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Brief von Oberst Schlieden an Kerlchen.

Mein Kerlchen!

Während Du Dir Dein liebes Stumpfnäschen jetzt rot frieren läßt, blüht und grünt alles um uns, und wir pflückten uns Apfelsinen von den Bäumen und gehen in weißem Mousselin, wenigstens Deine schöne Mama, die hier immer wohler und jugendlicher wird, während Dein altes Vatting immer weniger stramm im Steigbügel sitzt. Weiß der D.... was mit mir ist, ich gäbe die ganze bella Italia für unsern deutschen, lieben Schnee, für Schellengeläute und solide Öfen, für eine von Barinas Mischung No. I vollgequalmte Stube bei Bruder Waldemar. Ach und was gäb ich nicht, wenn ich bei meinem alten Kerlchen sitzen könnte und sehen in seine Schelmenaugen. Kerlchen, Mädel, Fee, sag', Du wächst uns wohl inzwischen tüchtig über den Kopf, so in jeder Beziehung? Oder wirst Du ordentlich geduckt und duckst Dich auch gelegentlich mal selber?

Mein Kerlchen, Deine Briefe sind uns eine wahre Erquickung, ich möchte beinahe sagen, die einzige, die wir haben.

Unser armer Li hat sich furchtbar verändert. Der sonnige, liebe Junge ist ein nervöser, reizbarer Mensch geworden, sein tiefes, furchtbares Leiden schreitet unaufhaltsam fort, – schon jetzt müssen wir uns sehr vor der Ansteckung schützen, was um so schwerer ist, da der Kranke voll Mißtrauen gegen uns alle ist.

Deine Mutter läßt er kaum von seiner Seite und auch gegen mich bricht oft eine elementare Zärtlichkeit hervor, aber dann ist's, als weiche die Gegenwart langsam von ihm und er wäre noch der Knabe von einst. Dann ist er weich und anschmiegsam, und Deine Mutter muß ihm Märchen erzählen oder Geschichtchen aus Deiner Kinderzeit, bis er einschläft.

Ich habe sehr viel Ärger mit der Hofgesellschaft, die zu dem großen Einfluß scheel sieht, den ich auf den Fürsten habe; nur die unendliche Liebe zu meinem heimgegangenen Freunde, dem ich in die erkaltende Hand versprach, nicht von seinem Sohne zu weichen, läßt mich hier ausharren.

Der Leibarzt quält unsern Li viel mit Mixturen und Tränklein, ich glaube, tiefste Ruhe, einfachste Kost und stilles Atemholen in dieser köstlichen Luft wäre unserm armen, jungen Fürsten das beste.

Mein Kerlchen, die Sehnsucht nach Dir ist unendlich groß. Deine Mutter und ich haben schon gedacht, ob es sich nicht ermöglichen ließe, Dich vielleicht im Januar einmal hierherkommen zu lassen; es sprechen aber tausend Gründe dagegen, die ich Dir einmal später mündlich auseinandersetzen werde.

Aber wenn Fürst Li noch bis nächsten Sommer hier bleiben muß, dann kommt bestimmt einer von uns im ersten Frühjahr, vielleicht schon Anfang Februar nach Thüringen, um dich wieder zu sehen, mein Herzenskind.

Die letzten Jahre in Schwarzhausen waren so schön!

Auch mit Erich muß ich sprechen, dringend sogar. Sein Oberst schickt die besten Zeugnisse, er scheint voll seine Pflicht zu tun und doch – – –

Grüße Deine lieben, verehrten Gastgeber, und auch ganz besonders Freund Liskow, schließe Dich nur recht an ihn an, den »chevalier sans peur et sans reproche.« Gott befohlen! Kerlchen, Kerlchen, Kopf hoch, tapfer sein!

Dein treuer Vater
Schlieden.

*

Brief von Leutnant Erich Schlieden an Kerlchen.

Mein lieber Terle-Terle!

Wer hätte gedacht, daß Dein großer Erich-Bruder noch einmal zu seiner kleinen Terle-Schwester kommen würde, um sich von ihr Rat zu holen.

Ich muß auch den letzten Satz gleich wieder einschränken: »Raten« muß ich mir schon selbst, und mein Weg ist mir fest und klar vorgezeichnet, aber ich möchte mir ein liebes Kameradenwort holen von meinem »Terle« und – einen Glückwunsch.

Du kamst mir in der letzten Zeit recht verändert vor, Fee, Du sahst mit so verständigen Augen in die Welt, daß ich mich immer wieder fragen mußte, ob das noch unser Kerlchen sei, unser übermütiges, tolles Wildkätzchen.

Aber ich merkte bald, daß du ganz unser Altes, Liebes warst, nur hattest Du etwas tiefer ins Leben hineingeschaut, und man konnte recht ernst und verständig mit Dir sprechen.

Zur Belohnung für Deine treue Schwesterfürsorge all die Jahre hindurch bringe ich Dir heute etwas Wunderliebes, – eine Schwester, meine Braut, meinen guten Engel: Emmy Hassee. –

Diese letzten Zeilen sind die einzige Verlobungsanzeige, die ich vorläufig in die Welt schicken kann, unser Verlöbnis soll einstweilen ganz geheim bleiben, soweit das in Schwarzhausen überhaupt möglich ist.

Du kannst Dir nun wohl denken, mein Kerlchen, daß mein ganzer äußerer Lebensgang plötzlich ein anderer werden muß.

Meine Emmy in ihrer rührenden Unwissenheit in solchen Sachen ahnt nicht, daß ich um ihretwillen des Königs Rock ablegen muß, sie glaubt, ich sei nicht mit Leib und Seele Soldat, – ich!

Aber ich habe sie dabei gelassen, es erleichtert uns beiden den Entschluß.

Kerlchen, ich habe jetzt ganz allein nur Dich und meine Emmy.

Mit unserm Vater habe ich selbstverständlich schon vorher gesprochen, er hat mir aber mit unbeugsamer Härte seinen Beistand versagt.

Kerlchen, ich fühle ja, daß er von seinem Standpunkt aus Recht hat, ich leide schmerzlich unter seinem harten: »Entweder – oder,« aber – – –

Emmy hat mein Wort, – helf' mir Gott, daß ich es einlöse als ein rechter Mann. Du solltest sie sehen, Deine neue Schwester, lieb Kerlchen, wie sie jeden Tag so treu zur Schule zieht, jeden Tag ein wenig blasser, und jeden Tag mit verweinten Augen.

