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In der großen Gesindestube banden sie Kränze. Freilich ging's schon auf Mitternacht, aber das schadete nichts, die Arbeit galt der Gutsherrin, da war nichts zu viel, aber auch gar nichts.

»So 'ne Stelle!« meinte die Kuhmagd ganz glücklich zum ›Drittmädchen‹, – da gehört ›Glicke‹ dazu.«

»Freilich! Mehr Glicke wie Verstand,« kicherte diese, »deshalb hast du's au so scheene getroffen.«

Die Kuhmagd verstand den Spott nicht.

»Sie is gor nich wie 'ne Baronin,« flüsterte sie weiter, »ne, ich genne doch Baronsche genug, 's gibt sonne un sonne, aber sonne wie unsre nich. Mei Pate, der au mei Vormund is, hat gsagt: ›Trine, hat er gsagt, wenn de die Stelle verlierschst, nehm'ch dir bei beide Ohren un verwimmse dir elendch. So dumm! Ech gieh nich wack von meine Baronin. Gucke emol, is er nich scheene, där Kranz?«

»Nur nicht Rosen sparen,« rief die Obermamsell durch die große Stube hin. »Der Gärtner sagt, für das Blumenkissen auf die Geburtstagstafel hätte er sich die schönsten schon zurückbehalten, und der Strauß, den der Herr Baron überreichen will, wird – wird – – ein Gedicht, –« schloß sie schwärmerisch.

»Woll'n wir nich mal messen?« fragte das Stubenmädchen. »Ich mein, die Guirlande reicht schon um ganz Rotbach rum.«

»Also messen wir mal los,« rief der Kutscher Franz, der neben ihr sehr geschickt das Eichengrün auf dem Strick befestigte, auf welches feste Gefüge die Meta dann die Rosen band.

Der hübsche, stattliche Kutscher und die blonde Meta schauten sich freilich mehr in die Augen, als auf den Zollstock, den sie an die Blumengewinde legten, und vor den Augen des jungen Mannes tanzten verlockende Bilder. Was Kutscherhauschen, das der Herr Baron bauen ließ, drei hübsche Stuben darin, – ein Gärtchen davor.

»Franz,« hat heute noch der Herr Baron gesagt, – Sie sind ein zuverlässiger Mensch, – ich bin durch die Ställe gegangen, – alle Achtung! Na, Sie sehen, ich baue da das Kutscherhaus, Kutscher Friedrich wird alt und sehnt sich nach dem ›Spittel‹, wir sprechen noch über die Dienstwohnung, Franz.«

Freilich, so war's gewesen. So war sein Baron. Und nichts tut so wohl, als von dem ›zuverlässig‹ genannt zu werden.

Und die Meta ist auch zuverlässig, das hat der Franz lange gemerkt, – sie guckt nicht nach rechts und nicht nach links, auch auf den Kirmsen und Tänzen nicht, – sie guckt immer gradaus, und da steht immer er, und so macht sich's, daß er öfters in ihre klaren, guten Augen sehen kann. – Sie wird die hübsche Kutscherwohnung schon in Ordnung halten, – träumte Franz weiter und – vergaß das Messen ganz.

»Huch,« schrie Meta in den höchsten Tönen auf, aber es klang trotzdem ganz melodisch, »Hab'ch mich erschrocken! Draußen tappt was Barfiß'ges rum, un grad schlägt's zwelfe. Ne, so ä altes Schloß hat doch seine Fesematentchen!«

Meta war wirklich etwas blaß geworden und sie erlaubte es, daß Franz seinen Arm ganz sacht um sie legte, – so'n guter, ehrlicher Mensch und so'n altes, geisterhaftes Schloß – – –

Auch die andern horchten.

Die Kuhmagd Trinchen fühlte ordentlich, wie sich ihre Haare auf dem Kopfe sträubten, als die Türklinke ganz sacht niedergedrückt wurde.

Und da stand auch schon eine weiße Gestalt auf der Schwelle, eine kleine, rührende Kindergestalt im Nachthemdchen, und Willys Knabenstimmchen fragte ernst: »Bindet ihr auch fleißig Kränze für meine Muusch?« – – – – – – – – – – – – – – – –

An das Schlafzimmer des Elternpaares Rumohr klopfte es erst zaghaft, dann energisch.

»Was ist denn los?«

»Wenn Frau Baronin öffnen möchten! Ich bin's, die Obermamsell.«

»Ist etwas geschehen? Es ist zwölf Uhr durch.«

»Wenn Frau Baronin nur kommen möchten.«

Der Schlüssel wurde herumgedreht, die Tür geöffnet, und durch die Spalte schob sich und wurde außerdem recht nachdrücklich geschoben der Willy.

»Wünsche gute Nacht,« murmelte die Obermamsell noch und rannte eilends davon.

Kerlchen hielt den zitternden, leise weinenden Jungen an ihrem Herzen.

»Wo ich doch nichts getan hab!« schluchzte er weh auf.

»Mein Kleines, wo kommst du denn her?« »Residiert hab'ch, – angepurrt hab'ch, genau um Mitternacht, wie mir's der Erni gesagt hat, damit du deine Kränze kriegst, du süße Muusch!«

»Himmel, ist der Bengel gewissenhaft! Kerlelein, Kerlelein, das hat er von dir!«

»Dank schön für die gute Meinung, Friedel, aber ich weiß doch nicht recht – –«

»Wer die Last haben und den Bengel hinüber schaffen soll?«

»Ich hab Eisbeinchen. Ach, nimm mich in ›Mutterbettchen‹,« bat der Kleine herzbeweglich.

Und bald schlummerte er – fest und süß am treusten Mutterherzen. – – – – – – – – – – – –

Der einunddreißigste Juli! So ein rechter, flimmernder Sommersonnentag.

»Daß du ja nicht in der Morgenluft rumwimmelst, Muusch,« hatte Erni noch am Abend vorher dem Geburtstagskinde eingeschärft. – »Du würdest dich buchstäblich in Überraschungen verheddern und uns außerdem jede Freude verderben.«

»Wann wollt ihr denn aufstehen, Kroppzeug?«

»Punkt, Klock, Schlag 4 Uhr, Muusch.«

So war denn Kerlchen gehorsam gewesen und – – schon um drei Uhr aufgestanden. Leise, ganz leise hatte es sich angekleidet und war ebenso sacht aus dem Zimmer gehuscht, hinaus in die tauige Sommerfrühe.

Den schmalen Wiesenpfad war Kerlchen geschritten am rauschenden Flüßchen entlang bis zum Dorfe hin, und dann war es nach rechts abgebogen, wo das Kirchlein stand mit den friedevollen Stellchen ringsum, den stillen Gräbern. Wie Kerlchen den Friedhof liebte!

Mächtig ragten die Berge rings um das Dörflein in die Höhe. Da oben in der weiten, blauen Ferne – o wie schön –, da war die Heimat der Seele, – hier unten die stille Rast für den müden Leib.

Und Kerlchen strich mit weicher Hand über zwei Efeuhügel, die sich hier über ein paar liebe Menschen wölbten, – Onkel Rumohr und Tante Laura Hartwig.

Fast zu gleicher Zeit vor drei Jahren hatten die beiden diese Erde verlassen, – nicht ohne treu für Haus Rumohr gesorgt zu haben. Wie hell lag die Zukunft vor Fritz und Kerlchen.

Hell und sonnig trotz der Sorgen des reichen Kindersegens. Wenn der liebe Herrgott Gesundheit gab, – für irdische Dinge hatte Ohm Rumohr überreich gesorgt.

Kerlchen legte zwei volle Rosensträuße auf die lieben Plätze.

»Ich dank euch, ihr Guten!«

Leichten Schrittes, mit frohen Augen eilte Kerlchen zurück.

Wie Tannenruh leuchtete!

Mit strahlenden Blicken umfaßte es das ganze liebe Haus. Seine Heimat! Da drinnen, just dort hinter dem rosenumrankten Fenster schlief er, Friedel, neben ihm das runde, rotwangige Bürschchen, das heute Nacht eine so köstliche Probe seiner Kindesliebe geliefert und dort – – – schlief das Kegelspiel – alle Neune! Schlief es wirklich?

Ach, nein, die übrigen acht (oder war Willy schon dabei?), machten einen Heidenradau. Dazwischen tönte es »›pfcht, pscht‹, weckt Muusch nicht auf!«

Es war der fürsorgliche Erni.

Kerlchen schlüpfte ins Haus und vorsichtig in das Schlafzimmer, um Fritz nicht zu stören. Aber er war schon fix und fertig, rauchte bereits eine Friedens-Morgenzigarre und streckte seinem Weibe beide Hände entgegen.

Auch Willy war schon ausgeflogen.

Kerlchen lag an Friedels Brust.

»Gott grüß' dich, mein Liebstes auf der Welt!«

»Guten Morgen, mein Fritz!«

»Mein Kerlelein, die treusten Wünsche für das kommende Jahr! Mein Weib, mein alles! Gott behüt' dich!«

Kerlchen hatte die Augen voll Tränen.

»Ich dank dir, Friedel! Viel tausendmal dank ich dir für alles, was du – –«

»Still, Kerlchen! Nur ich hab zu danken, nur ich!«

Sie standen jetzt Hand in Hand am Fenster, das außen von leuchtend dunkelroten Rosen umrankt war. Hell schien die Sonne auf die Tannen dahinter, auf den Rasenplatz mit dem hohen Springbrunnen, in dessen sprühenden Tropfen sie ein buntfarbig-köstlich Spiel trieb. Hoch und ernst standen die Thüringer Berge ringsum, Kerlchen sah sinnend hinauf in ihre ragende Größe.

Da setzten draußen klare, frohe, frische Kinderstimmen ein, feierlich-schön klang der Gesang, und der Eltern Hände umschlangen sich fester.

»Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von denen dir Hilfe kommt. Deine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.«

Kerlchens Kopf ruhte an der Schulter des Gatten, – es weinte – – Freudentränen.

Dann wurde die Türklinke sacht heruntergedrückt – –:

»Mutterli, einziges – grüß Gott, – Muusch – guten Morgen, – tausend Glückwünsche – Liebes – o – jetzt komm ich, – Mutti – Muusch –«

»Na, wenn ihr sie totdrückt, dann ist's vorbei mit dem Geburtstag!«

»I wo, unsere Muusch ist das schon gewöhnt. Es war wieder ein ›Hümpelchen‹.«

Und Fritz von Rumohr dachte: »Mein, mein, mein! Wie bin ich reich! Herrgott, ich dank' dir!«

*

War das eine fröhliche Kaffeetischrunde!

Draußen unter der mächtigen Linde saßen sie, und Kerlchen im leuchtend weißen Kleid kam kaum dazu, ab und an ein Schlückchen des duftenden Trankes zu schlürfen, so oft rief es rings: »Geburtstagskindchen, darf ich Brezel?«

Die Thüringer Geburtstagsbrezel!

Das ist noch etwas! Da ist Segen drin!

Riesengroß war sie und voll Rosinen und voll Mandeln und Zucker, und obendrauf auch noch dick Zucker mit Mandelstückchen vermischt.

Das Geburtstagskind schnitt die Brezel an, während die brennenden Lichtchen noch darauf standen, so will es alter Brauch, und dann löschte es jedes Lichtchen einzeln und vorsichtig aus, kein anderer Mensch darf das tun.

Sehr kleine, schmale Stückchen schnitt es ferner von der Brezel ab, denn je mehr Stückchen es sind, desto länger lebt das Geburtstagskind.

»Muusch, darf ich noch ein Stückchen?«

»Aber freilich!«

»Ich auch, Kerlelein?«

»Hier, mein Friedel!«

Kerlchen schob dem Gatten ein mächtiges Stück hin.

»Willst du wohl! Ei, da soll doch!«

Und er teilte das Stück in neun Teile mindestens und fütterte Kerlchen und sich damit.

Das war ein neuer Anblick für das Kegelspiel, dem es mit hellem Gelächter zuschaute.

Nun kamen die Obermamsell, die Köchin, das Zweit- und Drittmädchen und das Stubenmädchen.

Alle in hellen Kattunkleidern mit großen, weißen Schürzen und kleinen, weißen Häubchen.

Die Obermamsell räusperte sich, die Tafelrunde machte eine Pause im Essen und Trinken, nur Paul steckte noch rasch sein ganzes Stück Kuchen in den Mund und hörte deshalb den Worten der Mamsell mit ganz blauem Gesichte zu, was das wachsame Kerlchen mit Schrecken erfüllte.

Die Obermamsell räusperte sich noch einmal:

»Als wir heute früh erwachten
Und an Frau Baronin dachten,
Fiel uns der Gedanke ein,
Heut muß ihr Geburtstag sein,
Drum kommen wir gelaufen auf Sohlen und Hacken
Und haben Ihnen eine Sandtorte gebacken.«

»Sandtorte,« schrie Paul glückselig, denn er hatte den Kuchen glücklich heruntergewürgt und war für weitere Genüsse aufnahmefähig geworden. Er bekam aber nur von Harald einen Puff zwischen die kurzen Rippen und den kurz und leise hervorgestoßenen Kosenamen:

»Freßsack.«

Kerlchen stand auf, nahm mit herzlichem Dank, der sichtbar und fröhlich aus seinem Kindergesicht strahlte, die Torte entgegen und schüttelte jeder einzelnen die Hand.

Der Gutsherr folgte dem Beispiele und setzte auch ein Paar aufmunternde Worte hinzu:

»Heute abend, da wollen wir aber ordentlich tanzen.«

Darob errötendes Nicken und verschämtes Lachen.

Ein jäher Trompetenstoß ließ alle schreckhaft zusammen fahren.

Willy schrie sogar jämmerlich auf.

»Ruhig, Pate, das ist der Tag des Herrn!«

Ja, er war's allerdings, aber alle zitterten noch ein wenig, während der erste Vers zu Ende schmetterte.

