Felicitas Rose
Heideschulmeister Uwe Karsten
Felicitas Rose

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Vorwort

Das braune Heidekraut hat einhundertfünfzigtausend Blüten getrieben. Ist nun ein köstlicher, rosenroter Strauß geworden.

Er steht vor mir auf dem Schreibtisch, und all die lieben Worte, die mir die Stillen im Lande über mein schlichtes Buch schreiben und sagen, liegen wie ein leuchtender Teppich daneben. Habt Dank!

Ich fasse eure ausgestreckten Hände und wandre mit euch zum Jubiläumstag noch einmal durch die Heide.

Auf weichem, weißem, warmem Sand, oder mitten hinein in die rotsamtene Schönheit lagern wir uns. Da spüren es die Bresthaften, daß sie gesunden, die Wunden, daß sie heil werden, die Traurigen lernen das heilige Lachen, die Verbitterten fühlen die tröstende Liebe der allgütigen Mutter Natur.

Alle die Augen, vom Weinen wund,
Trinken rasch sich hell und gesund,
Bis sie wieder die Wunder sehn,
Die in der Heide gebreitet stehn,
Tausend Wunder, – vom Herrgottstisch
Ausgeschüttet verschwenderisch.

Gegen all diese Wunder ist ja meine Sprache arm und matt, ich kann nur mit Menschen-, nicht mit Engelszungen reden. Aber die Liebe, die ja die »Größeste unter ihnen« ist, die Liebe zu meiner Heide trage ich zutiefst in mir, und deshalb ist euch wohl mein Schildern und Erzählen ins Herz gedrungen. Diese Gewißheit ist ein Geschenk für mich von unverlierbarem Wert.

Wollt ihr nun weiter mit mir wandern?

Aus Heidekraut, Heidesand, goldgelbem Ginster und grünen Birken führt der Weg zum Heidehaus.

Schaut es euch heute geruhlich an.

Sein Kleid ist neu und schier prunkhaft. Giebel, Wände, Fensterladen und Gartenzaun ganz frisch gestrichen.

Aber das Innere, das Herz des Hauses ist schlicht geblieben. Ich bitte euch, wollet weiter auf seinen stillen Schlag lauschen, und bleibet allzeit dem Uwe Karsten treue Weggenossen.

Berlin, 1920.

Die Verfasserin.

Immenhof, den 14. Oktober 19.. Heidehaus.

... und so bin ich fernab vom Weltgetriebe meine Straße gezogen und habe die Brücken hinter mir abgebrochen.

»Die Heide ist braun,
Einst blühte sie rot.
Die Birke ist kahl,
Grün war einst ihr Kleid,
Weh über den Herbst und die gramvolle Zeit.«

Der erste Tag in meiner neuen Welt. – Wunderlich ist mir zu Sinn. Dort verglüht das Abendrot über der braunen Heide, es duftet nach Birkenlaub und Erde.

Sechs Uhr abends. – Tiefe, wohlige Stille um mich. Und da die neue, selbstgewählte Heimat mich noch nicht ganz fest an ihrer Brust hält, vermögen es meine Gedanken, nach der alten Heimat zu schweifen. Doch ohne rascheren Herzschlag – losgelöst –, über dem Ganzen stehend, folgt mein »Ich« ihrem Fluge.

Ich denke ruhig: »Jetzt zündet in Hamburg, im alten Kaufmannshause Diewen und Heinsius, der Diener Kaspar die Lampen an. – Tante Renate, im knisternden schwarzen Taftkleid, wird, wie jeden Abend, aus ihrem eigenen Zimmer ins gemeinsame Wohnzimmer treten und die Karten zum Ekarté in der Hand halten. Und Onkel Eberhardt wird drei Minuten nach sechs Uhr aus der gegenüberliegenden Tür treten und gemessen fragen: ›Ei, ei, so pünktlich, liebe Renate?‹

So sagt er regelmäßig – seit siebenundzwanzig Jahren. So festgefügt ist das alles, so patriarchalisch, so – langweilig. Das heißt, das sagte ich – damals, als ich noch jung und daheim war. Mich dünkt es wie nebelgraue Vergangenheit, und 's ist doch erst ein Tag. Aber ein Tag in dieser wunderstillen Einsamkeit hat mir mehr gegeben, als Jahre in dem unsteten Treiben der Großstadt. Nun steht der Kreis, den ich verlassen, plötzlich ganz lebendig vor meinem geistigen Auge, daß ich ihn zeichnen muß, als waren es Bilder zu diesen Blättern.

