Felicitas Rose
Heideschulmeister Uwe Karsten
Felicitas Rose

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Heidehaus, den 24. Dezember.

Weihnachtsheiligabend!

Und ich noch hier.

Man sagt, es gehe nur in Romanen toll und wunderlich her.

Oh, das wirkliche Leben ist viel toller, viel wunderlicher!

Und so viel Schmerzen und Angst und Sorgen kann sich die reichste Einbildungskraft nicht ausdenken, wie sie ein Mensch lebt.

Draußen läuten die Weihnachtsglocken.

Sie bitten so rührend.

»Komm, komm!« bitten sie. »Komm und nimm das Christkindchen an dein Herz, dann wird es gesund und froh. Christ ist geboren, – komm!«

So tröstend klingen die Glocken der Heidekirche.

Aber ich kann nicht fort zur Kirche, mein Gottesdienst liegt hier im Heidehaus.

Mir zu Füßen spielt ein dreijähriger Knabe, – drüben in meinem Schlafzimmer liegt ein schwerkrankes Weib, Martha Detleffsen, – und meine Hände binden einen Kranz für – Krüppelchen.

Krüppelchen ist tot.

Glaubt ihr noch, daß der Roman bunter sei als das Leben?

An dem Morgen, der auf meinen Abschied von Uwe Karsten Alslev folgte, – kauerte Martha Detleffsen vor meiner Tür im Schnee. Sie selbst beinahe erstarrt, denn sie war die Nacht hindurch gewandert, aber das Kind, das sie in ein großes Tuch gewickelt, an ihrer Brust gebettet hielt, war warm.

Mutterliebe ist warm, – auch der eisigste Schnee tut ihr nichts.

»Martha Detleffsen, was suchst du hier? Was willst du?« fragte ich.

»Nur dich, Ursula. Sterben will ich bei dir.«

Ich führte sie ins Haus, – legte sie in mein Bett, und seitdem ist sie ohne Bewußtsein.

In derselben Nacht starb das Krüppelchen.

Ich sah Uwe Karsten Alslev wieder, – vom Heidehaus aus wurde sein Kind zur letzten Ruhe geleitet; denn der Friedhof liegt nicht an der Kirche, er liegt in der Heide.

Ach du rote Heide! Auch ich möchte in dir schlafen!

Ein gutes Ruhen muß da sein ...

Ich habe nicht mit dem tiefgebeugten Vater gesprochen.

Wir hatten ja schon Abschied genommen ...

Der kleine Heinrich Detleffsen ist ein schönes Kind.

Aber er scheint die Schönheit nicht zu lieben, denn das hübsche Pferdchen, das ich ihm heute zum Christfest schenkte, liegt schon zerbrochen auf der Erde. Häßlich zerbrochen.

Alle vier Beine sind nacheinander abgeschlagen, – die Augen mit meiner Schere ausgestoßen – – –

Und ein Zug liegt auf dem regelmäßigen Gesichtchen des Knaben ...

Ich kann das Kind nicht liebhaben.

Und bin doch so kinderlieb!

Ich habe vor Krüppelchens Bett gekniet, und immer wieder gefleht: »Geh nicht von mir, Sorinchen.«

Vor seinem kleinen Grab im tiefen Schnee hab' ich gestanden und schmerzlich gefragt: »Warum gingst du von mir?«

Aber dies Kind, – nein!

Es sieht mich an mit Augen der Vergangenheit – häßlich sind sie, diese Augen. –

Stirb nicht, Martha Detlefssen!

Laß mir nicht dies Kind zurück!

Ich will dich reich machen, aber geh fort mit deinem Kinde.

Eine Stunde später.

Eben habe ich den Knaben mit Jungfer Minna zur Ruhe gebracht. Die Kranke schläft.

Das Fieber ist noch hoch, aber ich kann den alten Arzt nicht noch einmal durch Schnee und Eis holen lassen.

Zwei Stunden war er heute schon im Heidehaus, und es ist Weihnachtsabend.

Ich habe die Umschläge erneuert, nun will ich mir ein Buch holen und die Nachtwache antreten.

Allgemach spinnt mich der Weihnachtszauber ein.

Das Glöckchen der Haustür schrillt leise, als würde es angehalten, – es raschelt draußen, wieder schrillt das Glöckchen, dann alles still. – Kommt das Christkind noch so spät?

Ich gehe hinaus, und meine Lampe leuchtet mir. Sachte Schritte gehen draußen, sie verhallen in der Heide. –

Vor meiner Tür liegt ein Päckchen, mit weißem Band umschlungen, mit Tannenzweigen dicht besteckt.

