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Radulf's Buche

Erstes Capitel.

Der Sommertag neigte sich fast zu Ende. Eine graue Wolkenwand, die über der Bergreihe hinter dem Dorfe stand, versprach nach der Schwüle der Stunden ein erquickendes Gewitter für die Nacht. Noch aber schickte die Sonne ihre schrägen Strahlen über das Thal und spielte in röthlichem Glanz auf dem Aehrenfelde, das in segensvollster Blüthe stand. Die Grillen zirpten am Boden, schimmernde Käfer und goldgrüne Fliegen summten dazwischen, und um so ungeberdiger, wenn sie sich zwischen den dichten Halmen verfingen, und durch die Luft kamen Bienen herab zu den rothen, blauen und weißen Blumen, die sich zwischen den Aehren angesiedelt hatten. Ein warmer Duft lag regungslos über der Gegend.

Die beiden jungen Mädchen, welche, durch breite Strohhüte gegen den Sonnenbrand geschützt, auf dem schmalen Wege zwischen den Kornfeldern hingingen, wurden von den hochaufgeschossenen Aehren überragt, und sahen, umschlossen von einem Halmenwalde, nichts von der Landschaft. Sie waren sehr geschäftig, und, wenigstens die eine von beiden, sehr gesprächig. Diese, ein frisches, rothwangiges Naturkind, blond und helläugig, pflückte in langsamem Fortschreiten rechts und links blaue Kornblumen, welche ihre Gefährtin zum Kranze wand.

»Wart', Clothilde, hier stehn sie am dichtesten!« rief sie. »Ach, und der prächtige rothe Mohn! Schade, daß du den nicht brauchen kannst! Das lacht ordentlich in die Welt hinein, als wollt' es sagen: Guck, ich bin da wie die lustige Stunde, und du bist dumm, wenn du an mir vorüber gehst! Ja, mein gutes Herrchen im rothen Röcklein, ich hab's schon verstanden, aber meine gute Freundin ist nun mal mehr für sein blauäugiges Geschwisterkind. Da, Clothilde, das wird genug sein!«

Sie kam mit einem dicken Strauß angesprungen, von dem sie der Gefährtin die Blumen für den Kranz zureichte.

Clothilde betrachtete liebevoll ihr blaues Gewinde. »Den Kranz nehm' ich morgen mit auf die Reise,« sagte sie. »Nicht wahr, Sophie, ein paar Tage hält er sich?«

»Ach, Clothilde!« rief Sophie lachend, »wenn du sonst kein Andenken von hier mitnimmst!«

»Wie schlimm du bist!« entgegnete Clothilde, indem sie die Freundin herzlich ansah. »Nehme ich nicht dich selbst mit?«

»Das ist ein schönes Andenken, und ihr werdet mit mir noch eure Noth haben!« rief Sophie, und plötzlich ihrer Freundin um den Hals fallend fuhr sie jubelnd fort: »Ja, ja, ja! Ich reise mit, ich begleite dich in die große Stadt, ich darf den Herbst und den ganzen Winter bei euch bleiben, ich möcht' es jedem Vogel, jedem Käfer, jeder Fliege zurufen: Eure dumme Sophie geht auf Reisen, und ist noch tausendmal lustiger als ihr! Ach, Clothilde, was bin ich neugierig auf die große Stadt, auf die fremden Leute, auf euer schönes Haus, und die prächtige Einrichtung! Weißt du, bei aller Freude überkommt mich manchmal eine wahre Angst, was ich nun mit den Menschen bei euch reden soll, und daß sie mich für ganz hölzern und albern halten werden. Und nun gar auf euren Bällen, mit den feinen großstädtischen Herren! Du mußt mich ein wenig einüben! Hier bei uns komm' ich wohl noch durch, und mit den Studenten aus der Stadt bin ich noch immer fertig geworden, aber die Residenzherren denk' ich mir doch anders. Na, wenn ich nur erst, und zum erstenmal ein hübsches Ballkleid anhabe, dann kommt auch vielleicht der Geist über mich! Denk dir nur, ich bin ja in meinem Leben noch auf keinem ordentlichen Balle gewesen. Im vorigen Winter, als ich siebzehn Jahre alt geworden war, versprachen mir die Eltern, wir wollten in der Stadt die Museumsbälle mitmachen, und ich war zum ersten schon mit drei Studenten vorher engagirt. Es waren sehr nette Jungens, und tanzen konnten sie, wir hatten in der Nachbarschaft schon beim Erntefest ein kleines Tänzchen probirt. Aber da bekam meine arme Mutter das lange Leiden, das dauerte den ganzen Winter, an die Bälle konnte nicht gedacht werden, die Lust verging uns auch dazu. Jetzt aber ist Alles gut, und den nächsten Winter soll es um so lustiger werden. Ach, das Tanzen ist doch ein himmlisches Vergnügen! Ihr habt ja wohl auch Studenten in der Stadt?«

»Brauchst du die so nothwendig?« fragte Clothilde schalkhaft.

Sophie lachte laut auf. »Ich kenne eben wenig andere Tänzer, und ein lustiges Volk ist es immer! Aber was habt ihr denn für junge Leute?«

»Gar verschiedene Arten. Herrn vom Kaufmannsstande, Officiere, Techniker, Gelehrte, Alles durcheinander.«

»Das ist noch amüsanter!« jubelte Sophie. »Da hat man sich die jungen Herren Stück für Stück auf was Besonderes anzusehen, und es ist wie hier im Kornfelde: Rittersporn und rother Mohn, Akeley, Wegerich, allerlei lustiges Unkraut, und man hat das Aussuchen! Aber, nein, Clothilde« – fuhr Sophie, von einem Blicke der Freundin getroffen, erröthend und gemessener fort – »du mußt mein Geschwätz nicht ernst nehmen! Ich bin ein dummes Ding vom Lande, und plaudere manchmal heraus, was keinen Sinn und Verstand hat. Du sollst mir in Allem zum Muster dienen, ich will mich bemühen, auch so fein und vornehm zu werden wie du – lieber Gott, wenn ich's nur fertig bringe! Denn du bist nun mal etwas ganz Apartes. Wenn wir zusammen durch Busch und Wiesen und Korn streifen, dann kommst du mir vor wie die Mährchenprinzessin, wie ich sie mir in der Kindheit vorstellte, und ich sehe immer Sonnenstrahlen und Wasserlilien um dich her – siehst du, da kommt auch gleich ein kleiner blauer Schmetterling und setzt sich auf deine Schulter! Wenn an mich was Geflügeltes kommt, ist's immer eine Wespe, die mich in den Finger stechen will, und ich muß zuschlagen! Und wenn du dann unter uns im Zimmer bist, so ist so etwas fein und zierlich Gemessenes an dir, so etwas ausländisch Amerikanisches, und so gut und harmlos du mit uns verkehrst, wir wissen doch stets, daß wir es mit einer Dame aus der großen Welt zu thun haben. Du bist klug, hast schrecklich viel gelernt, weißt überall Bescheid, und wenn du auch niemals Staat damit machst, so merkt man's doch alle Tage. Es kann die Rede kommen auf was da will, immer muß man erstaunen, daß du ganz im Stillen darüber unterrichtet bist!«

»Sophie, du machst mich erröthen!« rief Clothilde, freundlich verweisend. »Schicken sich solche Schmeicheleien unter uns? Wie wenig ich bin, das wirst du bald bei uns zu Hause erkennen. Da wissen alle Mädchen unseres Alters mehr als ich, und sind mir in gesellschaftlichen Formen weit überlegen.«

»Na, dann gnade Gott mir!« rief Sophie entsetzt.