Zu allererst meinen Lu-Bruder. Ludwig Diewen, der junge Chef des Handelshauses! Groß und schön, gescheit und gut, sechs Jahre älter und viel mehr im Geleise gehend als ich. Wir sind zwei Unzertrennliche, sind es noch, trotzdem die weite Heide sich zwischen uns legte.

Dann sehe ich Frau Sabine, die zweite Gattin meines verstorbenen Vaters, und ihre Söhne Friedrich und Otto, meine Stiefbrüder. Diese sind Schuljungen. Und alle, die sich augenblicklich in Frau Sabinens Zimmer versammelt haben, um zu arbeiten, zu lesen, zu plaudern oder Ekarté zu spielen, sie denken das insgeheim, was der würdige Onkel Eberhard jetzt ausspricht, mit tiefem Seufzer vor sich hinmurmelt, nämlich: ›Unsere arme Ursula ist verrückt geworden.‹

Aber die verrückte Ursula lacht in der Ferne befreit auf und denkt: ›Nur niemals zurück in jenen normalen Geisteszustand unseres Hamburger Patrizierhauses!‹ – –

Doch fliegt, ihr Gedanken, fliegt nur hin und wieder in die alte Enge und plaudert denen von mir, sagt ihnen, daß die Ursula das Lachen wieder gelernt hat, das lang vergessene, – gelernt von der braunen, lieben, herbstlichen Heide. Ein herbstliches Lachen freilich, aber um so stillender und heilender.

Ich war hinausgelaufen aus dem Hause mit seinem niederen, strohgedeckten Dach, war hingeflogen mit ausgestreckten Armen über die weite Heide. Hin zum weichen, weißen Sandweg, der, birkenumstanden, weit hineinführt in die dunkeln Fichten- und Kiefernwälder.

Und hier, unter einer goldglänzenden Birke, hatte ich mich niedergeworfen längelang in Heide und Sand und hatte laut geweint vor Heimweh – vor Heimweh nach der Heide, in der ich lag.

Ja, und weil ich doch einmal verrückt war, nach Ausspruch der zärtlichen Verwandten, lachte ich gleich darauf und entdeckte, daß unser Herrgott den ganzen Heideweg hatte für mich Spalier bilden lassen durch lauter patriotische Birkenpilzlein. Rotköpfig, weißstielig, schwarz gesprenkelt. Nahm sie mir alle mit, die kleinen Kerlchen, zum Abendbrot. Das bereitete mir die liebe Mutter Alslev, die Verwalterin meines Heidehauses. Sie wohnt im Altenteil, dicht angebaut an mein Heim, und ist meine Ehrendame. Eine liebenswerte Greisin und alte Vertraute meiner heimgegangenen Eltern. Unter ihrem und meiner Dienerin Minna Schutz will ich in der Einsamkeit ein neues Leben beginnen.

Heidehaus, den 17. Oktober.

Nun bin ich ganz fertig eingerichtet. Hab' Dank, Bruder Lu! Der von Dir so sorgfältig verpackte Möbelwagen schwankte besorgniserregend auf dem sandigen Pfade daher, aber endlich hielt er doch wohlbehalten hier an. Das Auspacken ging rasch und sicher, Deine geschulten Leute taten ihre Schuldigkeit.

Als sie ihr »Adjüs ok« gesagt hatten und das Heidehaus verließen, atmete ich hoch auf.