Christkindlein!

Ich hebe es auf, – öffne das Band, – zwei Bücher halte ich in der Hand. Uwe Karstens neuestes Werk: – »Die Heide«.

So hat er es doch schreiben können! In all der grenzenlosen Trübsal. –

And niemand hat etwas davon geahnt, – niemand.

Mit fieberhaftem Fleiß muß er in den letzten Wochen gearbeitet haben, um es rechtzeitig herauszubringen.

Ich verstehe nicht alles davon, – es ist ein gelehrtes Werk, aber ich fühle die Macht der schönen Sprache, der ernsten Arbeit. Eine Widmung steht darin:

»In welche Worte kleide
Ich ein Gedenken ein?
Die einsame, stille Heide
Soll Gott befohlen sein!«

Nun nehme ich den zweiten Band.

Er ist keine Fortsetzung, wie ich meinte, er ist die neue Auflage der Heidelieder.

Meine Lieblinge! Grüß' Gott zum Weihnachtsfest!

Nun ist Ursula nicht mehr allein.

Auch in diesem Buche eine Widmung – nur ein Wort: »Dank!«

Ich lese und lebe und vergesse die Welt um mich her.

Draußen hat sich der Heidesturm erhoben, – er wirft Schnee an meine Fenster: Es ist die Melodie zu den Worten, die ich aus dem lieben Buche hole:

»Hei, wie die Winterstürme sausen
In wildem Drang,
Es mahnt ihr wunderbares Brausen
Wie Orgelklang:
O Mensch! Gleichwie Natur jetzt fegt die Erde
Mit rascher Hand,
Auf daß, wenn's Frühling wieder werde,
Rein sei das Land,
So feg' mit rauhem Reis die eigne Seele
Vom Staube rein.
Und laß in sie, die klar von Schuld und Fehle,
Den Frühling ein. – –«

Den 25. Dezember.

Sie wird doch von mir gehen, meine alte Jugendfreundin Martha Detleffsen. Und ich hatte es ihr so gut vermeint.

Das Fieber hat nachgelassen, ich hoffte, sie könne genesen, aber der Arzt hat mir die Hoffnung genommen.

»Völlige Entkräftung, Unterernährung, und das Herz – das Herz will nicht mehr.«

So der alte erfahrene Arzt.

»Aber das Kind«, – warf ich töricht ein. Als sei noch nie eine Mutter von ihrem Kinde gegangen.

Er zuckte die Achseln, sah mich aufmerksam an und ging.

Aber noch lebt ja Martha Detleffsen, und wo Leben ist, ist Hoffnung. So lautet ja wohl der Gemeinplatz.

Mutter Alslev war heute zum ersten Male aufgestanden und recht matt. Sie kam zu mir herüber, aber der kleine Heinrich schlug nach ihr. Er will keine fremden Gesichter sehen, nur ich soll bei ihm sein.

Aber die Puppe, die Mutter Alslev ihm brachte, hat er angenommen, – ihr trauriges Wrack liegt dort in der Ecke.

Als er den hübschen Porzellankopf gegen die Wand schlug, gab ich ihm einen Klaps, – da biß er mich in den Finger.

Stirb nicht, Martha Detleffsen!

Du darfst jetzt nicht sterben. Alle meine inneren Kräfte versagen. Du kamst zur rechten Zeit, Martha. Glaube nicht, daß du nur nimmst von mir. Nein, du bist die Gebende. Du sollst mich ja lehren, die Menschen weiter zu lieben, – dein Kind zu lieben. Das ist das schwerste für mich. – – –– –

Silvester.

Heute haben wir sie begraben.

»Arme Ursula!« sagte Pastor Sunneby zu mir, und seine gute kleine Frau weinte fassungslos.

»So viel Särge,« schluchzte sie, »und in so kurzer Zeit!«

Ich lächelte bitter.

Ach, der Tod ist ein Freund, ein lieber, guter, – man kennt ihn nur nicht.

Viel schrecklicher ist das Leben, das blühende Leben.

Ich starre auf den kleinen Heinrich Detleffsen, und der Haß streckt seine Krallenfinger nach mir aus.

Herrgott, welch fremdes, seltsames Gefühl! Wie es krampst und schmerzt! Tragen deine Lehren solch entsetzliche Frucht, Martha Detleffsen? Ich bat dich, mich Liebe zu lehren. Liebe zu deinem Kinde. – Besaßest du solche selbst nicht? Seltsam waren oft deine Blicke, die du auf den Knaben richtetest, – als verschmölze das schöne Kindergesicht vor dir in ein anderes, in eins, das dich zu tausendmal liebevoll angeschaut und das dich schmachvoll betrog ...