In der Hölle ist sie bei dieser keifenden, niedrig denkenden, stumpfsinnigen Frau Kalkulator, die doch ihre einzige Anverwandte ist.

Hätte Emmy nicht diesen Schatz tiefster, ernstester Lebensauffassung in sich, der ihr von ihrem hochgebildeten Vater, von ihrer feinsinnigen Mutter überkommen ist, – sie hätte untergehen müssen in dieser Atmosphäre.

Ich segne schon den Tag, an welchem ich mir mein Kleinod aus dem Hause retten kann, aber bis dahin ist's eine öde, glücksarme Strecke, die ich zu durchwandern habe, und an jeder Ecke, jedem Kreuzwege warten tausend Demütigungen auf mich.

Ich denke zum Frühjahr meinen Abschied einzureichen. Meinem Kommandeur, der wie ein zweiter Vater zu mir steht, habe ich bereits Mitteilung von meinem Vorhaben gemacht – – erlaß mir die Schilderung dieser Stunde. Er will vorläufig »nichts gehört haben«.

Ach Kerlchen, – manchmal denke ich – –

Mein Generalstabswerk, an dem ich all die Jahre gearbeitet, ist nun fertig und druckreif. Kerlchen, das war die einzige reine Freude in diesem letzten Jahr. Mein Kommandeur, der ein großer Stratege ist, hat mich herzlich dazu beglückwünscht und mir eine Menge schöner Dinge prophezeit, die aber für mich jetzt keinen Wert mehr haben. Ich habe an allen Ecken und Enden der Welt bereits Fäden angeknüpft, – es ist aber unsäglich schwer, einen neuen Beruf zu finden, – für Unsereinen mit der Kadettenhauserziehung. Weißt du vielleicht einen schönen Gutsinspektorposten mit sechstausend Mark Gehalt, ich würde damit zufrieden sein.

Verzeih, daß ich scherze, – es ist jetzt keine Zeit dazu.

Leb wohl, Kerlchenschwester, ich küsse Dich zärtlich. Nimm meine Emmy an Dein Herz und bleibe ein treuer Kamerad Deinem treuen Bruder

Erich.

*

Brief von Fritz von Rumohr an Kerlchen. –

Mein liebes Kerlchen!

Eben komme ich aus Erichs Junggesellenbude, wo wir in einer Anwandlung außergewöhnlichen Leichtsinns eine Flasche deutschen Schaumwein auf Erichs Verlobung geleert haben. Sei nicht ungehalten, daß ich Erichs Braut drei Gläser unterschlug und diese auf das Wohl eines tapferen Kerlchens trank, dessen Brief an Erich und Emmy neben uns lag, und das mitsamt dem Briefe, diesem köstlichsten aller Schriftstücke, eigentlich in Glas und Rahmen gefaßt werden müßte. Aber so ein lebendiges Kerlchen läßt sich nicht fassen und halten und noch viel weniger aufhängen, was ja auch schade wäre.

O Kerlchen! Solch lange Vorrede brauche ich, ehe ich zum eigentlichen Zweck meines Schreibens komme, Dir zu sagen, wie traurig mich Erichs Verlöbnis macht. Selbstverständlich habe ich nichts, garnichts gegen das Mädchen selbst einzuwenden, die wohl alle Eigenschaften der Seele und des Körpers besitzt, die einen Mann glücklich machen können, aber daß Erich seinen Beruf wechseln muß – – –!

Kerlchen, er leidet furchtbar darunter.

Dazu kommt die quälende Sorge um einen anderen passenden Beruf; der Landwirt sagt ihm natürlich am meisten zu, aber er fühlt selbst, daß es dazu an allen Ecken und Kanten fehlt, vor allen Dingen an Geld.

Erich arbeitet von früh bis spät und thut selbst den trockensten Dienst mit einer Freudigkeit, als wolle er sich in seinem Berufe noch einmal ganz und gar ausleben, ehe er ihm für immer den Rücken wendet.

Er betäubt sich mit Arbeit. Tiefe Schatten liegen unter seinen Augen, und er hätte wahrlich eine Ausspannung not, da eben erst sein Buch fertig ist, das ihm zwei Jahre scharfer, geistiger Anstrengung gekostet hat.

Von Erholung will er aber nichts wissen, »ich habe wahrscheinlich mein ganzes Leben Zeit, mich zu erholen,« sagt er voll tiefer Bitterkeit.

Kerlchen, Kerlchen, könnte man ihm doch helfen!

Wir haben zuerst eine sehr heftige Auseinandersetzung gehabt, ich bin der festen, unumstößlichen Meinung, er hätte es dem Mädchen nicht sagen dürfen, daß er es liebt.

Ich gebe zu, daß es furchtbar schwer für ihn war, aber wie mancher muß nicht sein heißes Herz fest in seine Hände nehmen, damit es nicht durchgeht mit dem kühlen Kopf. Wie mancher möchte sich sein Kleinod retten, weil es so strahlend leuchtet in Güte und Herzensreinheit, daß es am Ende ein anderer entdeckt und fortholt. Und darf es doch nicht! Darf es nicht! Kerlchen!!! – – –

Wie leiden aber Erich und Emmy jetzt beide unter den unsicheren, unklaren Verhältnissen, und es ist doch nur ein schwacher Trost, daß sie ihre gegenseitige Liebe haben, – die hatten sie ja vorher auch, wenn sie auch unausgesprochen war, und so hätte es bleiben müssen, ein heiliges Feuer tief in der Brust, bis er die Geliebte offen vor aller Welt in sein Heim holen konnte.

Ob darüber auch Jahre vergingen, was schadete das? Jetzt verbluten sich vielleicht diese beiden Edelmenschen an den armseligen Nadelstichen, welche die liebe Gesellschaft für sie bereit hält, Schwarzhausen an der Spitze, wo natürlich die ehrenwerte Frau Kalkulator bereits ihr Möglichstes zur Verbreitung der Nachricht getan hat.

Kerlchen, was sagst Du zu diesem närrischen Klagebrief?

Lies ihn noch einmal durch, aber lies zwischen den Zeilen auch ein wenig, hörst Du, Kerlchen?

Mein Leben geht unentwegt seinen geraden Gang.

Dienst, Dienst und wieder Dienst. Aber Arbeit tut wohl. Mein Patent als königlich preußischer Sommerleutnant ist auch da, und die Verpflichtungen, die mir daraus erwachsen, schieben wieder mein eifriges Sparen in den Hintergrund – und all meine Hoffnungen auch. Kerlchen, leb wohl, leb wohl!