Es war das Letzte aus der »alten« Welt.

Adjüs ok! Adjüs.

Lu, jetzt bin ich allein.

Und doch nicht allein, ich habe eine stille, kleine Welt, habe den weiten Himmel, die weite Heide, habe den lieben Gott viel näher als in der Großstadt, und Dich, Bruder Lu, den ich liebhabe, viel fester in mir, und – ich habe mich selbst wiedergefunden. – Wie hell die hohe, schöne Lampe neben mir brennt! Lu hat das Prachtstück ausgesucht, und in dem Kämmerlein neben der großen Diele steht eine ganze Batterie Spiritusflaschen und Glühstrümpfe, Lu hat an alles gedacht.

Dafür hat auch sein liebes Gesicht den Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch.

»Wohl 'n Schatz?« fragte mich Mutter Alslev bedeutsam.

»Nein, nein! Es ist mein geliebter, einziger Bruder.«

Darauf nahm sie das Bild in die Hand, und ihre guten, alten Augen tauchten liebevoll in seine Züge.

»Wat 'n smucken Keerl«, meinte sie bewundernd.

Vor dem Bechsteinflügel stand sie nicht bewundernd, sondern kopfschüttelnd.

Wollte mir aber nicht sagen, weshalb. Erst als ich ihr eine perlende Etüde von Rubinstein vorspielte, kopfschüttelte sie nicht mehr, sondern nickte.

»Schon recht,« meinte sie, als ich geendet, »de witten Dinger sün wat rostig worn up de lange Reis', äwer nu sün se bannig glatt, – nu spelen Se mir ok wat Schöns. ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹, oder: ›Sleswig-Hols-tein s-tammverwandt‹.«

Gute Mutter Alslev! Meine rauschende Etüde war ihr nur als vorbereitendes Geräusch erschienen, um die Tasten »gangbor to maken«.

Ich kann im stillen Heidehaus noch viel lernen.

Heute habe ich gelernt, einen wichtigen Schritt in ein neues Leben mit einem Choral einzuweihen.

Den 18. Oktober.

Lange stand ich heute vor dem großen Ölbilde meines verstorbenen Vaters. Guter, herrlicher Vater! Du segnest mich und meinen Schritt, ich weiß es. Dein liebes Auge blickt mich heller an, seit ich wieder Ursula Diewen bin – und mich dünkt, dein ernster Mund lächelt sogar, seit du mich geborgen weißt unter diesem strohgedeckten Heidehaus.

Hier hast du die Flitterwochen mit meinem Mütterchen verlebt vor dreiunddreißig Jahren. Manchmal, – wenn die Mittagssonne auf der Heide ruht, und goldige Strahlen durch die Fensterscheiben auf den Fußboden fallen oder auf der getünchten Wand ein zitterndes Spiel treiben, dann ist's mir, als sähe ich lauter Geisterchen, liebe, kleine Gespenster, verlorene, vergessene, zurückgebliebene Heimchen am Herde eures einstigen wonnigen Glücks.

Wieviel sie mir zu erzählen wissen!

Ach, Herzensvater, was sehe und höre ich überhaupt alles in dieser wunderbaren Heide!

Riesen und Zwerge, Nebelfrauen und Alben, die gespenstische Birkenfrau und den Kiefernkönig. Sie alle holen mich ab und geleiten mich durch die weite, weite Heide bis zu dem Hünengrab, darinnen der Recke ruht. Und hier an dieser Riesenruhestatt erzählen sie mir wunderbare Sachen, Märchen, die ich einst von dir hörte, Märchen, wie sie sonst gute, seelisch reiche Mütter und Großmütter erzählen, und welche die Ursache sind, daß es so viele tiefe, leuchtende, lachende Kinderaugen in der Welt gibt – auch bei alten Menschen. Diese Augen alle tranken einst Märchenlicht, und das ist unauslöschlich.