Silvester! Was hatte das Wort sonst für geheimnisvoll-trauten Klang!

Als Väterchen noch lebte!

Als Lu und ich noch Kinder waren, – glückselige Kinder!

Als Väterchen selbst zum Kinde wurde und mit uns um die geheimnisvolle Mitternachtsstunde »Kartenorakel« spielte, Pfannkuchen aß und wir Kinder gefärbtes, heißes Zuckerwasser tranken, welches den verwegenen Namen »Punsch« trug.

O ihr lieben unvergeßlichen Silvesterabende!

Von euch aus schaute ich in ein leuchtendes Neujahr voll Vater- und Bruderliebe, voll guter Wünsche, voll Reichtum und Behagen.

Heute locken mich nicht Reichtum und Behagen – ich hungere nach Liebe, nach etwas Glück, nach etwas Sonnenschein.

Mein Silvester heute ist sonnenlos.

Kein geheimnisvoller Weihnachts- und Silvesterduft geht durch das Heidehaus.

Streng riecht es nach Zypressen, nach herben Totenkränzen.

Niemand verlangt nach meiner Liebe, nach meinem Zuspruch, nach meinem herzen, nur die zwei Kinderhände strecken sich aus, und vergebens ringe ich danach, sie zu füllen. – Weh, ich bin einsam und glücklos.

Hamburg, den 5. Januar.

Bin wieder in der alten Hansestadt. Ich lasse mich treiben. Vielleicht ist's nicht ganz der rechte Ausdruck für mein Empfinden. Aber ich fühlte, daß ich allzusehr auf eigene Kraft vertraut hatte. Mein Arm schien mir gestählt genug, die Ruder meines Lebensschiffleins zu führen, bis die Arme erlahmten, die Ruder zerbrachen. Der Kompaß versagte. Da schloß ich die Augen – und in tiefer Besinnlichkeit kam mir das Rechte. Jetzt – –

»Denk' ich wie das Fischerkind:
›Mein Vater sitzt am Steuer.‹«

Ein Sonnenstrahl fiel damals doch noch in den öden Silvestertag, – mein Lu kam.

Mit umsichtigen Gedanken und kraftvollen Händen ordnete er alles.

Und ruhig war er, – beinah frohgemut.

Martha Detleffsen war ja gefunden und gut aufgehoben – o so gut.

Mit Mutter Alslev hatte Lu eine lange Unterredung, und deren Ergebnis war, daß ich ins Bett gepackt wurde.

Widerstandslos streckte ich meine Glieder und schlief stundenlang traumlos und fest.

Inzwischen war Lu ein rechter, echter Verschwörer gewesen, Pastor Sunneby und Lehrer Alslev hatten ihm dabei Vorschub geleistet. Einen ganzen Tag lang brachte Lu in der Kreisstadt C. zu, und abends rechnete und schrieb er bis in die Nacht hinein. Dann war alles geordnet, klipp und klar.

Lu war Vormund von Heinrich Detleffsen, und als solcher übergab er ihn unserm Pastor Sunneby und seiner treuen Beate. Es war ein Herzenswunsch des lieben Paares, – meine Einwendungen stießen auf eisenharten Widerstand.

Da gab ich es auf, weiter einzuwirken.

Warum sollte ich dem Kinde eine Heimat rauben, und warum konnte seine häßliche Veranlagung nicht umgemodelt werden in der reinen, strengen, liebevollen Zucht des Pfarrhauses? – –

Vom Abschied spreche ich nur kurz.

Christiane Alslev kam zum ersten Male in mein Heidehaus, und wir hielten uns wortlos umfaßt.

Mutter Alslev weinte wie ein Kind.

Uwe Karsten habe ich nicht wiedergesehen.

Hamburg, den 14. Januar.

An mich selbst kann ich nicht mehr denken.

Ich habe hier ein vollgerüttelt Maß Arbeit.

Hätte ich es nicht, – ich würde krank. – –

Die Vorsitzende der Volksküche ist gestorben, und man hat mich zu ihrer Nachfolgerin erwählt.

Es soll eine hohe Ehre sein für ein vierundzwanzigjähriges Mädchen.

Ich spüre die Ehre nicht, aber wohltuend fühle ich die verantwortungsvolle Arbeit. –

Auch im Nähverein bin ich, und Mutter Alslevs Anleitung im Heidehause trägt ihre Früchte.

Zu einer Wohltätigkeitsvorstellung habe ich gesungen. Bruder Lu bat mich darum, und so tat ich es.