Dein Fritz von Rumohr.

*

In dem großen Wohnzimmer des Schliedenschen Herrenhauses saß die ganze Familie um den Tisch versammelt, der Gutsherr und Onkel Liskow rauchten, »as wenn 'n lütt Mann backt«, wie der alte Holsteiner sich ausdrückte, die glühenden Kohlen des behaglichen Kaminfeuers sahen nur durch eine Wolkenschicht den Eintretenden an. Die Damen hatten Handarbeiten vor, vom soliden wollenen Strickstrumpf der Hausfrau an bis zu den feinsten Stickereien, an denen sich Bümi jedesmal zur Weihnachtszeit die Augen verdarb.

»Kerlchen ist wieder mal die Vernünftigste,« meinte der Hausherr, »natürlich außer meiner Frau, die sich auch in unserer langjährigen, glücklichen Ehe der allemal besseren Einsicht ihres Mannes (hem, hem) gefügt und das verdammte Prünen aufgesteckt hat. Kinder, was hat mein Weib früher zusammengehäkelt und -gestickt und »filiert«, und »Frivolitäten« machte sie, bis beinahe jedes Stück Möbel eine Frivolitätenkante oder -borde hatte, als ich ihr aber noch einige ungeschmückte Gegenstände im Haushalte nachwies und um Abhilfe bat, war ihr das zu »frivol«, und seitdem strickt sie.«

»Aber Schlieden!« rief Tante Hedwig und hielt sich die fünf Finger schämig vor das Gesicht, ihre lustigen Augen lachten aber durch die Spalten.

»Na und unser Kerlchen strickt auch,« fuhr Onkel Waldemar fort, »bravo Kerlchen!«

»Ach Gott,« seufzte Kerlchen tief und ausdrucksvoll, »ich bin überhaupt so vernünftig, daß es einen Hund jammern kann, ich hab' wahrhaftig in diesem Winter jeden bestrickt, der mir in den Weg kam.«

»Das stimmt,« lachte Kapitän Liskow und blinzelte vielsagend mit den Augen, »das fällt auch so einem famosen Mädel wie dir nicht schwer.«

»Phhh!« sagte Kerlchen und errötete heftig und anhaltend, – s o hab ichs natürlich nicht gemeint,« und ihre Augen blitzten über die laut lachende Gesellschaft hin, – »da seht! sechs Paar Socken sind wieder fertig, dazu zwei Seelenwärmer und drei Paar Pulsschläger.«

»Pulsschläger? Was ist denn das,« fragte Onkel Liskow.

»So nennen wir die kleinen Handüberzieherchen, unter denen auch der matteste Puls sofort zu schlagen beginnt.«

»Ach,« rief Munke und warf die Augen gen Himmel, »wenn mir doch auch endlich einer die Seele wärmen wollte, dann sollten meine Pulse schon von allein schlagen.«

Alle lachten wie tobsüchtig, und Kerlchen machte große Augen.

»Na, vielleicht thut's der neue Pfarrer,« rief Bümi, »wenn ich auch stark hoffe, daß er in meine Schlingen fallen wird, da wir ja doch mal in unserer Familie von unten anfangen, erst Luttewete, dann Bümi, dann Munke.«

»Der neue Pfarrer wird wohl nicht in Betracht kommen,« meinte der Gutsherr ernster als sonst, »er ist ein stiller, fast düsterer Mann, den tiefes Leid beinahe zu Boden gedrückt hat, aber starkes Gottvertrauen und der Gedanke an seine vier kleinen Kinder, die ohne ihn ganz verlassen sind, haben ihn wieder emporgerichtet.«

»Vier Kinder?« schrie Munke entsetzt, »und wohl noch klein alle vier?«

»Bist du schon abgekühlt?« fragte Onkel Liskow.

»Na, ich bins jedenfalls,« bekannte Bümi.

»Nee, weißt du Onkel, so sich gleich in eine Kleinkinderbewahranstalt hineinzusetzen, das ist ein furchtbarer Gedanke, und dann ein Witwer überhaupt! So den ganzen Tag hören zu müssen: »Meine Selige machte das so und so, liebes Kind, willst du es nicht auch so machen?« Oh – ich liefe gleich den ersten Tag fort.«

»Da wär' dem armen Pastor ja geholfen,« sagte der Hausherr trocken, »ich wußte aber wahrhaftig nicht, daß meine beiden Töchter so aufopfernd veranlagt seien.«

»Oh, Papa,« riefen beide entschuldigend.

»Na, ich weiß schon Bescheid,« sagte er abwehrend, »aber Kerlchen macht ihre bekannten Eulenaugen, sie hat schon lange etwas auf der Leber. Herunter damit, Kerlchen!«

»Ist seine Frau lange krank gewesen?« fragte Kerlchen hastig mit so inniger Teilnahme in der Stimme, daß die Cousinen, die schon wieder zum Lachen angesetzt hatten, plötzlich verstummten.

»Sie soll immer zart gewesen sein«, berichtete der Onkel, »und bei der Geburt des jüngsten Kindes ist sie gestorben; das ist nun acht Monate alt, und der älteste Knabe fünf Jahre, eine Verwandte führt ihm die Wirtschaft.«

Sie waren alle ganz still geworden, jeder hatte so seine eigenen Gedanken, die Damen stickten und strickten, als ginge es ums liebe Brot, und die Herren pafften erschreckliche Rauchwolken. Da schlug plötzlich der Hund an, und gleich darauf klopfte es an die Tür.

Der Gutsherr ging selbst, um zu öffnen, und stand einer schneebedeckten Gestalt gegenüber.

»Ich bin's, der Pfarrer,« sagte eine tiefe, angenehme Stimme, »ich komme in großer Not als Bittender. Nein, ich kann kaum hinein kommen,« wehrte er ängstlich ab, »ich trete Ihnen die Stube voll Schnee und größte Eile tut mir überdies not.

Meine Cousine hat sich die Füße mit kochendem Wasser verbrüht und liegt hilflos da, ebenso hilflos ist nun meine Kinderschar, die von all dem Lärm aufgewacht ist und um die Wette schreit.