Dank dir, mein geliebter Vater, daß du auch in meinem Aug' und Herzen dies ewige Lämpchen angezündet, so vermag ich nun alle die sagenumwobenen Gestalten zu erkennen und bin gut Freund mit ihnen geworden. Ja selbst die ganz winzig kleinen Heidegeisterchen sehe und spüre ich, die im Sommer in der rotleuchtenden Blütenglocke wohnen, und die jetzt im Herbst als fahle Gespensterchen auf den braunen, spinnwebüberzogenen Büschen hocken. O was die alles wispern und flüstern und seufzen und raunen, – heiß weinen kann man beim Zuhören und sich wieder halb totlachen, – zum Närrischwerden ist's.

Wollt' ich's weitersagen, – sie hielten mich alle für verrückt, nicht nur der gute, würdige Onkel Eberhardt.

Nein, nein, ich behalte es still für mich.

Könnte ich aber mein Erlebtes und Geschautes in Noten niederlegen, so würden die größten Musiker erstaunen und sprachlos stehn vor der gewaltigen Symphonie.

So wunderbar erhaben tönt's in der Heide.

O daß ich hier sein darf! Daß ich die Erbin bin dieses Hauses, dieses Herdes, dieser wonnevollen Einsamkeit!

Nie will ich aufhören, dir dafür zu danken, Herzensvater. Heute kamen die ersten Briefe aus der Heimat.

Nein, – nicht aus der Heimat, sondern in meine Heimat. Denn ich fühl's, die Stadt und mein Vaterhaus wollen mir fremd werden.

Ich sah erstaunt auf die Adressen und auf das verschieden geartete Papier. Alles so recht kennzeichnend für jeden einzelnen Absender.

Ludwig schrieb auf den einfachen, matt liniierten Bogen, welche er immer der armen Witwe im Artushof abkauft, – wie eigen berührte mich seine flotte, großzügige Handschrift, die da fest und schön »Fräulein Ursula Diewen« zeigte. Von Otto und Friedrich lagen Karten da mit der gleichen Aufschrift, inhaltlich nichtssagend und oberflächlich – wie die Briefschreiber selber.

Von der »Zweiten« – (ich kann nun einmal nicht Mutter sagen, auch nicht hier auf diesen verschwiegenen Blättern) war ein Brief da auf dickstem Büttenpapier, das Bürgerwappen unseres Hauses groß darauf gepreßt und – – – ich weiß genau, daß sie den Brief heimlich in den Kasten gesteckt hat, um mir ein tiefes Weh noch einmal anzutun.

Denn Ludwig würde es nimmermehr gelitten haben, daß sie an »Frau Ursula Heinsius-Diewen« adressierte. Da sie den Absender auf der Rückseite vermerkt hatte, so verweigerte ich die Annahme, und Heins, der alte Heidebriefträger, ging kopfschüttelnd mit dem Schreiben zur nächsten Postagentur zurück.

Frau Sabine soll mir so schreiben, wie es mir zukommt, sonst werde ich nie eine Zeile von ihr lesen.

Wie wild und hart du wieder schlägst, mein Herz!

Ich öffne das Fenster.

Wie die Birken rauschen! Wie die Föhren sich knisternd biegen im Herbstwind.

Der Mond lugt durch zerrissene Wolken.

Es ist unruhig in der Natur, ich höre das Herz der Heide schlagen.

Herrgott, gib mir Frieden!

Meine Hände falten sich.

Den 19. Oktober.

Gestern abend habe ich noch lange auf meinem Flügel – gerast, glaube ich. Mutter Alslev steckte bei einer besonders wilden Fantasie den weißen Kopf zur Tür herein und rief: »Is he all wedder verrost't?«

Der Herbstwind draußen war zum Sturm geworden, und mit ihm um die Wette ging mein Spiel.

Beethoven und Bach kamen in mein stilles Heidehaus und legten mir ihre Melodien hin und verschwanden wieder in der Sturmnacht.