Ich zähle beinahe mechanisch auf, was ich alles hier ergriff, mit beiden Händen erraffte, um die Gedanken zu verscheuchen, die, ungerufen, immer wiederkehrten, zähle die Bollwerke auf, die ich meinem Heimweh baute, – ach – Heideheimweh, – gibt es eins, das heftiger wäre? Und doch war alles töricht und vergebens, was ich tat. Gerade im Strudel der Geselligkeit sah ich eine Schutzwehr nach der andern wanken und mich rettungslos der Sehnsucht nach meiner Heide preisgegeben. –

Böse Zungen haben gestichelt, – wie wunderbar es sei, daß ich nicht ein ganzes Jahr um – Heinrich Heinsius getrauert, und daß ich auch jetzt mich in schneeiges Weiß, anstatt in Farbe der Halbtrauer hülle. Sie wissen nicht, was mich die Lüge gekostet hat, auch nur einen Tag das schwarze Gewand für jenen zu tragen, – um der Leute willen, und wie wohlig ich mich jetzt in den lichten Farben strecke. Ja, ich habe gesungen – für die Hinterbliebenen der untergegangenen Besatzung eines Hamburger Handelsschiffes, und mein alter, weißhaariger Gesanglehrer, der zugegen war, weinte Freudentränen über meine Stimme und pries die Heide, deren reine Luft er für die »Fülle und Kraft und den Schmelz« verantwortlich machte. Aber ich meine, es ist ein tiefes Leid, das meine Stimme so tönend macht.

Ein alter Freund meines Väterchens, Senator Vanlos, bat mich um die Zugabe eines schlichten Liedes »Aus der Jugendzeit«. Ich hab' es ihm gesungen.

»Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War das Herz mir voll so sehr.
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War alles leer.«

Beinahe war's mir, als könnt' ich es nicht zu Ende singen, – irgend etwas drückte auf meine Kehle und lag schwer auf meiner Brust.

Aber gerade das fanden sie – »eigenartig«, die vielen fremden Menschen, und der Beifall war brausend.

»›Nüdlich‹ haben Sie gesungen,« sagte mir die junge Frau Bankier Hersen, die Veranstalterin des Wohltätigkeitszaubers, »und der alte Herr Vanlos hat allein für die ›Jugendzeit‹ dreitausend Mark gegeben.«

An diesem Abend – seltsam genug – hörte ich von Uwe Karsten Alslev. Es war wie ein Sonnenblick, – kurz, aber wärmend und leuchtend. Ein alter Kieler Professor war durch Zufall und Verwandtschaft zu dem Feste gekommen, und hatte sich wohl seiner im Vergleich zu den reichen Handelsherren nur schmalen Börse halber zwischen den Palmengruppen aufgehalten, um den unzähligen jungen Mädchen zu entgehen, die mit Losen, Eßwaren und unnützen Gegenständen brandschatzend durch den Saal zogen.

Da fand der Professor mich an meinem Tischchen mit Lubruder. – Ich stärkte mich etwas, und der Professor sagte mir lebhafte Lobsprüche über mein Singen.

Ein Wort gab das andere, – der Name »Immenhof« fiel.

»Da wohnt ja unser Heideschulmeister Alslev, der Dichter Uwe Karsten.«

»Sie kennen ihn?«

»Ob ich ihn kenne! Hab' ich mich doch noch gestern mit ihm herumgestritten, mit dem Trotzkopf! Er will mir nicht heraus aus seiner Heide, – vergräbt sein Pfund, wie der Ungerechte in der Bibel.«

»Taugt sein neuestes Werk etwas?«

So unbefangen formte ich meine Frage, damit dem lebhaften Professor mit den klugen, durchdringenden Augen nicht die Blässe meines Gesichts, das Beben meiner Lippen auffallen sollte.

»Taugen? Das Buch ist bahnbrechend! Eine köstliche, ernste Arbeit. Fräulein, – ich gäbe Jahre meines Lebens, hätte ich es geschrieben. Botanik ist mein Fach. Aber dies ist mehr als ein botanisches Buch, – es ist eine Offenbarung. – Und schon beginnt die Holzhackerarbeit der Kritik, – die Späne fliegen. Wo Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.«

Er war ganz aufgeregt, der kleine Herr, und ganz glücklich über mein reges Interesse.

Lu hielt einen vorübergehenden Diener an, und dieser brachte uns perlenden Sekt.

»Auf Uwe Karstens Schaffen!« Die Gläser klangen zusammen.