Die Musik stand zu nahe, denn die abwehrende Handbewegung des Barons, die besagen sollte, etwas nach hinten zu treten, hatte man als Aufforderung, näher zu kommen, aufgefaßt und so hatte Kerlchen die Posaune dicht an seinem Ohr.

Nun sollte programmäßig: »Lobe den Herrn« folgen, und Kerlchen begriff nicht recht, warum sie mit aller Macht: »Aus tiefster Not schrei ich zu dir« bliesen; es war so gar kein Geburtstagslied, aber der »Dirichente« erklärte gleich nachher den Fall:

»De Glarinette hat's uff der Glappe, 's Fentil hat'r immer versagt, un in dän Goral: ›Lobe den Herrn‹ hat äbend de Glarinette ludermäß'ch viel zu vichelieren, un da ham mer äbend ›aus tiefster Not‹ genommen.«

Das war einleuchtend, aber das ganze Ständchen litt sichtlich unter dem »Glappenfähler« der Klarinette. Die Musikanten bekamen Wein und Kuchen, gleich dahinter oder darauf »setzten« sie einen Nordhäuser Korn.

Dann wünschten sie Gottes Segen auf Rumohr-Rotbach herab, gaben noch den Galopp: »Wenn der Pudel in der Wut sich ä Been rausreißt« zu und zogen mit dem Versprechen ab, heut abend um 9 Uhr pünktlich in der großen Scheune zu erscheinen.

»Uff! Das war anstrengend!« sagte der Gutsherr.

»Aber gut gemeint!« rief Kerlchen fröhlich. »O ich möchte um die Welt nicht mein zerplatztes Trommelfell missen.«

»Du Seele von 'm Menschen!« lachte Fritz.

Pauls Augen waren schon beinahe ganz aus ihren Höhlen getreten, so sehr hatte er die Sandtorte aufs Korn genommen.

»Fangen wir jetzt wieder von vorn an?« fragte er.

»Wo denkst du hin? Jetzt wird abgeräumt, und wir müssen uns für etwaige Gäste vorbereiten.«

Paul sah sehr kläglich aus, wagte aber keinen direkten Widerspruch.

Er war der »Magen« der Familie Rumohr.

»So sieh wenigstens nach, liebe Muusch, ob die Sandtorte titschig' ist.«

Den Gefallen tat ihm die Muusch, sie schnitt vorsichtig das Gebäck an.

Nein, die Torte war tadellos, locker und weich, »wie Sanft« hatte die Obermamsell versichert, denn sie hatte ein Probetörtchen gebacken.

Das Kegelspiel machte lange Gesichter.

»Titsch« oder »Schliff« war immer das schönste an der Torte, sowie an jeglichem andern Gebäck, Brezel oder Napfkuchen. »Titsch« lag immer so wundervoll schwer im Magen, besonders wenn man viel davon gegessen hatte, und man spürte wirklich mal etwas wie »Sattigkeit«. Außerdem – war die Torte brillant geraten, so wurde sie »vorgesetzt«, na und was so »Damens« in Torteessen leisten konnten, das wußte das Kegelspiel aus verschiedenen Kaffeegesellschaften.

Man schob also ab, um zu sehen, wo es sonst noch was gutes zu essen gab. Erni fuhr mit dem kleinen Selbstkutschierer nach dem Bahnhof, um Onkel Krone abzuholen.

Als er wiederkam, winkten sämtliche Schloßbewohner vergebens.

Erni stieg allein vom Wagen, aber mit lachendem Antlitz.

»Onkel Krone kommt erst mit dem Mittagszuge,« rief er und zeigte ein Telegramm vor, »aber ich muß gleich mit'n Leiterwagen wieder zur Bahn. Das Gepäck von Onkel Krone ist nämlich schon da, oder vielmehr lauter Fracht- und Eilgutgeschichten. Kinder, es ist'n Hauptspaß. Wer will mit?«

»Ich, ich, ich, ich!« rief alles durcheinander.

»Nimm sie alle mit, Erni,« bat Kerlchen-Muusch, »so kommen wir hier aus dem Getöbse heraus und können besser Ordnung für die Gäste schaffen.«

Wie die wilde Jagd sauste das Kegelspiel ins Haus, um Hüte und Mützen zu holen, und als der Leiterwagen vorfuhr, war alles bereit, hinaufzuklettern.

»Hurra, – alle Neune,« rief ihnen noch gut gelaunt der Vater nach, als sie mit ohrbetäubendem Peitschenknallen davon rumpelten.

Und dieses Wort pflanzte sich fort. Wo und bei wem sie auch vorbeigejagt kamen, da tönte es ihnen freundlich entgegen und wurde lustig nachgeschrien: »Hurra, alle Neune!«

Denn das junge, frische Menschenleben da oben auf dem Leiterwagen war ein gar fröhlicher Anblick, und das bildhübsche Mädel saß recht wie ein »Röslein« unter den acht dornig-stachligen Jungens.

Wie Zigeuner kamen sie wieder heim.

Gleich hinter den Pferden an Stelle des Kutschersitzes thronte nun ein mächtiges Schaukelpferd, der höchste und glühendste Wunsch von »Pate«. Von hier aus kutschierte er allerdings langsam, aber ganz sicher die beiden friedfertigen Ackergäule, die Erni fürsorglich für diese Fahrt ausgewählt hatte.

Nur wenn »Life« oder »Hans« Miene machten, am Wegrain Blätter abzupflücken, zog Erni am Zügel und lenkte die Lüsternen auf den Tugendpfad zurück.

Im übrigen las Erni. Er hatte eine Kiste mit seiner Adresse vorgefunden und sie der Einfachheit halber gleich geöffnet.

Eine große Staatspuppe war von Rose mit etwas mitleidigen Blicken in Empfang genommen worden, Onkel Krone schickte jedes Jahr »so'n Monstrum in seidenen Kleidern«, während Rosel es von ihrer Mutter geerbt hatte, am liebsten mit Wickelkindern, oder winzig kleinen Püppchen zu spielen, für die sie auch wundernette Kleider nähen konnte.

Aber ein großes Buch, das neben die Staatspuppe gepackt war, hatte sie jauchzend an sich gerissen und jetzt las sie: »Pieter Maritz, der Burensohn von Transvaal.«

»Ja, ja, lies nur, Rosel,« ermunterte Erni, »ich hab auch was Schönes und kann die Zeit nicht erwarten. Da, sieh, – Onkel Krone ist ein Prachtmensch und wird es ewig bleiben. ›Über Land- und Forstwirtschaft‹. Und da – Shakespeare! Und da, – Goethes Gespräche mit Eckermann, – alles, was ich mir gewünscht habe! Na, Onkel Krone, wärst du man erst hier!«

Und dann las er und kümmerte sich, wie gesagt, nur dann um die Pferde, wenn sie auf Abwege gerieten.

»Diese ganze große Kiste wo da drauf ich sitze, ist für unsere Muusch,« rief Harald und schulterte ein Racket, während er in der linken Hand sehr geschickt ein paar Tennisbälle tanzen ließ. »O Himmel, wie freu ich mich auf unsern neuen Tennisplatz!«

»Croquet ist schöner,« sagte Paul, »man wird nicht so heiß.« Er hatte etwas Neigung zum Embonpoint.

Er besah liebevoll die lange, starke Holzkiste, in welcher die Utensilien schön geordnet lagen. Elimar hielt einen neuen Geigenbogen in der Hand, den er entzückt betrachtete, und nicht nur einen neuen Bogen, sondern auch eine alte Geige.

»Beim Trödler hat Onkel Krone sie aufgegabelt,« rief er aufgeregt, – sie ist herrlich, – Vater seine ist kaum älter und besser.«

Li setzte den Bogen an und spielte, – eigene Phantasien, und die lesenden Geschwister ließen die Bücher sinken und hörten gespannt dem Bruder zu, dessen Augen vor Glückseligkeit leuchteten.

»Das is enne Fuhre,« sagte ein alter Bauer zum andern, als sie sich auf der Landstraße begegneten.

»Das sinn unsere,« war die schmunzelnde Antwort, »die Rumohrs sind's, – Prachtkerle sind's, Vater un Mutter sin au welche.«

Der Leiterwagen rumpelte sachte weiter.

Fritz hatte eine schöne, große Mundharmonika entdeckt, Harald die langersehnte Mandoline; nun ging das Quälen los:

»O Erni, spiel Mandoline, du kannst's am besten, o Erni, leg das Buch weg und spiel. Wir müssen mit Musik in den Park einfahren, hört ihr?«

»Die Pferde werden scheu bei dem Gedudel.«

»O, Hans und Lise nicht.«

»Na, denn man los!«

»Willy, hältst du auch die Zügel stramm!«

»Jawohl, Erni.«

»Na, dann verteilt euch ordentlich. Hat jeder 'n Instrument zum Musik machen? Rosel, so hör' doch auf mit Lesen! Ich hab gefragt, ob du was Musikalisches an dir hast?«

Rose war noch ganz im Banne der Geschichte und sah den Bruder etwas geistesabwesend an.

»Komplett blödsinnig,« sagte der aufrichtige Harald.

Das brachte Rosel zu sich.

»Ich singe!« sagte sie bereitwillig, »wer noch?«

Adolf hob den Finger, Harald gleichfalls.

»Gut! Fritz, gib mal den Ton an, damit wir unsere Saiten danach stimmen können.«

Klimm, klimm, klimm, klamm, klamm, klamm, schrumm, schrumm, schrumm.

»So, nun ist's tadellos.«

»Eins, zwei, drei: ›Mein Thüringen, mein Jugendland!‹ Rosel, sing zweite Stimme mit, Harald, du mußt mehr brüllen, du denkst wohl, du bist zu deinem Vergnügen da?«

Und Harald brüllte, das heißt, er sang mit glockenheller, reiner, starker Stimme das Lied, Elimar begleitete mit der Geige; er fiedelte in den kühnsten Koloraturen, während Erni die Grundakkorde auf der Mandoline knipste. Fritz spielte die Mundharmonika, es waren langgedehnte schöne Akkorde, die einen prächtigen Baß zu Geige und Mandoline abgaben.

Ob du nicht lieber doch das Dichten läßt, Fritz, und dich auf die Mundharmonika wirfst?« fragte Erni und machte eine Kunstpause.

Fritz sah ihn vorwurfsvoll an und blies weiter.

Carlo und Adolf hatten sich jeder mit einem Croquetschläger bewaffnet und bollerten damit taktgemäß gegen die große Kiste.

Ein Elitekonzert.

*

Unter der großen Linde saß inzwischen die Frühstücksgesellschaft.

Herr Rittergutsbesitzer Wilhelm Hinrich von Reymerstal auf Rebenhügel war schon zeitig vom Nachbargut eingetroffen, nachdem er seine Avantgarde, einen Riesenrosenstrauß, vor Tau und Tag gesendet.

Dieser Strauß gab der festlichen Frühstückstafel das Gepräge.

»Noch sind die Tage der Rose,« zitierte der große, ritterlich ausschauende Herr, mit liebenswürdigem Hinweis auf Kerlchen.

Die Geburtstagsrosen von Fritz standen drinnen auf dem Nähtisch, wie jedes Jahr, angeschmiegt an Väterchens Bild, das im Stehrahmen neben Kerlchens Handarbeit stand, und um das lebensgroße Bild des Vaters hatte Fritz eine Guirlande von frischem Lorbeer und Heidekraut legen lassen, – lieb sah es aus, ganz lieb, und Fritz hatte süßen Lohn von Kerlchen empfangen.

Im Gürtel von Kerlchens weißem Morgenkleid hing eine prächtige Gloire de Dijon-Rose.

Die Augen des älteren Herrn, der an Kerlchens rechter Seite saß, ruhten schalkhaft darauf.

»Nun, Herr von Hagedorn?« fragte Kerlchen.

Herr Friedrich von Hagedorn, der jetzige Besitzer des Gutes Steinbrücken, lachte behaglich.

»Ich mache es immer schlau, meine gnädigste Baronin,« sagte er. »Die anderen Herren senden Ihnen Rosensträuße in riesigen Dimensionen, Sie danken lieblich lächelnd – und setzen die Rosen in Vasen, in Schalen, in Tafelaufsätze, – sie gehören dann jedem. Ich schenke Ihnen immer nur eine Rose, die köstlichste, die mein Garten bietet, und eben, weil es nur eine schlichte Rose ist, so stecken Sie sie gütigst an Ihr Kleid, und meine Blume darf an der Brust der lieblichsten Frau verblühen.«

»Sie liebenswürdiger Schwerenöter!« lachte Herr von Reymerstal. »Auf so'n verzwickten Gedankengang können auch nur Sie kommen. Wo haben Sie das Süßholzraspeln gelernt? Da nennt man die Marineoffiziere ›alte Seebären‹, aber wenn man genauer in Brehms Tierleben nachschlägt, dann sind's: ›Salonlöwen‹.«

»Vergessen Sie nicht, daß ich seit lange a. D. bin,« lachte Hagedorn, »aber den Namen ›Salonlöwe‹ überlassen wir unsern Landsoldaten. Auf unseren Seereisen hatte man verdammt wenig Zeit und Lust, den Schwerenöter zu spielen.«

»Es muß rasend interessant sein,« warf Frau von Mainro, die Besitzerin von Gut Haidebusch, ein, ließ aber die Frage offen, ob der Beruf des Seemanns oder das Schwerenöterspielen gemeint sei.

