe es nicht vergessen. Ich denke daran. Öfter als du ahnst.«

»Wirklich?«

»Und mehr ... mehr als gut ist.«

»Mehr als gut ... kann den überhaupt etwas mehr sein als gut? Du mußt es mir sagen – ich will es hören, in dieser Stunde will ich es wissen: hast du mich lieb?«

»Du weißt es«, sagte er gequält.

»Warum machst du so ein schuldbewußtes Gesicht? Ist es eine Sünde, seine Frau zu lieben?«

»Du weißt: der Standesunterschied ...«

»Oh Gott! Oh Gott! Du bist ein echter Deutscher. Weißt du was? Denk einmal, ich wäre gar keine Prinzessin. Bilde dir ein, die ganze Geschichte mit Budapest wäre nur arrangiert, um jene Frau zu retten. Und ich wäre die kleine Filmschauspielerin Susie Lacombe aus Hollywood. Was würdest du dann tun?«

Er sah sie an; in seine Augen trat ein flimmernder Glanz.

»Wenn du Susie Lacombe wärest ... und nicht die Prinzessin Prisca ... dann würde ich dich jetzt in meine Arme nehmen. Dann würde ich Budapest – Budapest sein lassen.«

»Nun also: Was hindert dich, es zu tun? Komm, gib mir noch ein Glas Sekt.«

Sie tranken.

»Das Licht blendet mich«, klagte Susie. »Ich glaube, dort ist der Schalter.«

Gehorsam ging er hinüber.

»Ist es recht so?«

Sie nickte. Nun brannte nur noch die große Schirmlampe.

»Komm her zu mir.«

»Willst du eine Zigarette?«

»Nein.«

Er setzte sich auf den Rand des Divans. Und plötzlich umfaßte er sie mit beiden Armen.

»Horch!«

Sie lauschten in die Stille hinein. Eine Walzermelodie schwebte herüber. Man hörte undeutlich den schleifenden Takt der Tanzenden.

»Möchtest du tanzen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte mit dir in diesem Zimmer sein. Nichts weiter. Gerade so wie es jetzt ist. Nichts darf sich ändern. Du sollst mich in deinen Armen halten ... du sollst mich küssen ... und du sollst nichts denken, als daß du mich liebst. Und daß ich dich lieb habe.«

Er preßte sie heftiger an sich.

»Ist denn alles andere nicht gleichgültig?« flüsterte sie. »Immer meint man: dies und das müsse jetzt, in der nächsten Minute, sein – und immer hätte es Zeit gehabt. Aber du und ich und unsere Liebe: das alles kann morgen schon vorüber sein. Wer weiß, was der neue Tag bringt? Vielleicht wirst du mich morgen von dir stoßen. Vielleicht wird eine andere kommen. Vielleicht auch, daß jemand die Hand nach mir ausstreckt – und daß ich ihm folgen muß. Gegen meinen Willen, wahrhaftig: denn ich liebe dich. Aber das Leben ist stärker als wir. Du sollst nicht fragen, ich kann es dir nicht erklären. Du sollst an mich glauben. Du sollst mich lieb haben. Mir sagen, daß alles andere auf der Welt jetzt versunken ist in dem Dunkel dieser Nacht. Dieser herrlichen Nacht, die uns beiden ganz allein gehört. Ich möchte schlafen, Liebster. Ich möchte schlafen: so wie jetzt, in deinen Armen – und ich möchte nicht mehr erwachen. Willst du bei mir bleiben?«

»Ich darf nicht«, murmelte er.

»Dann geh!« sagte sie seufzend.

Er machte eine halbe Wendung wie um sich zu erheben; aber wie unter einem Banne zog es ihn von neuem zu ihren Füßen nieder. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Du bist stärker als ich. Du hast recht: hier ist das Glück – was kümmern mich jene Leute? Mögen sie warten – mögen sie vergebens warten. Vielleicht ist es morgen noch nicht zu spät. Vielleicht doch – was liegt daran? Ich bin jung – du bist jung. Wir haben uns lieb – ja – dies ist das Glück, Liebste. Das Glück, das ich in den Armen halte, der Rausch dieser Nacht, die vor uns liegt. Ich will sie mir nicht rauben lassen; kein Mensch hat das Recht, sie uns zu nehmen. Niemand darf sagen: du hast deine Pflicht nicht getan. Niemand darf mir jetzt befehlen als du. Nur du.«

Er küßte sie; zärtlich preßte sie ihre Wange gegen die seine.

»Sag mir noch einmal, daß du mich lieb hast.«

»Ich liebe dich.«

»Wie sehr liebst du mich?«

»So wie nur ein Mann eine Frau lieben kann.«

»Würdest du mich auch lieben, wenn ich ... wenn ich dich belogen hätte? Wenn ich nicht die Prinzessin Klausenburg wäre – sondern die einfache Susie Lacombe? Ich weiß, du wirst jetzt Ja sagen. Aber ich will wissen, ob es die Wahrheit ist.«

»Es ist die Wahrheit.«

»Du sollst es mir schwören.«

»Ich schwöre es dir.«

»Versteh' mich recht. Ich meine: wenn du nun morgen, oder später einmal vielleicht, erfahren solltest: das alles wäre nur ein Märchen gewesen. Oder, wie sagt man: ein Betrug ... was würdest du von mir denken?«

»Ich würde dich trotzdem lieben.«

»Genau so wie jetzt?«

»Tausendmal mehr.«

Sie küßte ihn schweigend. Er spürte den warmen Duft ihres Körpers. Zärtlich und verheißungsvoll schimmerte es vor seinen Augen: das rosige Fleisch ihrer Arme, der junge Nacken, der sich in weicher Linie gegen das Dunkel abhob. Ihr Kleid hatte sich verschoben; lockend glänzte die weiche Rundung ihrer Knie unter dem hellen Seidenstrumpf.

Er atmete schwer. Schwül und schmeichelnd lag der Duft der Rosen über dem Raum. Eine Tangomelodie, gedämpft, voll verhaltener Begierde, rieselte durch die Stille.

Dort standen die hohen Fenster gegen die Nacht. Seidenverhangen, abgeschlossen gegen die nächtliche Stadt, gegen dieses lebenswarme, blutvolle Wien. Er fühlte den heißen Atem dieser wollüstigen Nacht; die Sinnenfreude dieser Stadt nahm ihn gefangen, hüllte ihn ein, ihn und die schöne junge geliebte Frau an seiner Seite.

Taumelnd erhob er sich. Seine Hand zitterte. Er löschte das Licht.

*

Es klopfte hart gegen die Tür.

»Herr Thornquist?«

»Was gibt's?«

»Ein Herr ist unten. Er muß Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«

Susie stieß einen unterdrückten Schrei aus. »Geh nicht hinunter.«

»Ich muß«, murmelte er. »Mir bleibt keine Wahl.«

»Wer kann es sein?«

Er zuckte die Achseln. »Du weißt doch wer es ist.«

»Jene Leute?«

»Man hat mich auf dem Südbahnhof vergebens erwartet. Irgendwie muß es ihnen gelungen sein, mich hier ausfindig zu machen.«

Es klopfte zum zweiten Male.

»Ich komme!«

Peter Thornquist trat hinaus auf den Korridor, nun wieder vollkommen Herr seiner Gedanken, seiner Nerven. Das Deckenlicht stach ihm schmerzend in die Augen.

»Wo ist der Herr?«

»Unten im Schreibzimmer.«

Er ging die Treppe hinunter. Stufe für Stufe hämmerte der Gedanke in ihm: du hast deine Pflicht versäumt.

Ein Page öffnete die Tür zum Schreibzimmer.

Aus einem Klubfauteuil erhob sich ein Herr. Zu Thornquists Erstaunen war es Ladinser.

»Sie?« fragte er verwundert. Und, wie in einer jähen Reaktion auf die Ängste dieser letzten Minuten, setzte er unfreundlich hinzu: »Was wollen Sie?«

»Ich muß Ihnen etwas sagen. Etwas Ernstes.« Ladinser wies auf einen Stuhl.

Thornquist blickte ihm erwartungsvoll, ein wenig argwöhnisch ins Gesicht. In Ladinsers Augen war ein seltsam gehetzter Ausdruck; er war blaß, das Haar wirr und strähnig. Er sieht aus wie einer, der Selbstmordgedanken hat, dachte Peter bei sich. Zugleich, seltsam genug, fühlte er sich erstarken an der Schwäche des andern.