»Wir sind Landsleute,« erzählte der alte Herr weiter, »aber ich vermag unserer Heide nicht solchen Glanz abzugewinnen; diese Verklärungskraft besitzt nur der Uwe Karsten. Freilich hatte ich auch eine öde Jugend und ein trübes Heim – der Alslev muß ganz in Sonne gelebt haben.« – –

Ich dachte still an das Krüppelchen, an den Trunkenbold und die keifende Alte, – das war die Sonne, in der der Dichter gelebt.

Aber als ich dem Professor abschiednehmend die Hand gab, sahen wir beiden Fremden uns frohbekannt in die Augen, – wir wollten uns nicht wieder verlieren, wir dachten beide an Uwe Karsten.

Wenn es möglich wäre! Wenn man ihn herausholen könnte aus seiner Enge! – Aber wie, wenn er unsere Lebensbedingungen nun klein und unsern Horizont eng findet, wenn er die Heide und die Einsamkeit als Weite erkennt? – Und was soll er bei uns, in der Großstadt? Vorträge halten? Die Heidelieder vorlesen? Meine Heidelieder?, die so zart-kraftvoll, so keusch-sinnenhaft, so ernst-sonnig im andächtigen Herzen widerhallen? Sie würden ja zu einem verzerrten Spiegelbilde im Vortragssaal, darin so viel Gleichgültigkeit und so wenig echte Begeisterung wohnen. Und der Heideschulmeister selbst? Soll sich der schlichte, hünenhafte, urwüchsige Mensch erst einmal ummodeln lassen, um dem Zeitgeist entgegenzukommen, der nur den Kellnerfrack kennt? Oder Stadtlehrer werden? Uwe Karsten und Landflucht? Er, der Freiherr von der Heide, deren strahlender Himmel so hell und blau aus den reinen Kinderaugen seiner blonden Buben und Mädchen lacht, – er, dem »Ringen und Kämpfen, Entsagen und Dienen als das einzig Richtige für die besondere Kulturmission des Volksschullehrers« erscheint? Hab' keine Sorge, du liebe rote Heide, – Uwe Karsten bleibt dir treu.

In der Zeit zwischen all den Veranstaltungen der Stadt Hamburg fuhr ich mit Bruder Lu in der Welt umher.

Mein geplantes Krüppelheim hat andere Gestalt angenommen.

Der Bau in Immenhof selbst machte große Schwierigkeiten, so habe ich die Summe verdoppelt und das Herrenhaus der Frau von Hinrichsen auf Kornhagen gekauft mit allem Drum und Dran. Sie will ins Ausland ziehen, und ihr Besitz in der nächsten Nähe Immenhofs paßt uns wie bestellt.

Kinderkrüppelchen haben wir gottlob nicht viele, aber alte gebrechliche Weiblein und arbeitsunfähige Männer sehnen sich nach einem behaglichen Altenteil, – ich will es ihnen geben.

Es reist sich köstlich mit Lu.

Er ist so ritterlich besorgt um mich, – die Leute unterwegs halten uns für ein junges Ehepaar auf der Hochzeitsreise; ich bin schon manchmal fast ärgerlich darüber gewesen, aber Ludwig macht es einen Hauptspaß, und er verlängert noch absichtlich solche kleinen Auftritte.

Vorgestern habe ich Kornhagen übernommen mit allen amtlichen Vertragsförmlichkeiten.

Der Landrat war da, der Bürgermeister von K., Bruder Lu und ich. Es wickelte sich alles rasch ab, Frau von Hinrichsen war schon fort und hatte ihrem langjährigen Sachwalter Vollmacht gegeben. Herrenhaus und Nebengebäude sind in gutem Zustande, alles ist einfach gehalten, aber die Zimmer sind groß und luftig, sie werden einen märchenhaften Eindruck auf die unverwöhnten Weiblein machen.

Der Saal wird zum Andachtsraum hergerichtet. Ich lasse hübsche Bänke mit bequemen Lehnen für die Altchen hineinbauen, ein schlichter Altar wird gezimmert, ein wunderbar schönes Christusbild, das eigenartig-herrliche Werk eines Münchener Malers, hat mir Senator Vanlos geschenkt, wie freue ich mich darüber!

Noch steht es verhüllt in meinem Hamburger Arbeitszimmer, aber manchmal, – in der Dämmerung schaue ich mir's an und kann mich nicht satt sehen an diesem reinen Antlitz.

Etwas sehr Schönes und Kostbares will ich noch für den Betsaal stiften, – so kostbar, daß ich Lubruder gebeten habe, mitzusteuern, – der Einzige, Gute hat es mir freudig lachend zugesagt.