Nun möchte ich nur um einen Packen altes Leinen bitten und, wenn möglich, um ein Pferd, damit ich den Doktor aus C. holen kann.«

»Lieber Herr Pfarrer, Sie sollen alles haben,« rief der Gutsherr, »meine Älteste wird Ihnen sofort die Leinwand holen, und dann wird eine von meinen Töchtern Sie nach Hause begleiten und dort nach dem Rechten sehen, bis der Arzt kommt. Der wird aber nicht von Ihnen geholt, sondern von mir, ich bringe ihn gleich mit.«

Er wartete gar keine Antwort und keinen Dank ab, sondern bestellte sofort das Anspannen, und nach kaum zehn Minuten schritt der Pfarrer schon wieder mit einem Packet im Arm den verschneiten Parkweg entlang, und an seiner Seite ging schweigend ein kleines Persönchen, dessen Herz in Gedanken an die schreienden, kleinen Kinder vor Mitleid schwoll, und dem von Herzen gern die Erlaubnis erteilt worden war, im Pfarrhause nach dem Rechten zu sehen, bis der Onkel mit dem Arzt zurückkehre.

»Ich hole dich dann gleich mit dem Wagen heim«, hatte der Gutsherr zu Kerlchen gesagt.

Ein eisiger Wind peitschte den Dahinschreitenden ins Gesicht, der Pfarrer sah ab und zu scheu zu seiner Begleiterin hin, auf deren jungem Gesichtchen ein seltsamer Ernst lag.

»Ich wußte mir gar keinen Rat mehr«, sagte er plötzlich wie entschuldigend, »ich glaubte, Herr Schlieden würde mir eine Magd mitgeben.«

»Bin ich nicht viel besser als eine Magd?« fragte Kerlchen mit großer Ehrlichkeit. »Ich habe Kinder so furchtbar lieb!«

Er fand in seiner Verlegenheit keine rechte Antwort. Da standen sie aber schon vor dem Pfarrhaus, das sehr schmucklos grau getüncht hinter verschneiten Bäumen lag.

Der Wind schlug ihnen die Haustüre nur so aus der Hand, und nach dem Knall des heftigen Zuschlagens erhob sich ein wahres Zetergeschrei aus etlichen Kinderkehlen. Dazwischen klagte und jammerte eine Frauenstimme.

»Alles noch so wie vorher«, sagte der Pfarrer mit ergebungsvoller Stimme und schrak heftig zusammen, als Kerlchen in ein silberhelles Lachen ausbrach.

»Ach Gott, seien Sie bloß nicht böse«, rief Kerlchen gleich darauf und haschte nach seiner Hand, die ihr den Mantel abnahm, »hier giebt's ja wahrlich nichts zum Lachen, es ist zu dumm von mir, aber Sie sahen so komisch aus, wie Sie so ruhig das sagten.«

»Fürchten Sie sich denn nicht vor dem Geschrei?« fragte er, und sah mit Wohlgefallen in das frische Gesichtchen.

»Nee, ich freu' mich drauf, aber ich wunderte mich, warum Sie nicht dazwischen wetterten und fluchten!«

»Als Pfarrer?« fragte er verwundert und belustigt.

»Ach so – nee, daran dacht' ich nicht!«

Kerlchen stand schon an der Thür und klinkte diese auf, sie sah in ein beinah ärmlich ausgestattetes Zimmer, in dem vier Kinderbetten standen. Aus jedem tönte ohrzerreißendes Geschrei, vom Nachbarzimmer her aber langgezogene Klagelaute. Letztere schlugen zu ganz kräftigem Schelten um, als der Pfarrer hereintrat.

»Schon wieder zurück?« hörte Kerlchen sagen. »Natürlich kein Pferd gekriegt von dieser hochnäsigen, kaltherzigen Holsteiner Gesellschaft – ach Gott, wie soll ich's bloß aushalten, oh die Schmerzen, und du stehst auch da, Paul, und sagst kein Wort. So rede doch!«

»Du hast mir ja keine Zeit gelassen«, war die ruhige Entgegnung, aber Kerlchen wartete weitere Auseinandersetzungen nicht ab, sie trat an das kleinste Bettchen, darinnen ein süßes, kleines Blondköpfchen schrie und dabei so müde geworden war, daß ihm die verschwollenen Äugelchen immer zufielen und für eine halbe Minute Ruhe eintrat.

Sobald es aber das fremde Gesicht erblickte, wurde es hell wach und setzte nun mit ganz frischen Kräften ein.

Kerlchen hielt sich die Ohren zu.

»Pscht, ihr andern,« rief es energisch, »sagt mal, warum brüllt ihr denn?«

»Weiß nicht,« jaulte der Dreijährige, »fürchte mich, sollst weggehen du! Schapperlabsche soll kommen«.

»Wer is Schapperlabsche?« fragte Kerlchen.

»Weiß nich«, war die Antwort und der Junge heulte weiter.

»Ach sie heißt nich Schapperlabsche,« berichtete der Fünfjährige, »Adalberte« heißt sie, aber wo kommst du her?«

»Ich will jetzt erst mal wissen, weshalb ihr alle brüllt«, sagte Kerlchen ruhig.

»Och« – war die Antwort – »Rösi brüllt, weil sie naß is, un Dudu brüllt, weil Rösi brüllt, un Didi brüllt mit, un ich brüll, weil sie alle brüllen«.

»Schämt euch!« war die energische Antwort.

»Schapperlabsche brüllt auch,« jammerte Didi.

»Ruhig jetzt! Ihr sagt mir nun hübsch, wie ihr heißt, und derweile leg ich Rösi trocken, verstanden?«

»Bleibst du denn bei uns?« fragte der Älteste neugierig. »Stirbt Schapperlabsche?«

Von drüben setzten die Klagetöne wieder ein.

»Hör nur, Paul, wie gottlos deine Kinder drüben reden, oh, oh, oh, ja ich muß gewiß sterben.«

»Kindergeschwätz«, hörte Kerlchen den Pfarrer sagen, »kümmere dich doch nicht drum. Ist dir jetzt wohler, tut der Verband gut?«

»Ich heiße Christian Richter, aber die Mutti nannte mich Chrisli.«

»Un ich heiße: »Didi Hicher« un Mutti nannte mich »Didi Hicher.«

»Och son Schafskopp,« schrie Chrisli, »Richard Richter heißt der Jung un »Didi« nennt er sich selber. Und das dort is »Ludwig Richter« und heißt »Dudu«, un das Winzige is die »Rösi« und heißt garnich. Und wie heißt Du

»Kerlchen.«

»Na da schlag einer lang hin!« war der Ausruf des ganz verblüfften Chrisli, »wie kann ein Mensch bloß Kerlchen heißen!« Kerlchen lachte herzlich.