»Herr Thornquist«; der Sprechende kämpfte augenscheinlich mit einer aufsteigenden Verlegenheit – »ich habe Sie in ein Abenteuer gelockt, das gefährlicher ist als ich ursprünglich geglaubt habe.«

Ladinser studierte das Gesicht seines Gegenübers. Aber es blieb unbeweglich; unsicherer werdend fuhr Ladinser hastig fort:

»Ich habe Ihnen das seinerzeit verschwiegen. Ich gebe zu, das war ... das war ...«

»Ich glaube, Sie machen sich unnötige Vorwürfe«, antwortete Thornquist kühl. »Außerdem täuscht Sie Ihr Gedächtnis. Sie haben mir ganz offen von den Gefahren gesprochen.«

»Nun ja ... aber ich sehe jetzt, daß das Risiko für Sie viel größer ist als ich bisher glaubte. Eine Gegenpartei ist am Werke. Man will die Prinzessin nicht lebend nach Budapest kommen lassen.«

»Auch das hatten Sie die Güte mir zu sagen.«

»So so« murmelte Ladinser. »Nun ja ... mag sein. Also rund heraus: man plant einen Mordanschlag auf Miss ... auf die Prinzessin Prisca.«

Thornquist sah ihn an. »Was also wünschen Sie mir zu sagen?«

»Verstehen Sie mich immer noch nicht? Ihre Mission ist lebensgefährlich. Ich halte es deshalb für meine Pflicht, Sie von Ihrem Auftrage zu entbinden

»Sie sagen selbst, daß die Prinzessin in Lebensgefahr ist. Glauben Sie im Ernst, daß ich sie in dieser Situation im Stich lassen werde?«

Ladinser lächelte. »Sie haben eine hohe Auffassung von Ihren Pflichten, Herr Thornquist. Ich bewundere Sie.«

»Es ist darum glaube ich müßig, daß wir über diesen Punkt weiter sprechen.«

Der gequälte Ausdruck in Ladinsers Augen wuchs. »Ich fühle mich schuldig an dem Abenteuer, in das Sie sich gestürzt haben. Ich bin verantwortlich für Ihr Leben. Deshalb möchte ich nochmals sagen ...«

»Sie dürfen über diese Dinge beruhigt sein«, wehrte Thornquist ab. »Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen: ich bleibe bei der Prinzessin – weil sie meine Frau ist.«

Der andere blickte unruhig auf. »Ihre Frau ...? Wozu diese Komödie? Sie wissen doch selbst am besten, daß das alles nur eine Notlüge gewesen ist. Sie ist in dem Augenblick zu Ende, da wir beide es wünschen.«

»Aber ich wünsche es nicht, Herr Ladinser«, sagte Peter, sich erhebend. »Ich wünsche es nicht. Denn ich liebe die Prinzessin.«

Ladinser starrte ihn an; totenblaß. Sein Kopf sank langsam nieder; er stützte die Stirn in die Hand.

Eine kleine Pause entstand. Thornquist betrachtete sein Gegenüber erstaunt. Das Schweigen im Raume wurde langsam unerträglich.

»Also doch ...« murmelte Ladinser. Und indem er sich mühsam aufrichtete, wiederholte er mit einem tiefen Seufzer: »Also doch ...«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Thornquist leise. Aber das war eine Lüge.

»Warum soll ich mit der Wahrheit hinter dem Berge halten?« Ladinser erhob sich kraftlos. »Ich habe mich eben für stärker gehalten als ich bin. Es rächt sich immer, wenn jemand eine Last auf sich nimmt, der er nicht gewachsen ist. Ich rede Unsinn, nicht wahr, Herr Thornquist? Ach nein, es ist bitterer Ernst. Ich habe geglaubt, mit diesen Dingen spielen zu können: ich selbst habe Ihnen die Frau in die Arme gelegt – nun darf ich mich wohl nicht wundern, wenn ich bei diesem Handel der Geprellte bin.«

»Sie sprachen von einer neuen Gefahr ...«

Ladinser machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich hoffte, Sie würden zurücktreten – ich glaubte, Sie würden mir den Weg zu Susie Lacombe freigeben. Denn ich will es Ihnen ehrlich gestehen, Herr Thornquist: ich bin in diese Frau irrsinnig verliebt – seit jenem Tage, da sie mit Ihnen abgereist ist, kann ich keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Alles kreist immer nur um das eine: um diese Frau, die ich selbst – ich blöder Tor – die ich mit eigenen Händen einem andern Manne zugeführt habe! Jetzt begreife ich erst recht: ich habe gehandelt wie ein Narr!«

»Das tut mir leid, Herr Ladinser«, Thornquist, in einem seltsamen Zwiespalt zwischen Schuldgefühl und Triumph, sah an dem Verzweifelten vorüber – »aber es ist in der Tat nicht zu begreifen. Wenn Sie die Prinzessin so sehr liebten ...«

Ladinser schüttelte den Kopf. »Daß ich sie so sehr liebte, habe ich erst richtig erkannt – als es zu spät war. Merkwürdig, nicht? Ein Mensch geht an Ihrer Seite, Hand in Hand mit Ihnen – er ist Ihnen gleichgültig. Eines Tages, aus irgend einem belanglosen Grunde, gehen Sie den gleichen Weg – allein – und nun auf einmal begreifen Sie: daß es Ihnen unmöglich ist, ohne diesen Menschen weiterzuschreiten; daß dieser Mensch der Sinn Ihres Lebens gewesen ist. Daß alles zu Ende ist. Daß die Welt grau und öde und leer ist, wenn dieser eine nicht neben Ihnen geht. Wenn Sie nicht seine Hand in der Ihren halten können. Ja – so ist es, Herr Thornquist.«

»Es gibt so viele Frauen in der Welt, Herr Ladinser ...«

»Nein, nein, nein. Für mich gibt es nur diese eine Frau.«

»Weiß die Prinzessin von Ihrer Liebe?«

»Nein.«

»Dann freilich.«

In Ladinsers Gesicht trat es wie ein aufschimmerndes Lächeln. »Sie sagten eben: es gibt so viele Frauen auf der Welt. Nun – wenn ich Sie nun bitten würde ... wenn ich Sie nun daran erinnern würde: es muß ja nicht gerade die eine sein ...?«

»Herr Ladinser«, sagte Thornquist kühl. »Ich glaube, daß die Prinzessin mich liebt.«

»Man irrt sich in diesem Punkte leicht«, antwortete der andere, vielleicht in einer letzten Hoffnung – vielleicht auch um Thornquist zu einem unüberlegten Wort zu drängen. Und indem er jenem voll ins Gesicht sah, fragte er unvermittelt: »Woraus schließen Sie, daß die Prinzessin Sie liebt?« »Ich glaube«, antwortete Thornquist, auf die Tür zugehend, »es hat keinen Zweck, daß wir über diesen Punkt weiterreden.«

»Ich werde um sie kämpfen.«

»Dann werden Sie gegen mich kämpfen müssen.«

»So einig sind Sie mit ihr?«

»Wenn Sie es denn wissen wollen – nun ja.«

Der leidvolle Ausdruck in Ladinsers Zügen wurde stärker.

»Also eine regelrechte Liaison?«

»Diese Frage ist eine Unverschämtheit!«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Mich ... mich ... Sie beleidigen die Frau, die Sie zu lieben behaupten!«

»Dann muß ich also gehen?« fragte Ladinser in einem völlig verändertem Tonfall. »Sie wissen nicht, was es heißt: unglücklich zu lieben. Sie können es nicht ermessen: Sie sind jung. Schön. Sieghaft. Ich habe nie Glück bei Frauen gehabt – vielleicht einmal auf ein paar Tage – dann kam ein anderer, lachend, mit dem selbstverständlichen Recht des Stärkeren – und ich war wieder allein. Immer ist es so gewesen; selbst in meinen besten Jugendjahren. Nun, da mein Haar anfängt zu ergrauen – nun ...«

»Gute Nacht, Herr Ladinser«, sagte Thornquist. »Sie sind erregt. Morgen früh werden Sie alle Dinge in einem andern Lichte sehen.«

»Morgen früh«, nickte Ladinser, »morgen früh ... ja. Mag sein.« Irgendwie war in seine Stimme ein neuer Klang getreten – so als ob ihm während seiner letzten Worte ein Gedanke gekommen wäre. »Sie sagen also, daß Sie Susie Lacombe lieben – und daß sie Sie wiederliebt. Nun, Herr Thornquist: ich bin derjenige, der Sie zusammengeführt hat. Da ist es nun wohl meine Pflicht, meine Rolle zu Ende zu spielen. Ich habe Ihnen manches über diese Dame gesagt. Aber ich glaube: ich habe einiges vergessen. Darf ich das Versäumte nachholen?«

Die beiden Männer standen sich gegenüber. Sie maßen sich mit den Augen: Ladinser mit schrägem Blick, lauernd, mit dem fiebrigen Zittern eines Spielers, der eben alles auf eine letzte Karte setzt – Thornquist mit finsterem Gesicht – halb begierig die Wahrheit zu erfahren – halb in der Gewißheit einer Niederlage.