»Urschel, was mein ist, ist dein.«

Eine Orgel. Sie war im vorigen Jahre auf der Gewerbeausstellung in K. ausgestellt. Uwe Karsten Alslev hat darauf gespielt und in seiner Begeisterung über das Werk damals einen Bericht an die Zeitung geschrieben.

Diesen Bericht habe ich zufällig gelesen.

Nun soll Uwe Karsten seinen Liebling plötzlich wiederfinden, wenn er die Orgel spielt zum Gottesdienst im Altersheim.

Ach, so viel Freude möcht' ich geben, Freude ist etwas Köstliches!

Und das reine Gold meines tiefen Leides will ich einwechseln in kleine Freudenmünzen und sie sorglich verteilen.

Ein uraltes Kirchenlied las ich neulich.

Gar nicht frömmelnd oder schwülstig, wie sie manchmal sind, sondern menschlich schön und lieb empfunden.

Das könnte als Inschrift dienen für das Haus, das ich meinen armen Mitschwestern und -brüdern bereite:

»Gut seyn will ich und will glücklich machen.
Will wohl wandeln Leyd in Dank und Lachen;
Möchte Sonnenscheyn vielen Menschen seyn,
Und im Strahlenkleyde steh« wie Thau der Heyde.«

Du mein lieber Gott, gib mir Kraft! –

Sie wollten das Haus »Ursulaheim« nennen, aber ich litt es nicht. Den reichen Grund, aus dem es geschaffen wurde, hat die liebe, unermüdliche Hand meines Väterchens einst verdient, Friedrich Karl Ernst Diewen.

So habe ich bestimmt, daß das Altersheim »Ernst-Diewen-Stiftung« heißt.

Hamburg, den 25. Januar.

Der Schnitter mäht unbarmherzig in Immenhof.

Er soll nur eine Weile verziehen mit seiner Arbeitswut, denn was jetzt noch steht in meiner Heide an Pflänzlein, die sind mein Herzenstrost. –

Jochen Witt und sein Weib sind an einem Tage gestorben. –

Frau Beate Sunneby hat es mir geschrieben.

Gar so ungern soll die alte Frau von dieser Erde gegangen sein. Mit aller Zähigkeit hat sich die Seele an die gebrechliche Hülle geklammert, und mitten in den atemraubenden Schmerzensanfällen hat sie »nein« gerufen. »Nein, ich will nicht!«

Und Jochen Witt hat aus seinem Lehnstuhl gemurmelt: »Schrei nich so, Olsch, es tut dich niemand was, und warum solltest du wohl sterben? Ich kann dein Schimpfen ja gar nicht entbehren.«

Mit einem Male ist der Tod an ihr Lager getreten, Christiane Alslev ist die einzige außer den beiden Alten im Zimmer gewesen, denn den Beistand des Pastors Sunneby hatte die Kranke verschmäht. Als Christiane der Toten die Augen schloß, hat Jochen Witt mißtrauisch gefragt: »Warum is sie mit eins so ruhig, meine Schneiderin, warum krakeelt sie »ich? Sie kriegt zu wenig Alkohol, das arme Weib, dabei kann kein ehrlicher Mensch bestehen.«

Und wie Christiane es ihm gesagt hat, daß sein Weib gestorben, ist er in rasende Wut verfallen. Aber Christiane hat bei ihm ausgeharrt, ihn beruhigt, hat den Arm um den Alten gelegt, und an ihrer Schulter ist er schluchzend eingeschlafen, – um nicht wieder zu erwachen.

Ich will einen weißen Rosenkranz aus unserm Treibhaus in die Heide schicken, – Christiane Alslev und Uwe Karsten wissen dann, daß ich an sie dachte. –

Frau Pastor Sunneby schreibt, daß Lehrer Alslev sehr elend aussähe. – – –

Christiane werde ich bald wiedersehen, sie tritt nun als Probeschwester in das hiesige Diakonissenhaus.

Wie herzensfroh mich das macht!

Ein Wiedersehen mit Christiane Alslev !

Ich hätte das große, gute, schöne Mädchen am liebsten immer um mich. Aber ich kann ihr in meinem Drohnenleben nichts bieten, dieser unermüdlich tätigen Bienenkönigin aus Immenhof. Sie braucht andere Arbeit, als was wir verwöhnten Großstadtkinder so nennen. –

Aber einen lebhaften Wunsch hat sie in mir geweckt; ich möchte einen Johanniterkursus durchmachen und mich verpflichten, alljährlich zu Pflegen, wohin ich auch immer geschickt werde.