»Ich habe auch nichts Amerikanisches an mir,« fuhr Clothilde fort. »Ich bin eine Deutsche, wenn ich auch in Amerika geboren bin und einen Theil meiner Jugend dort verlebte. Ich bin sehr deutsch, glaube mir – drüben in dem fremden Welttheil würden mich die Leute nie für ihres Gleichen anerkennen, und ich kann nach meiner Natur nicht anders als deutsch bleiben. Das Bischen äußerliche Weltbildung darfst du nicht hoch anschlagen, es lernt sich bald, und hat im Ganzen wenig Werth.«

»Aber merkwürdig bleibt es doch,« meinte Sophie, »daß du, daheim von allem Luxus des Lebens umgeben und verwöhnt, dich in den einfach bürgerlichen Verhältnissen unseres Hauses so gut zurecht findest, ja sogar wohl fühlst. Mein Vater ist kein reicher Mann, das Gütchen klein, er muß es sich sauer werden lassen, und ich habe noch sechs jüngere Geschwister. Dein Papa ist, wie die Leute sagen, ein Millionär, und möchte, wie ich von dir selbst weiß, sein einziges Kind mit allem Schönen, was die Welt bietet, umgeben. Und doch trägst du dich einfach, machst gar keine Ansprüche, und – während du zu Hause Treibhäuser voll ausländischer Gewächse hast, windest du hier Kornblumenkränze! Das überlasse ich sogar den Bauerkindern!«

Sophie betrachtete mit Verwunderung die schlanke, edle Gestalt, die im schlichten weißen Gewand neben ihr herging. Dem guten Landkinde war unter dem eignen Reden der Gegensatz zwischen ihr und der Freundin erst recht anschaulich geworden.

Clothilde, die mit ihrem Kranz fertig war, legte den Arm in Sophiens Arm, und sagte nach kurzer Pause:

»Wie dir Feld und Wald, das heimische Dorf und das einfache elterliche Haus das Gewöhnliche ist, so ist's mir der Luxus, die Gesellschaft und die große Welt. Wir sehnen uns meist nach dem, was uns fremd ist, und sind nicht immer glücklich, wenn wir es erreicht haben. Bei euch fühlte ich mich wohl, recht von Herzen wohl, denn ihr seid herzensgute, treue und liebe Menschen. Bei uns in der Stadt sind nicht alle Leute so, und wer weiß, ob du dich in unserm Kreise so wohl fühlen wirst, als ich in dem eurigen. Wie es aber auch werden mag, wir wollen doch gute Freundinnen bleiben!«

»Ja, bis in den Tod!« rief Sophie mit Leidenschaft, indem sie Clothilden stürmisch um den Hals fiel.

Da wurde ein klatschendes Geräusch laut, es schwirrte mit hastigem Flügelschlag empor, und ein paar Feldhühner, erstaunt und aufgescheucht über den Erguß der Mädchenfreundschaft, flog vom Boden auf und über das Korn weg.

Clothilde erschrak etwas. »Gehen wir auch nicht zu weit vom Dorfe weg?« fragte sie.

Sophie aber lachte: »Hätt' ich meines Vaters Flinte bei mir, so könnt' ich uns ein Brätchen für den Abend mitbringen. Wahrhaftig, ich hab' schon einmal einen Hasen geschossen, und mein Vater sagte, an mir sei ein Jägerbursch' verdorben! Aber komm, jetzt nur nicht umkehren! Man sieht ja vor all dem hohen Korn gar nichts von der Gegend, und du wolltest noch von der großen Buche, deinem Lieblingsplatz, Abschied nehmen.«

Arm in Arm wandelten die jungen Mädchen weiter.

»Weißt du,« begann Sophie wieder, »du und dein Papa, ihr seid es, die uns erst darauf aufmerksam gemacht haben, daß wir hier in einer schönen Gegend wohnen. Früher haben wir kaum darauf Acht gegeben. Ja, was hätten wir euch nicht zu verdanken! Die hübsche Steinbank unter der Radulfsbuche, von wo man nun so bequem über das Thal weg sieht, ist auch ein Geschenk deines guten Vaters. Er hat eine Vorliebe für den alten Baum, und so oft er zu uns kommt, wandert er dahin. Aber wie mag es geschehen, daß er an dem Platze immer schweigsam, nachdenklich, ja sogar etwas traurig wird?«

»Ich habe das auch beobachtet,« sagte Clothilde mit einem leisen Seufzer. »Und doch ist er fast immer so. Er ist gütig, freigebig, wohlthätig zum Erstaunen, sein immer wachsender Besitz gestattet ihm nicht nur die umfassendsten Unterstützungen, es ist bei meinem guten Vater sogar eine Haftpflicht geworden, nachzuforschen, wo er helfen und fördernd wirken könne. Wie viel Knaben und heranwachsende junge Leute versorgt er für ihre Schulbildung! Er setzt Stipendien aus, gibt Jahrgelder, er fühlt gleichsam einen Stich durch das Herz, wenn er es aufgeben muß, direct zu helfen, wo er Fleiß und tüchtiges Streben mit der Nothdurft des Lebens ringen sieht. Denn es giebt in der That Fälle, wo Stolz und Selbstgefühl seine Hand zurückweisen, wo er nicht zudringlich sein darf, wo wunderliche Rücksichten des Lebens ihn hindern, nach seinem Herzen zu handeln. Und eigen ist es, wie grade in solchen Fällen sein Herz am meisten betheiligt scheint. Wo die Hülfe ihm leicht gemacht wird, leistet er sie einfach als eine natürliche Pflicht, aber lange Zeit kann es ihn quälen, irgend einem jungen Manne, der es bedarf und verdient, nicht dienen zu können, weil er eben nur ein elendes Hülfsmittel habe, das Geld! Das würden ihm freilich die Wenigsten glauben – wie die Welt einmal ist. Aber ich weiß es. Die Leute nennen ihn einen glücklichen Mann. Und er kann den Eindruck eines solchen machen, er kann heiter sein – aber ich fühle doch den Zug einer stillen Traurigkeit in seinem Innern durch, ich weiß, daß dieser vortreffliche Mann, der jedes Glück verdient, nicht glücklich ist.«

»Ja, was könnte ihm denn fehlen?« fragte Sophie ganz verwundert.

»Oft hab' ich mich mit der Frage beschäftigt,« sagte Clothilde, »und bin zu einer für mich recht niederdrückenden Annahme gelangt. Ist es vielleicht, weil er keinen Sohn hat, der männlich mit ihm wirken, die Arbeit und das rüstige Schaffen seines Lebens theilen kann? Ist die Tochter im Stande, ihm den Sohn zu ersetzen? Er hegt und liebt mich, überhäuft mich mit Güte, Großmuth – und ich fühle doch, daß ich nichts bin, ihm für das Leben nichts sein kann!«

»Ist das eine Idee!« rief Sophie ganz entrüstet. »Clothilde, ein Mädchen wie du wiegt mindestens sechs Jungens auf. Nein, wie kann man sich mit so etwas plagen? Ich will dir sagen, was deinem Papa im Kopfe herumgeht, wenn er mal nicht bei Laune ist: Es sind einzig die Geschäfte! Ich weiß das von meinem Vater, der hat auch seinen Aerger mit den Knechten. Und nun gar dein Vater, der so große Fabriken besitzt, worin er Tausende von Menschen beschäftigt. So ein Corps in Ordnung zu halten, das mag keine Kleinigkeit sein! Nein, Clothilde, schlag dir solche schwermüthige Grübeleien aus dem Kopf! Bei dir geht eben Alles, was du dir denkst, tiefer und ernsthafter ins Gemüth, aber man muß sich auch nicht unnütz quälen. Weißt du, was ich an deiner Stelle thäte, wenn mich so ein Gedanke anfinge zu plagen? Ich wäre so lustig und vergnügt als möglich, und müßt' ich's mir abzwingen, um den Vater aufzuheitern. Ich machte mich so nett und hübsch und liebenswürdig, daß der Vater ganz stolz auf mich wäre und sich dächte: Gott sei Dank, daß ich keine Jungens hab', so ein Mädchen ist doch das Beste auf der ganzen Welt! So müßte man ihn herum kriegen! Aber was schwatz' ich! Das thust du ja alles besser und verständiger noch, und es kann davon gar keine Rede weiter sein! Aber etwas Anderes kann ich nicht begreifen.«

»Was?« fragte Clothilde mit einer gewissen Spannung.