»Gute Nacht«, sagte er. Dann wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten aus dem Zimmer.– –

Der Page, der am Drehausgang stand, sah ihn von der Seite an. Ging nicht ein Lächeln über sein Gesicht?

Er durchschritt die Halle. Dort stand der Portier im Gespräch mit dem Oberkellner. Die beiden wandten nicht den Kopf, während er an ihnen vorüberging; aber er sah, daß sie sich ansahen, und daß sie ihm nachblickten, als er zum Lift ging.

Was bedeutete das?

Der Liftboy, diensteifrig, jung, anteillos, schloß die Tür. Er drehte das Hebelrad. Oben angelangt, öffnete er die eiserne Scherentür; und auch jetzt, während Thornquist, argwöhnisch geworden, den Jungen mit dem Blick streifte, sah er jenes süffisante Dienstbotenlächeln in seinen Augen.

Mein Gott – das waren die Nerven, nichts weiter. Die kurze Unterhaltung mit Ladinser hatte ihn mehr erregt als er sich eingestand. Ein offener Kampf also, ein Kampf Mann gegen Mann. Aber ein Kampf, in dem er seines Sieges von vornherein sicher war ... Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Hinter jener Doppeltür wartete die schönste Frau. Lohnte es sich nicht, für sie zu kämpfen? Für sie Gefahren auf sich zu nehmen – mochten sie kommen, woher sie wollten? Susie liebte ihn – ein goldener Lohn, schöner als er ihn je erträumt hatte. Sie vertraute ihm – sie war seine Frau geworden ...

Er öffnete leise die Tür. Vielleicht schlief sie schon.

Richtig. Das Zimmer war dunkel.

Das Licht glühte auf.

Dort stand der Divan. Ein wenig zur Seite geschoben – auch die Schirmlampe war verstellt.

Er sah sich betroffen um.

Nun: sie war sicher schlafen gegangen.

Er ging mit leisen Schritten hinüber. Behutsam öffnete er die Tür.

»Schläfst du?«

Keine Antwort kam.

Er lauschte in das Zimmer hinein. Nichts rührte sich. Kein Atemzug war zu hören.

Beunruhigt knipste er das Licht an.

Das Bett war unbenutzt. Das Zimmer war leer.

Er wandte sich mit einem jähen Ruck um. Hastig ging er ins Wohnzimmer zurück. Mit nervösen Blicken spähte er in die Ecken und Winkel des Zimmers.

Nun, im Schimmer des warmen sonnenartigen Lichts, schienen alle Dinge merkwürdig verändert: höhnend, gefühllos, hinterhältig.

Auch Susies Koffer waren verschwunden.

Er klingelte.

»Wo ist ... wo ist meine Frau?«

Der Etagenkellner antwortete, ohne eine Miene zu verziehen:

»Die gnädige Frau hat das Hotel verlassen. Während der Herr unten im Schreibzimmer war.«

»Wissen Sie, wohin sie gefahren ist?«

»Die gnädige Frau hat ein Auto verlangt. Weiter kann ich dem Herrn nichts sagen.«

Peter schlug dem Verdutzten die Tür vor der Nase zu. Wieder ging er, klopfenden Herzens, erfüllt von tausend beängstigenden Gedanken, kreuz und quer durch das Zimmer, sinnlos, ziellos, unfähig einen Gedanken zu fassen.

Dort hatte ihr Koffer gestanden. Ein Buch, das er nicht kannte, war auf den Fußboden geglitten; es mußte ihr gehören, sie mochte es in der Eile des Packens verloren haben.

Er hob es auf. Irgendein Roman, vermutlich.

Er schlug das Titelblatt auf.

Es war ein ungarisches Wörterbuch.

*

Die Kühle der Nacht schlug Peter Thornquist entgegen, als er, ohne Mantel, aus dem Hotel trat. Feuchter Wind strich durch die Straßen, irgendwoher aus den Bergen, von der fernen Donau. Wie gleichgültig das alles war: der sanfte, zärtliche Hauch dieser Stadt – nur angetan, die Menschen zu verwirren und ihnen den Blick für die klare und harte Wirklichkeit zu verschleiern!

Die Straßen waren dunkel, merkwürdig, ungroßstädtisch; nur in weiten Abständen brannten noch Laternen.

Wohin wollte er eigentlich? Er wußte es selbst nicht. Irgendein unbestimmtes Gefühl trieb ihn vorwärts. Vielleicht die Sehnsucht nach Susie – vielleicht die Hoffnung, ihr in diesem Straßengewirr doch noch zu begegnen – welch eine verzweifelte Selbsttäuschung, war sie doch vor ihm geflohen – vielleicht der Glaube an einen günstigen, unerklärlichen, gütig gesinnten Zufall.

Er schlug den Jackettkragen hoch; es wurde kühler je mehr er sich der Vorstadt näherte. Eine letzte Möglichkeit gab es. Susie mußte nach Budapest – die Reise zu ihrer Mutter, Zweck und Ziel dieses ganzen Unternehmens, stand obenan. Das bedeutete: daß sie zu irgendeiner Zeit, zu einem Zuge, dessen Abfahrtstermin er zwar nicht kannte, am Südbahnhof abfahren mußte. Eine vage Aussicht zwar, überdies war, soviel er wußte, der letzte Zug abgefahren; gleichwohl: er mußte den Versuch machen.

Ein Auto kam in langsamer Fahrt vorüber.

»Foahrn ma, Eu'r Gnad'n?«

»Südbahnhof!«

Der Wagen wendete. Er fuhr am Schwarzenbergplatz vorüber und bog in eine endlose Straße ein: Prinz Eugenstraße, las er im Vorüberfahren auf dem Schild.

Unmittelbar hinter dem seinen tauchte ein zweites Auto auf. Er erkannte es an der Nummer, die ihm, merkwürdig genug, schon vorhin aufgefallen war: 3333. Das erste Mal war es bei einem flüchtigen Blick aus dem Hotelfenster gewesen, als er die Nummer bemerkt hatte: der Wagen hatte wartend an der Bordschwelle gestanden. Dann, das zweite Mal, während er durch die stillen Straßen lief, war ihm die Zahl wieder in Erinnerung gekommen: das Auto fuhr fast neben ihm her.

Er hatte dem allen keine sonderliche Bedeutung beigelegt, verwirrt und betroffen wie er war; aber nun, da dieser hellgraue Wagen zum dritten Male in seinem Gesichtskreis erschien, wurde er stutzig.

Trotzdem – vielleicht ein Zufall. Ja, ganz sicher: nichts als ein Zufall. Ein Auto, das ebenfalls zum Südbahnhof fuhr.

Peter nahm den Sprechschlauch: »Biegen Sie links ein!«

»Nach dem Park?« Der Chauffeur schüttelte den Kopf. »Dös is falsch, des geht nach der Wieden.«

»Ich weiß.«

Gehorsam bog der Wagen zur Linken ab.

Im nächsten Augenblick wendete auch das Auto 3333 nach dem Belvedere ein.

In Peter Thornquist stieg es zornig empor. Ihm kam ein schneller Gedanke: das war Ladinser. Ladinser war sein Feind geworden. Er mußte sich wehren.

»Halten Sie an!«

Erstaunt über den merkwürdigen Fahrgast stoppte der Chauffeur. Das Auto hinter ihnen fuhr in kurzem Bogen an Thornquists Auto vorüber und hielt dann an der Ecke der nächsten Straße.

Zu jeder anderen Zeit würde Thornquist über alle diese Dinge mit einem Achselzucken hinweggegangen sein. Jetzt, gereizt, argwöhnisch, übermüdet, wie er war, ging er mit schnellen Schritten auf den Wagen zu und riß die Tür auf.

»Was wünschen Sie von mir?«

Das Deckenlicht des Wagens blinkte auf.

Es war nicht Ladinser, der im Auto saß. Zwei fremde Herren blickten ihm erstaunt entgegen.

Ein wenig verwirrt, vielleicht ein bißchen beschämt, murmelte Thornquist, an den Hut fassend:

»Ich bitte um Entschuldigung... ich glaubte, ein Bekannter... die Nummer Ihres Wagens fiel mir ein paarmal auf heute abend... ich sehe: lediglich ein Zufall...«, damit wollte er die Tür wieder schließen. Aber einer der Herren, seltsamerweise der entfernter Sitzende, stieg aus und sah ihm prüfend ins Gesicht.

»Sind Sie Herr Thornquist?« fragte er.

»Allerdings.« Thornquist blickte den Frager verstört an.

Auch der zweite der Herren stieg aus.