Lu ist noch nicht damit einverstanden, er möchte mich ausschließlich für sich haben. Geradezu glückselig ist er, daß ich bei ihm bin.

Aber ich glaube – – ich werde bald seine Liebe zu mir teilen müssen.

Ach, mein Lu, du großer Junge, du meinst wohl, ich merkte nichts?

Weil du selbst beinahe noch nichts merkst, oder wenigstens eine ganz köstliche Vogelstraußpolitik betreibst.

Aber, Lu, ich bin arg hellhörig in bezug auf dich.

Da ist ein kleines, rosiges, blondes Mädchen.

So jung und so hinreißend niedlich, – sie hat dem ernsthaften, jungen Chef des Handelshauses Diewen den Kopf verdreht. Noch leugnest du es, Lu, aber du wurdest rot dabei.

»Urschel, wir bleiben immer zusammen!« sagtest du liebevoll, aber es klang nicht ganz glaubwürdig.

Wir werden nicht immer zusammenbleiben, Lu.

Du wirst mir eines Tages deine kleine, rosige Braut bringen – – und – ich werde meinen Weg allein weitergehen.

Nur glücklich sollst du werden, Lu, – recht von Herzen glücklich!

Den 2. Februar.

Heute kam ich vom Eislauf zurück.

Ich liebe diese Bewegung, besonders zu früher Morgenstunde und – bei Mondschein, alles beides »unschickliche Gelüste«, wie Tante Renate sich ausdrückt, die mich am liebsten nur zur »fashionabeln« Zeit mit einem Diener hinterher, und ihr selbst zur Seite, auf die Eisbahn ließe.

Der würdige Onkel Eberhardt unterstützt sie darin, – o es geht überhaupt unbeschreiblich würdig bei uns zu. –

»Bei uns« ist nicht mein liebes Heim, – ich führe jetzt gemeinsamen Hausstand mit den beiden Altchen, denn die »Zweite« ist im Ausland, in Italien und Griechenland, sie hat sich einer befreundeten Familie angeschlossen, um mir zu entgehen.

Nun mache ich es den alten Leutchen ein wenig behaglich und lasse ab und zu einen naseweisen Wind durch die verstaubte, dickköpfige, engherzige Patrizierherrlichkeit wehen, – habe Kotzebue und Henriette Paalzow aus der Bücherei hinausgeworfen, und Raabe und Rosegger eingeschmuggelt, – Lubruder lacht fröhlich über meine ketzerischen Versuche, und Onkel Eberhardt und Tante Renate nennen mich wieder oft ein »schreckliches Mädchen«.

Aber es klingt nicht mehr schroff, sondern beinahe humoristisch milde, denn Onkel Eberhardt darf mit meiner Erlaubnis überall rauchen, was die »Zweite« ihm nie gestattete, und er findet bei mir immer sein sauber mit Varinas-Mischung Nr. I gestopftes Seemannspfeifchen vor. –

Für Tante Renate aber stricke ich schwarze Pulswärmer, mit Perlen besetzt, und putze ihre weißen Häubchen auf, was ihr bis jetzt keine Putzmacherin vom Fach zu Dank tat.

So führen wir vier eine friedliche Ehe, nicht gerade kurzweilig, aber ganz behaglich.

Lubruder, du strebst aus dieser Gemeinschaft fort.

Du warst heute ganz vertieft in ein schönes, junges Gesichtchen und sahst mich gar nicht, als ich in kühnen Bogen um dich und »sie« herumfuhr. »Sie« saß im Stuhlschlitten unter pelzverbrämter Decke, und der alte herrschaftliche Diener, den Senator Vanlos seinem Töchterchen mitgegeben, betrachtete euch ernsthaft.

Als ich allein nach Hause kam, – denn du, Bruder Lu, geleitetest heute Fräulein Ellen Vanlos, – wartete meiner eine große, liebe Überraschung. Christiane Alslev saß in meinem Zimmer, – im schlichten Gewand der Probeschwestern.

Und wie ich ihre Hand hielt und in ihr gutes, reines Gesicht sah, aus dem ehrlich und hell die Freude des Wiedersehens lachte, – da versank die Gegenwart samt der Stadt Hamburg und meinem Zimmer, ich sah das liebe Heidehaus, die Schule, – sah die »Heimat« von Uwe Karsten, sah sie mit seinen Augen. – Das ist wohl die rechte Liebe, mit den Augen des anderen zu sehen. –

Christiane mußte mir von allem erzählen, und sie tat es lebhafter, als ich sie sonst gekannt. Ein Alp schien von ihr abgefallen, – all ihre Bewegungen waren freier und frischer.