»Ich heiße auch noch Felicitas.«

»Eben so'n Blech«, entschied der Junge.

»So? Na dann kann ich dir nicht helfen.

Aber nun müßt ihr wirklich schlafen und euern armen Papa garnicht mehr quälen, hört ihr?«

Kerlchen legte eben sorglich Klein-Rösi ins Bettchen, probierte mit einem ganz leisen Widerwillen die Milch, ob sie wohl noch warm genug sei, und da das Flaschenmäntelchen die richtige Temperatur festgehalten hatte, legte es das Fläschchen in Rösis Arme, die eben nach den ersten Zügen vollbefriedigt einschlief.

Nun ging Kerlchen zu Dudu. Auch hier fand es williges Entgegenkommen, nachdem eine Reihe prickelnder Semmelkrumen aus dem Bettchen entfernt und die heißen Locken aus der Stirn gestrichen waren. Noch ein leichtes Ausschütteln von Kissen und Deckbett, und Dudu schlief auch.

Mit Didi war der Fall schon schwieriger.

»Will lieber büllen,« erklärte er, »Schapperlabsche büllt auch.«

Und wirklich tönten aus dem Nebenzimmer wieder gellende Aufschreie, und Didi atmete auch schon schwer auf, sofort bereit, mit voller Lungenkraft einzusetzen.

»Wirst du wohl!« verwies ihn Kerlchen. »Du hast gar keinen Grund zum Heulen. So – dein Bettchen ist schön warm und wartet auf Didi, wenn du nicht schnell machst, lege ich mich selbst hinein.«

»Unterteh dich,« drohte Didi, kroch schnell unter das Deckbett, und die behagliche Wärme tat auch bald ihre Wirkung. Zuerst murmelte er zwar noch etwa zwanzigmal ziemlich weinerlich:

»Verßähl mich was, verßähl mich was,« aber dann wurde das Stimmchen immer leiser, bis es in stillen Atemzügen verklang.

»Na nu denkste gewiß, nu käm ich ran,« sagte Chrisli plötzlich mit bewundernswerten Scharfsinn, – »is aber nich, ich will nanu aufstehen un du kannst mich vorlesen.«

»Du bist wohl nicht bei Troste,« fragte Kerlchen ärgerlich, »es schlägt ja schon elf Uhr, da schlafen andere kleine Kinder längst.«

»Ich bin auch nich andre kleine Kinder, ich bin Chrisli Richter.«

»Gewiß, und Chrisli wird jetzt ganz schön schlafen, und ich werde mit ihm beten:

»Es geht durch alle Lande
Ein Engel still umher,

»Geht er immer still? schwatzt er nie?« fragte Chrisli.

Kein Auge kann ihn sehen
Doch alles siehet er,

»Schapperlabsche sagt, man muß nich alles sehn wollen.«

Im Himmel ist sein Vaterland,
Vom lieben Gott ist er gesandt.«

»Och nee! Ich weiß auch was vom Vaterland,« schrie Chrisli begeistert:

»Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein«

sang er schallend.

Kerlchen stand etwas ratlos vor dem Bübchen und schaute mit banger Sorge auf die andern Kleinchen, und diese Sorge prägte sich stark auf ihrem Gesichtchen aus.

»Och nee, traurig brauchste nich zu werden, du gefällst mich ganz gut,« sagte Chrisli gönnerhaft, »und furchtbar müde bin ich auch, und wenn du mich noch zwanzig Seiten aus'm Märchenbuch vorgelesen hast, denn will ich meinetwegen auch schlafen.«

»I wo, daraus wird garnichts«, entschied Kerlchen, »ich gebe dir jetzt noch einen Gutenachtkuß und dann setze ich mich ganz still neben dein Bettchen, während du schläfst.«

»En Gutenachtkuß?« fragte Chrisli, und seine schönen Kinderaugen öffneten sich hoch erstaunt und entzückt, als sähen sie etwas ganz Wunderbares, Längstgekanntes, Langentbehrtes, – »den gab mich Mutti immer früher. En Gutenachtkuß! Giebst du ihn mich wirklich???«

Kerlchen faßte den Kleinen liebevoll um und küßte ihn auf den roten Plaudermund, aber da schlang Chrisli seine Arme um ihren Hals und zog Kerlchen mit auf sein Bett herunter, still legte es seinen Kopf mit auf das Kissen und lauschte auf die Atemzüge des Knaben, die immer tiefer und ruhiger wurden.

Der Pfarrer hatte schon ein paarmal leise angeklopft, ohne ein aufforderndes »Herein« zu hören; er lauschte an der Türe, und als alles drinnen still blieb, klinkte er auf.

Er hatte das Schlafzimmer wohl nie so still und friedlich gesehen seit dem Tage, als er die kleine Rösi aus dem Arme der toten Mutter in das Gitterbettchen gelegt hatte, das noch Dudu gehörte. Dieser hatte mit lebhaftem Geschrei gegen die neue Insassin protestiert, und so war es geblieben – Schreien, Lärmen, Toben in dem ohnehin schon unfreundlich kalten Pfarrhaus in Schlesien, von wo er sich hierher hatte versetzen lassen, in die Heimat seiner Frau.

Seine junge Frau aber mußte er in der Fremde zurücklassen.

Nun sah er liebevoll auf die fünf jungen Schläfer nieder, denn auch Kerlchen schlief süß und fest in Chrislis Arm, und sein kindliches Gesicht trug einen rührend fürsorglichen Ausdruck.

Still verließ der Pfarrer die Kinderstube.

*

»Guten Morgen, Kerlchen«, rief am andern Tage Munke in das Oberstübchen, wo Felicitas, die sonst das »Frühaufchen« war, noch im tiefsten Schlafe lag.

Kerlchen fuhr auf.

»Chrisli!« rief es, noch halb im Traum, der sie in der Pfarrhauskinderstube festgehalten hatte. »Nee, das ist närrisch«, sagte Munke halb für sich und zog den kleinen Jungen, den sie an der Hand hatte, zu Kerlchens Ruhelager hin.

»Da hast du den kleinen Quälgeist, Kerlchen,« rief sie lachend. »Er hat uns in dieser Herrgottsfrühe überfallen, und behauptet, das Pastorat könne nicht ohne dich fertig werden.« Kerlchen ermunterte sich vollends und zog Chrisli liebevoll zu sich heran.

»Soll ich gleich kommen? Ist wieder etwas los?« fragte es teilnehmend.