»Wir waren damals beide noch Kinder,« fuhr Sophie fort, »aber du denkst gewiß noch an den Tag, da dein Vater vor sechs Jahren mit dir zuerst bei uns eintraf. Ich glaube, Ihr kamt direct aus Amerika. Er wollte sich hier ankaufen, und hatte es grade auf unser Gütchen abgesehen. Aber mein Vater mochte es nicht hergeben, oder – ich weiß nicht, was sie mit einander abmachten, kurz wir behielten unsern Besitz. Die Mutter hat mir später erzählt, daß mein Vater grade dazumal in großen Verlegenheiten war, und so – bin ich überzeugt, daß dein Papa auch unser Wohlthäter wurde, daß wir ihm vielleicht Alles verdanken. Weißt du, Clothilde, daß wir beide uns so lieb gewonnen haben, so verschieden wir sind, ja noch mehr, daß unsere Väter sich gleich so gut zusammenfanden, das scheint mir manchmal wie ein Wunder! Denn zwei größere Gegensätze unter Männern giebt's nicht leicht. Mein Vater, so eine ehrliche treue Seele, ein bischen derb, ein bischen bäurisch – ei was, ich möchte gar keinen andern Vater! – Aber deiner! So ein nobler, feiner Weltmann! So gütig er Einen ansieht, mir ist's, als schaute er mich durch und durch, und meine ganze Dummheit läge vor ihm aufgeschlagen wie ein albernes Buch, daß ich mich vor seiner Ueberlegenheit nur gleich in ein Mauseloch verkriechen möchte!«

»Du weißt seine Blicke doch auszuhalten!« warf Clothilde schalkhaft ein.

»Ei natürlich!« rief Sophie. »Zeigen darf man keinem Manne, daß man ein bischen Angst vor seiner Größe hat. Schon vor Verlegenheit werd' ich übermüthig, und wenn mich die Mutter schilt, daß ich deinem Papa etwas zu Keckes ins Gesicht gesagt habe, dann weiß ich wahrhaftig kaum, wie es gekommen ist, noch daß ich's gethan habe. Ja, warum neckt er mich auch immer! Uebrigens, er hat es ganz gern, wenn ich ein wenig frisch von der Leber weg antworte, aber Gott straf' mich, wenn ich je absichtlich unbescheiden gegen den Mann sein sollte, den ich so hoch halte. Ja, – was wollt' ich denn eigentlich sagen? Richtig, ich begreife nicht, was Ihr an uns findet. Ihr könntet alljährlich die schönsten Reisen machen, aber nein, da schickt er dich in den Sommermonaten zu uns, wo du gar nichts hast, woran du zu Haus gewöhnt bist, und er gönnt sich keine Erholung, als daß er dich manchmal abholt. Diesmal auch das nicht, und wir zwei reisen allein zusammen.«

»Wenn du denn nicht in Anschlag bringen willst,« entgegnete Clothilde, »daß wir euch eben lieb haben – und dabei soll man sich nicht auf Begreifen oder Ergründen einlassen – so sieh es von der andern, nicht minder natürlichen Seite an. Anstatt in umständlichen Badeorten umherzufahren, wo es meist ebenso bunt und lästig hergeht, wie in der Hauptstadt, genieße ich hier Ruhe, Stille, angenehmes Landleben, frische Luft, den Verkehr mit lieben Menschen, und das ist Alles, was ich brauche. Eine ernstliche Kur hab' ich, Gott sei Dank, noch nicht nöthig gehabt, fremde Gegenden kenn' ich manche, und bin nicht grade reisesüchtig. Da hast du das ganze Geheimniß. Wenn ich sonst von euch Abschied nahm, war ich traurig, diesmal geh' ich recht froh zurück, denn ich nehme dich mit, und sehe deine lachenden Augen, die es nicht erwarten können, unser großstädtisches Leben anzusehen.«

Unter solchem Gespräch verließen die Mädchen das Kornfeld und betraten den von niedrigem Gebüsch hin und wieder bedeckten Anger. Hier lichtete sich die Aussicht. Ein Felsenabhang senkte sich, von Gesträuch bewachsen, steil von dem Plateau hinunter. Gegenüber traten die Berge höher empor, drunten aber dehnte sich langhin das Thal, von dem kleinen Flusse durchschlängelt. Der Blick erkannte Dörfer, Obstgärten, Mühlen, in reizvoller landschaftlicher Abwechselung, und nicht gar weit die kleine Universitätsstadt, schon vom sommerabendlichen Dunst umhüllt.

Nicht weit vom Abhang stand eine alte Buche, ein Jahrhunderte zählender Baumriese, mit mächtigem Stamm und weitausladendem Gezweig, das sich wie mit segnenden Hüterarmen über die Felder oben und das Thal drunten allseitig ausstreckte. Kleines Laubholz umgab die Buche. Die Kunst hatte für diesen Platz nichts weiter gethan, als das Gebüsch um den Felsenrand ein wenig gelichtet, um einen offneren Ausblick zu gewinnen. Er gehörte zu dem Grund und Boden von Sophiens Vater, lag entfernt von der öffentlichen Landstraße, doch zeigten einige ziemlich ausgetretene Fußwege, besonders von der Stadtseite her, daß man der herrlichen Aussicht wegen oft genug in dieß Privateigenthum zu dringen sich erlaubte.

Sophie und Clothilde, die sich hier zu Hause wußten, zertheilten das Laubwerk, um auf ihrem Lieblingsplatz auszuruhen. Aber stutzend blieben sie plötzlich stehen und wagten nicht näher zu treten. Denn vor der Bank ausgestreckt lag im Grase ein junger Mann, fest eingeschlafen, das Ränzel unter'm Kopf, Wanderstab und Hut neben ihm.

»Diese Unverschämtheit!« rief Sophie halblaut, doch eher belustigt als unangenehm berührt. »Sich hier breit herzulegen und zu schlafen! Es fehlte noch, daß er schnarchte! Man sollte ihn wegjagen, der Ort gehört uns allein.«

»Laß ihn,« sagte Clothilde begütigend. »Es mag ein armer Handwerksbursch' sein, dem man am heißen Tage das bischen Schatten wohl gönnen kann.«

»Was braucht er aber in unser Revier einzudringen? Ein Handwerksbursch'? So sieht er nicht aus. Du, ich glaube, es ist ein Student!«

»Komm, komm!« sagte Clothilde, indem sie Miene machte fortzugehen.

In Sophiens Augen aber funkelte der Uebermuth lustig auf. »Warte doch!« rief sie. »Was meinst du, wenn wir ihn weckten und nachher ungeheuer auslachten?«

»Sophie, du wirst doch nicht?«

»Ansehen wird man sich den Menschen doch dürfen! Er ist ja gleichsam unser Gefangener, wir könnten ihn pfänden.«

Leise schlich sie sich näher, blickte dem Schläfer ins Gesicht, und angenehm überrascht winkte sie der Freundin. Clothilde jedoch zog sich etwas ferner zurück.