»Herrn von Hagedorns Häuslichkeit ist auch hochinteressant,« rief Fritz von Rumohr, »unser verehrter Freund ist Sammler von Kostümen; aus jeder Stadt, aus jedem Hafen des In- und Auslandes hat er prächtige, sehenswerte Kleidungsstücke mitgebracht, – sein Steckenpferd, der ›Clou‹ der Sammlung ist aber doch der Anzug der Südseeinsulanerin.«

Kerlchen warf Fritz einen mahnend bittenden Blick zu, das Thema zu wechseln, es dachte mit gelindem Entsetzen daran, wie es auch seiner Zeit diesen »Anzug« so brennend gern hatte sehen wollen und wie ihm Herr von Hagedorn einen schmalen Baststreifen präsentiert hatte.

»Was ist denn das für Musik?« fragte es deshalb ablenkend und horchte nach dem Schloßportal hin, – »es werden doch nicht wieder Zigeuner sein?«

»Diese Landplage hat man jetzt gründlich,« rief Herr von Reymerstal, »ich habe erst gestern eine ganze Bande aufschreiben und auf den Schub bringen lassen. Musikalisch sind die Kerle, das weiß der Kuckuck, die verschiedensten Instrumente wissen sie zu handhaben, – natürlich sind's die Zigeuner, – hören Sie nur, Gesang und Mandoline und Geige, – sie sind's, – so 'ne Frechheit! Wir wollen das Portal sperren!«

Er sprang auf, Herr von Hagedorn folgte etwas langsamer, Fritz und Kerlchen begleiteten ihre Gäste.

Aber je näher die Musik kam, desto aufmerksamer horchte Kerlchen, schüttelte ab und zu den Kopf und dann – lachte es fröhlich auf.

»Die Kegel sind's, Friedel, – unsere sind's. Hör doch, sie singen: ›Mein Thüringen, mein Jugendland!‹«

Leichtfüßig lief Kerlchen nach dem Portal, Fritz hinterdrein, und jedes von den beiden nahm ein Pferd am Zügel und führte das Gespann in den Gutshof.

»Hermann und Dorothea!« sagte Herr von Reymerstal halblaut zu Hagedorn.

»Ein famoses Bild!« entgegnete dieser. »Sehen Sie nur das liebe, gesunde, strahlende Weib an und den Hünen, den Rumohr, und die schönen, prächtigen Kinder, da steckt Rasse drin!«

Die »Zigeuner« sprangen vom Wagen ab und es gab ein Lachen, ein Zeigen und Erzählen, jeder wollte zuerst der Muusch dartun, was ihnen der unvergleichliche Onkel Krone gespendet.

Und die mächtige Kiste für Muusch durfte gar nicht erst ins Schloß geschafft werden. Auf dem Rasenplatz packte man sie aus unter »Ahhhs und Ohhhhs!«

»Er muß 'n Sonnenstich gehabt haben!« klagte Kerlchen bei jedem neuen Stück, das es der unerschöpflichen Truhe entnahm.

Alles, was es auch nur so leichthin an Wünschen das Jahr hindurch geäußert hatte, Wünsche, die teilweise schon von Fritz erfüllt worden waren, das fand Kerlchen jetzt vor; der alte Krone mußte mit Argusaugen aufgepaßt haben und ungeheuer hellhörig sein, daß er sich diese vielen Kleinigkeiten gemerkt hatte.

»Da steckt Liebe drin,« behauptete Herr von Hagedorn, »Von dem alten Schlächter können wir alle lernen. Der hat das Bibelwort gut aufgefaßt von dem tönenden Erz und der klingenden Schelle.«

»Sie haben das rechte Wort gefunden, Herr von Hagedorn,« sagte Kerlchen warm, »der treueste Mensch Land auf, Land ab ist mein alter Krone. Meiner, sag ich. Denn beinahe heut vor siebenunddreißig Jahren hab ich ihn kennen gelernt, sechs Wochen war ich alt, als ich ihm meinen ersten Besuch machte.«

»Aber meine liebe, teure Frau von Rumohr,« rief Reymerstal, »wenn wir auch hinter Ihrem ältesten und liebsten Freunde zurückstehen müssen, gelt – so ziemlich einen Scheffel Salz haben wir doch auch schon miteinander gegessen?«

»Das soll wohl sein,« lachte Fritz von Rumohr, »und den Durst, der nach dem Salz kam, haben wir ehrlich in den verschiedensten Bowlen ersäuft.«

Kerlchen streckte Reymerstal und Hagedorn beide Hände hin.

»Ich weiß jetzt erst, – seit neun Jahren weiß ich es, was es heißt: ›Gute Freunde und getreue Nachbarn!‹ Wie dankbar sind wir Ihnen, mein Fritz und ich!«

Kerlchens Hände wurden ehrerbietig geküßt, Reymerstal sah ihm treuherzig in die Augen.

»Befehlen Sie über mich, Frau Kerlchen. Durch Feuer und Wasser!«

»Ich sei, gewährt mir die Bitte,« rief Frau von Mainro. »Liebstes Rumöhrchen, was wär ich ohne Sie! Wenn ich bloß an meine Ferkel denke, dann wird mein Auge naß.«

»Das ist aber auch ein überaus zarter Gedanke!« lachte Reymerstal.

»Ach, lachen Sie nur! Was weiß so ein Junggeselle von den zarten Regungen einer Frauenseele.«

»Ich meine, Sie sprachen von Ferkeln.«

»Abscheulicher, natürlich tat ich das! Aber der Ideengang war ein anderer. Wenn man als arme Wittib allein und ratlos vor einem Stall kranker Ferkel steht, – da ist nichts Zartes dabei, wenn dann aber so ein Hauptkerlchen, wie unser Rumöhrchen kommt und in wenigen Tagen alles umkantert, gesund macht, ratet und tatet, daß es 'ne Lust ist, – geht noch was drüber über so 'ne Frauenseele?«

Kerlchen und Fritz hatten die beiden Streitenden verlassen, der Gutsherr hatte in der Wirtschaft zu tun, und Kerlchen konnte nicht vertragen, wenn um ein bißchen Wohltun »Sums« gemacht wurde.

»Gut sein und glücklich machen,« stand als leuchtender Wahlspruch allzeit vor seinem geistigen Auge. »Nichts geht über Frau Kerlchen,« sagte Reymerstal ernst und warm, »man möchte ihr die Hände unter die Füße legen, damit dieses Herz fröhlich bleibe und sonnig.«

»Die Frau bleibt sonnig, – auch im tiefsten Schatten. Und Schatten wird sie nicht haben, so lange sie den Gatten hat. Sahen Sie je solch' eine Ehe?«

»Nie! Käme sie öfters vor, wäre ich nicht Hagestolz.«

»Sprechen Sie von mir?« fragte Hagedorn und trat zu den beiden.

»Nein, wenigstens nur von Ihren ersten beiden Silben. Ich sagte – –«

Nachbar Reymerstal sagte, er sei Hagestolz geblieben, weil er Frau Kerlchen zu spät kennen gelernt hätte.«

»Ganz mein Fall,« stimmte Hagedorn bei.

»Aber nicht meiner,« verteidigte sich Reymerstal. »Ei, ei, Frau Nachbarin, wer hätte von Ihnen vermutet, daß Sie solch Wortverdreher seien. Ich sage, ›heute noch würde ich heiraten, wüßte ich, daß es ein zweites Kerlchen gäbe‹.«

»Gibt's nicht,« rief Frau von Mainro rasch.

»Gibt's nicht,« sekundierte Hagedorn. – »Aber ich glaub nicht, daß es eine durchaus himmelblaue Ehe ist, die die beiden prächtigen Menschen führen. In dem Weibchen steckt Temperament, hol mich dieser und jener. Und der schwarze Rumohr is 'n Vulkan, – ich bin 'n ruhiger Beobachter und hab 'n Posten Menschenkenntnis, – 'n Vulkan sag ich.«

»Er hat aber noch nicht ein einziges Mal gespuckt, solange ich ihn kenne,« lachte Frau von Mainro. »Übrigens, was verstehen Sie unter einer himmelblauen Ehe? Ich meine, die Rumohrsche ist sonnig und klar, wie der helle Tag.«

»Das ist sie, versteht sich! Im großen und ganzen und auch im kleinen und einzelnen. Aber ich meine, bei Rumohrs gibt's kein Schmollen, kein Nachtragen, kein Quälen, keine Launen, nichts von dem, was Unsereinen so vom Heiraten abgeschreckt hat, und doch, – der Rumohr sieht darnach aus, als ob er das alte Sprichwort kennt: ›Mannshand baben‹, und das Kerlchen sieht aus, als könnt es dem Eheherrn alle Tannenzapfen, die hier so in reichlichen Mengen in Tannenruh vorhanden sind, an den Kopf werfen, wenn es in Rage kommt.«

»Ich weiß doch nicht,« meinte Frau von Mainro zweifelnd. »Sie vergöttert ihren Mann buchstäblich, und nur ein solcher, wie Rumohr, so ein Prachtsmensch, kann's auf die Dauer vertragen. Ich glaub' sie hat ihm noch kein rasches, ungutes Wort gesagt, Tannenzapfen? Unsinn!«

»Na kommt ja Frau von Rumohr,« meinte Herr von Hagedorn ruhig, – »fragen wir sie selbst.

Kerlchen schritt heran, sein ganzes Gesicht strahlte. Es liebte das Leben, – und heut war ein so herrlicher Tag. Der Friedel frisch und in fröhlichster Laune, der Himmel klar und blau, die Kinderschar gesund und alle vollzählig da. Von dem Dienstbotenzimmer und den Wirtschaftsräumen her klang frohes Lachen und Singen (heute abend bekamen die rastlos Arbeitenden einen Ball in der Scheune), und hier draußen unter der grünen Linde die lieben Getreuen, von denen Kerlchen wußte, alle hielten es hoch und hatten es lieb, das Kerlchen und seinen Fritz – – o, das Leben war schön, war einzig schön!

»Verzeihung, daß ich so lang fortblieb,« rief Kerlchen bittend, »tausend Hände möcht' ich heut haben, um alles recht lieb und schön zu machen für meine Gäste.«

»Wir sind auch mit diesen zwei fleißigen Händchen zufrieden,« sagte Reymerstal und küßte alle beide.

»Sie sehen mich so an, Sie drei,« meinte Kerlchen, »hab ich was Närrisches an mir?«

»Das zu entscheiden ist nicht unsere Sache,« scherzte Herr von Hagedorn, »aber wir haben, – na wollen mal sagen, so 'ne kleine Wette gemacht, – die Meinungen waren geteilt – ob Sie wohl imstande wären, so recht im ehrlichen Zorn, – der ja vorkommt, und keinen Menschen schändet, – Ihrem Gatten ein paar Tannenzapfen an den Kopf zu werfen? – –«

Einen Augenblick sah Kerlchen verblüfft aus, das kam, weil es heute so gar nicht in kriegerischer Stimmung war, aber dann dachte es ein Weilchen nach, dachte an manches, – an den Eigensinn, – nein, nein, Eisenkopf von Fritz und – an seine Zornanfälle, an manche Unbegreiflichkeiten des geliebten Mannes, – jetzt noch konnte es in der Erinnerung böse werden – –

»Mit Wonne!« sagte es hoch aufatmend.

Sie lachten alle drei herzlich und anhaltend, es war auch zu ehrlich herausgekommen.

»Also wirklich ein paar Tannenzapfen?« fragte Herr von Reymerstal kopfschüttelnd und sinnend.

»Ein paar? – – Hierum gibt's gar nicht genug!« sagte Kerlchen, und seine Augen leuchteten.

Hagedorn sah auf die Menge Tannenzapfen, die ringsherum den Rasen bedeckten und an den Bäumen hingen.

»Na, ich danke!« meinte er lachend.

Reymerstal blickte in Kerlchens leuchtendes Gesicht mit undefinierbarem Ausdruck.

»Ihm tut gewiß mein Friedel leid,« dachte Kerlchen, »aber ehrlich mußte ich doch sein!«

Es hatte aber falsch gedacht, – Herr von Rehmerstal murmelte: »Beneidenswerter Kerl, der Rumohr.«

*

Unter dem Kegelspiel entstand ein kleiner Aufruhr, – ein Pony galoppierte in den Hof, eigentlich sah es aus, als käme ein Rosenbusch angesprengt, denn das zierliche Persönchen, das auf dem Pony saß, war halb verdeckt von einem mächtigen Rosenstrauß.

»Nata! Nata!« schrien die Kinder, wie toll und wild.

Nataly von Mainro, fünfzehnjährig und Roses liebste Freundin, sprang leichtfüßig ab und präsentierte sich als ganz allerliebstes Geschöpfchen.

Beide Arme schlang sie zuerst um Kerlchens Hals, überreichte den Strauß, wünschte ihrer »einzigen, süßen, wonnigen Kerlchentante« reichstes Glück, begrüßte dann ziemlich kordial ihre eigene Mutter, machte vor den drei Herren einen tadellosen Tanzstundenknicks und zog gleich Rose mit sich fort, ohne den übrigen Kegeln auch nur einen Blick zu gönnen.

»Willst du nicht meine Geschwister erst begrüßen?« fragte Rosel etwas beleidigt, denn ihr ganzes Herz hing an den Brüdern.

»Ach Gott nein, komm man, das kann ich ja nachher noch tun,« war die hastige Entgegnung, – »weißt du, Rösi, Jungens sind mordslangweilig.«

Das fand nun Rose gar nicht, sie hatte immer prächtig mit ihren Brüdern gespielt und andere Jungens kannte sie nicht.

»Da geht sie hin und singt nicht mehr,« bemerkte Erni melancholisch hinter Nata her.

Er hatte ihr eine tadellose Verbeugung nach der anderen gemacht, ohne auch nur von ihr bemerkt zu werden.

»So sind die Frauenzimmer!« sagte er düster, »Fritz und Elimar hütet euch vor ihnen.«

»Gänse,« sagte Li, und Fritz streckte Erni ein Blatt Papier hin.