»Alles ist los«, berichtete der Junge weinerlich. »Rösi schreit, Tante Adalberte schläft, die neue Magd ist so dumm, Didi und Dudu hauen sich, Vater kocht Kaffee.«

Munke und Kerlchen sahen sich bedeutsam an, es lachte niemand, vor Kerlchens Augen stand der vergangene Abend.

»Geh gleich nach Hause«, sagte Munke freundlich zu Chrisli, »sag deinem Vater, daß sofort wieder jemand von uns hinkommen wird, um Ordnung zu schaffen.«

»Ist es wahr, was die große Frau sagt?« wandte sich Chrisli an Kerlchen, und als dieses bestätigend nickte, lief er auf Kerlchen zu und drückte es an sich.

»Gieb mich nun auch einen Gutenmorgenkuß«, sagte er zärtlich.

Dann lief er fröhlich die Treppen hinunter, und man sah ihn draußen eilig durch den Schnee stapfen.

»Na, Frau Pastorin?« lachte Munke anzüglich. »Wat seggst nu?«

Kerlchens Augen funkelten sie an. »Dir ist auch nichts heilig«, sagte es grollend. »Du hättest nur mal sehen sollen, wie es gestern abend drüben aussah, das Herz konnte einem weh tun. Diese Unordnung, dieses Geschrei, oh und wir sind hier so viele unnütze Frauenzimmer!«

»Na erlaube mal!« fuhr Munke auf.

»Doch, doch,« beharrte Kerlchen. »Es ist mir gestern erst so recht zum Bewußtsein gekommen. Und nun marschier raus, Munke, ich will mich fix anziehen, ich schäme mich ja, so faul zu sein.« Munke verließ nachdenklich das Zimmer, und mit einem Satz sprang Kerlchen aus dem Bett.

Mit unglaublicher Schnelligkeit machte es Toilette und wurde ganz fröhlich im Sinne, wenn es an die Kleinen dachte, die es vermißten und denen es heute wieder etwas sein konnte.

»Nun hab ich auch wieder einen »Li«, lachte es vergnügt in sich hinein.

Als Kerlchen an den Kaffeetisch trat, um hastig den Morgenimbiß einzunehmen, kamen ihm Munke und Bümi schon gestiefelt und gespornt entgegen.

»Du sollst nicht zum zweiten Male sagen, daß wir unnütze Frauenzimmer sind«, rief Munke kampfbereit, »wir werden beide mitgehen und das verwilderte Pastorat in ein stilvolles Schmuckkästchen umwandeln.«

Mit einem Jubelruf stürzte Kerlchen auf die Cousine zu und schüttelte ihre Hand.

»Munke, du bist ein Engel,« rief sie strahlend.

»Ja, ein Engel mit Gardemaß«, lachte Munke und sah an ihrer stattlichen Gestalt hinunter.

»Na und ich?« fragte Bümi. »Ich habe wahrhaftig genug zu Weihnachten zu tun, die Olsch läßt einen ja nie ruhig arbeiten, sondern kretscht alle fünf Minuten mal durchs Zimmer – bin ich nicht auch ein Engel, daß ich deinem Pastor helfe?«

» Meinem Pastor?« fragte Kerlchen entrüstet, »ich denke doch, es ist euer Pastor. Aber wir wollen uns nicht zanken. Engel seid ihr alle zwei, und nun kommt!«

Onkel Waldemar, seine Frau und der Kapitän hatten mit schmunzelndem Lächeln dem Wortgefecht zugehört. »Prachtmädels seid ihr,« rief Liskow, »liebe, echte, goldige Provinzmädels, – aber eine etwas zartere Sprache eurer Mutter gegenüber wäre am Ende angebracht!«

Munke sah ihn beinahe mitleidig an.

»Davon verstehst du nun wirklich nichts, Onkel, – die Olsch darf nicht verwöhnt werden, sonst schlägt sie gleich über den Strang.«

Munke und Bümi küßten ihre Mutter zärtlich, nachdem sie ihr noch einige Verhaltungsmaßregeln für den Vormittag gegeben hatten, dann kam der Vater an die Reihe, der mit einem »Atjüs Jüngschen« entlassen wurde, und dann mußte Onkel Liskow einen förmlichen Kampf mit ihnen bestehen, der zu Gunsten der Walküren verlief. Der Kapitän war schon etwas kurzatmig und sank überwältigt in seinen Lederstuhl, während die übermütigen Mädchen ihm zuriefen: »Wirst du nun jemals wieder an deinen Engelsnichten mäkeln?« Dann waren sie davongesaust, und der Kapitän, der ihnen noch ein Donnerwort durch das Fenster nachrufen wollte, bekam nur noch einen wohlgezielten Schneeball an die Nase.

Im Pfarrhause empfing sie Chrisli bereits an der Haustür. Mit beiden Armen umklammerte er Kerlchen und zog es stürmisch auf die große Vordiele.

» Ihr könnt lieber wieder gehn,« sagte er mißtrauisch zu den beiden hohen Mädchengestalten.

»Mein Sohn, Gastfreundschaft scheint keine Haupttugend von dir zu sein,« lachte Munke, und ihre sonore Stimme hallte doppelt in dem großen Raum von den leeren Wänden wider. Rasch öffnete sich eine Tür, und der Pastor stand auf der Schwelle.

Über die linke Hand war ein Stiefel gezogen, den er vergebens rasch abzustreifen versuchte, während die Rechte schon gleich die Wichsbürste in eine Ecke geworfen hatte.

So trat er den Mädchen entgegen, hilflos und verlegen sah er zu ihrer stattlichen Größe empor und stammelte eine Begrüßung.

»Wir kommen hier als Eindringlinge, Herr Pastor,« rief Munke mit frischer Stimme, »unsere Cousine Felicitas, die Sie ja schon von gestern kennen, muß unsern Fürsprecher machen.«

Kerlchen streckte ihm die Hand hin.

»Dürfen wir Ihnen helfen und tüchtig Ordnung machen?« fragte es treuherzig.

»Zuerst aber wollen wir Sie von Ihrem Stiefel befreien,« rief Bümi fröhlich, »das ist ja keine Beschäftigung für einen gelehrten Herrn,« und sie riß mit energischem Ruck den widerspenstigen Schuh von des Pastors Hand, die denn auch krebsrot daraus hervorkam.