»Wir suchen Sie.«

Betroffen stand Peter vor den beiden, die ihn mit unfreundlicher Sachlichkeit betrachteten. Der eine von ihnen, der kleinere, war dunkelhaarig, sehr elegant, im Smoking, über den lose ein dunkler Abendmantel gelegt war. Der Zweite, groß, blond, von nordischem Aussehen, ebenfalls im Smoking, war ohne Mantel.

»Wer sind Sie?« fragte Thornquist, durch den unfreundlichen Ton verstimmt.

Zu seinem Erstaunen kam die Gegenfrage: »Warum sind Sie nicht mit dem Halb-Elf-Uhr-Zuge nach Budapest gefahren?«

Wieder blickte Thornquist die beiden verstört an.

»Sie sind...?«

Der Größere nickte. »Ja. Ich bin von Scotland Yard. Und dieser Herr – dieser Herr ist Ihr Auftraggeber, Herr Thornquist: es ist der Graf Faludi

Das war also der Moment, vor dem er alle diese Stunden innerlich gebangt hatte. In einem jähen und gefährlichen Rausch hatte er alles in den Wind geschlagen. Nun, in der Kühle dieser nüchternen und harten Nacht kamen die Dinge erbarmungslos auf ihn zu.

»Der Graf Faludi ...« murmelte er.

Der Graf schloß langsam, mit betonter Ruhe, die Knöpfe des dunklen Mantels. Dabei sah er immerfort in Thornquists Gesicht, als ob er von ihm eine Rechtfertigung erwarte. Als sie ausblieb, fragte er schnell, sozusagen überrumpelnd, in fremdartigem Tonfall:

»Warum haben Sie Ihre Pflicht versäumt, Herr Thornquist?«

Peter zuckte die Achseln. Weshalb stand er diesem Manne eigentlich so schuldbewußt gegenüber? Er hatte eine Mission übernommen, gewiß. Er hatte seine Aufgabe bis zu einem bestimmten Punkt ausgeführt. Dann war eine Wendung eingetreten – nun wohl: man konnte einen Auftrag zurückgeben. Man konnte, Mann zu Mann, seinen Standpunkt erklären. Der Graf mußte einsehen, daß Thornquist Herr seiner Entschlüsse blieb, auch wenn er vorübergehend in den Diensten eines anderen stand.

Trotzdem hinderte ihn ein Gefühl, ein Hemmnis, das er selbst nicht recht begriff, davon zu reden.

»Nun, Thornquist?« fragte der Mann von Scotland Yard. »Wir warten.«

Peter sagte leise: »Ich weiß von keiner Aufgabe. Man hat lediglich von einer Mission gesprochen, die erst erteilt werden sollte.«

»Das ist nicht ganz richtig«, antwortete der Graf. »Zweifellos haben Sie meinen Auftrag angenommen. Ja, Sie haben ihn sogar zu einem gewissen Teil bereits ausgeführt. Denn Sie haben die Reise von Berlin nach Wien für mich gemacht.«

Peter wiegte den Kopf. Du solltest wissen, dachte er bei sich, daß ich diese Reise eigentlich gemacht habe, weil sie zufällig mit der Reise der Prinzessin zusammentraf!

»Die nächste Etappe war: Südbahnhof – Halb Elf. Stimmt das, Herr Thornquist?«

»Nun ja. Immerhin: die eigentliche Aufgabe sollte ich erst im Zuge nach Budapest erfahren. Nun aber ist mir – ich bedaure es Ihnen gestehen zu müssen – eine wichtige private Angelegenheit...«

»Ein Liebesabenteuer«, nickte der Graf.

Der Scotland-Yard-Mann lachte.

»Ich verbitte mir...« brauste Peter auf.

»Sie dürfen sich nicht wundern. Herr Thornquist, wenn man Sie zur Rede stellt. Denn Sie haben, ich wiederhole es, Ihren Auftraggeber mitten in der Erfüllung Ihrer Pflicht im Stich gelassen.«

Peter dachte an die Geliebte – an ihre heißen Liebesworte – an ihre plötzliche Flucht – an Ladinser. Wofür, für wen, hatte er sich so vergessen? Für einen flüchtigen Rausch – für eine treulose Frau, die vielleicht längst wieder zu Ladinser zurückgekehrt war. Die in den Armen des andern über ihn lachte, über diesen einfältigen Deutschen, der auf die ersten besten glatten Worte hereinfiel, die eine Frau ihm zuflüsterte...

»Ich bin bereit, Herr Graf,« sagte er, »meine Mission wieder aufzunehmen. Ich hoffe, es wird nicht zu spät sein.«

»Hm.« Faludi sah seinem Begleiter fragend ins Gesicht, »Sie sollten im Halb-Elf-Uhr-Zuge eine Dame beobachten. Ich fürchte, nun ist es zu spät.«

»Was für eine Dame?« fragte Peter; er fühlte, wie eine leise Beklemmung über ihn kam.

»Sie fährt nach Budapest. Um eine Mörderin zu retten.«

»Eine Mörderin...«

»Zu diesem Zweck gibt sie sich als ihre Tochter aus. In Wahrheit ist sie eine kleine Filmschauspielerin aus Hollywood. Von einem Abenteurer namens Ladinser zu diesem Zweck gedungen.«

Peter faßte taumelnd nach dem Griff des Wagens. Die Dinge, verzerrt, verwischt, seltsam unkörperlich, unbegreiflich und unfaßbar, kreisten um ihn, schwirrten vor seinen Augen vorüber: die Prinzessin Prisca – das Wörterbuch – die Fahrt mit dem gleichen Zuge nach Wien – und nun: nun, da er es wie durch einen Nebel erkannte: ihr Bemühen, ihn mit allen Mitteln daran zu hindern, den Budapester Zug zu erreichen – der Besuch Ladinsers, der der Prinzessin Zeit und Muße verschaffen sollte, das Haus zu verlassen ... nun: da der Zweck erreicht war: da er den Budapester Zug freventlich versäumt hatte – nun ließ sie ihn einfach fallen.

»Ja«, sagte Faludi, als ob er erriete, was in Peter vorging. »Die Weiber, Herr Thornquist!«

Nein. Es konnte nicht sein. So konnte ein Mensch nicht lügen. So konnte eine Frau nicht handeln, an einem Manne, der sie liebte. Dem sie den letzten Beweis ihrer Liebe gegeben hatte ...

Und dennoch. Es war kein Zweifel möglich. Wie sich in eine letzte Hoffnung flüchtend, stammelte Peter:

»Vielleicht eine Tat aus Idealismus... eine Täuschung, die ein Menschenleben retten soll... ein frommer Betrug...!«

»Nein«, sagte der Graf. »Ein Betrug, für den die Fürstin Klausenburg eine halbe Million ausgesetzt hat.«

Peter hob mit unendlicher Mühe die Augen. Er sah auf den Grafen, der ihn mit finsterem Lächeln betrachtete. Sein Blick, unsicher, unstet, schuldbewußt, glitt zitternd hinüber zu dem Engländer, der gleichmütig, rosigen Gesichts, wie bei einem interessanten sportlichen Finish, dreinschaute.

»Und wie... und wie... wie heißt die Dame?« fragte er mit stockendem Atem. Zitternd vor der Antwort.

Der Graf streifte ihn mit einem schnellen Blick. Indem er die weißen Handschuhe glättend über die Finger zog, sagte er:

»Sie heißt Susie Lacombe. Aber sie nennt sich Prinzessin Prisca Klausenburg.«

*

»Kérem szépen,« sagte Graf Faludi, »was soll nun werden?«

Mr. Stanley, der Engländer, der rechts von Faludi ging, zwinkerte mit einem halben Auge hinüber zu seinem Kollegen Thornquist. Das bedeutete: Er sucht nach einer Brücke. Er möchte gern. Tu ihm den Gefallen!

Thornquist, der links von dem Grafen behutsam um die Regenpfützen der Kärntnerstraße lavierte, hatte die stumme Aufforderung verstanden. Der Graf rechnete so: dieser Thornquist ist von der Susie Lacombe düpiert worden. Er hat ein Abenteuer gehabt, wie es sich ein Handlungsreisender erträumen mag: mit einer Herzogin – und nun hat er erfahren, daß es ihre Zofe gewesen ist, die sich in die Kleider ihrer Herzogin gesteckt hat. Jetzt, da die Entdeckung vor der Tür stand, ist sie auf und davon. Also: dieser Thornquist wird von Gefühlen der Enttäuschung, des Hasses erfüllt sein – er wird den Wunsch haben, sich zu rächen. Er ist also der beste Bundesgenosse, den ich mir wünschen kann.