»Nee, das Gedicht brauch ich nun nicht mehr,« meinte Erni trotzig, »ich dank dir schön für deine Mühe!«

»Es war so gut geraten,« brummte Fritz, »es ist ein Akrostichon«.

»Na, denn man zu.« Erni las!

Neulich konnt' ich dich nicht sehen,
Aber heute seh ich dich;
Treue kannst du nicht verstehen,
Aber ich verlaß dich nich.

»Es ist sehr gut,« sagte Erni, »es paßt namentlich so sehr auf dieses unstete Wesen, aber ›nich‹ ist falsch, Fritz, du wirst das bei keinem Dichter finden.«

»Das kann ein Dichter machen, wie er will,« behauptete Fritz gekränkt, »aber du mußt immer nörgeln, – Pah, dichte dir doch selber was.«

»O Kinder, bloß nicht zanken, – heute an Muuschens Geburtstag,« bat der friedfertige Elimar, »ich finde das Gedicht brillant, aber die letzte Zeile auch nicht richtig. Suchen wir eben einen anderen Reim.«

»Du wirst gerad' einen finden,« brummte Fritz.

Elimar nahm den Zettel und dachte ein Weilchen nach.

»Hat ihm schon,« sagte er ruhig. »Die letzte Zeile muß lauten:

»Aber das ist fürchterlich.«

»Ja, das ist auch fürchterlich,« schrie Fritz und rannte davon.

Erni legte Li die Hand auf die Schulter.

»Wie ihr das nur so fertig bringt mit dem Dichten, nun fängst du auch noch an. Und ich bringe keinen einzigen Reim zustande. Wenn die Mädchen nur damit zu gewinnen sind, werde ich wohl Junggeselle bleiben.«

Er seufzte schwer.

»Es ist nicht das Schlimmste,« bemerkte Li weise. Herr von Reymerstal und Herr von Hagedorn sehen gut aus. Ich selbst bin noch sehr unschlüssig, zumal ich Künstler werden möchte. Ein Künstler darf sich nicht binden.«

Jetzt lachte Erni.

»Ich würde mich auch an deiner Stelle nicht eher binden, bis ich das Einjährige hätte,« sagte er gutmütig spottend.

Nata und Rose hatten sich inzwischen an die lauschigste Stelle des Parkes begeben, wo über einer Bank eine Porzellanplatte mit der Inschrift: »Roses Traumplätzchen« angebracht war.

Hier saßen beide eng umschlungen.

»Ich hab mich so nach dir gesehnt, Nata.«

»Und ich erst, Rosel! Ach, wenn ich doch wieder heim könnte nach Haidebusch für immer.«

»Ist's denn in der Erfurter Schule so schrecklich, Nata?«

»Nein, das ist's nicht. Ich hab so himmlische Lehrer und besonders Lehrerinnen, denen man sonst was zuliebe tun könnte, als bloß das lumpige Lernen. Aber Haidebusch bleibt doch Haidebusch.«

»Lernst du denn für die Lehrer?« fragte Rosel erstaunt.

»Natürlich, du Schaf! Für wen sonst?«

»Na für dich!«

»Pah! Ich werde doch entschieden mal 'ne Rittergutsbesitzersche, und da muß man andere Grütze im Kopfe haben. Deine Muusch ist mein Ideal! Ist das 'ne Gutsfrau!«

»Muusch hat aber auch furchtbar viel sonst gelernt.«

»Das weiß ich, deine Muusch ist ein vollkommener Engel! Aber ihre sonstige Wissenschaft kommt bei ihr nie in Betracht, sobald es sich um Landwirtschaft handelt. Oder meinst du, sie hätte unsere kranken Schweine mit französischen Vokabeln kuriert?«

»Nein, das meine ich natürlich nicht, aber ich beneide dich so sehr um deine Lehrerinnen, Nata. Fräulein Kornelia könnte ich nichts zuliebe lernen, ist das nicht schrecklich? Ich tu's nur um meinetwillen, weil ich so brennend gern rasend gescheit sein möchte.«

»Wen willst du denn heiraten?«

»Einen Pfarrer!«

»Och, da brauchst du doch nicht so rasend viel zu wissen. Du bekommst nur sehr viele Kinder und hast außerdem noch die ganzen Dorfgören auf dem Halse.«

»Ich möchte einen Missionar heiraten und mit ihm in ferne Länder ziehen, überall Kultur hinbringen und Kranke pflegen, ach so recht sehr – –«

»Hör auf, Rosel, dafür bin ich gar nicht. Wo hast du die Ideen her? Wär es nicht viel schöner, wir sähen als Gutsnachbarn in unserm geliebten Thüringen?«

Rose schüttelte sinnend ihren hübschen Kopf.

»Na, es hat ja am Ende noch Zeit,« rief Nata lebhaft. »Du bist fuffzehn, ich bin fuffzehn, vor achtzehn heiratet man ja doch nicht.«

»Vielleicht werden wir auch alte Jungfern.«

»Auf keinen Fall,« sagte Nata bestimmt.

Die beiden standen auf und schlenderten dem Schlosse zu. Unterwegs fanden sie einen Zettel, er lag schön glatt und ausgebreitet auf dem Fußwege. Rose hob ihn auf und las laut:

Neulich konnt' ich dich nicht sehen,
Aber heute seh ich dich;
Treue kannst du nicht verstehen,
Aber ich verlaß dich nich.

Du, Nata, das geht auf dich, und die Handschrift ist von Fritz.«

»So'n dummer Bengel! Na in dem hab' ich mich ordentlich getäuscht. Der war immer so sinnend, und ich glaubte, er würde mal 'n Dichter, und nun ist er genau so'n Kamel wie alle andern!«

Nata war ganz empört.

»Danke schön,« rief es oben vom Baum herunter, und Fritzens Zigeunergesicht tauchte aus dem Blättergewirr vor den erschrockenen Mädchen auf. »Meine Handschrift ist es wohl, aber nur nichts einbilden, ich hab's für Erni gemacht. Pah, – ich werd' so dumm sein und meine Perlen vor die – –«

»Komm rasch, Nata,« rief Rosel und zog die Freundin mit sich fort, so daß der biblische Satz sich bei Fritz in ein Murmeln verlor.

Als die Freundinnen außer Seh- und Hörweite von Fritz waren, gingen sie langsamer.

»Du mußt dem Jungen nicht böse sein,« bat Rosel. »Er hat seine Dichternatur mit einmal abgestreift und kommt in die Flegeljahre. Und Erni mußt du auch nicht bös sein, – er hat's vielleicht gar nicht so gemeint,« setzte sie ungeschickt tröstend hinzu.

»Ach Gott, ich hab die Männer satt bis an den Hals,« klagte Nata.

»Kinder, wo steckt ihr denn,« rief ihnen atemlos Kerlchen-Muusch entgegen, »Seht doch bloß, wer da kommt! Seht doch bloß!«

Und Kerlchen lief wie ein Wiesel nach dem Tor, durch welches Fritz von Rumohr eben den Wagen lenkte.

»Mutterchen, Mutterchen, mein einziges Mutterchen!«

»Großmuusch! Hurra!«

»Onkel Krone, das war deine Idee, gesteh's nur, Onkel Krone!«

»Lieber, guter Freund Krone! Gelt, das haben Sie sich ausgedacht?«

»Freilich hat er's,« bestätigte Frau Oberst Schlieden, und dann küßte sie ihr Kerlchen, das so mädchenhaft unter der blühenden Kinderschar stand.

Recht langsam war die Frau Oberst aus dem Wagen herausgekommen, aber auf ihren Stock brauchte sie sich nicht zu stützen, das litten die Enkel nicht, der Erni war schon so groß wie die Großmama, und sie konnte seinen kräftigen Arm gut brauchen.

»Ihr Herzensjungen, daß ich euch nur wiederhab, und da ist ja auch mein Mädel. Jungs, laßt mich los, damit ich der Rosel einen Kuß geben kann.«

»Grohmuusch, du siehst brillant aus, – wie siebzehn – von hinten.«

Frau Oberst lachte leise. Sie wußte am besten, wie schwer ihr die Reise geworden war, und ihre armen Glieder würden es noch lange spüren. Aber Herr Krone hatte so zugeredet, und die Herzensfreude von dem Kerlchen und dem Kegelspiel – das war schon so eine Strapaze wert. – – – – – – – – –

*

Frau Oberst Schlieden war immer noch eine schöne Frau. Freilich hatte sich die hohe, schlanke Gestalt etwas geneigt, seit ein kräftiger Stock ihr unentwegter Begleiter sein mußte, aber die Augen sahen jung, wenn auch ein wenig verschleiert, in die Welt, und der gütige Mund lächelte mehr, als in früheren Tagen.

Das Glück des Kindes hatte ihr wieder viel von der Kraft zugeführt, die der Tod des Gatten einst genommen. Und nun saß Großmuusch unter der Linde, sollte erzählen und kam doch nicht dazu, so schwatzte das Kegelspiel bunt durchs einander.

Großmuusch verstand so wundervoll zuzuhören, beinahe so gut, wie die Muusch selbst.

Und für alle kleinen körperlichen Leiden wußte Großmuusch Rat, da war sie beinahe der Muusch über. Denn Muusch liebte und litt es gar nicht, daß man bei geringen Anlässen klagte, oder sozusagen »piemelte« und wenn man zu ihr kam und rief: »Muusch, ich glaub, ich krieg 'n Pickel, es tut rasend weh,« dann sagte sie: »Na dann rase nur, vielleicht wird's davon besser und dann leg 'ne spanische Fliege drauf.«

Gewöhnlich sagt aber die Muusch nur: »I Wo Pickel! Sei froh, daß es keine Balggeschwulst ist, – lauf hin, bis du heiratest, ist alles wieder geheilt.«

Kam man aber zur Großmuusch und klagte, dann sagte sie so liebreich: »O du armes Tierchen, wart nur, gleich schmier ich dir ein Brennersches Pflästerchen, das tut meinem Lütten gut, gelt? Und nun noch ein Stückchen Chokolade drauf – das heilt prachtvoll.«

O du gutes, liebes, unerschöpflich reiches Großmutterherz!

Großmutti war nun auch richtig belagert.

Mit Onkel Krone konnte man ja auch nicht viel anfangen, der war so wunderlich, sah immer nur die Muusch an, sein Kerlchen, seinen Kobold, sein Erzgeneraldümmerchen, das nun ein herrliches, blühendes Weib und Mutter dieser neun Prachtkerle ist.

»Es ist die Möglichkeit!«

Seit siebzehn Jahren feierte Herr Rat Krone den 31. Juli in Rotbach, und jedesmal mußte er sich die Augen wischen, weil ihn das Gefühl übermannte, was aus seinem Kerlchen geworden war.

»Es ist die Möglichkeit!«

Und wehe der »Rotte Korah«, wie er die Kegel nannte, wenn sie an die Muusch zu viele Ansprüche stellten, er konnte dann »sacksiedegrob« werden; am liebsten hätte er das Kerlchen unter eine Glasglocke gesetzt. Wie frisch und herzig dann die kleine Muusch bei seinen Bemühungen lachte:

»Aber Onkel Krone, ich bin doch nicht von Marzipan!«

*

Mit den »Getreuen« stand sich Krone brillant.

Sie nannten ihn »Vater Kronos« und stachelten ihn solange an, bis er ins Erzählen kam, dann war des Lachens ein Ende. Vater Kronos liebte einen guten Rotspon, war dem Rhein- und Moselwein nicht abhold und sang: »Hingegen soll ein Branntewein um Mitternacht nicht schädlich sein.« Bei Rumohrs war immer alles da, reichlich und gut, »vom besten Ende«, sagte Krone.

Auch jetzt stand im funkelnden Römer ein duftender Tropfen vor ihm, er sah Kerlchen an:

»Prost, meine Baronin! Sie sind doch die Schönste!«

Warum sie nur alle lachten, zu so 'ner selbstverständlichen Bemerkung, – er begriff es nicht.

»Ach Herr Rat,« seufzte Frau von Mainro schalkhaft. »Sie machen mich ganz unglücklich. Mir ist immer gesagt worden, ich sei die Schönste.«

Krone betrachtete sie kritisch. Was wußte der brave, ehrliche Meister von »fishing for compliments!«

»Ach du grundgitige Reine! Da habn se Ihnen was weisgemacht. Just uneben sind Sie ja nicht, aber mit meiner Kerlchenbaronin gar nich zusammen auf eine Kuhhaut zu bringen. Nich rühran!«

Frau von Mainro lachte am herzlichsten mit, – sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Aber wenn sie auch empfindlich gewesen wäre, – dem Meister hätte es nichts ausgemacht.

Jetzt tönte eine mächtige Kuhglocke, Erni schwenkte sie wie rasend.

»Hör auf, junger Recke,« beschwor ihn Frau von Mainro, und hielt sich die Ohren zu.

»Meine Herrschaften! Ich wollte Sie alle bitten, sich zur Grotte zu bemühen.«

Gleichzeitig bot Erni seiner Muusch galant den Arm, Fritz von Rumohr stützte sorgfältig Frau Oberst Schlieden, Herr von Reymerstal gesellte sich zu Frau Mainro, und die übriggebliebenen Kegel hingen sich an Onkel Krone und Onkel Hagedorn.

»Die Grotte« lag im idyllischsten Teile des Parkes. Sie bildete eine natürliche Höhle und wurde gewöhnlich zum »Räuber- und Prinzessin«-Spielen benutzt, mußte aber auch bei »italienischen Nächten« eine Hauptrolle übernehmen.

Heute war sie ganz und gar mit Guirlanden umwunden und stellte einen richtigen Blumentempel dar. In weitem Halbkreise waren Stühle herumgestellt, für das Geburtstagskind ein extra weicher bekränzter Sessel, der aber an Großmuusch abgetreten wurde.

Erwartungsvolle Spannung!

Hinter der Grotte tauchte Nata hervor, ganz wie ein lichter Engel gekleidet und auch so aussehend.