Als ich den Flügel schloß, hörte ich sacht die Haustür des Altenteils gehen, das an mein Heidehaus angebaut ist; eine Hand schien das kleine Glockenspiel festzuhalten, es schrillte nur leise und heiser.

Ich trat rasch ans Fenster. Meine Diele war dunkel, man konnte mich nicht von draußen sehen.

Eine Gestalt ging über die mondbeschienene Heide, gespenstisch groß, als sei sie dem Hünengrab entstiegen, das sich in unmittelbarer Nähe meines Hauses erhebt.

Ein Mann.

Nach wenigen Schritten blieb er stehen, reckte sich noch höher auf und hob die Arme gegen den Himmel, daß seine gewaltige Brust sich wölbte. Dann ließ er die Arme sinken und winkte mit der Hand.

Wohin und wem?

Heidehaus und Altenteil, darin Mutter Alslev und der alte Knecht Hinrich hausen, liegen einsam, – ich hörte Mutter Alslev im Stall hantieren.

Und oben im zweiten Schlafstübchen schlief meine alte Kammerjungfer Minna den Schlaf der Gerechten.

Wem galt das Winken des fremden, seltsamen Gastes?

Das ist ein Segen der weiten Heide, daß sie so still, so gesammelt, so nachdenklich macht. Und daß sie soviel feine Fäden spinnt und alles und jedes damit verknüpft. Sie kennt keine Gleichgültigkeit, sie kennt nur Stärke und Kraft, und wenn sie träumt, dann träumt sie Liebe. Ich öffnete alle Fenster meines Zimmers weit und ging dann wieder zum Flügel. Beethoven ließ ich singen und sagen und ließ ihn Geleit sein dem fremden Manne über die weite Heide bis ins stille Dorf hinab.

Den 20. Oktober.

Heute früh lief ich zu Mutter Alslev.

Sie ist immer schon vor Tau und Tag auf.

Von vier Uhr ab höre ich sie herumwirtschaften.

Das werde ich auch wieder können, wenn mein Herz erst gesund ist und mein Körper so stählern wie einst.

Einen Maler hätte das Bild entzückt, das sich mir bot. Mutter Alslev in ihrer schlichten Sonntagstracht, die alte, silberbeschlagene Bibel mit den Riesenbuchstaben auf dem Schoße, die Hände gefaltet und das liebe, feinrunzlige Gesicht mit der klugen Stirn tief geneigt über das Gotteswort.

Durch das kleine Fenster, das von Kapuzinerkresse rot und grün umrankt war, schien die Herbstsonne, die Heidesonne, die Sonntagsonne. Goldenen Flimmer wob sie um die Greisin im dunkeln Tuchkleid.

»Guten Sonntagsmorgen, Mutter Alslev!«

»Auch soviel, Fräulein Ursula.«

Mutter Alslev spricht ein gutes Hochdeutsch, mit dem herzerquickenden Dialekt des Schleswig-Holsteiners anmutig verbrämt.

Sie hat in ihrer Jugend viel in feinen Häusern gedient, es war zu damaliger Zeit noch Sitte, daß die Kantoren und Organisten ihre Töchter dienen ließen. Das Bild ihres Vaters, ein echtes Pestalozzigesicht, hing über dem braunen Ripssofa und daneben sein Nachfolger, der Kantor und Organist Alslev, der verstorbene Gatte der Greisin. Zwischen beiden befand sich ein Kinderbild, ein Bub im Kinderkittel mit Pferdchen und Peitsche.

»Wer ist das Kind, Mutter Alslev?«

»Mien Jung!«

»Ist er klein gestorben?«

»Warum schall he dod sin?«

Ich schaute ringsum und entdeckte nirgends das Bild eines jungen Mannes.

Sie verstand meinen Blick und deutete auf das Kinderbild.