Das mochten die Gedanken des Grafen sein. Aber der Graf war ein Ungar – und der Mann, dessen Gedanken er zu erraten glaubte – dieser Mann war ein Deutscher. Einer, der anders fühlte als die Menschen hier, die ihre Empfindungen in weitausholenden Gesten auf die Straße trugen – und deren Gesten oft genug ein äußerlicher Ersatz waren für Empfindungen – die gar nicht vorhanden waren.

Peter sagte sich selbst, daß, vom rein praktischen Standpunkt, der Graf recht hatte – dennoch vermochte er, so sehr er sich zwang, gegen Susie Lacombe keinen feindlichen Gedanken zu fassen. Mochte sie eine Täuschung begangen haben – sie hatte es sicher nicht getan, um ihn, Peter Thornquist, zu täuschen. Sie war in den Händen dieses Ladinser – er hatte ihr den irrsinnigen Plan eingeflüstert. Er. Ganz sicher: allein er steckte die Belohnung ein. Was Susie bewogen hatte, war nichts als das Mitleid mit einer unglücklichen, dem Tode verfallenen Frau. Er wußte, daß er keinen dieser Gedanken aussprechen durfte: der Graf hätte ihn mit staunendem Lächeln angesehen und hätte den Kopf geschüttelt. Und Mr. Stanley, der Kollege von Scotland Yard – dem war die Sache im Grunde völlig gleichgültig. Er machte eine amüsante Reise auf Kosten Faludis, eine interessante Jagd nach einem interessanten Menschen – ein Kampf, dessen Ausgang von vornherein nicht zweifelhaft sein konnte, denn der Gehetzte war eine kleine, schwache, armselige Frau. Juristisch im Unrecht, das Gesetz, die Menschen, die Stimmung gegen sich – und auf Seiten der Jäger war schlechthin alles: das Gesetz, die Macht, das Geld – das menschliche Recht.

Trotzdem war dieser Stanley nicht übel. Er hatte ein offenes, nicht ungutmütiges, englisches Gesicht. Ganz sicher: ein Junge, mit dem man bei einem Whisky über manche Dinge sprechen konnte, die eigentlich nicht für Scotland Yard bestimmt waren. Er sah aus wie einer, der nicht nur ein Auge zudrückte – wie er es eben tat – sondern wenn es darauf ankam, auch beide.

Richtig, der Graf sagte:

»Ich verstehe Ihre Situation, Herr Thornquist. Ich weiß, daß Sie mein Bundesgenosse sind ...«

Wieder schielte Peter hinüber zu Stanley. Der hatte die linke Wange ganz komisch aufgebläht; das bedeutete irgend etwas in der Londoner Gaunersprache, Thornquist wußte im Augenblick nicht was. Dieser Stanley verstand offenbar mit einem Schlage: daß Faludi die Dinge falsch sah.

»Trotzdem,« fuhr der Graf fort, »trotzdem liegt mir nicht daran, diese kleine Susie Lacombe für ihre Dummheit hereinfallen zu lassen. Wissen Sie was? Fahren Sie mit Stanley hinter ihr her!«

»Und Sie, Herr Graf?« fragte Stanley; aber man hörte, daß es nur eine rhetorische Frage war.

»Ich habe morgen früh eine Besprechung. Mit dem österreichischen Minister des Äußern. Sie müssen sich vorläufig allein behelfen. Ich komme nach Budapest sobald ich frei bin. Aber gerade morgen vormittag ist der kritische Moment. Da müssen wir auf dem Posten sein.«

»Gibt es eine Nachtflugverbindung?« fragte Peter.

»Nein. Auch der letzte Zug ist fort. Es bleibt nur eins übrig: Sie müssen in dieser Nacht eine Parforcetour machen. Sie müssen mein Auto nehmen und alles herausholen, was die Maschine hergibt: so daß Sie morgen früh in Budapest sind: um halb zehn beginnt der Prozeß Klausenburg.«

»Und dann?« fragte Stanley.

Er hatte eine so trocken sachliche Art zu fragen; der Graf lachte.

»Wenn dann die angebliche Prinzessin Prisca erscheint: so werden Sie auf sie zugehen und werden ihr sagen: ›Mach lieber nicht erst den Versuch. In dem Augenblick, da du vortrittst und sagst: ich bin die Prinzessin Prisca Klausenburg – in diesem Augenblick müßte ich den Betrug enthüllen. Das täte mir leid, aber ich könnte es nicht ändern. Also bring dich nicht unnötig in Gefahr – nimm den nächsten Zug und fahre dahin zurück, wo du hergekommen bist‹.«

»Und wenn sie Nein sagt?« fragte Stanley.

»Dann laßt ihr sie verhaften.«

Peter fühlte, daß Stanley ihn ansah. Er konnte sich nicht verhehlen: der Graf war im Recht. Sein Vorschlag war im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Und – noch eins kam hinzu: kein Zug ging mehr. Kein Flugzeug. Wenn also Susie nach Budapest unterwegs war – und das war keine Frage – so kam nur eine einzige Möglichkeit in Betracht: sie fuhr, genau wie er, im Auto. Irgendwo durch dunkles Land, durch Wälder. Irgendwo vor ihm her. Und wenn dieser Chrysler, der so aussah, als ob er ein verdammtes Tempo in sich hätte, sein letztes hergab – so bestand vielleicht eine entfernte Möglichkeit, Susie noch vor Budapest zu erreichen – und sie von ihrem wahnwitzigen Vorhaben abzubringen. Ohne daß sie ... ohne daß sie sich der sicheren Katastrophe aussetzte. Denn er hatte diese Frau in seinen Armen gehalten – und die Erinnerung an ihre zärtlichen Liebesworte war stärker als alle Aufträge des Herrn Grafen Faludi.

»Hier ist Ihr Hotel,« sagte der Graf. »Wann können Sie reisefertig sein?«

»In einer Viertelstunde.«

»Hm. Noch eins.« Es schien, als ob der Graf ein wenig zögere. »Es wäre immerhin möglich, daß Sie nicht durchkämen. Das Burgenland hat schlechte Chausseen. In diesem Falle also – aber nur in diesem Falle – geben Sie bei der nächsten Telegraphenstation eine Depesche auf. An das Königliche Schwurgericht Budapest, causa Klausenburg. Teilen Sie dem Präsidenten mit, daß eine Hochstaplerin unterwegs ist – und daß man sie gebührend empfangen soll. Also, wohlverstanden: dies Telegramm schicken Sie nur ab, wenn Sie sehen, daß Sie nicht rechtzeitig zur Stelle sein können.«

»Wie soll ich es unterzeichnen?« fragte Thornquist.

»Mr. Stanley wird es zeichnen. Mit seinem Namen. Und Mr. Stanley wird es absenden. Der Name Faludi darf in dieser Angelegenheit nicht genannt werden.«

*

Der Sechssitzer, ein riesiger offener Chrysler, stand schon vor der Tür, als Peter Thornquist auf die Straße trat. Stanley hob winkend die Hand. Der Chauffeur, ein geschmeidiger Magyare, abgeschliffen durch London, durch manche Kontinentreisen europäisiert, dunkelhaarig, glattrasiert, mit schwarzen funkelnden Augen, sprang vom Führersitz.

» Jó estet!«

Damit nahm er diensteifrig die Koffer.

»Kennen Sie den Weg?« fragte Thornquist.

»Ganz genau, mein Herr. Wir fahren über Hegyeshalom, Raab. Komorn.«

»Wie lange werden Sie brauchen?«

Der Chauffeur schwang sich behende auf den Führersitz und schlug den Mantelkragen hoch.

»Bis morgen früh sind wir da«, sagte er ausweichend.

Die halb abgeblendeten Scheinwerfer warfen zwei riesige zitternde Lichtstreifen in das Dunkel hinein. Der Wagen zog mit einem kaum fühlbaren Ruck an und glitt, leise singend in verhaltener Kraft, durch das nächtliche Wien.

Straßen zogen vorüber. Lichtlos, erfüllt vom dumpfen Schlaf der Großstadt.

Das Weichbild der Stadt trat zurück. Die beiden Scheinwerfer blendeten auf, zwei riesige Lichtkegel bohrten sich in die endlose Chaussee.

Ein mächtiger Häuserblock, strahlend erleuchtet, schnitt sich in die dunkle Silhouette. Maschinen summten.

»Schwechat«, sagte der Chauffeur, »die Märzen-Bier-Brauerei.«

Der Chauffeur verstellte den Hebel; das Summen des Motors wurde um einen Ton höher.

Hundert Kilometer, las Thornquist auf der Tachometerskala.

Jetzt kam Mr. Stanley aus sich heraus.

»Reizender Mensch. Der Graf Faludi«, sagte er beiläufig.

Thornquist nickte.