Sie sprach einen Prolog. Beinahe andächtig sprach sie ihn, die Worte und Gedanken darin waren so wunderschön und paßten so gut auf die liebe Frau dort, die mit leuchtenden Augen zuhörte, die ihnen allen hier eine so treue, fürsorgende Freundin war.

Auf der einen Seite neben Kerlchen faßte jemand nach seiner Hand, dieser Jemand hockte auf der Erde und war, Fritz.

»Muusch, hör mich an,« flüsterte er leise. »Du mußt nicht denken, daß ich dieses wundervolle Gedicht gemacht habe, weil ich doch gestern sagte, es sei alles von mir selbständig, – dies nicht, Muusch, dies nicht. Nur das Festspiel. Onkel Reymerstal hat den Prolog gemacht. Aber dir wird mein Festspiel vielleicht noch besser gefallen, es hat beinahe noch mehr Schwung.«

Damit verschwand Fritz wieder und kroch nach der Grotte zurück, er war Souffleur.

Herr Rat Krone nahm Nata genau aufs Korn, sie gefiel ihm ausnehmend.

»Gnädige Frau,« wandte er sich an Frau von Mainro, »damit Sie sehen, daß ich 'n guten Geschmack habe, die Kleine da, die Nata, Ihre Tochter, das is en scheenes Mächen, Donnerlader! Sie muß es von ihrem Vater selig haben.«

Nein, der gute Meister wußte nichts von Europens übertünchter Höflichkeit. Herr von Hagedorn hatte die kleine Szene mit angehört und barst beinahe vor unterdrücktem Lachen. Das Gesicht der guten Mainro war, auch klassisch. gottlob, daß sie vernünftig dachte und auf den Kern sah. Jetzt hüpfte der schwarzlockige Adolf aus der Grotte, er stellte einen Mondstrahl vor und der blonde Carlo ein Tautröpfchen, und zuletzt kam Rose als Morgenrot, und alle drei feierten die Sonne, die warme, liebe, leuchtende, alles belebende Sonne: – ihre Muusch.

Nach einem reizenden Tanz vereinigten sich die drei Elfchen und kamen eng umschlungen und hell und lieblich singend auf Kerlchen-Muusch zu, die sie mit Rosen bekränzten:

»Die Sonn' erwacht.
Mit ihrer Pracht
Erfüllt sie die Berge, das Tal,
O Morgenduft,
O Sommerluft,
O goldener Sonnenstrahl!«

Jubelnd umfing Kerlchen ihre drei, und Fritzl, der Dichter, stand dabei, – ganz blaß vor innerer Erregung.

Alle riefen und jubelten sie durcheinander, er war ganz betäubt von den Ehrungen und dem Erfolg, den sein Festspiel errungen.

Dann streckte ihm endlich Kerlchen-Muusch die Hand hin, und mit der anderen strich sie ihm über die dunklen Locken.

»Wie schön, mein Fritzl!« sagte sie, und die Augen standen ihr voll Tranen.

Das war doch der liebste Dank für das »Zigeunerlein.«

Herr Rat Krone war ganz entzwei.

»Nee, su was, su was läbet nich,« sagte er immer vor sich hin und schnaubte sich umständlich in sein rotes, seidenes Taschentuch, in welches das ganze Fürstenhaus von Schwarzhausen eingewirkt war, und er wischte sich die tränenden Augen, so daß die jetzt regierende Nebenlinie ganz naß wurde.

»Mein Sohn Fritz,« rief er den Dichter an, »du bist das Kind deiner Mutter. Die war immer das Kind ihres Vaters und spottete jeder Beschreibung. Hast du noch mehr solche Ideen, mein Sohn Fritz?«

»Ideen hat er genug, oft viel zu viel,« lachte Kerlchen jetzt, »man hat nächstens nicht mehr genug Papier, um sie aufzuschreiben.«

Sofort nahm Herr Rat Krone sein Taschenbuch vor, und mit sorgfältig gelecktem Bleistift notierte er: »Drei Ries feinstes Papier für ›Ideen‹.«

Kerlchen wandte sich an Herrn von Reymerstal.

»Sie Gottbegnadeter!« sagte es warm. »Wie herrlich war Ihr Prolog! Man mochte wirklich fragen, wie kommt es, daß – –«

»Ich Stoppelhopser geworden bin?«

»Das meine ich.«

»Ich war's nicht immer, meine gnädige Frau. Mit tausend Masten segelte auch ich einst, und die Ladung meines Schiffes war gar reich: Dramen, lyrische Gedichte, – ich wollte die Welt erobern mit meinem Sang. Aber ich bin entweder zu früh oder zu spät auf diesen Stern gekommen, – reden wir nicht darüber, – die Welt wollte eben nicht von mir erobert sein, und so trug mich still mein geretteter Kahn in den Hafen ›Rebenhügel‹.«

»Das klingt sehr resigniert.«

»Ist es aber nicht, Frau Kerlchen. Und Sie sehen ja, ganz habe ich das Reimen auch noch nicht lassen können.«

»Das Reimen? Was wir eben gehört haben, war edelste Poesie.«

»So haben Sie sie geweckt, Frau von Rumohr. Sie sind ja die verkörperte Poesie, Sie und Ihr Nestchen, von dem Sie unzertrennlich sind. Seit ich Schloß Rotbach kenne, weiß ich erst, wie das Glück aussieht.«

Kerlchen errötete lieblich.

»Ach ja, – ich bin glücklich!« sagte es mit strahlenden Augen, deren Blick zu Fritz von Rumohr hinüberflog.

Er war gleich an Kerlchens Seite.

»Wünschest du etwas, Liebling?«

»Nein, Friedel! Nur wissen möcht' ich, ob dir auch alles so herrlich gefallen hat, wie mir.«

»Aber ganz gewiß, Kerlelein.«

*

Frau Oberst Schlieden blickte suchend umher.

Unter der Linde war die Festtafel gedeckt, alle hatten schon Platz genommen.

»Euer Fräulein vermisse ich,« sagte die Großmama, wo steckt denn das Fräulein Kornelia?« »Migräne hat sie,« berichtete Rosel. »Bis jetzt hab ich ihr Umschläge gemacht, nun will sie schlafen. Ich hab ihr das Zimmer hübsch verdunkelt und die Bücher weggenommen, sie las die Gedichte von Kerntreu und hatte ganz rote Augen. Schrecklich unvernünftig ist sie, – – bei Migräne liest man doch nicht.«

»Alter Verstandskasten!« lachte Kerlchen. »Ich war eben bei ihr und sah, wie nett du alles für sie geordnet hast. Sie schlief, aber die Bücher hatte sie sich wiedergeholt, sie hofft doch wohl, daß die ihr bessere Genesung bringen, als alle Umschläge.«

»Migräne hat sie?« fragte Meister Krone interessiert, das is 'ne furchtbare Krankheit. Sie ist eigentlich mehr bei die oberen Zehntausend zu Hause; meine selige Frau kriegte sie auch erst, wie wir 'n ordentlichen Batzen hinter uns hatten und auf den Rentchee lossteuerten. Da hab' ich ihr denn immer in 'ne frisch abgezogene Ochsenhaut gewickelt, das half.«

»Wie schrecklich!«

»Warum schrecklich? hinterher in ä Bad, tichtig abgeschruppt, dann mit Odemillflöhr begossen, – merkt m'r nischt mehr und de Migräne is weg, wie wackgeblasen. – Kriegt m'r hierherum vielleicht 'ne frische Ochsenhaut?«

»Absolut nicht,« beeilte sich Kerlchen zu sagen, denn es schwebte in Todesangst, der biedere Meister könne sich zu Fräulein Kornelia ins Krankenzimmer begeben, um in aller Nächstenliebe seine Parforcekuren mit ihr vorzunehmen.

»Das is sehr schade, Frau Baronin, denn bei diese heimtückische Krankheit nützt bloß Gewalt. Is keine Kuhhaut da, dann legen Sie das Fräulein in die Preschsonne aufs Feld, wenn se da 'ne halbe Stunde liegt, schläft sie wie 'n Dachs.«

»Ja, das glaub' ich.«

»Und wenn sie aufwecht, is sie gesund.«

»Oder tot.«

»I Gott bewahre!«

»Haben Sie dieses letzte Mittel auch an Ihrer Gattin erprobt?« fragte Hagedorn.

»Freilich! 'n bißchen irre war se in Kopf, wie wir se neinholten, aber Schmerzen hatte se nich und denn schlief se wieder und am andern Tag munter, wie'n Fisch.«

»Na, ein wenig gewagt war's doch, Herr Rat, und die Naturen sind auch verschieden,« meinte Fritz von Rumohr, »überlassen wir also Fräulein Kornelia unserm Rosel und ihren liebevollen kalten Umschlägen.«

»Ja, ja, das Rosel,« sagte Rat Krone schmunzelnd, »das is wie seine Mutter und handelt nach dem edelen Sprichwort: ›Hast du Vieh, so warte sein‹.«

*

Als der Nachtisch aufgetragen war, blinzelte Erni seinen Geschwistern vielsagend zu.

»Wir müssen uns nachher zusammenrotten,« sagte er leise zu Willy, der neben ihm saß, »damit unsere Lieder steigen können, sag' du's leise an die andern.«

Gehorsam glitt Willy unter den Tisch, weil dies die bequemste Art war, an die Geschwister heranzukommen. In seinem Eifer aber und seiner Freude über diesen wichtigen Auftrag verfehlte er den richtigen Stuhl und pickte Herrn Rat Krone empfindlich ins Bein, so daß dieser zum Tod erschrocken aufsprang.

Aber Willy zog ihn energisch am Beinkleid wieder nieder.

»Was is mich das mit dich,« fragte Krone halb ärgerlich, halb scherzend.

»O bitte, bitte, bleib sitzen,« flehte Willy, »ich hab den falschen erwischt, du sollst dich ja nicht zusammenrotten, der Harald soll's!«

Herr Rat Krone wiegte sehr bedenklich sein Haupt, die andern hatten von dem kleinen Zwischenfall nichts gemerkt.

»Frau Kerlchenbaronin,« sagte Krone, »ich würde doch bei den vielen Kindern immer für 'ne frische Ochsenhaut in der Nähe sorgen, auch bei Sonnensticherscheinungen is sie gut.«

Und nun begann ein wundernettes Konzert.

Sie lehnten sich alle in ihre bequemen Stühle zurück, die Herren zündeten sich ihre Havanas an, die Damen lauschten ohne jede Ablenkung andächtig.

Da stand der schlanke, dunkelblondlockige Li und dirigierte ernsthaft mit einem Taktstock, den er sich eigens zu diesem Zweck vom »Herrn Lehrer« geliehen hatte.

Die Stimmen der Geschwister setzten begleitend ein, und darüber erhob sich als Solo Haralds wirklich prächtige, volle, glockenreine Knabenstimme:

»Gold und Silber hab ich gern,
Kann's ja auch gebrauchen,
Hätt' ich nur ein Meer davon,
Mich hinein zu tauchen.
Braucht nicht erst geprägt zu sein,
Hab's auch so ganz gerne.
Wie in Mondes Silberschein
Und dem Gold der Sterne – – –«

»Natürlich wieder falscher Text,« brummte Paul ingrimmig, und laut genug, daß Harald erwog, ob er ihm einen harten Gegenstand an den Kopf werfen, oder irgend ein Gefäß über ihn entleeren sollte, er entschied sich aber rasch für kleingeschnittene Schweinsborsten, die heute abend in Pauls Bett wandern sollten.

Die andern Verse sang Harald trotz seines Zornes tadellos zu Ende und erntete reichen Beifall.

Als Abschlagszahlung bekam Paul erst mal einen brüderlichen Knuff, der ihn gleich auf das Podium beförderte, und so fing er auch frischweg zu singen an; diesmal begleitete Li mit der Geige:

»So pönktlich zur Sekonde
»Stellt keine Ohr sich ein,
Als ich zur Abendstonde
Beim ädlen Gärstenwein.«

Wie der gute Junge zu dieser merkwürdigen Wiedergabe des Textes bei seiner sonst tadellosen deutschen Aussprache kam, war allen schleierhaft, aber er hatte es sich nun mal so »annewöhnt«, wie er schon als Baby behauptete.

Nun kam wieder Harald zu Worte, und so reizend klang sein frisches Lied: »horch, was kommt von draußen rein, hollaji, hollajo«, daß alle mitgerissen wurden und jubelnd einstimmten.

Jauchzend klang das Lied durch den stillen, schönen Park.

Dann sang der sinnige Adolf sein lange und gewissenhaft einstudiertes Lied, ein Lieblingslied von Muusch:

»Es saßen beim schäumenden, funkelnden Wein,
Drei junge Burschen und sangen – –«

sang es so hübsch und herzbeweglich, daß der Herr Rat sich wieder die Augen wischen mußte, und Herr von Hagedorn sich zu Kerlchen hinüberbeugte und leise sagte: »Das gibt mal 'n Prachtkerl!«

Mitten in das Schlußlied, welches Paul mit aller Kraft seiner sehr gesunden Lungen schmetterte, brachte Fritz eine unliebsame Störung.

Der temperamentvolle Junge schrie plötzlich auf, zappelte auf seinem Stuhl hin und her und rief:

»O, o, o, ich weiß was! Mir is 'ne Idee gekommen! Die Dame Kornelia hat gar keine Migräne, die findet bloß unsere Lieder unpassend für Kinder, und deshalb will sie nicht dabei sein, o, o, o!«

»Fritz, halt den Schnabel!« rief Fritz sen.

Aber die Störung war doch mal geschehen, und Paul schmetterte wütend den Refrain seines Liedes: »Das est nun so d'rrr Lauf d'rrr Wält«.

Der Effekt aber war dahin.