»Sieh' doch nur!« rief Sophie im Flüsterton. »Das ist ja ein reizender Junge! Auf dem blonden Krauskopf müßte sich ein Kornblumenkranz prächtig ausnehmen!«

Und plötzlich von keckster Lustigkeit ergriffen, huschte sie zurück, nahm der Freundin den Kranz weg, flog leise wieder auf den Schläfer zu, und setzte ihm behutsam das blaue Gewinde auf das Haupt. Dann schoß sie, flüchtig wie ein Vogel, davon und in das Gebüsch, hinter dem Clothilde bereits verschwunden war. Im Innersten lachend über ihren Streich, blieb sie noch einmal stehen und blickte durch die Zweige. Da schien es ihr, als mache der Schlafende eine Bewegung. Hastig machte sie kehrt, eilte über den Anger weg und auf das Kornfeld zu, in welchem sie Clothildens weißes Gewand eben verschwinden sah. Bald hatte sie die Freundin erreicht, und geduckt liefen Beide neben einander her wie die Feldlerchen. Sie durften vor dem Gesehenwerden nicht bange sein, denn die Aehren überragten sie hoch, und doch liefen sie, Sophie kichernd, Clothilde ängstlicher, und zuweilen zurückblickend, ob der Erwachte ihren Spuren auch nicht folgte.

Endlich hielten sie athemlos still. Sophie war fassungslos vor Lachen, und mußte sich auf den Rain niedersetzen, Clothilde fühlte sich zwar dadurch angesteckt und machte der Freundin mit lachendem Munde sehr ernste Vorwürfe, aber gerade durch diesen Gegensatz fühlte sich Sophie zu immer neuer Lachlust herausgefordert.

»Wenn er nun aufwacht und sich bekränzt sieht!« rief sie.

»Und wenn er nun nachforscht nach der leichtsinnigen Hand, die es gethan –?« wandte Clothilde ein. »Wer weiß, was er für ein Mensch ist! Schade um meinen Kranz!«

»Hättest du ihn dir nur näher angeseh'n,« meinte Sophie, »er sah nicht schlimm aus, und schlief ja wie ein frommes Kind! So ein allerliebster Wegelagerer und Vagabund ist mir noch nicht vorgekommen!«

»Du bist ein böses und gewissenloses Mädchen, und ich sollte dir ernstlich zürnen!« sagte Clothilde. »Wer weiß, ob dein allerliebster Vagabund nicht hier schon irgendwo im Korn steckt –«

Sophie sprang auf, knixte gegen das Korn zu und rief: »Wünsche guten Abend, mein holder Herr Wegelagerer! Nur näher! Ausgeschlafen? Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen!«

Jetzt mußte auch Clothilde lachen über den drolligen Ausdruck und Anstand, mit dem die durchtriebene kleine Person ins Leere complimentirte, und Sophie ließ es nicht an hingebender Nachfolge fehlen.

Da plötzlich zuckte ein Blitzstrahl, und ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte die Luft. Die Mädchen fuhren zusammen und bemerkten nun erst die Massen finstern Gewölkes, die von der Dorfseite herübergezogen kamen. Längst hätten die Freundinnen das nahende Gewitter beobachten und sich durch rechtzeitige Umkehr vor ihm schützen können. Jetzt kam es im Sturmschritt dahergebraus't. Wie ein Wellenmeer wurde das Aehrenfeld niedergedrückt und wieder gehoben, pfeifend schrillte der Wind über die Aehren und dicke Regentropfen prasselten bereits auf die Strohhüte der Mädchen. Auf die ausgelassene Laune wirkte der Gegensatz der Naturstimmung um so verwirrender.

Das Wetter schien sich stark ausladen zu wollen, ein Obdach war nicht zu finden, das Wohnhaus fast eine halbe Stunde weit entfernt. Unter der Buche Schutz zu suchen, daran war jetzt nicht zu denken. Es galt also Ergebung in das Mißgeschick. Clothilde trug es mit Muth und Fassung, und suchte die Angst der Freundin zu bannen. Denn so groß Sophiens Uebermuth gewesen, so kleinlaut zeigte sie sich jetzt. Sie fürchtete sich immer vor dem Gewitter, und nun gar Blitz, Donner und strömendem Regen im Freien ausgesetzt zu sein, brachte sie um alle Haltung. Sie schrie auf bei jedem Wetterschlag, sie weinte wie ein Kind.

Mit einemmal aber brach die alte Laune durch bei dem Anblick, den die vom Regen durchweichten leichten Sommerkleider gewährten, und laut lachend blieb sie stehen. Clothilde, zufrieden mit dieser Wendung, stimmte ein, und so eilten sie mit raschen Schritten vorwärts, durchnäßt bis auf die Haut, mit verunstaltetem Anzug, aber mit immer neuem Stoff zum Lachen versehen. So erreichten sie den Gutshof.

»Sie sind da!« rief eine kräftige Männerstimme über den Hof und in das Haus zurück. Der Oberamtmann Hermann, Sophiens Vater, stand in der Thür. Aus den Scheunen und Ställen, vom Boden, aus den Fenstern wiederholte sich der Ruf, sechs Buben von verschiedenen Jahrgängen kamen von überallher durch den Regen auf das Haus zugerannt, Knechte und Mägde traten in die Thüren der Wirthschaftsgebäude. Alle hatten mit Besorgniß nach den jungen Mädchen gesucht.

»Ei da sollte man doch selbst ein Donnerwetter loslassen über die junge Thorheit, wenn Einen die armen gebadeten Kätzlein nicht jammerten!«

Mit solchen Worten empfing sie der Vater. Die Mutter aber nahm die Mädchen sofort in Beschlag, um sie von Kopf bis zu Fuß umkleiden zu helfen. Sie hatte sich sehr geängstigt, sie ängstigte sich noch, besonders um Clothilde, ihre Pflegebefohlene, deren Körper viel zarter war als der der Tochter. Doch beruhigte sie sich bald, um so mehr bei der lustigen Stimmung der Kinder, und da sie immer bereit war einzustimmen, wo es etwas Heiteres gab, so lachten Mutter und Mädchen bald um die Wette, denn es schien ihnen, als gäbe es nichts Lächerlicheres als dieses nasse Ausziehen und trockene Anziehen. –

Endlich ging die Mutter, um das Abendessen zu besorgen, denn die kleineren Buben tobten bereits an der Thür, daß das Erwünschte so lange verzögert werde.

Und der Regen goß und strömte, die Wasser schienen kein Ende nehmen zu wollen. Durch das offene Fenster strömte Geruch der erquickten Erde aus dem Garten herauf, man hörte unten den Gutsherrn den lang ersehnten Segen preisen und den Wunsch aussprechen, daß über Nacht noch herunter kommen möge, was da wolle.

Sophie aber, jetzt wieder allein in ihrem Stübchen mit der Freundin, sah in den Regen hinaus, und machte ein besorgtes Gesicht. Dann begann sie: »Jetzt möcht' ich nur wissen, was aus dem armen Menschen unter der Buche bei dem Wetter geworden ist?«

Clothilde hatte das auch schon gedacht. Nicht ohne Schelmerei entgegnete sie: »Vielleicht verschläft er es!«

»Du traust ihm einen gesunden Schlaf zu!« lachte Sophie. »Aber nein, er muß ja von dem Gekrach aufgewacht sein. Eine Weile giebt ihm der Baum wohl Schutz – na, er wird sich schön wundern, wenn er die Augen aufmacht, sich halb gebadet und dazu bekränzt sieht. Es thut mir aber ernstlich leid um den guten Jungen, er sah so nett aus! Wenn er nach der Stadt will, hat er über eine Stunde zu laufen, und wenn er den nächsten Weg nicht weiß, noch mehr. Wär' er klug, so suchte er hier im Dorf ein Unterkommen. Clothilde, was meinst du, wenn er plötzlich bei uns vorspräche? Er kennt uns nicht, wir aber ihn – das könnte einen Spaß geben!« –

Sophie war so erfüllt von dem Gedanken, daß sie schnell auf das Fenster zulief und mit langem Hals hinausblickte, ob der Landstreicher nicht etwa schon da sei. Aber sie sah sich enttäuscht.