Mit ernster Miene fuhr Stanley fort:

»In meinen Augen der kompletteste Narr, der auf der Welt herumläuft.«

»Nanu, Stanley?«

»Haben Sie die Namen seiner verschiedenen Liebsten mal zu Papier gebracht? Material für eine kleine Kartothek.«

Thornquist lachte.

»Da war einmal die Prinzessin Prisca. Schön. Über die ist nicht zu reden. Sie ist tot. God bless her. Aber: da ist dann die Mutter von der Prinzessin. Ich will nicht heil nach Budapest kommen, wenn er mit der nicht ebenfalls was gehabt hat: Warum sollte sie sonst ihre Tochter kaltgemacht haben? Dann kommt, Nummer Drei, eigentlich Nummer Eins: diese Vilma Berény.«

»Wer ist denn das?«

»Der Graf ist neulich mal aufgetaut. Auf der Überfahrt; wir tranken Sherry. Der schmeißt diese Ostleute um. Und dann hatte er wohl auch ein bißchen Angst vor der Seekrankheit. Also kurz und gut: er hat mir gestanden: da wäre eine bildschöne Frau. Irgendwo in Ungarn. Die liebt ihn sehr. Tochter eines Gestütsbesitzers: Vilma Berény. Wenn ich ein bißchen was von diesen Dingen verstehe, dann ist sie seine Geliebte gewesen. Dann, Nummer Vier: die Schauspielerin vom Criterion: diese Ivy Griffith. Die kann ich übrigens nicht leiden.«

»Kennen Sie sie?«

»Aber sie ist ja bei ihm in Wien. Wenigstens war sie bis gestern mit ihm zusammen. Sie schienen irgendwas miteinander gehabt zu haben; ich glaube, die Griffith merkt, daß es auch andere schöne Männer gibt als ihren Michael Faludi. Und endlich – das ist mit Gottes Hilfe Nummer Fünf – ich glaube, er steht vor einer reichen Heirat. Mit der Tochter eines gräflichen Spritbrenners.«

»Gibt es in Ungarn Spritbrenner?«

»Ich glaube, er macht Tokayer. Vierbuttigen. Das ist der Grund, warum Faludi unter keinen Umständen seinen Namen genannt haben will: er fürchtet, die Partie könnte in die Brüche gehen. Und dann ist er verloren. Denn er hat Schulden, sage ich Ihnen – wenn er eine Stecknadel nimmt und das Adreßbuch aufpiekt – es trifft immer auf einen Gläubiger.«

»Hat er denn so noble Allüren?«

»Ich glaube, diese Griffith kostet ihn jedes Jahr ihr Lebendgewicht in Gold.«

»Sie haben eine anschauliche Art zu reden, Stanley.«

Der Wagen stürmte im Hundert-Kilometer-Tempo dahin. Chausseesteine flogen vorüber; das Summen verstärkte sich, wuchs, schlug echoartig zurück: das Massiv einer Ortschaft tauchte aus dem Dunkel auf. Lichtlos, eine saubere Dorfstraße. Lange Zäune, frisch gestrichen, erglänzend im Licht der beiden Lampen, rasten vorbei. Wieder schwoll der summende Ton ab, schon verklang das Echo hinter ihnen. Freie Landstraße.

»Die Grenze kommt«, sagte der Chauffeur.

»Hoffentlich machen sie uns keine Schwierigkeiten«, nickte Stanley.

Peter faßte nach seinem Paß. Er schlug ihn auf. Sein Blick fiel auf die Worte: Peter Thornquist und Ehefrau; darunter Susies Bild. Wie reizvoll, selbst in dieser schlechten Photographie, ihr süßes Gesicht ihn anlächelte!

In der Ferne blinkten Lichter.

Merkwürdig – aus dem Unterbewußtsein stieg ein Gedanke in ihm auf, der ihm vorhin schon, bei den Worten des Grafen, blitzschnell durchs Gehirn gegangen war: vielleicht gab es hier irgend eine Möglichkeit, etwas über Susie zu erfahren. Vielleicht ... Und während er dies dachte, spürte er, wie die Beklemmung in ihm wuchs. Das war ein Herzklopfen, das aus den Tiefen der Seele kam.

» Hegyeshalom« stand an dem hell erleuchteten Schild.

Der Wagen hielt.

Zwei Zollbeamte traten salutierend an den Schlag. Stanley, als Erster, zeigte ihm irgend etwas, ein Papier, das der Beamte nachlässig entfaltete, um es im nächsten Augenblick mit tiefer Verbeugung an Stanley zurückzugeben.

»Sie haben nichts zu verzollen. Nicht wahr?«

Stanley zeigte eine Flasche Whisky. Der Beamte lachte und gab ein Zeichen mit der Hand. Das besagte: »Sie können weiterfahren!«

Peter wies seinen Paß. Während der Beamte einen flüchtigen Blick darauf warf, sagte Peter halblaut:

»Wir suchen eine Dame. Sie muß vor kurzem hier durchgekommen sein.«

Der Beamte sah ihn nachdenklich an, so als ob er in seiner Erinnerung suche.

»In einem Wiener Auto?«

»In einem Wiener Auto.«

»Spricht die Dame englisch?«

»Ja«, sagte Peter. Auch Stanley wurde aufmerksam.

»Gewiß, meine Herren; diese Dame ist vor etwa Dreiviertelstunde hier durchgefahren. Sie ist unterwegs nach Budapest.«

»War die Dame allein?« fragte Peter in aufsteigender Hoffnung.

»Nein. Sie fuhr mit einem Herrn.«

»Los!« kommandierte Stanley. »Wir müssen sie einholen!«

Dunkle Landstraße nahm den Wagen auf. Der Chauffeur schaltete den großen Reflektor ein. Nun warfen drei flammende Lichtbündel Tageshelle in das nächtliche Land.

Der Chauffeur machte, wie in Anerkennung der Tüchtigkeit seines summenden Motors, eine kleine Verbeugung, um den Schalthebel herunterzudrücken. Der Ton schwoll zum Diskant an; der Wagen, hüpfend wie in der Freude an seiner freigegebenen Kraft, schoß brausend durch die Nacht.

Stanley zog die Uhr. »In zehn Minuten werden wir sie haben.«

»Wie spät ist es?«

»Zwei Uhr sieben.«

Die Straße wurde schlechter. Brachland tat sich auf. Dunkle Felder zur Rechten, zur Linken. Der Chauffeur drehte das Suchlicht: Stoppeln ringsum.

Stanley streckte die Hand aus und sah mißbilligend zum Himmel. Es begann zu regnen.

»Glück muß der Mensch haben!« sagte er.

Die Straße war bedeckt mit verstreutem Heu. Es war fast breiig geworden.

Eine Kurve kam; der Wagen schlingerte. Augenblicklich verminderte der Chauffeur die Geschwindigkeit, mit einem entschuldigenden Blick auf die beiden.

Der Regen wurde stärker. Es war, als ob die Nacht plötzlich den Atem anhielte; der Wind schwieg. Seltsam verstärkt, widerhallend in der Weite der dunklen Wiesen, schlug das Rattern des Motors durch die Stille.

Der Chauffeur hielt das zitternde Steuer mit verkrampften Händen; mit einer schnellen Kopfbewegung deutete er zum Himmel.

Peter sah hinauf. Wie seltsam hatte sich das Bild der Wolken dort oben verändert! Das bleierne Grau war verschwunden; aus einem schmalen Spalt blinkte Mondlicht hervor; für einen Augenblick übergoß es die Erde mit seinem freundlichen Schimmer. Aber zur Rechten, zur Linken, über dem ganzen Horizont ballten sich schwere, dunkle, treibende Wolken, verschwimmend in ihren Konturen. Erfüllt von einem bösen gelblichen Licht; Wolken, die wie mit einem Lineal plötzlich gegen den Horizont zu abgeschnitten schienen.

»Gewitter«, wollte Peter sagen; aber er kam nicht dazu; denn in diesem Augenblick zischte ein Blitz, ein greller bläulicher viergezackter Blitz aus den Wolken auf die Erde nieder; fast im gleichen Augenblick knatterte der Donner über das nächtliche Land. Ein Regenstoß folgte. Einen Moment lang hörte man nur das Prasseln des Regens, alles war in bläuliches Grau getaucht.

Wieder mußte der Chauffeur die Geschwindigkeit vermindern.

Ein neuer Blitz zuckte nieder; er entlud sich zwischen zwei Wolken; wie eine riesenhafte Geißlersche Röhre stand die Lichterscheinung einen Atemzug lang am Horizont, violett, rötlich, bläulich, weißlich spielend.

Der Chauffeur deutete nach vorn.