»So war he, mien Jung. Nur grad so in dem Kittel. Da hett he mi tohört.«

»Und jetzt, Mutter Alslev?«

»Jetz nich mihr. Jetz hört he to de annern.«

Ich schwieg ein Weilchen, es klang so unverständlich. Dann fiel mir der Abendgast ein und lebhaft fragte ich:

»Haben Sie gestern abend Besuch gehabt?«

»Besuch? Ne!«

»Ich sah jemand aus der Haustür gehen und über die Heide schreiten.«

»Das war kein Besuch, das war – mien Jung.«

»Wo wohnt Ihr Junge?«

»In Immenhof.«

»Und was ist er dort?« Mutter Alslev war sparsam mit ihrer Auskunft.

»Schulmeister.«

Wieder eine kleine Pause.

Danach hob die alte Frau langsam ihr Gesicht, klappte die Bibel zu, legte sie in den kleinen Eckschrank und stellte sich mit gefalteten Händen neben mich hin.

»Er hat die Musik so viel gern«, hob sie mit ihrer melodischen Stimme an, »und ist ja nun auch Organist, wie alle Alslevs und Karstens seit Menschengedenken. Aber so ein Instrument wie Ihres da drüben, Fräulein, hat er ja wohl noch nie gehört. Von da ab, wie Sie gestern anfingen, bis dahin, wo Sie aufhörten, hat er nur gesessen und vor sich hingestaunt, und getrunken hat er die Musik, geradeweg getrunken,«

»So, das freut mich!«

O über die nichtssagende Redensart! Ein häßliches Überbleibsel aus der Großstadt. So leid tat es mir, als ich sie ausgesprochen, und obschon Mutter Alslev dieses Gefühl in mir wohl nicht ahnte und kaum verstand, so nahm ich doch plötzlich ihre beiden Hände und drückte sie stark:

»Mutter Alslev, ich bin froh, ganz stark innerlich froh, daß ich einem Menschen etwas Gutes geben konnte.«

»Se sünd en godes Kind, Frölen, – mien Jung – – –«

Sie brach ab.

»Wird er mal wiederkommen, Mutter Alslev?«

»Wet ik ni. He is was minschenschu. Und dann sin Arbeit und sin Kind, un de Trunkenbold un de Drak – – ne, he kümmt woll ni.«

Sie ging an mir vorbei ihrer Arbeit nach, und ich schritt nachdenklich in mein Haus zurück.«

»Sin Kind un de Trunkenbold un de Drak« – – – welch tiefen Schatten warf dies Bild plötzlich auf meine sonnige Heide.

Meine Hand griff in die Bände meiner reichhaltigen Bücherei, – da hielt ich ihn schon, meinen Liebling: »Meine Heimat«, Heidelieder von Uwe Karsten. An meinem Konfirmationstag hatte mein Vater mir das Buch geschenkt, und zehn Jahre lang war es mein Wandergesell, mein Kamerad, mein Freund und Bruder gewesen:

»Du meine rote Heide – – – –!
Grenzenlos
Ist deine Schönheit,
Die leuchtende.
Grenzenlos deine Stille,
Die träumende.
Grenzenlos deine Macht,
Die siegende.
Grenzenlos, wie meine Liebe,
Die sehnende,
Zu dir, du meine rote Heide!«

Ich sang die Worte laut als Sonntagsmorgenchoral auf meiner großen, hallenden Diele und schrak zusammen, als ein großes Torfstück zu Boden polterte mitten in meine eigene urwüchsige Vertonung des Liedes hinein.

Mutter Alslev kniete vor dem großen Kachelofen und polsterte ihn inwendig sorgsam mit den braunen Kissen, die dann ein so warmes, heimliches, trautes Glühen ausströmten. Sie nahm jetzt verlegen das gefallene Torfstück und legte es zu den andern.

»Mutter Alslev, warum weinen Sie?«

»Mien Jung sin Book, mien Jung sin Leed« –

Und sie weinte bitterlich.

An diesem Sonntag vormittag erfuhr ich, daß mein Kamerad, mein Wandergesell, mein Freund und Bruder seit zehn Jahren Uwe Karsten Alslev war.


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