»Es sind sehr schöne Lieder,« entschied Kerlchen energisch, »mein Väterchen hatte sie auch so gern, und wenn ich sie höre, dann wird die Erinnerung an herrlich schöne Stunden, an eine unvergeßliche Zeit wach. Und nun singen wir das Schlußlied, ohne welches kein Geburtstag in unserer Familie gefeiert werden darf: ›Und wenn wir gehn, so gehn wir alle miteinander zusammen in Fedderns Hühnerstall hinein‹.«

Ein Beifallsgetöse antwortete. Aber dann mußten alle ihre Gedanken zusammennehmen, denn jeder übernahm ein Solo und jeder mußte »eigenhändig« dichten.

Herr von Reymerstal:

»Und der Pfarrer mit der Bibel,
Und der Küster mit der Fibel,
Sie sollen auch mit, sie sollen auch mit
In Fedderns Hühnerstall hinein.«

Herr von Hagedorn:

Aus dem Dichten mach' ich mir nicht viel,
Doch das ganze liebe Kegelspiel,
Es soll auch mit usw.

Fritz von Rumohr:

Und mein liebes, liebes Kerlchen,
Rasch wie'n Schmerlchen, klar wie'n Perlchen,
Das soll auch mit usw.

Fritz jun.:

Und die Henne mit den Putti,
Und die einzige Großmutti,
Die sollen auch mit usw.

Chorus:

Und wenn wir gehn, so gehn wir alle
In Fedderns Hühnerstall hinein.

Herr von Reymerstal lachte Tränen.

»Ein wirklich grandioses Lied,« sagte er bewundernd. Es bildet das Gemüt und stärkt den Geist, aber wer in aller Welt ist dieser Feddern, dessen Hühnerstall so verlockend für uns ist?«

»Das weiß ich nicht,« lachte Kerlchen. »Das Lied ist uralt, Väterchen sagte, es stamme noch von den alten Germanen her.«

»Muusch, ich glaub', es fängt an zu regnen, ein Tropfen fiel mir auf die Nase.«

»Mir auch!«

»Mir auch!«

»O seht bloß man den Himmel an!«

»Wahrhaftig, das scheint ein Gewitter zu geben. Die Bäume im Park sind so dicht, und über allem Singen haben wir nicht gemerkt, daß die Sonne fort ist.«

»Sie ist auch gar nicht fort,« rief Erni und küßte seine Mutti, da lachten sie alle.

»Muusch, muß ich mich jetzt schon fürchten?« fragte Pate.

»Was meinst du, Jungchen?«

»Nein, nein,« riefen die Geschwister, »jetzt noch nicht, wir sagen dir's dann schon.«

»Die Mägde hatten neulich dem Willy so angst vorm Gewitter gemacht,« erklärte Rose, »wißt ihr, wie ihr zum Diner in Glitzerberg wart, da haben wir ihn getröstet und gesagt, er sollte nur auf uns hören, wir wollten es ihm schon rechtzeitig sagen, wann er sich fürchten müsse, – das ist er nun auch zufrieden.«

»Muß ich mich jetzt? Rosel?«

»I bewahre, noch längst nicht.«

Nun fielen aber wirklich große Tropfen, und man veranstaltete ein kleines Wettrennen nach dem Hause. Erni war der erste drin und der erste wieder draußen, er hatte nur für Vater und Großmutti einen Schirm holen wollen.

»Er war schon als kleines Kind ein ›Aufmerksamkeitertchen‹,« sagte Muusch liebevoll.

Endlich waren alle beisammen im schönen, großen, hellen und doch so trauten Musikzimmer, das Onkel Rumohr noch seinem geliebten Kerlchen eingerichtet hatte. Alles war hell und licht, doch der herrliche schwarze Flügel paßte gut hinein. An der Wand stand noch ein schönes, schlicht gehaltenes Harmonium und verschiedene Notenschränke, auf einem kleinen Podium etliche Ständer und zwei Geigenkasten.

»Sing mir ein Lied!« bat Fritz sein Kerlchen leise, aber noch während er unter den Noten wählte, fuhr ein heller Blitzstrahl herunter, dem ein schier betäubender Donnerschlag folgte.

Kerlchen war sofort neben Frau Oberst Schlieden, die sehr blaß geworden war.

»Nicht ängstigen, meine liebe Mutti, wir sind ja alle bei dir und auch im Nu mit dir draußen, wenn was passieren sollte.«

Dann schritt Kerlchen zum Harmonium und winkte mit einem Blick alle neune zu sich heran. Leise griff es in die Tasten, und die lieben, Kinderstimmen setzten ein: »Herr, deine Güte reicht so weit, so weit der Himmel ist«.

Wie voll und schön und zuversichtlich das klang! Und so lieb war das Bild, daß es den Zuhörern warm ums Herz wurde, und Fritz von Rumohr am liebsten hingelaufen wäre, um seine Arme um sein Glück zu schlingen, aber er stand bei der halbgelähmten Frau, der Mutter seines Kerlchens, und streichelte beruhigend ihre zitternden Hände.

Wieder zischte der Blitz und krachte der Donner.

»Muß ich mich nun fürchten?« fragte Willy gewissenhaft, ganz kläglich.

Kerlchen nahm ihn auf den Schoß, und er durfte sich »einmuscheln«, da war natürlich kein Grund zum Fürchten da.

Aber es wurde immer dunkler, der Gutsherr ging hinaus, um nach dem Rechten zu sehen und Licht zu bestellen. Als er die Tür öffnete, sah man draußen schon das Gesinde auf der Diele versammelt, Kerlchen mußte an jenen Schreckenstag denken vor sechzehn Jahren, als das Wasser kam.

Und wieder ein tagheller Blitz und ein Schlag, daß das Haus in seinen Mauern erbebte.

Draußen schrien ein paar Mägde auf, Kerlchen bettete Willy, der fest eingeschlafen war, auf das Sofa und trat zu seiner Mutter.

»Wenn es doch tüchtig regnen wollte!« klagte diese leise. »Die Gewitter in unserm Thüringen sind so schrecklich!«

Reymerstal, Hagedorn und Frau von Mainro standen am Fenster, Erni und Nata waren bei ihnen und tauschten ihre Gedanken und Meinungen über das Gewitter aus.

Fahlgelb war der Himmel, sein Licht ließ alles rings krank und blaß erscheinen.

Blitz und Schlag.

Die Tür wurde aufgerissen.

»Glitzerberg brennt!«

Eine Magd hatte es gerufen, und gleich darauf schritt Fritz von Rumohr herein.

»Großfeuer,« sagte er ernst.

Viel wurde weiter nicht gesprochen; die Herren verständigten sich, Frau von Mainro drückte Kerlchen herzlich die Hand.

»Es tut mir namenlos leid,« sagte sie, »aber mein Platz ist jetzt in Haidbusch. Gute Freunde und getreue Nachbarn; Sie wissen's ja, wir müssen eins dem andern helfen.«

Glitzerberg grenzte an Haidbusch, Kerlchen nickte verständnisvoll.

Fritz küßte sein Kerlchen. »Gott geb's, daß ich abends daheim sein kann,« sagte er, »die Leute gehen alle mit mir, du nimmst dich wohl der Frauenzimmer an, mit und ohne Kopf, die Trinchen ist so ziemlich von Sinnen.«

Kerlchen versprach es, dann schüttelte es Reymerstal und Hagedorn die Hand.

»Ich sage: auf Wiedersehn heut' abend, will's Gott, sehen Sie in Glitzerberg nicht zu viel Trauriges.«

»Vater, darf ich mit dir?« fragte Erni mit erwartungsvoll gespanntem Gesicht.

»Nein, mein Junge, dein Platz ist bei der Mutter.«

Da fuhren auch schon die Wagen vor, Frau von Mainros Viktoria zuerst. Nata hatte verweinte Augen, wollte aber durchaus nicht in Rotbach bleiben. »Ich bin schon groß und muß Mutter schützen,« sagte das Mädel bestimmt.

Die drei Herren saßen in einem andern Wagen, Fritz von Rumohr fuhr selbst, neben ihm auf dem Bock saß der Inspektor. Dann kam der Leiterwagen mit den Instleuten, wieder dahinter die große Rotbacher Spritze, die im Schlosse untergebracht war. Der ganze Aufbruch geschah in wenigen Minuten.

»Gott behüt!« rief Kerlchen laut den Wagen nach, und das Kegelspiel winkte mit den Tüchern, dann riß der Sturm ihm das Fenster aus der Hand und schlug es krachend zu. Sorgfältig und mit vieler Kraftanstrengung schloß Kerlchen das Fenster endgültig, wieder zuckte ein Blitz und zeigte ihm die wild dahinjagenden Pferde und Wagen. Einen Augenblick preßte Kerlchen beide Hände auf die Brust.

» Mein Fritz!« sagte es leise, atmete tief und schien nun äußerlich ganz ruhig und tapfer.

Jetzt nickte Kerlchen der Mutter und dem Kegelspiel zu, bat leise den Onkel Krone, das blasse Mütterchen etwas aufzuheitern, und schritt zum Gesinde hinaus.

Da sah es freilich bunt aus:

Die Obermamsell war fix und fertig zum Auswandern bereit, saß auf ihrem Reisekorb, hatte Hut und Schleier auf dem Kopfe und auf dem Schoß hielt sie das Bauer mit ihrem Kanarienvogels

»Trinchen« schien allerdings nicht mal »ihre Fünf« beisammen zu haben, geschweige den übrigen Kleinkram. Sie betete laut aus einem uralten Gesangbuch und schien mit ihrer fürchterlichen Gewitterangst alle andern angesteckt zu haben:

»Ach Gott in Gnaden von uns wend'
Das schwere Kreuz und groß' Elend,
Damit wir sind umgeben gar,
Und stehn beständig in Gefahr.«

»Aber Trinchen, wein' doch nicht so unvernünftig! In Gefahr stehen wir täglich und stündlich, auch ohne Gewitter. Außerdem sind fünf Blitzableiter hier.«

Kerlchen legte der jungen Magd beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Das ist's ju äben,« jammerte diese. »De Blitzleiters sinn ju schuld. Mutter sagt, friher, da hätt m'r bei Gewitters uffs Durme gelitten, un denn wär'sch weggemacht un hätte hechstens mal den Leitejungen oder den Kister erschlagen, aber jetzt versuchte man den lieben Gott.«

Sie heulte laut.

»Unverstand!« schalt Kerlchen. »Hab ich euch das nicht alles zehnmal mit dem Blitzableiter erklärt?«

»Das ham freilich Frau Baronin,« meinte die Köchin, die auch käseweiß vor Angst aussah. Aber – – –«

»Na, was denn, aber? Heraus damit!«

»Aber die Frau Baronin sagen's vielleicht man so, weil sich der Herr von Rumohr das nu mit die Blitzableiters in 'n Kopp gesetzt hat, un Sie sinn viel zu gut un leiden alles un denken sich hinterher Tröstungen aus.«

Die Köchin schluchzte auch.

»Hier ist ja gar nichts zu trösten,« sagte Kerlchen ärgerlich, »ich dachte aber wirklich, ihr wärt gescheiter. Mamsell, warum haben Sie nicht ein vernünftiges Wort geredet und die Trinchen beruhigt?«

»Na,« sagte die Mamsell, »das nützt doch nichts. Da hilft nur Bildung. Und ich weiß allens von die Blitzableiters, denn ich habe die Rektorschule besucht. Aber ich meine, wenn der liebe Gott einen treffen will, da guckt er nich erst lange nach, ob er 'n Blitzableiter hat oder nich.«

Ein krachender Donnerschlag ließ alle Fenster erzittern.

Die übrigen Dienstboten fingen jetzt auch an zu weinen, und Trinchen warf sich auf die Knie und versuchte sogar zu singen:

»Darum trage deine Ketten,
Seele, und gedulde dich,
Gott wild dich gewiß erretten,
Das Gewitter leget sich.«

»Freilich, Trinchen, freilich!« tröstete Kerlchen. »Und nun schrei nicht mehr, du mußt dich ja vor den kleinen Buben dadrinnen schämen, die fürchten sich kein bißchen. Ich gehe jetzt zu Fräulein Kornelia und sehe, wie es ihr geht, wenn ich herunterkomme, seid ihr hoffentlich alle vernünftig und ich nehme euch mit ins Musikzimmer.«

In Fräulein Kornelias Zimmer konnte Kerlchen erst gar nichts unterscheiden, so dunkel war es darin, eine erstickende Luft ließ es außerdem zurückprallen.

»Wie unvernünftig!« schalt Kerlchen. »Hier können Sie ja nicht gesund werden. Warum sind Sie nicht heute mittag in den Garten gekommen, die köstliche Luft hätte Ihnen Linderung gebracht.«

Kerlchen zog rasch die Vorhänge zurück und öffnete die Fenster weit. Die Gewalt des Gewitters schien gebrochen, in Strömen stürzte der Regen herab, es »schüttete«, wie der Landmann sagt.

Fräulein Kornelia lag mit heißem Kopf und entzündeten Augen auf dem Ruhebett.

Kerlchen sagte weiter nichts, zog das Kissen hinter des Fräuleins Rücken hervor, schüttelte es auf und schob es mit sanftem Ruck wieder hinter den schmerzenden Kopf. Gleich darauf lag ein kühler Umschlag auf der heißen Stirn. Kerlchen stellte die Waschschüssel mit frischem Wasser auf das Tischchen neben dem Ruhebett, packte dann mit raschem Griff alle die Gedichte, Balladen, Dramen und Aufsätze des Dichters Kerntreu, die Rosel schon einmal alle weggenommen hatte, und stellte sie auf den Sofatisch. Dabei fiel sein Blick auf einen dicken, dicken Doppelbrief, der die Adresse: »Herrn Friedrich Kerntreu, Rom« trug.