Die beiden sahen sich an. Blinkte dort, verschwindend, wieder auftauchend, vielleicht jenseits der dunklen Masse, die ein Wald schien, ein rotes Licht auf?

Aber schon im selben Augenblick war es wieder verschwunden.

»Geben Sie ihm noch einen Zahn«, sagte Stanley.

Gehorsam, immerhin mit einem unsicheren Achselzucken, legte der Chauffeur den Hebel nach vorn. Die Geschwindigkeit wuchs.

Aber das Prasseln des Regens wurde stärker. Nun tat sich der schweigende Himmel auch dort drüben im Süden auf – Feuerspiel bedeckte ihn plötzlich. Wenige Sekunden später hallte der Donner herüber; schon zuckten neue Blitze aus dem Zenith; rechts und links, von Horizont zu Horizont, stand der Himmel in Flammen.

In der Ferne flimmerten Lichter. Vielleicht eine Stadt. Oder ein Flecken.

Dumpfes Rauschen kam aus der Ferne, wie das Brausen des Meeres: Sturm.

Er schlug ihnen entgegen, peitschend, mit Heulen, mit Sausen, wie tausend Gelächter stand es in der Luft; Stimmen kreischten über die Felder, höhnische Pfiffe gellten an ihnen vorüber; es war als ob die Unterwelt gegen diese Fahrt aufgestanden wäre.

Plötzlich brach, fast unmittelbar vor ihnen, mit Donnergepolter ein schwerer Telegraphenpfahl quer über die Straße.

Der Chauffeur riß das Steuerrad herum; das Auto bäumte sich auf; es drohte umzuschlagen. Einen Augenblick dachten die drei: nun ist alles aus. Wir sausen ehe wir diese Worte zu Ende gedacht haben gegen den verdammten Telegraphenpfahl. Wenn wir uns dann zwei- oder dreimal überschlagen haben...

Das Auto fuhr mit dem linken Rad gegen das Hindernis. Es schlug im Halbkreis nach links herum, mit den beiden rechten Rädern gegen das Massiv des dunklen Pfahls. Wieder kam ein greller Blitz, der einen Moment die Szene erleuchtete: die regendurchnäßte, sturmdurchwühlte Straße, die drei Männer, die sich schweigend an das schleudernde Fahrzeug klammerten.

Das Auto stand. Aber der Chauffeur machte vergebliche Anstrengungen, es wieder in Bewegung zu setzen.

»Panne«, sagte Stanley.

»Was nun?«

»Jetzt müssen wir telegraphieren«, fuhr Stanley fort, indem er das rechte Auge schloß und mit dem linken Peter anblinzelte.

»Wie lange wird die Reparatur dauern?«

Der Chauffeur, der vollkommen ruhig sein blessiertes Fahrzeug betrachtete, sagte:

»Anderthalb Stunde.«

»Wir werden Ihnen helfen.«

»Hören Sie,« sagte Stanley, »wenn nicht alles täuscht, ist dort drüben eine Stadt. Zum mindesten: ein Städtchen. Tun Sie mir den Gefallen, Thornquist: gehen Sie hinüber, so schnell es geht, klopfen Sie irgend einen Schlosser heraus. Schicken Sie ihn hierher.«

»Wenn Sie meinen ...?«

»Sie täten mir einen Gefallen damit.«

Peter steckte die Hände in die Taschen und stampfte durch den Schlamm der Landstraße dem Orte zu, dessen Lichter flimmernd durch die Nacht grüßten.

Dort war die Werkstelle eines Schlossers. Merkwürdig genug: sie war erleuchtet und man hörte von drinnen eifriges Hämmern.

Peter ging hinein. Der Meister arbeitete mit zwei Gehilfen an einem Wagen.

»Wir haben eine Panne. Können Sie sofort mit mir nach der Landstraße fahren?«

»Gewiß, mein Herr.«

Das Auto, an dem die drei arbeiteten, trug das Wiener Zeichen

A XIX 2628

»Wem gehört dieser Wagen?«

Der Schlosser zuckte die Achseln. »Weiß nicht, mein Herr. Ein Herr und eine Dame. Sie wohnen nebenan; im Gasthof Danubia.«

»Ein Herr und eine Dame ...?«

Der Schlosser mochte sich über den eifrigen Frager wundern.

»Ich weiß nichts näheres, mein Herr.«

»Haben Sie mit der Dame gesprochen?«

»Nur mit ihrem Begleiter. Sie selbst kann wohl kein Ungarisch. Denn sie sprach in einer fremden Sprache mit ihm.«

»Hotel Danubia ...« sagte Peter sinnend. »Warten Sie, ich bleibe hier. Sie können das Auto nicht verfehlen: es mag etwa dreihundert Meter von hier liegen. Auf der Strecke nach Raab. Sagen Sie dem Herrn: er möge nach dem Hotel Danubia kommen. Es sei sehr wichtig.«

»Ich fürchte, Sie werden keinen Platz bekommen im Gasthof Danubia, mein Herr. Man feiert dort eine große Hochzeit. Hören Sie die Zigeunermusik? Das ganze Haus ist besetzt. Zoltan Kuvasz, der Juckerhändler, hat die Hochzeit ausgerichtet. Für seinen Schwiegersohn. Ganz Bábolna ist auf den Beinen.«

»Vielleicht ist in der Schenke noch ein Platz für mich. Oder wird man mich überhaupt nicht hereinlassen?«

Der Schlosser legte die Hand auf das Herz. »Oh, mein Herr – Sie kennen die ungarische Gastfreundschaft nicht! Man wird Sie herzlich einladen. Man wird Ihnen einen Ehrenplatz anweisen. Man wird alles tun, was man Ihnen an den Augen ablesen kann. In unserem Lande ist es Sitte, daß man dem Gast die Räder seines Wagens versteckt, damit er nicht abreisen kann!«

Durch die regenfeuchte Straße scholl der Gesang der Hochzeitsgäste. Ein Chorgesang, offenbar mit politischem Einschlag.

Das Haustor war grell erleuchtet. Peter drückte auf die Klinke; schon wurde die Tür von innen geöffnet. Heller Lichtschein empfing ihn, hundert Menschen sahen ihn an. Hundert Menschen, die im Kreise saßen und gestikulierend, mit den Händen den Takt schlagend, ein Lied sangen. Männer, Frauen und Kinder.

Der Wirt kam auf den Gast zu. Er verbeugte sich höflich, fragte zunächst auf Ungarisch nach Peters Wünschen; dann auf Deutsch. Er sei Siebenbürge, erzählte er stolz; Peter möge dies Haus als das seine betrachten; es werde sich Rat schaffen lassen.

Der Gesang schwoll an. Der Wirt gab freiwillig den Kommentar:

Segn', o Herr, mit frohem Mut
reichlich den Magyaren,
schütz ihn gegen Feindeswut
in des Kampfs Gefahren;
gönn nach langem Mißgeschick
ihm ein Jahr der Freude,
hat's bezahlt, der Zukunft Glück,
mit vergangnem Leide.

Peters Augen wanderten durch den Saal. Von Susie war nichts zu sehen.

Der Wirt, der das zerstreute Wesen seines Gastes bemerken mochte, erkundigte sich nach dem Näheren.

Wie beiläufig sagte Peter:

»Ich glaube, Bekannte von mir müssen denselben Weg gekommen sein. Haben Sie nichts von ihnen gesehen? Ein Herr und eine Dame?«

»Spricht die Dame Englisch?« fragte der Wirt strahlend.

»Gewiß.«

»Sie sind an der richtigen Stelle, mein Herr. Die beiden wohnen hier. Ja, ich kann Ihnen etwas Angenehmes mitteilen: sie müssen in wenigen Minuten unten sein. Die Dame ist sehr schön. Nicht wahr? Stimmt es? Nun: sie hat versprochen, an der Hochzeitstafel Platz zu nehmen. Sie will ein amerikanisches Liebeslied singen: zu Ehren des Brautpaares.«

Peter trank den roten Landwein in einem hastigen Zuge aus: Durst, Erschöpfung – die Erregung über Susies Anwesenheit, alles dies überfiel ihn nun, in dem Augenblick, da er endlich am Ziel war.

Mit einem andern ... Konnte ein Mensch so schnell vergessen? Konnte eine Frau sich so kalt berechnend in die Dinge fügen? Aber vielleicht war das keine Liebesangelegenheit, in jenem kleinen Hotelzimmer über ihm? Aller Wahrscheinlichkeit nach war es kein anderer als Ladinser, der mit ihr reiste. Als ihr Beschützer. Ladinser selbst aber hatte ihm gestanden – daß Susie ihn nicht liebe.

Er seufzte. Eine Frau dachte heute so – und morgen so.