Sie wurden zu Tische gerufen. Der Vater und die jüngeren Brüder neckten viel über das Abschiedsbad, die Mutter wünschte, daß es nur keine üblen Folgen haben möge. Die auf morgen früh festgesetzte Abreise wurde besprochen. Der Vater wollte die Mädchen bis zum nächsten Eisenbahnhaltepunkt in seinem Wagen begleiten. Die Knaben wollten auch mitgenommen werden. Man war früh müde und trennte sich, um desto früher morgen wach zu sein.

Sophie und Clothilde waren wieder allein in ihrem Stübchen. Die Reisekoffer standen gepackt, nur diese und jene Kleinigkeit war noch unterzubringen. Da faßte Sophie an ihren Hals, stieß einen leisen Schrei aus und stand starr vor Schrecken.

»Was ist?« rief Clothilde herbeispringend.

»Mein Medaillon! Ich habe mein Medaillon verloren!«

Beide Mädchen legten sich auf's Suchen, leuchteten am Boden umher, in den Koffern, Schubladen und Kästen. Sie fanden nichts.

»Ich hab' es noch heut' am Hals getragen,« sagte Sophie, »ich muß es im Korn verloren haben! Clothilde, in der Kapsel ist dein Bild, von dir hab' ich das schöne Geschenk zum Geburtstag erhalten! Ach ich Unglückliche –!« Sophie brach in lautes Schluchzen aus.

Clothilde tröstete, aber Sophie wollte sich nicht trösten lassen. »Und morgen früh soll ich fort,« rief sie, »und kann nicht einmal selbst danach suchen! Ich möchte gleich hinaus, aber im Finstern und bei dem Regen! Und dennoch – am Ende ging' es auch mit einer Laterne!«

Clothilde konnte nicht umhin, der Freundin ins Gesicht zu lachen. Sich Sophien Nachts im Korn mit der Laterne nach einem kleinen Schmuckstück suchend zu denken – das hatte etwas sehr Belustigendes für sie. Allein sie war doch von dem Verlust dieses Medaillons eigentlich ernster berührt als Sophie selbst. Mußte diese es denn grade im Korn verloren haben? Konnte es ihr nicht auch unter der Buche, vielleicht in dem Moment, da sie den Wegelagerer bekränzte, entfallen sein? Und wenn es so war und der Erwachte fand es, dann war es ihr – Clothildens Porträt, Clothildens, die an Sophiens thörichtem Streich gar keinen Antheil gehabt. Auf ihr ruhte dann der Verdacht einer Leichtfertigkeit, von der sie doch weit entfernt war, und die, wenn ungünstige Umstände zusammentrafen, sehr böse ausgebeutet werden konnte. Wer durfte es dem Bekränzten verdenken, wenn er annahm, daß die Hand, die sein Haupt geschmückt, absichtlich auch das Bild zum Wiedererkennungszeichen neben ihn gelegt habe? Ein gewöhnlicher Landstreicher war der schlafende junge Mann nicht gewesen, das hatte Clothilde wohl erkannt, obgleich sie sein Gesicht nicht gesehen. Es war Keiner, der den gefundenen Schatz für kleinen Gewinn schnell verhandelte. Um so schlimmer! Der junge Mann mußte aufmerksam werden, so war anzunehmen, konnte Nachforschungen anstellen, es konnten ihr große Verlegenheiten bereitet werden.

Diese Gedanken beängstigten Clothilden nicht wenig. Doch sprach sie nichts davon aus, um Sophiens Schmerz nicht noch zu vergrößern. Ein Trost war es ihr, daß sie morgen mit dem Frühesten abreisen sollte und so dem Schauplatz ihrer Besorgnisse enthoben wurde. – Doch vereinigten sich die Freundinnen darüber, daß die Mutter von dem Verlust unterrichtet werden müsse, damit sie ihm auf dem Wege zur Buche nachforschen lassen könne. Und endlich schliefen Beide ein, und Sophie träumte von einem wundervollen neuen Medaillon, welches ihr die Freundin kurz vor dem Einschlafen versprochen hatte.

Zweites Capitel.

Um dieselbe Zeit begann auch die abendliche Gesellschaft in dem Wirthshause unten im Thale sich nach und nach zu zerstreuen. Ein junger Mann in modischen Reisekleidern, der gegen Abend angekommen war, hatte die Aufmerksamkeit der Stammgäste erregt. Er war ihrer Unterhaltung nicht aus dem Wege gegangen, hatte sich in gewinnender Weise über verschiedene Verhältnisse der Stadt erkundigt, und die Neugier der Frager durch dies und jenes aus Paris befriedigt, woher er eben gekommen sein wollte. Von dem Kellner erfuhr man, daß er ein Zimmer mit zwei Betten bestellt habe, also noch Jemand erwarten müsse. Im Fremdenbuche las man den Namen Arnold, Zimmermeister. Bei dem weltmännisch eleganten Wesen des jungen Gastes erschien es den Herren nur als ein Irrthum, daß das Wort »Zimmermeister« im Fremdenbuchs unter die Rubrik »Stand« gerathen sei. Man wollte eher einen jungen Herrn »von Stand« in ihm sehen. Ja der Rentamtscalculator Schneider, auf dessen Menschenkenntniß man etwas gab, witterte hinter dem Namen Zimmermeister ein geheimnißvolles Incognito. So begegnete man ihm mit großer Höflichkeit, und war nicht wenig gespannt auf die Ankunft dessen, den er noch so spät erwartete, und mit dem er sein Zimmer theilen wollte. Man kam auf kühne Vermuthungen, ja sogar eine etwas gravirende Annahme hatte für die neuigkeitsdurstigen Väter der Stadt etwas Gefälliges. Allein es wurde spät, die öffentliche und häusliche Ordnung verlangte, daß man sich zurückzog. Man that es ungern, da das Geheimniß noch immer ungelöst blieb, und verabschiedete sich, nicht ohne ein vertrauliches Wort an den Kellner, welches auf seine um so vertraulichere Mittheilung für den folgenden Tag hinzielte.

Der junge Gast war allein. Er zündete eine neue Cigarre an, sah wiederholt nach der Uhr und in den noch immer strömenden Regen hinaus, und ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich rief er den Kellner.