»Schelten muß ich mit Ihnen, Fräulein Kornelia,« sagte Kerlchen sehr ernst und erneuerte doch zugleich liebevoll den Umschlag. »Sie haben wieder geschrieben, mindestens sechzehn Seiten, – bei Ihrem Zustand, bei diesem Licht, oder vielmehr bei dieser Dunkelheit – –«

»Ich hatte wieder sein letztes Buch gelesen, und mußte mir Luft machen.«

»Hätten Sie nur den Kopf zum Fenster hinausgesteckt.«

»O Frau Baronin!«

»Na, ich begreife Sie nicht und ich wette, noch einer begreift Sie auch nicht, und das ist der Dichter selbst. Haben Sie Hunger?«

Fräulein Kornelia fuhr ordentlich zusammen ob dieser unpoetischen Frage.

»Nein,« hauchte sie.

»Das ist schade! Bei Migräne muß man von Rechts wegen nachmittags um fünf einen elenden Hunger bekommen und futtern wie ein Scheunendrescher, Ich kenne den Rummel.«

Fräulein Kornelia lehrte sich nach der Wand und schloß die Augen. Noch ein kühler Umschlag, und Kerlchen ging. Als es auf die Diele kam, hatte Trinchen das Gesangbuch zugeklappt, die Tränen getrocknet und schimpfte nun mit dem Drittmädchen zusammen, daß aus dem Balle in der Scheune heute abend nichts würde, weil alle zum Löschen seien, alle Tanzbeine, selbst die Mus'kanten.

Die beiden waren so eifrig, daß sie gar nicht das Kommen ihrer Herrin hörten. Kerlchen nahm den Kopf der Scheltenden in ihre Hände und drehte ihn nach der Seite, wo man den blutroten Himmel sah.

»Da sieh hin, Trinchen,« sagte es ernst. »Denk an die Menschen, denen heute das Haus über dem Kopf verbrannt ist, und dann denk an deinen verlorenen Tanz. Und nun kommt alle, wir wollen zu meinen Kindern gehen.«

Aber ehe sie das taten, wandte sich Kerlchen noch rasch zur Köchin.

»Ich glaub', wir müssen erst mal etwas für Fräulein zurecht machen. Irgend was Appetit reizendes. Vielleicht genießt sie dann hinterher ein kleines Beefsteak – –«

»Ä winzges? Nee, Frau Baronin, aber zwee gruße hat se schonne neingeleiert. Um fimfe rum schellte se mordsmäßig, un da hab' ich ihr 'ne Suppe, die zwee Böffstöcks un enne Kumme Bratkartoffeln un enne Kumme Sollat un Gombot un Buddäng naufgeschleppt. Die is satt, die konnte nich merre ›papp‹ sagen.«

Da lachte Kerlchen – recht von Herzen, und drinnen sagte Erni:

»Kinners, Muusch lacht, – nun werden wir auch wieder froh.«

Im Musikzimmer saßen alle eng um Großmuttchen.

»Es geht uns ganz gut,« rief Krone Kerlchen entgegen, »ich habe Frau Oberst unterhalten und auf andere Gedanken gebracht.«

Freilich erzählte Großmütterchen dem Kerlchen nachher, der gute Meister habe ihr alle Feuersbrünste, die je in Thüringen gewütet, haarklein erzählt, ihr auch keinen vom Blitz Erschlagenen vorenthalten, – aber treu gemeint war's gewiß gewesen.

Nun saßen alle in dem schönen Zimmer und lauschten der Herrin, die »wie'n leibhaft'ger Engel« spielte.

Musik ist allzeit die beste Trösterin, und so ließ Kerlchen den Musikstücken etliche Thüringer Volkslieder folgen, in deren bekannte Melodien die Mägde einfielen und ganz herzhaft und laut zu Ende sangen.

Sie dachten jede an ihren Schatz, mit dem sie heute abend einen »Schleifwalzer«, einen Schottschen, einen »gediegenen« Rheinländer hatten »machen« wollen, und während sie so sangen, hatte die vornehme Frau Baronin nichts vor der Kuhmagd voraus, auch Kerlchen dachte an seinen Schatz, dachte an den Gatten:

»Ach wie wär's möglich dann.
Daß ich dich lassen kann,
Hab dich von Herzen lieb.
Das glaube mir.
Nu hast die Seele mein
So ganz genommen ein.
Daß ich kein' andern lieb', als dich allein.«

Es wurde acht Uhr, es wurde halb neun, der Gutsherr und die Leute kamen nicht zurück.

Kerlchen sah etwas ratlos auf, als aber der längst erwachte Willy rief: »Muusch, in meinem Bauch is was drin, was knurrt,« da sprang die Muusch schnell auf und rief:

»Gar nichts ist in dem armen Bäuchelchen, armer Schelm, aber gleich soll was kommen.«

Nun hatte Kerlchen wieder zu sorgen und war in seinem Element.

So tafelten alle nach kurzer Zeit gemütlich in der großen Eßstube, und für die Leute war auf der Diele gedeckt, und Kerlchen brachte ihnen eigenhändig Wein und stieß mit ihnen an.

»Heil, Glück und Segen unserer Frau von Rumohr!"

Diesen Satz hatte sich die Mamsell seit einer Stunde vorgesagt, der eigentliche Redner hatte an der Abendtafel der Kutscher sein sollen, und von dem war ihr auch dieser Satz als geschmackvoll verabreicht wurden. Freilich hatte er noch was hinzugesetzt, was sich wie »Kreszenz, Freßvieh, Florian« anhörte, aber der hatte immer so Raupen im Kopfe.

An der Herrschaftstafel ging's ziemlich still zu. Kerlchen war doch recht besorgt, und der glutrote Schein wollte am Himmel nicht weichen.

Und niemand kam vorüber, der Nachricht geben konnte, und Pfarrers und Lehrers, die zum Kaffee gebeten waren, mußten des furchtbaren Wetters wegen daheim bleiben.

Die Kinder waren außerordentlich verständig.

»Vielleicht wär's zu schön gewesen, Muusch, wenn alles programmäßig verlaufen wäre,« sagte Erni.

»Ja,« fiel Fritz ein, »ich war so fürchterlich glücklich, daß ich den Himmel hätte 'runterholen können, aber nun laß ich's bleiben.«

»Sehr freundlich,« bemerkte Harald.

»Der kommt auch von allein runter,« meinte Meister Krone und zeigte auf die stürzenden Regenfluten.

»Ja, und eigentlich ist's so am schönsten,« rief Rose, »denn nun haben wir unsere Muusch für uns allein und wir erzählen uns nachher urgemütlich, bis der Vater kommt.«

Aber der Vater kam immer noch nicht.

Großmuttchen war in ihr Zimmer geleitet worden, Kerlchen hatte ein Weilchen bei ihr gesessen, getröstet und sich selbst Trost geholt.

Dann hatte es zu ganz später Stunde geklopft, und Pfarrers waren gekommen, tropfnaß und vom Sturm zerzaust, und die selbstgezogene Kalla, welche Frau Pfarrer für ihre geliebte Frau von Rumohr gepflegt, war auch noch nicht mitgekommen, die würde sonst der heftige Wind geknickt haben. Nur sehen wollten Trulings nach dem Geburtstagskind, und der Pfarrer wollte sich wieder mal durch Augenschein überzeugen, daß Frau Kerlchen nicht unterzukriegen sei und auch ein frohes Gesicht mache, wenn am Geburtstage der geliebte Mann alle Gäste mit sich hinaus auf fremden Brandplatz schleppte und dort arbeitete wie nur einer.

»Sie waren dort, Herr Pfarrer?« fragte Kerlchen rasch.

»Freilich war ich dort, aber Frau Baronin, es ist auch nicht mehr so wie früher, daß sich die Leute bei solch traurigen Anlässen an geistlichen Zuspruch klammerten. Mit warmem, teilnehmendem Herzen kommt man zu ihnen hin und findet Gleichgültigkeit, wohl gar mürrische Ablehnung oder – bestenfalls stumpfe Ergebung in den Willen Gottes.«

»So bitter heut, Herr Pfarrer?«

»Bin ich bitter? Das wollt' ich nicht sein. Aber ich hab heute so recht gemerkt, daß die Gemütsseite der Leute verkümmert. Ein Pfarrer, der auf dem Brandplatz nicht tätig mithilft, gilt ihnen nichts. Daß ich nicht helfen konnte, weil mir beim letzten Brande die Leiter auf den Arm stürzte, daran denken sie nicht. Und der alte Einleger Korbs, – sündenfaul ist der Mensch, er selbst nennt sich aber ›Philosoph‹, rief mir zu: ›Na, Herr Pfarrer, wie stimmt's nun mit der Bibel? – Dadrin heißt's doch: Wasser tut's freilich nicht‹. Und dabei zeigte er auf den armsdicken Wasserstrahl, der die Gluten dämpfte.«

»Den alten Einleger hab' ich schon lange im Merkbuch,« entgegnete Kerlchen ruhig. »Der hetzt und wühlt uns auch in Rotbach herum, und sein Enkel, der Franz, ist nicht um ein Haar besser.«

»Na, der Junge hat heute wenigstens geschuftet, wie zehn andere zusammen, ich sah's, er war immer in der Nähe von Herrn von Rumohr, und der stellte den aufgeweckten Burschen überall an, wo es bös aussah. Und die Hilfe von Franz Korbs söhnte die Leute auch wieder mit dem Bengel aus, den sie sonst lieber gehen, als kommen sehen. Der Bauer will eben immer etwas Positives, – mit meinem lahmen Arm galt ich ihnen nicht viel, – erst als ich die Kinder der Witwe Ranten, die durch das Brandunglück vorläufig obdachlos ist, in mein Haus mitnahm, wo ich sie behalten will, bis eine Änderung eintritt, – da schienen denn alle so einigermaßen zufrieden mit mir zu sein.«

»Ist das Unglück sehr groß?« fragte Herr Krone.

Der Pfarrer nickte ernst.

»Es betrifft meistens den Gutsherrn selbst. Viel wertvolles Vieh ist verbrannt, doch die Pferde alle gerettet. Diese Ställe brannten zuletzt, als gerade Herr von Rumohr eintraf, na – er ist ja der geborene Kavallerist. Er brachte die rasenden Pferde beinahe allein in Sicherheit; Herr von Glitzerberg konnte wenig helfen, er war bei seiner leidenden Gattin, die beinahe sinnlos vor Angst war.«

»Und jetzt?«

»Als ich wegging, rechneten die Herren noch mitsammen, nahmen Bestände auf und so weiter. Sie wissen ja, Ihr Herr Gemahl tut nichts halb, obgleich das hier 'ne schlecht angebrachte Redensart ist, denn er hat heute schon ein Ganzes geleistet. Und erschrecken Sie nicht, Frau Baronin, wenn er Ihnen noch etliches Kroppzeug ins Haus bringt. Als ich die Herren verließ, beratschlagten sie gerade über fünf weitere Obdachlose.«

»Herrlich!« rief das noch teilweise anwesende Kegelspiel. »Hoffentlich kriegen wir sie sämtlich.«

»Das sieht euch ähnlich,« lachte der Pfarrer und schaute dann in Kerlchens sprechendes Gesicht, das deutlich zeigte, wie auch die Mutter selbst Feuer und Flamme für den Plan war, fremdes Leid in weitestgehender Weise zu lindern.

»Und nun sagen wir ›gute Nacht‹, Frau,« rief der Pfarrer seiner Gattin zu, die mit Rose bereits seit längerer Zeit in eifriger Verhandlung über die Dorfarmen war. Rose war ein echtes Samariterchen. »Und Sie, Herr Krone,« rief der Seelsorger, »lassen Sie Ihre Brieftasche nur vorläufig stecken, noch bin ich nicht beauftragt, Ihre Liebesgaben in Empfang zu nehmen, und planlos geben, – das hieße mindestens unvorsichtig handeln. Ich sah's, wie schwer es Ihnen wird, guter Herr Krone, – wissen Sie was, ziehen Sie zu uns her, solche Leute können wir in Rotbach gut brauchen, gelt, Frau Baronin?«

*

Nun waren sie allein.

Kerlchen saß mit Onkel Krone auf dem Sofa, Erni, Rose, Fritz, Elimar, Paul und Harald »drumrum«.

»Ein närrischer Pfarrer,« behauptete Krone brummend; »er hätte doch was mitnehmen können – vollends wenn sich der prächtige Mann ein paar fremde Kinder aufgehalst hat.«

»Aber das läßt er sich doch nicht bezahlen,« lachte Kerlchen. »Nein, mein Onkel Krone! Nur nicht voreilig! Sie sollen sehen, morgen holen wir uns schon Ihre blauen Läppchen, wenn wir wissen, wie groß das Unglück ist. Und jetzt wollte ich, mein Fritz käme.«

»O Muusch,« rief Erni, »du hast wohl ganz vergessen, daß du uns was erzählen wolltest?«

»Was denn?«

»I, planloses Zeug!«

»So? Das ist ja niedlich ausgedrückt!«

»Ich meine, Muusch,« rief Li, »jeder denkt sich 'ne Frage aus, die ihm schon wochenlang im Magen liegt, und du beantwortest sie. Bis wir alle fertig sind, ist Vater da.«

»O ja, Muusch, man zu!« stimmte Fritzl bei. »Ich zum Beispiel wollte dich schon lange fragen, ob Vater als Kind viele Dummheiten gemacht hat.«

»Du Frechdachs! Warum fragst du danach? Und warum nicht gleich für mich mit?«

»O Muusch, von dir denken wir's uns schon so, du bist ja so furchtbar nett.«

»Hübsche Logik, das muß ich sagen! Aber die erste Frage lehne ich durchaus ab. Euer Vater ist ›tabu‹. Was mich, anbetrifft – –«

»En Engel waren Sie immer,« fiel Krone rasch ein.