Wehmütig sah er auf das Brautpaar, dessen heiße Blicke sich zärtlich suchten. Jemand kam auf ihn zu, stellte sich offenbar vor, nahm seine Hände, schüttelte sie. Er verstand kein Wort, aber alles hier atmete die Atmosphäre einer offenen und ehrlichen Gastfreundschaft. Pärchen hatten sich gefunden; untergefaßt schlenderten sie Körper an Körper durch die Tischreihen. Die Burschen flüsterten: »Angyalom!« – Mein Engel! – Verschämt blickten die Mädchen vor sich nieder; die Männer kühner werdend, drängten: »Edesem!« – Meine Süße!

Wo blieb Susie? In dem Taumel der Liebe, der durch dieses Haus ging, mußte er an sie denken.

Von neuem setzte die Kapelle ein. Alles sang stehend mit:

Unsre Väter führtest du
über Karpats Höhen
ihrer neuen Heimat zu,
mit des Sturmes Wehen.
Und wohin durchs weite Land
Theiß und Donau ziehen,
sieht man rings an ihrem Strand
Arpáds Stamm erblühen.

Die Sänger sahen erwartungsvoll auf Peter. Er erhob sich, applaudierte und nickte ihnen freundlich zu, Eljen-Rufe schwirrten durch den Saal. Ein beleibter Bauer kam auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte mit tiefem Baß:

»Kedves barátom!«: Lieber Freund!

Geschäftig sprangen ein paar Burschen herbei, mit Weinkaraffen in den Händen. Sie schenkten ein. Die beiden Männer tranken stehend.

Der Wirt kam eilends heran. »Sie kommen!« sagte er atemlos.

Die Tür ging auf. Ein dunkelhaariger Herr trat ein. Dunkeläugig. Der typische schöne Mann ... Nicht Ladinser.

» Wer ist das?« fragte Thornquist.

Das Gesicht des Wirts wurde verwundert. »Aber das ist doch der Gatte. Seine Frau muß jeden Augenblick kommen. Kennen Sie ihn denn nicht?«

Hilflos zuckte Thornquist die Achseln.

»Soll ich ihn an Ihren Tisch führen?«

»Nein«, sagte Thornquist. »Welches Zimmer hat die Dame?«

»Nummer sieben.«

Peter fühlte, wie sich in diesem Augenblick die Reaktion auf die Erlebnisse dieser Tages vollzog. Seine Kräfte waren zu Ende, seine Nerven erschöpft. Alles war wie mit einem Messer zerschnitten. Die Musik, das Stimmengewirr, das über dem Saal stand, die freundlichen Blicke der gastlichen Menschen in diesem Hause – alles verschwamm zu einem grauen und unbegreiflichen Wirbel. Er wußte plötzlich, daß er keinen Teil hatte an ihren Freuden. Daß er ein Zuschauer war. Ein Zaungast des Glücks der andern.

Nein. Verdammt: nein! Er war nicht zum Zaungast geboren. Das war momentane Nervenschwäche. An der sein Wesen keinen Anteil hatte. Er war gewohnt, die Dinge in die Hand zu nehmen, seine Ellenbogen zu gebrauchen. Der Mann dort drüben betrachtete ihn. Dieser dunkelhaarige, glatte schöne Mensch. Ganz sicher: er machte sich über ihn lustig. Eben engagierte ihn irgendeine Ilonka oder Aranka zum Tanz. Peter stand einsam. An sein finsteres Gesicht wagte man sich wohl nicht recht heran ...

Nummer sieben ... Was hinderte ihn eigentlich, der Frau gegenüberzutreten und ihr zu sagen, daß sie erkannt sei? Daß man ihren wahren Namen wisse? Ihr mit großmütiger Geste den Rat zu geben, dieses Land schleunigst zu verlassen?

Er stand jäh auf. Niemand achtete auf ihn im Getümmel des Tanzes. Er ging die ausgetretenen Stufen hinauf.

Dort war Nummer Sieben.

Durch das Haus dröhnte dumpf der Rhythmus des Tanzes. Die Melodie ging in einen Czardas über; nun hämmerte der stampfende Takt wie ein Symbol des stürmischen und verlangenden Lebens dort unten durch das Dunkel.

Er klopfte an die Tür.

Eine Frauenstimme fragte erschreckt:

»What's the matter?«

Jemand kam die Treppe herauf. Eine lange Gestalt, in einen Waterproof gehüllt, die Hände in die Taschen vergraben; selbst in der Wärme dieses Hauses mit aufgeklapptem Kragen.

Das war Stanley.

»Der Wirt schickt mich herauf. Warum sehen Sie diese Tür so an?«

Peter machte eine Bewegung mit dem Kopf, die besagte: sei ruhig. Hier geht etwas vor!

Jener verstand sofort. Er spitzte den Mund.

»Susie?« fragte er leise.

Peter, ärgerlich über seine eigene Unentschlossenheit, klopfte von neuem gegen die Tür, daß es krachend widerhallte.

Diesmal kam keine Antwort. Aber man hörte den leichten Schritt einer Frau auf die Tür zukommen.

Die beiden traten unwillkürlich zur Rechten, zur Linken, Spalier bildend wie zwei wachsame Jäger.

Die Tür ging auf. Heraus trat eine große, blonde, fremde Frau.

»Was wünschen, Sie?« fragte sie, auf Peter blickend. »Wer sind Sie?«

Peter stand betroffen. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Er wußte nicht, wer diese Frau war. Nur das eine begriff er: daß sich seit einer Stunde die Distanz zwischen ihm und Susie mit jeder Raddrehung vergrößerte.

»Warum haben Sie bei mir geklopft?«

Die Dame wandte sich zur Linken; ihr Gesicht erhellte sich.

»Mr. Stanley

»Entschuldigen Sie«, sagte dieser. »Ein kleines Versehen. Wer ist übrigens der Herr dort unten? Der Graf Faludi ist er nicht, wenn ich recht gesehen habe. Kommen Sie her, Thornquist. Darf ich bekannt machen: mein Kollege Thornquist von Scotland Yard – Miss Ivy Griffith aus London!«

Die beiden sahen sich schweigend an. Ivy Griffith reichte Thornquist die Hand. Sie war wohl die erste, die die Situation recht erfaßte. Mit dem schnellen Instinkt der Frau mochte sie begreifen: es galt, die beiden Männer hier, die um ihre Eskapade mit einem kleinen glutäugigen Honvedleutnant wußten, zu Freunden zu halten ...

Von unten kamen helle Rufe, Füßescharren; wieder klang Musik auf, vielleicht eine Art Tusch.

»Ja«, sagte Stanley. »Dann müssen wir also wohl jetzt nach Budapest telegraphieren: ›Eine gewisse Susie Lacombe wird voraussichtlich versuchen, dort als Prinzessin Prisca Klausenburg vor Gericht aufzutreten. Es wird ersucht ...‹« er kniff das eine Auge zu und schielte mit dem andern zu Peter hinüber. »Der Wortlaut ist so richtig, denke ich?«

»Ja«, sagte Peter dumpf. »Wir müssen telegraphieren.«

Der Wirt erschien eilfertig. »Wollen die Herrschaften nicht den Schluß des Festes mit anhören? Den ungarischen Ruf?«

Schmetternd setzte der Rakóczymarsch ein. Er brach plötzlich ab; aus hundert Kehlen scholl es durch die Stille:

»Nem, nem, soha!«

Der Wirt nickte; trotz der Dunkelheit sah man, daß er bleich geworden war.

»Das ist der Aufschrei unseres verstümmelten Landes. Er bedeutet: Nein! Nein! Niemals!«

Wieder setzte unten das Scharren von Füßen ein: allgemeiner Aufbruch.

Der Chauffeur erschien. Kotbespritzt. Sichtlich übermüdet.

»Nun?« fragte Thornquist.

»Es wird bis morgen früh dauern, sagt der Schlosser.«

Stanley legte seine handschuhbewaffnete Linke auf Peters Schulter.

»Diese Susie Lacombe hat Glück. Sind Sie sehr traurig darüber, Thornquist?«

Peter ging zur Treppe. »Wir müssen telegraphieren.«

Der andere schlug bedächtig den Kragen seines Mantels herunter und schickte sich an, die Handschuhe auszuziehen.

»Wollen Sie nicht mitkommen, Stanley?«

»Wohin?«

»Mein Gott – zur Poststation.«

»Überflüssig«, sagte Stanley. »Ich habe mit dem Postmeister Freundschaft geschlossen. Er ist unten. Auf der Hochzeit. Das ganze Nest ist unten. Er hat mir ein Geheimnis anvertraut: ganz Westungarn hat Sturm.«

»Das ist ja riesig interessant«, sagte Peter.

»Ja. Und alle telegraphischen Verbindungen mit Budapest sind unterbrochen


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