»Kennen Sie einen Schuster Quassian hier am Orte? fragte er. »Wohnt er weit von hier?«

»Oh,« meinte der Kellner, »wenn der Herr für die Fußbekleidung etwas in Stand bringen lassen will, so wollen wir zu einem besseren Schuhmacher schicken. Der Quassian versteht nichts mehr und macht nur Flickarbeit für geringe Leute.«

»So, so! Aber es ist nicht darum. Es liegt mir daran, den Quassian zu sprechen.«

Der Kellner schmunzelte. »Der Herr wollen also bloß Ihren Spaß an der Verrücktheit des dummen Kerls haben?«

»Auch das nicht, mein angenehmer Knabe! Ich wußte bisher nicht einmal, daß der Mann verrückt und ein dummer Kerl sei. Schaffen Sie mir Jemand, der mich nach seiner Wohnung führe.«

»O, das wird nicht nöthig sein, denn der Quassian sitzt vermuthlich noch, wie er pflegt, in dem Wirthszimmer nach dem Hofe hinaus, wo die gemeinen Leute ihren Schoppen trinken.«

»Das hätt' ich eher wissen sollen!« rief der Gast. »Sehen Sie zu, und bitten Sie ihn, zu mir herüber zu kommen. Wenn er da ist, bringen Sie gleich eine Flasche Wein mit.«

Der Kellner hörte mit offenem Munde zu, und schlug draußen die Hände über dem Kopf zusammen vor Erstaunen, daß am Ende der Schuster Quassian der noch so spät erwartete Gast sei. Vor einer solchen Annahme mußte auch die Vornehmheit des geheimnißvollen jungen Mannes zusammenfallen, wenn nicht etwa – neue ganz unerhörte und unerwartete Geheimnisse sich an ihn knüpften.

Denn der Schuster Quassian war ein bekanntes Stadtoriginal untergeordneter Gattung, und zwar wie es deren nur in kleineren Universitätsstädten zuweilen giebt. Seine einst günstigen Verhältnisse waren im Laufe der Zeit nicht auf der Höhe geblieben. Die Fortschritte in der Kunst, Stiefel herzustellen, hatten sein handwerkliches Verständniß überflügelt. Zwar machte er für einige Professoren älteren Schlages nach wie vor und nach altem Leistenverstande die übliche Fußbekleidung, und für manche Studenten hatte die Eigenthümlichkeit seiner Persönlichkeit Anziehung genug, um des Mannes willen mit seiner Arbeit fürlieb zu nehmen. Im Ganzen aber folgte die neue und jüngere Generation der Strömung der Zeit, die sich veredelnd auch des Schusterhandwerks bemächtigt hatte.

Meister Quassian war zwar nicht außer Thätigkeit gesetzt und nicht durchaus verarmt, wenngleich kein Geselle oder Lehrbursche mehr die Vervollkommnung bei ihm nachsuchte. Zu flicken, zu versohlen und vorzuschuhen, gab ihm die Menschheit immer noch, aber er galt doch für einen ganz untergeordneten Künstler. Allein je weniger die akademische Körperschaft das Wohl und Wehe ihrer Füße ihm anheim geben wollte, so gehörte er doch, mehr als mancher geschicktere Jünger St. Crispins, zu ihrem Verbande.

Meister Quassian war, was seine Persönlichkeit betraf, durch und durch ein Universitätsschuster. Er rechnete sich auch durchaus zum gelehrten Kreise, und ließ es sich angelegen sein, mit so viel lateinischen Vocabeln und Redensarten, als er irgend auftreiben konnte, um sich zu werfen. Er pflegte ein Stübchen an ärmere Studirende zu vermiethen, und hatte es gern, wenn sie seinen gelehrten Bestrebungen zu Hülfe kamen. So sammelte er im Lauf der Jahre eine Menge lateinischer Wendungen. Er versäumte keine Doctordisputation, keine öffentliche akademische Handlung. Er war überall bekannt, beliebt, und er ließ es gelten, wenn der Vorwitz und die Lustigmacherei bei Rectoratswechseln und sonstigen Haupt- und Staatsactionen der Universität, ihn auf die erste Reihe der Zuschauer- und Hörerbänke zu schieben suchte, um ihn allen Blicken auszusetzen.

Meister Quassian hatte den liebenswürdigen Humor, seine sonderbare Stellung zur akademischen Welt zu verstehen. Verspottung verletzte ihn nicht, er ahnte, daß seine lateinischen Redensarten oft nicht richtig, oder nicht an rechter Stelle verwendet waren, aber es beglückte ihn doch, über einige gelehrte Abschnitzel verfügen zu können; und wo die gültige lateinische Münze nicht ausreichte, prägte er für seinen Privatgebrauch sich neue charakteristische Sprachformen. Er wußte voraus, daß bei seinen würdevollsten Sprüchen ein Gelächter entstehen werde, er schmunzelte selbst schon im Voraus und zwickerte mit den Augen, und gab sich gutmüthig der Lustigkeit preis.

Es versteht sich, daß er nicht ohne eine kleine Eitelkeit war, und daß diese durch hämischen Spott und böswilligen Spaß auch verletzt werden konnte. In solchen Fällen aber trat seine unlateinische Spruchgewandtheit in treffender Abwehr glänzend hervor, so daß sich der Angreifer meist beschämt zurückzog, die Lacher aber dennoch auf Meister Quassians Seite blieben. Dieß machte ihn nur noch beliebter, und so sehr man ihn hänselte, man schätzte seinen Humor, und es lag nichts gegen ihn vor, weßwegen man ihn nicht persönlich achten sollte. Dies war im akademischen Kreise.

Anders aber stand der Mann in bürgerlichen Beziehungen. Er konnte nicht umhin, auch unter Handwerksgenossen mit seinem Latein zu prunken, sich als einen Angehörigen der gelehrten Schule zu geben. Man lachte auch hier über ihn, aber weniger gutmüthig. Die Abnahme seines Geschäfts, die Verschlechterung seiner Arbeit, schob man – und es bleibe ununtersucht, mit wie viel Recht – auf seine Verzettelung in Dingen, die ihm nicht zukamen.

Eine heruntergekommene Arbeitskraft wird in ihrem Bereiche selten großer Achtung genießen, es mögen sich noch so viele Vorzüge finden, die den Werth des Inhabers auf andern Gebieten ersetzen. Was einmal aus der Art schlägt, wird von dem ursprünglich Gleichartigen, das sich regelrecht entwickelt hat, immer mißachtet. Die Welt urtheilt nach äußeren Erfolgen, gleichviel ob es eine große oder kleine Welt ist, und wo sie keine Erfolge sieht, giebt es für sie keine Würdigung.

So kam es, daß man Meister Quassian als den Allerweltsnarren behandelte, seine Späße belachte, sich aber auch jeden Spaß mit ihm erlaubte, und ihn unterschätzte, selbst da, wo er menschlich schätzenswerthe Seiten bot.

Der junge Gast, den wir, laut seinem in das Fremdenbuch eingetragenen Namen, Arnold nennen wollen, hatte nicht lange zu warten. Bald erschien der Kellner wieder, an der Seite eines kleinen, etwas gekrümmten Männleins, mit feinem Munde und klug blickenden Aeuglein, und in sonderbar altmodischer Kleidung.

»Hab' ich das Vergnügen, Herrn Quassian zu begrüßen?« fragte Arnold mit gewinnender Freundlichkeit.

Der wackere Schuster stutzte. Dann sagte er: »Servus, unterthäniger Diener!« Forschend sah er dem Fremden ins Gesicht und neugierig, auf was es eigentlich abgesehen sei, setzte er hinzu: »Num quid ceterum? Was steht sonst zu Diensten?«

»Dann freue ich mich,« entgegnete Arnold, »dem .trefflichen Pflegevater meines Freundes Reginald die Hand drücken zu können! Reginald schlug mir vor, hier mit ihm zusammenzutreffen, ich erwarte ihn schon seit mehreren Stunden. Wollen Sie mir inzwischen freundlich Gesellschaft leisten? Hoffentlich läßt unser gemeinschaftlicher Liebling nicht mehr lange auf sich warten.«

Des Alten Gesicht schien bei dem Namen Reginald aufzublühn, seine Augen glänzten, und aus der Stellung mißtrauischen Lauerns hob sich der ganze Mann in aufathmender Freude gleichsam empor. »Ach! Servus!« stotterte er glücklich: »Ein Freund meines Reginald? Er schrieb mir, er werde in diesen Tagen kommen. Er schreibt mir oft, der gute Jüngling, juvenis dilectissimus. Quem habeo honorem – wen habe ich die Ehre? Wie nenne ich Euer Hochwohlgeboren?«

Arnold nannte seinen Namen und lud den Meister ein, an einem kleinen Tische Platz zu nehmen, wo der Kellner bereits Wein und Gläser aufgestellt hatte. Der Fremde schien durchaus nicht verwundert über des Schusters lateinische Wendungen, behandelte ihn mit der größten Hochachtung, und flößte durch sein gefälliges Wesen dem Alten das höchste Vertrauen ein. Der gute Wein und das Gespräch über Reginald vertrieben bald den letzten Rückhalt.