»O lieber Freund, ist es denn nur möglich, daß Sie alle meine Dummheiten vergessen haben?«

»Dummheiten? Ich weiß nur von edelmütigen Taten. Sie konnten da nie was für, wenn sie rumm rauskamen. Kinder, ich kann euch nur eins immer wieder sagen: ›Ihr habt 'ne Mutter!‹«

»Na, nun reden wieder bloß die Großen,« brummte Harald, »ich denke, wir sollten fragen?«

»Hast du denn so was Wichtiges?«

»Dann schieße los.«

»Können kleine Kinder auch erst vom neunten Tage an sehen?«

»O Harald! Welch schrecklich dumme Frage! Das hast du doch an deinen kleinen Geschwistern beobachten können.«

»Hab ich auch!«

»Na, und – –?«

»Die konnten eben nich sehen.«

»Harald! Das laß bloß Carlo und Adolf nicht hören! Willst du sie durchaus unter die jungen Hunde verweisen?«

»Muusch, es ist aber doch wahr! Du hast das eben nicht so gemerkt, weil du im verdunkelten Zimmer lagst, aber ich bin immer und immer zu den Brüderchens gegangen, und immer hatten sie die Augen zu.«

»Na, da schliefen sie eben. Babies schlafen überhaupt viel.«

»Ich hab ihnen aber auch mal in die Augen so ein bißchen reingefühlt und die Lider hochgezogen, da guckten sie mich ganz gläsern an.«

»Kunststück! Reiß mal einem von uns, während wir schlafen, die Augenlider hoch, wie wir dich da gläsern anglotzen würden.«

»Hört auf, Kinder! Harald, du denkst dir doch auch immer greuliches Zeug aus.«

»Ja, mein Junge,« warf Onkel Krone ein, »und wenn wir hier was zu trinken hätten, müßtest du in die Kanne steigen.«

»Soll das eine zarte Mahnung sein, lieber Freund?«

»Herrjeh, haben Sie das rasch kapiert, Frau Kerlchen. Ja, ich hab Durscht, und mir tut die Erdbeerbowle leid, die so im Eisschrank verschimmelt.«

»Und außerdem sieht Vater, wenn er kommt, daß wir hier nicht gegrübelt und uns geängstigt, sondern seine Abwesenheit mannhaft ertragen haben,« bemerkte Erni weise, als er nach einer Weile die Gläser füllte.

»So, Muusch,« rief Elimar, »nun kannst du uns mal hübsch erzählen, von wem wir unsere Namen haben, das wolltest du schon lange tun, und es interessiert einen doch auch.«

»Wirklich? Nun ich dachte, ihr wüßtest es längst. Erni heißt – –«

»Nach deinem Vater, nach Großväterchen. O ich weiß! Und ich bin so stolz darauf!«

Ernis ganzes Gesicht strahlte. »Siehst du, Muusch, das dank ich dir ewig, daß du mich nach dem Manne genannt hast, wenn ich auch gewiß nie so werden kann, wie er.«

»Warum solltest du nicht so werden können?« fragte Kerlchen liebreich und sah sinnend in ihres Ältesten schönes, offenes Knabengesicht. Äußerlich war er schon jetzt beinahe der Großvater, die Stirnbildung, die energische Nase, der nicht allzukleine Mund mit den tadellosen Zähnen, das volle, üppige, dunkle Blondhaar und – die Schliedenschen Augen, – es stimmte alles.

Herr Krone hatte natürlich den Gedankengang Kerlchens erraten, denn er blickte unentwegt in ihr sprechendes Gesicht.

»Kinners,« sagte er ernst und trank erst mal einen gewichtigen Schluck, »morgen machen wir mal 'n großen Waldspaziergang, und dann erzähl' ich euch von eurem Großvater, – Freunde waren wir, sag ich euch, – Freunde! – Eure Mutter nehmen wir mit,« setzte er gnädig hinzu.

Fritz hatte schon längst wieder was sagen wollen, er ließ sich nicht gern die Butter vom Brot nehmen.

»Iiiich,« begann er heftig, »ich heiße nach dem Vater, und Vater sein ist doch eigentlich mehr als Großvater.«

»I wo,« bemerkte Li überlegen, »das ist alles egal, 'n Ehrenmann sein ist die Hauptsache, und 'n Ehrenmann kann man sogar als Junggeselle sein.«

»Sogar als Witwer,« sagte Krone ruhig und schenkte sich wieder ein.

Kerlchen lächelte. Es hörte gar zu gern, wenn die Jungens ihre Meinungen austauschten, ohne sich von ihr erst die Weisung zu holen.

»Also ich heiße nach dem Vater,« beharrte Fritz, »aber Muusch, ich hab doch 'n Doppelnamen: ›Fritz-Wolfgang?‹ Er steht auf meinem alten Kinderlöffel.« Er reckte sein schlankes Persönchen. »Sollte Goethe – –?«

»Nein, Fritz, beruhige dich! Nicht im entferntesten haben wir daran gedacht, dich mal in Weimar auf ein Postament zu setzen; du heißt Wolf nach deinem Großoheim.«

Die Kinder sahen ordentlich etwas ehrfurchtsvoll auf die beiden Brüder, der Großvater Schlieden und der Großoheim Rumohr lebten als leuchtende Vorbilder in der Familie weiter. Es war zu Lebzeiten für den »tollen Rumohr« immer rührend anzusehn gewesen, wie das Kerlchen einen Heiligenschein um ihn wob, – um ihn, der bestenfalls in früheren Zeiten ein gar wunderlicher Heiliger gewesen war.

»Na, und vergeßt Pate nicht. Der hat seinen Namen vom Kaiser

» Und von Onkel Reymerstal.«

Kerlchen nickte.

»Und ich heiße nach dem Erbprinzen,« trumpfte Elimar. »Muusch hat mir das Bild von ihm gezeigt.«

Über Kerlchens Gesicht flog ein Schatten.

»Mein alter Li!« sagte es leise und träumerisch. »Es ist ewig schade, daß wir ihn nicht mehr haben.«

»War er sehr gut, Muusch?« fragte Elimar.

»Gut ist gar nicht der richtige Ausdruck für ihn. Er war der ritterlichste, vornehmste Mensch, den ich je gekannt, außer – natürlich Väterchen, – meins und eures. Mein Li hätte sein Land sehr glücklich gemacht, wenn ihn nicht die schwere Krankheit hielt. – Ach, war das eine ideale Freundschaft, Kinder, ich werde euch noch viel, viel von ihm erzählen. Erni, es erinnert mich jemand an ihn, dein Hans-Hugo Eulried. Haltet fest zusammen, hörst du, Erni? Solche Edelmenschen sind gar dünn gesäet.«

»Wenn ich ihm genüge, Mutter – ich werd' ihn schon festhalten.«

»Na, und Paul, Harald und Carlo und Adolf? Sind die fix und fertig getauft auf die Welt gekommen?« fragte Fritz.

»Nein, diese Einrichtung besteht noch nicht. Aber ich werde euch mal gelegentlich eure Taufscheine feierlich vorlegen oder Vater bitten, daß er es tut. Die vier Menschen, die diese Namen tragen, waren vier treue, gute Freunde eures Vaters.«

»O, ich weiß, ich weiß! rief Fritz. »Es sind vier Räte.«

»Aber keineswegs! Warum meinst du das?«

»Nun, weil Vater sie immer das Trium virat nannte!«

»Au, au, Fritz – – bist du so dumm, oder siehst du nur so aus,« schrie Erni. »Nein, nein, ich seh's, es war Dummheit, und die entschuldigt ja vieles.«

Kerlchen lachte. »Wahrhaftig, man könnte meinen, Fritz kam direkt aus Kalau.«

»Gute Nacht!« sagte Fritz.

Wenn er die Zielscheibe der Betrachtungen und Neckereien wurde, dann empfahl er sich immer etwas plötzlich.

Er war aber kaum zur Türe hinausgetreten, als er auch schon wieder, und diesmal rückwärts hereinstolperte:

»Vater kommt,« rief er, – Vater, und – noch was.«

Denn er konnte nicht gleich erkennen, was es für ein Riesenbündel war, das Fritz von Rumohr senior vor sich her schob, manchmal hochhob und auf eine andere Stelle setzte, dann wieder hinter sich herzerrte. Schwer mußte das Bündel sein, sonst hätte der Vater nicht so dicke Adern auf der Stirn gehabt.

Aber nun wurde es in eine Ecke gestellt, und unter der durch die sonderbare Art des Transportes vollständig hoch gezogenen Jacke tauchte ein struppiger Jungenskopf auf. Kaum fühlte er sich aber frei von der eisern umklammernden Hand, als er auch schon wieder nach der Tür schlüpfte, um durchzubrennen.

»Hier geblieben,« donnerte der Gutsherr, und Fritz junior stellte sich als Wache mit ausgebreiteten Armen vor die Tür, ohne den wütenden und dabei so verächtlichen Blick des anderen Knaben zu bemerken. Es war ja auch lächerlich, zu denken, das kleine, schlanke Zigeunerlein vermöchte ihn, Franz Körbs, durch eigene Kraft davon abzuhalten, diesem Zimmer und diesen fremden Menschen zu entwischen.

Der Gutsherr hielt eine Weile sein Kerlchen umschlungen und begrüßte seine Kinder.

»Solch ein Tag,« sagte er schwer aufatmend, »Armes Kerlchen, solch' ein Geburtstag!«

»Du bist ja wieder bei mir,« meinte Kerlchen frohgemut; »und nun wollen wir den schweren Tag vergessen!«

»Nun, das wird wohl nicht so ganz möglich sein,« lachte Fritz kurz, »ich mußte dir da 'ne kleine Erinnerung mitbringen.«

Er zeigte auf den etwa sechzehnjährigen Jungen, der mit finsterstem Gesichtsausdruck dastand. Eben versuchte er wieder, das Weite zu gewinnen, aber jetzt standen schon fünf Kegel zielbewußt an der Tür, und Herr Rat Krone machte Miene, als sechster zu helfen.

»Ich will fort,« schrie Franz Körbs laut.

Der Gutsherr trat auf ihn zu und schüttelte ihn ziemlich derb.

»Du bist hier in meinem Hause, und da wird nicht getobt, merke dir das,« sagte er streng.

Dann wandte er sich mit gedämpfter Stimme zu Kerlchen, und Rose, welche nur mit den Augen die Szene verfolgt hatte, aber nicht tätlich eingesprungen war, hörte nun gespannt dem Vater zu.

»Er ist ganz verwaist,« sagte der Gutsherr leise. »Bis jetzt hat er beim Großvater gelebt, und das war mehr als alles andere noch sein Verderb, denn kaum je hat es einen verbitterteren Kerl gegeben, als den alten Körbs. Auch heute beim Brande hat er nichts getan, als gewühlt und gespottet, ohne auch nur den kleinen Finger zur Hilfe zu rühren, und mitten im Fluchen und Schimpfen hat ihn ein herabstürzender Balken getötet. Der Junge war kaum von der Leiche fortzubringen, er scheint doch noch so was wie eine weiche Stelle in seinem verhärteten Gemüt zu haben – na kurz und gut, mein Kerlelein, sieh mich nicht so traurig an, – ich hab den Franz also vorläufig mitgenommen. Glitzerbergs haben jeden verfügbaren Raum voll Obdachlose, der Pfarrer Truling hat in hochherziger Weise sich verschiedener Kinder angenommen, nur diesen – den Franz Körbs, – sieh, Kerlelein, niemand wollte ihn haben, da dacht' ich an dich und brachte ihn mit.«

»Ich dank' dir, Friedel,« entgegnete Kerlchen hoch aufatmend, und Fritz küßte es auf die Stirn.

In diesem Augenblick sprang Rose rasch auf die Brüder zu.

»Nicht doch, was tut ihr, ihr tut ihm ja weh,« rief sie laut und energisch und stellte sich an Franzens Seite, dessen Hände allerdings bei einem eben erneuerten Fluchtversuch wie in einen Schraubstock gepreßt waren von den umklammernden Fäusten der Kegel.

»Ach was, weh –« brummte Fritz, »mir hat er auch weh getan, – der Frechdachs,« und er zeigte auf seine eigene Hand, die im Begriff war, durch Schwellung recht ungewöhnliche Formen anzunehmen.

»Er hat aber seinen Großvater verloren,« beharrte Rose und stellte ihr schlankes, zartes Persönchen zwischen den Fremdling und seine Angreifer.

Und da ging etwas Merkwürdiges mit dem Franz Körbs vor. Er straffte sich auf, zog seine Jacke glatt, strich über sein wüstes Haar und stellte sich manierlich hin, ohne nur eine Sekunde seinen Blick von Rose zu wenden. Es war das erste Mal in seinem sechzehnjährigen Leben, daß man seine Partei nahm, und ein so ungeheures, ehrfurchtsvolles, beinahe erschrockenes Staunen malte sich auf seinem Gesicht, daß die Kegel ihn verwundert anblickten.

»Ich werde dir jetzt eine Kammer anweisen,« sagte Kerlchen, und wie es seine gütigen Augen auf den Jungen richtete, Augen, aus denen so viel Mütterlichkeit strahlte, die gewillt war, auch außer neun Kegeln noch einen ganz verwilderten und verfemten Buben zu betreuen, da fing Franz Körbs schwer und gequält zu schluchzen an.

Kerlchen nahm die Hand des Burschen in die ihre und führte ihn mit sich hinaus, und dieser friedevolle Anblick ließ Fritz von Rumohr die etwas scharfe Ansprache gänzlich unterdrücken, die er noch an den neuen Hausgenossen halten wollte. Selbst die Mahnung, die er noch vor zehn Minuten für unbedingt notwendig gehalten hatte: »Daß du dich nicht unterstehst, heute nacht auszurücken!« war überflüssig geworden, das sah er.

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