»Und nun bitte, kümmern Sie sich garnicht um uns,« nahm Munke wieder das Wort, »heute ist Sonnabend, und Sie sind gewiß noch garnicht zur Sammlung für Ihre Predigt gekommen, ist Ihr Studierzimmer wenigstens in Ordnung?«

»Ja, das hat Trina vorhin besorgt,« entgegnete der Pastor und zeigte auf das junge, kräftige Mädchen, das mit unglaublich dummem Gesicht dastand und auf die fremden Fräuleins starrte.

»Schön, und nun stellen Sie uns bitte erst mal Ihrer Fräulein Cousine vor,« befahl Munke »und dann, wie gesagt, wollen wir unsere Tätigkeit beginnen.«

Fräulein Adalberte Richter lag im Wohnzimmer auf einem Ruhebett und las ein Erbauungsbuch. Sehr erbaut schien sie aber nicht davon geworden zu sein, denn sie zeigte den Eintretenden ein griesgrämiges, düsteres Gesicht, und eine wahre Flut von Klagen ergoß sich aus ihrem Munde.

Wie schrecklich es sei, daß man auf wildfremde Hilfe angewiesen sei, was die Damen nur denken müßten, wie unordentlich es überall aussähe, Kisten und Koffer noch nicht ausgepackt, ach und die Kinder, die schrecklichen, wilden Kinder!

»Wenn man sich die Füße verbrüht, kann man natürlich nicht auspacken,« sagte Munke ruhig, und nun kam wieder ein Schwall Worte von Fräulein Adalberte über das Unglück, das sie betroffen.

»Ein andermal plaudern wir mehr darüber,« unterbrach sie Bümi rasch, – jetzt wollen wir erst mal nach dem Rechten sehn und alles soweit herrichten, daß Trina tagsüber weiterschaffen kann, bis Sie selbst wieder auf dem Posten sind.«

Sie verließen alle drei das Zimmer, nachdem sie den Pastor gebeten hatten, nur ruhig bei seiner Verwandten zu bleiben, sie wollten sich schon von Trina Rat holen.

Kerlchen ging gleich zu den Kindern, die sie mit Indianergeheul, das aber pure Freude sein sollte, begrüßten, die Cousinen hatten nur einen schaudernden Blick in das Gewühl der Kinderstube geworfen und gern dem Kerlchen das Feld überlassen.

Nun hörte Kerlchen, wie Munke nach »Feuel, Leuwagen und Handeule« rief, was auf gut thüringisch: »Aufwischtuch, Schrubber und Besen« hieß, hörte wie Bümi ergebungsvoll fragte: »Trina, Sie haben wohl nicht das Pulver erfunden,« und Trinas Antwort:

»Ne, da hett mi de Heer Paster nix va'n seggt,« dann verloren sich die Stimmen in den oberen Gemächern.

»Ich bin heilfroh, daß du wieder bei uns bist,« jubelte Chrisli und schmiegte sich eng an Kerlchen, »ich hatte solche Angst, du kämst nicht wieder, weil es Tante Adalberte nicht sehr recht ist, aber Papa sagte mir, ich sollte dich man holen.«

»Das ist recht,« rief Kerlchen fröhlich, »und nun will ich euch alle erst mal ordentlich waschen und kämmen und eure Betten machen und den Tisch säubern, – puh, wer hat denn hier gefrühstückt?«

»Erst der Papa,« berichtete Chrisli, »da war aber der Tisch noch rein, dann ich, da goß ich schon meine Milch um, dann kam Dudu, der brockte sein Brot in die umgegossene Milch, dann kam Didi, der schüttete Papas Cigarrenasche drüber, da ist nun der Teig so geworden, da kann niemand was für.«

»O doch, da könnt ihr alle drei was dafür,« sagte Kerlchen ernst, »muß denn euer armer Papa immer mit euch Ferkelchen frühstücken.«

»Nee, sonst tut er es in seinem Studierzimmer, das ist da,« Chrislis Finger zeigte nach der verschlossenen Nebenstube, »aber heute kam Papa raus und verdrehte so seine Augen und sagte zu sich: »Brrr, da ist's fürchterlich!«

Kerlchen öffnete die Tür und sah in ein sehr behagliches Zimmer, das heißt, sie sah mit einem Blick, daß dieses Stübchen mit etwas Sorgfalt recht behaglich gemacht werden könne, und sofort stieg eine neue Idee in seinem Kopfe auf.

»Wollt ihr so lange recht hübsch ruhig sein, bis ich Papas Zimmer ganz fix in Ordnung gebracht habe?«

»Darf ich zusehen?« fragte Chrisli.

»Das darfst du, und Didi und Dudu bekommen jeder einen Zwieback, damit sie hübsch ruhig sind, Rösi schläft ja Gott sei Dank noch.«

»Ich glaube, ich bin auch ruhiger, wenn ich einen Zwieback krieg,« meinte Chrisli diplomatisch, aber Kerlchen überzeugte sich mit einem Blick in die Tüte, daß nur noch zwei Zwiebäcke vorhanden waren.

»Zusehen ist die größte Belohnung, die es geben kann,« sagte es deshalb pädagogisch, »komm, du kannst mir immer sagen, wo alle Sachen hin sollen, ich brauche einen Berater.«

Kerlchen verstaute Chrisli auf dem Sofa und begann seine Arbeit.

Der eiserne Ofen drohte auszugehen, Kerlchen nahm den Blasebalg zur Hand und entfachte neue Glut, auf welche sie ein paar Holzstücke und hierauf Torf legte, dann räumte sie geschäftig Papierfetzen und Strohbündel fort, die noch in Mengen den Boden bedeckten, wickelte Bindfaden auf und schleppte einen behaglichen Ledersessel vor den riesenhaften tannenen Schreibtisch des Pfarrers. Erst ein leises Weinen ihres Zuschauers störte sie in ihrem Eifer.

»Du fragst mir garnich, wohin alles kommen soll,« wimmerte Chrisli, »ich habe dir noch gar nich beratet.«

»Ist auch wahr,« lachte Kerlchen, »ich bin 'ne ganz böse Tante Fee, – aber nun los mit der Beratung, – wo soll ich das Papier hinthun?«

»Aus'm Fenster schmeißen,« war die schnelle Antwort, und Kerlchen stopfte den ganzen Stroh-, Heu- und Papierberg in den Ofen, daß er lustig aufbrannte und fragte: »Ist's so nicht besser?« worauf Chrisli jubelnd rief:

»Hab'ch auch gemeint, hab'ch auch gemeint, hab mich nur versprochen.«

Und so wurde fortgefahren mit der Beratung, Chrisli verbannte seines Vaters Sachen auf höchst ungeeignete Stellen, Kerlchen brachte sie an den richtigen Ort, worauf dann sofort das befriedigte: »Hab'ch auch gemeint, hab mich nur versprochen« folgte.