Arnold erzählte zuvörderst ausführlicher, daß er sechs Monate in Italien, England und Frankreich zugebracht, und mit dem Freunde, der in Berlin lebte, brieflich verabredet, sich hier in Süddeutschland mit ihm zu vereinigen, um dann gemeinschaftlich einen Sommerausflug zu unternehmen.

»Optime!« rief Meister Quassian. »Musis remedium, Erholung muß sein! Und einen juvenem doctissimum studiosissimumque hoff' ich in Euer Hochwohlgeboren zu erkennen, wie ich denn den ornatissimum vor mir sehe?«

»Ich bin kein Gelehrter, mein lieber Meister,« entgegnete Arnold, »wenn ich gleich so viel Latein verstehe, um Ihnen folgen zu können. Ich bin nur ein Zimmermann.«

»Hercle! dieses wundert mich!« rief der Meister, indem er Arnold groß ansah. Er verglich den jungen Mann mit den Zimmerleuten und Meistern, die er in der Stadt kannte, und konnte zwischen der Erscheinung des Gastes und dem Handwerk keine Vermittelung finden.

»Es sollte mir leid thun, wenn ich dadurch in Ihrer Achtung einbüßte,« fuhr Arnold lächelnd fort.

»Hoc minus, dieses weniger!« meinte Quassian. »Unser Reginald gehört auch nicht den scientiis an, wenn er gleich als Baumeister, architectus, auf einer Akademie studirt hat. Ich kann nicht leugnen, daß mir das seiner Zeit nicht in den Sinn wollte, denn ich hätte ihn gar zu gern zum Gelehrten gemacht. Wir würden manche Hülfsquelle gefunden haben. Denn wenn ich auch für mich aus dem Wohlwollen der professorum das ne sutor ultra crepidam, Schuster bleib bei deinem Leisten, heraushöre, so hätten sich für meinen Reginald doch stipendiae etcaetera gefunden. Allein weit entfernt sei es, ein operam et oleum perdidi! auszurufen. Unser Reginald ist seinen eigenen Weg gegangen, aber er ist doch nach meinem Herzen, und ich habe mehr Freude und Glück an ihm als Mancher an seinem eigenen Sohne! Vivat!«

Der Meister, der die letzten Worte mit bewegter Stimme gesprochen, hob sein Glas und trank es aus.

»Reginald spricht oft und mit Liebe von Ihnen und seiner Kindheit,« begann Arnold wieder, »aber ich erfuhr bisher nur Bruchstücke. Sie würden mich erfreuen, wenn Sie mir im Zusammenhang davon erzählten.«

»Placet! Nichts lieber als das. Obgleich wenig darüber zu sagen ist, und – nicht Alles gesagt werden kann.« Der Meister seufzte und sah in sein Glas. »Was nicht mehr zu erlangen ist, das soll man – doch longum est, es würde zu lang sein! Also, ich muß zuvörderst de me ipso anfangen, von mir selbst. Ich war ein junger Mann und hatte ein junges Weib, uxorem, und wir hatten unser eigenes Häuslein und konnten bei der Arbeit ein gar hübsches Leben führen, vitam amænissimam. Aber drei Kinder starben uns hinter einander, und es waren schwere Kriegszeiten. Bald jagten die Franzosen die deutschen Kriegsvölker durch unsere Stadt, bald wurden sie wieder von deutschen Heeren gejagt. Es ging Alles drunter und drüber, und wir hatten so oft den Landesherrn gewechselt, daß wir manchmal gar nicht mehr wußten, wem wir angehörten. Endlich kam einmal Ruhe, der Franzose zog ab, abiit, evasit, erupit, und wir dachten, wir könnten uns erholen. –

Nun lag bei uns aber Alles voll von Verwundeten aller Nationen, und mancher sah sein eigenes Wohnhaus zum Spital verwandelt, darin er selbst kaum mehr Platz hatte. Meine Frau, die im Gasthofe nicht selten zu Hülfe ging, stubarum serva, erzählte von einer schönen jungen Dame, die mit ihrem Kinde dort ein Unterkommen gefunden, aber nicht wohl aufgehoben sei in dem Rumor bei ihrer Kränklichkeit, propter debilitatem corporis. Ihr Mann, ein Deutscher, aber in französischen Diensten militans und Hauptmann, hatte allhier verwundet gelegen. Sie war ihm gefolgt, ihn zu pflegen, aber er starb, und nun saß sie hier, matrona nobilis, selbst krank und ohne Pflege. Wir schlugen ihr vor, sie bei uns aufzunehmen, und sie ging gern darauf ein. Sie war einen ganzen Winter hindurch bei uns, und gewöhnte sich so, daß sie sagte, sie würde gern immer dableiben. Verwandte hatte sie gar nicht, sie war von wer weiß woher gekommen, von den Inseln, ultima Thule, ›isle de Napoleon‹ nannte sie's auf welsch. Ihr Vater brachte sie nach Straßburg, dort starb er, mortuus est. Sie heirathete ihren Mann, jetzt mortuus dito. Nun war sie mit ihrem Kind allein.

Es war ein gar feines Knäblein, puer gratiosus, und anfangs mocht' ich es kaum anfassen mit meinen Händen, dieweil sie des Peches nicht immer ohne waren – pix, picis. Allein das Knäblein, Reginald nomen gerens, war gern in meiner Werkstatt, und gewöhnte sich sehr an mich. Wir waren gute Freunde.

Jetzt, wie es zum Frühjahr geht, wird die Krankheit unserer Dame schlimmer, und eines Tages geht sie uns unter den Händen aus, wie ein Licht. Sie hatte vor ihrem Tode noch ein Langes mit mir gesprochen, mit mir allein, nicht mit meiner Frau. Der freilich hatte sie auch ihr Kind empfohlen wie mir, weil sie mein Weib als wacker erkannt hatte, probissimam. Was die Dame aber mit mir verhandelte, es galt auch dem Reginald, und ich versprach zu schalten und zu walten – – oh Gott, oh Gott! – ich konnt's nicht halten, und verloren ist verloren! Perditum! Perditum!« –

Der Meister verbarg sein Gesicht in den Händen, er schien von schmerzlicher Erinnerung hart bedrängt.

Arnold sah ihn befremdet an, fragte aber nicht, sondern stand auf und sah aus dem Fenster. Immer noch fiel der Regen, jetzt leiser und durchdringender herab.

Quassian fuhr plötzlich auf.

»Verzeihung, mein Herr! Pergimus, ich fahre fort, obwohl nicht gar viel mehr zu sagen ist. Mein Weib und ich waren eins, nachdem wir die Dame begraben hatten, das Kind bei uns zu behalten. Wir hatten uns so an das Bürschlein gewöhnt, daß wir uns nicht mehr von ihm trennen konnten. Bei uns ging's umgekehrt, nicht der Kuckuck legte uns ein Ei in die Wirthschaft, sondern in die Kuckuckswirthschaft kam ein junger Paradiesvogel, und den wollten wir halten, da es uns doch mit der eigenen Brut nicht glückte.