Aber wahrhaft leuchtend wurden ihre Augen, als sie von ihrem jetzigen und zukünftigen Berufe sprach.

»Es ist manches noch recht schwer für mich,« gestand sie ehrlich, – »ich war so ganz und gar selbständig, da fällt das Einfügen in das – Uhrwerk noch etwas sauer. Ich kann mich noch nicht ganz daran gewöhnen, nur ein Maschinenteilchen zu sein. Aber wenn ich daran denke, Fräulein Ursula, daß ich durch Ihre Güte einmal in Kornhagen wirken darf, – immer in der Nähe von Immenhof und Uwe, das ist ein Glück, nicht auszudenken.«

Ein warmes Rot war in ihr feines Gesicht gestiegen, sie drückte fest meine Hand, und wieder zog durch mein Herz ein Frohgefühl, wie es mir sonst nur die Heide gegeben hatte.

Nur einmal legte sich ein Schatten über Christianens Antlitz, – als sie von dem kleinen Heinrich Detleffsen sprach.

»Ich wollte, Sie hätten mich nicht gefragt«, versetzte sie leise. »Er ist ein so kleines Kind – drei Jahre –, und doch so unheimlich klug und – so unheimlich böse. Pastor Sunneby und Bruder Uwe lachen mich oft aus, – aber ich habe immer ein Angstgefühl, wenn ich den Jung' sehe. Er – das Kind, – ich weiß nicht, wie ich mich recht ausdrücken soll, – es schafft so viel Tränen, das kann doch nicht gut ausgehen.«

Ich nickte ernst, – auch ich spürte wieder tief die Abneigung gegen den kleinen Eindringling. »Frau Pastor Sunneby weint soviel,« fuhr Christiane fort, »sie fühlt jetzt schon eine so große Enttäuschung, weil er gar kein Tier leiden mag. Alles Gefiederte und alles Vierfüßige flieht vor dem ›Heini‹. Die alte Stina verzieht ihn, sie zeigt ihn allen Nachbarsfrauen und -kindern als gutes Beispiel, denn er kann so merkwürdig die Augen aufschlagen und lange Gebete hersagen. ›Er gibt mal 'n guten Pastor‹, meint sie. Meinen Bruder Uwe kann Heini nicht leiden, seine Augen werden ganz schwarz, wenn er ihn kommen sieht. Auch das wird viel belacht; – mir macht es Angst. Uwe ist streng mit ihm, weil der Pastor Sunneby kein Pädagoge ist, – aber, Fräulein Ursula, – drei böse Bißwunden hat Uwe an der Hand und eine im Arm, durch den Winterrock durch –«

»Christiane!« schrie ich auf.

»Doch, doch, es ist so«, nickte sie traurig. »Uwe lacht ja drüber und meint, er käme sich vor wie auf dem Seminar, da hätte er des Direktors Papagei gezähmt, und habe den ganzen Tag bluten müssen, – aber, Fräulein Ursula, – Heini soll doch auch kein Tier werden.«

Wir schwiegen eine ganze Weile, dann versuchte ich das Gespräch allein auf Lehrer Alslev, seine Stimmung und sein Schaffen zu lenken, aber es mißlang mir. Christiane wich mir aus und sah an mir vorbei.

»Er arbeitet tüchtig, und das ist gut«, antwortete sie hastig. »Wer besorgt ihm sein Heim?« fragte ich voll Teilnahme.

»Zur Mutter ist er gezogen.«

Sie verabschiedete sich rasch, – ich hielt sie ein Weilchen umfaßt, dann war sie gegangen.

Auf ein baldiges Wiedersehen konnten wir beide nicht hoffen, denn sie hatte mir erzählt, daß ihre Mußestunden knapp bemessen seien.

Tief nachdenklich ließ sie mich zurück.

Uwe Karsten wohnt in meinem Heidehause!

Das ist ein lieber Gedanke für mich. Das Altenteil ist geräumig und traut eingerichtet, auch für Mutter Alslev beginnt ein Leben voll tiefen, stillen Glückes.

Sie hat »ehren Jung« wieder.

Ich will ihm den Schlüssel zu meiner Bücherei schicken, – er soll sie benutzen. Ich kann ihm das anbieten, denn ich habe wahre Schätze darin aufgespeichert, – Bücher und Folianten, die es gar nicht mehr im Handel gibt, und bei deren Anblick sein Gelehrtenherz rascher schlagen wird – –

Wie meines jetzt, da ich an seine Freude denke –


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