Als Kerlchen sein Werk besah, siehe, da wars sehr gut, und das Studierzimmerchen wirklich ein urgemütlicher Aufenthalt. Schließlich entdeckte es noch Pfeife und Tabaksbeutel, »das eigentliche Feld, auf dem seine Talente lagen,« wie Onkel Liskow sich ausdrückte, und nachdem es den Pfeifenkopf tadellos gereinigt, den Tabak berochen, in der Hand zerkrümelt und auf fünfundachtzig Pfennige das Pfund eingeschätzt hatte, stopfte Kerlchen »liebevoll« die Pfeife, nicht so sehr des Pfarrers als der Beschäftigung wegen, die Kerlchen so lieb war und tausend Kindheitserinnerungen weckte.

»So, nun kannst du auch was Richtiges helfen,« sagte es dann zu Chrisli, gab ihm weißes Papier und zeigte ihm, wie man Fidibusse faltet und fächerartig ins Glas stellt, – daß Chrisli vor Freude über seine »Arbeit« und die »Fliribumße« ganz in Entzücken geriet.

Nun gings wieder hinüber in die Kinderstube, aus der langsam anwachsendes Geheul ahnen ließ, daß Didi und Dudu ihren Zwieback vertilgt hatten und nach neuer Beute ausschauten.

»O du Süßes, du Süßes!« sagte Kerlchen leise und sah sinnend dem reizenden Schauspiel zu, bis Didi mit energischem Ruck sich in seinem Bette hochsetzte, die Tränen aus seinem verheulten, über und über mit Zwieback und Zucker beschmutzten Gesicht wischte und behauptete:

»Bin auch reizend!«

 

Drinnen im Wohnzimmer wurde inzwischen der Pfarrer einem qualvollen Kreuzverhör unterworfen.

Fräulein Adalberte hatte große Übung darin, die Menschen auszufragen, und bei dem weichen Charakter des Pfarrers war es ihr immer ein Leichtes gewesen, alle seine Gedanken und Wünsche aus ihm herauszuholen. Heute gelang ihr das nicht, der Pastor war wortkarg und zugeknöpft, so daß sie nun erst recht eine Verschwörung in seinem Busen witterte, die sie um jeden Preis entdecken mußte.

Als ihre kleinen Geplänkel nichts nützten, rückte sie mit schwerem Geschütz vor:

»Gott, wenn deine selige Martha wüßte, wie heute fremde Hände in ihrem Haushalte das Unterste zu oberst kehren – –«

Wirklich, der Pastor »regte sich.«

»Es sind doch nicht fremde, sondern heute für uns liebe helfende Hände, denen wir nicht genug danken können,« sagte er warm. Fräulein Adalberte stieß einen lauten Klageton aus, von dem man nicht wußte, ob er ihren schmerzenden Füßen oder dem weichen Tonfall des Vetters galt.

» Liebe Hände,« wiederholte sie, »ja wohl, liebe Hände, ach Gott, sag doch gleich » liebe« Mädchen. Oh, ich sehe ja alles schon so deutlich vor mir. Warte wenigstens noch mit deiner Verlobung, bis meine Füße geheilt sind, dann will ich mich ja gern wegschleppen.«

»Übertreibe doch nicht so,« bat der Pfarrer und ging erregt auf und ab, »du weißt, daß ich nicht so leicht meiner Martha eine Nachfolgerin gebe.«

»Nicht so leicht? Also erwägst du es doch im Herzen? Oh, Oh! Paul, welche ist es? Sag's nur gleich, damit ich mein Bündel wieder schnüre. Gewiß ist's die Riesendame mit der Trompetenstimme, oder die lange Latte mit dem neumodschen Dütt auf'n Kopf? Oder sollte es die naseweise Kröte sein, die gestern die halbe Nacht so unpassend hier geschlafen hat und an der unser Christian jetzt wie eine Klette hängt? Sie hätschelt mit Rösi herum und verzieht die Buben, – natürlich den Sack schlägt sie und – –«

»Schweig,« rief der Pfarrer hastig. Er atmete dann ein paarmal tief auf und fuhr etwas ruhiger fort:

»Du kennst ja das Kerlchen garnicht, es ist – – –«

Ein schriller Aufschrei seiner Cousine ließ ihn jäh verstummen.

»Das Kerlchen,« sagt er, »das Kerlchen!« zeterte sie, »also so vertraut seid ihr schon?«

Die Frage ging in die leere Luft, der Pastor hatte das Zimmer verlassen, nicht sehr sanft klappte die Tür hinter ihm zu.

Draußen fuhr er sich ein paarmal sehr erregt durch seinen Haarschopf, dann klinkte er die Tür des Studierzimmers auf und blieb überrascht auf der Schwelle stehn. Waren denn Heinzelmännchen dagewesen? Er hatte die Stimmen der »Walküren« doch immer draußen vernommen, wie sie in der Küche räumten und beim Mittagessen Hand anlegten, in seinem Zimmer aber war niemand gewesen, so hatte es ihm gedünkt.

Aber da hörte er nebenan das liebe, fröhliche Stimmchen, das seinen Chrisli ganz bezaubert hatte, und durch die leicht angelehnte Tür erblickte er Kerlchen, das Klein-Rösi auf dem Schoß hatte, während Chrisli, Dudu und Didi möglichst eng an es gedrückt neben ihm standen.

»Wull mal'n lütten Swin slachten,
Wüßt nich, wo ik em steken sull,
Hier steken, dor steken piiiiek!«

Oh über das jauchzende Lachen, das nun losbrach. »Noch mal, Tante Terlßen, nochmal!«

Nicht satt sehen und hören konnte sich der Lauscher.

Endlich riß er sich los und ging an seinen Schreibtisch. Kopfschüttelnd sah er auf seine geliebte Pfeife, die so regelrecht gestopft war, wie er es selbst nicht besser konnte, ach, und das Glas mit den Fidibussen, – so hatte es ihm immer seine Martha geordnet – – die Augen des Pfarrers feuchteten sich, und ein tiefes Heimweh stieg in ihm auf, Sehnsucht nach einem behaglichen Hause, nach einer ordnenden, sorgenden Frauenhand.

 

*


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