Zwar ward nicht unterlassen, nachzuforschen, ob nicht etwa noch Verwandte von dem Reginald lebten, aber es fanden sich keine. Es dacht' auch Keiner daran, uns das Kind streitig zu machen, Jeder hatte genug an dem, was er hatte, denn schon ging es wieder wild los. Einen Tag nach dem Tode unserer Dame rückte schon das welsche Gesindel wieder ein, Francorum turba, und wir hatten manches Kriegsjahr zu überstehen. Endlich gab's Frieden, ich kam mit meinem Handwerk auf, es ging uns wohl und wir konnten unsern Reginald erziehen. Ja, der wuchs uns bald über den Kopf.

Als er uns verlassen mußte, um sich sein Glück in der Welt zu suchen, fortunam, ward es uns einsam. Mein Weib legte sich und starb. Mein Geschäft ging rückwärts, retro versus, es war als wenn der Segen aus dem Hause wäre. Aber er kam wieder. Denn nie vergaß mein Reginald des armen Schusters, der Vaterstelle an ihm vertreten. Er ist ein guter Sohn, er kennt meine Lage, schickt mir von seinen Ersparnissen, reichlicher als ich nöthig habe! Dennoch zögre ich nicht, es anzunehmen, accipere, denn ich weiß, ihm ist es eine Freude, gaudium. Vivat!«

Mit innerstem Herzensjubel stieß der Meister sein Glas noch einmal an Arnolds.

»Vivamus! Aber möglichst im Trockenen, denn Feuchtigkeit hab' ich genug!«

So rief eine Stimme in der Thür, und eine Gestalt in wahrhaft abschreckendem Zustande zeigte sich den erstaunten Blicken. Es war, als wäre sie um und um in Lehm gewälzt worden, die Kleider zerrissen, zum Theil in Fetzen herabhängend, triefend vom Hut bis zur Sohle.

»Reginaldchen!« schrie der Schuster auf, und flog, ungeschreckt von dem Zustande des jungen Mannes, an seine Brust.

»Mein armer Freund!« rief Arnold halb lachend. »Gott sei Dank, daß du da bist, so scheußlich du auch aussiehst! Wie kommst du zu diesem vagabundenhaften Aussehen? Und dabei noch einen Kornblumenkranz auf dem Hute! Nur rasch in andere Kleider, mein poetisches Gemüth! Oben in meinen Koffern findest du, was du brauchst.«

Der Meister hatte dem Pflegesohn bereits das durchweichte Ränzel abgenommen, und indem er es ihm nachtrug, wendete er sich rasch noch einmal um:

»Er muß etwas Warmes genießen und einen guten Schluck Wein, daß ihm die Nässe nicht schadet. Verstandibus?«

»Verstandiborum!« riskirte Arnold, indem er dem Kellner Auftrag gab.

Meister Quassian zog die Augenbrauen hoch und blitzte Arnold mit humoristischem Verständniß an. Dann eilte er glücklich hinter Reginald her. Auch Arnold folgte, öffnete seinen Koffer, und half, zugleich mit dem Alten, den Freund umkleiden, der ungefähr von seiner Statur war.

Nicht lange, und alle drei saßen wieder unten um den Tisch. Reginald hatte sich gestärkt und erzählte seine abenteuerliche Fahrt, während der Meister ihm die Worte vom Munde sah, ihm einschenkte, und fort und fort auszutrinken nöthigte. Er reichte die bald leere Flasche dem Kellner, und winkte mit großartiger Bewegung nach einer neuen. Es ging zwar auf Arnold's Rechnung, aber der Meister war in liberaler Stimmung, er hätte sie auch auf seine eigene Rechnung genommen. Er war so glücklich; die unbedingte Hochachtung der beiden feinen jungen Männer, die ihn wie Ihresgleichen behandelten, that ihm unendlich wohl, und der gute Wein erhöhte sein freudiges Selbstgefühl.

»Aber mein guter Junge,« begann Arnold zu Reginald, »warum mußtest du auch drei bis vier Stunden im Regen umherlaufen?«

»Richtig! Cur, quare, quomodo, warum?« fiel der Meister ein.

»Zum Vergnügen geschah es nicht,« sagte Reginald, »noch auch konnte ich es vermuthen. Ich kam zu Fuß, und da ich noch zu rechter Zeit einzutreffen hoffte, machte ich einen Umweg. Oben auf dem Felsenrande steht eine alte Buche, ich kenne sie aus frühster Kindheit. Du gingst oft mit mir dahin spazieren, lieber Vater.«

Der Meister nickte und sagte gedankenvoll: »Fagus, eine Buche! Arbor et locus magni ponderis, von großer Bedeutung!«

»Du hast mir dort viel Märchen und Geschichten erzählt, und immer hatte der Punkt eine merkwürdige Anziehung für mich. Die Erinnerung an diesen Lieblingsort lockte mich auf ungebahnte Wege. Ich fand ihn, sehr zum Vortheil verändert, und freute mich, die liebe alte Vaterstadt jetzt deutlich zu meinen Füßen zu erkennen. Ermüdet warf ich mich in's Gras, und die Hitze des Nachmittags wirkte so erschlaffend auf mich, daß ich bald einschlief. Ich muß lange geschlafen haben. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas geträumt – aber –«

»Aber? Was denn?« fragte Arnold.

»Kurz, als ich erwache, hör' ich ein Gerassel, als würden Trommeln gerührt. Ein strömender Regenguß prasselt nieder, der Himmel ist schwarz, und Blitze jagen durch die Luft. Minutenlang wußt' ich nicht, was um mich vorging, wie ich an diesen Ort gekommen. Es muß eine tüchtige Ermüdung gewesen sein, die mich in so schweren Schlaf versenkt hatte. Eine Weile gab der Baum mir Schutz. Selbst als kein trockner Fußbreit Erde mehr drunter war, beschloß ich auszuharren, bis das Wetter vorüber wäre. Ich wartete eine Stunde, aber immer umfassender schien es sich entladen zu wollen. Darüber wurde es dunkel, und wenn ich zu Nacht noch unter Dach wollte, mußt' ich mich beeilen.

Ich beschloß den kürzesten Weg zu nehmen. Aus meinen Knabenjahren war mir erinnerlich, daß ich die steile Felsenwand zwischen Gestrüpp und Wurzelwerk oft hinauf und hinab geklettert, zwar nicht ohne Beschwerlichkeit, aber doch ohne Gefahr. Das schien mir auch heut der nächste Weg. Allein, wenn es noch möglich war bei diesem Wetter aus dem Regen in die Traufe zu gerathen, so geschah es jetzt. Lose liegendes Gestein, vom strömenden Wasser aufgeweicht, bröckelte sich unter meinen Füßen ab, ich kam in's Rutschen, Stolpern, Fallen, und daß ich mit heilen Gliedmaßen unten anlangte, ist merkwürdig genug. Trotzdem hatte sich dieser kürzeste Weg doch stark in die Länge gezogen. Im Finstern befand ich mich auf einer Wiese, von Gräben durchschnitten, Umzäunungen mußten überklettert werden, ich hatte die Richtung verloren und wußte nicht mehr, wo ich war.

Ich kam in Gehöfte, die mir fremd waren, wurde von Hunden angegriffen und übel zugerichtet, und erst nach Stunden befand ich mich auf einer Landstraße jenseits des Thals. Diese erkannte ich freilich wieder, zugleich aber, daß ich nun noch eine gute Stunde von der Stadt entfernt war. Allein zu durchweichen gab es nichts mehr an mir, und so trabte ich getrost fürder, auf die Gefahr, hier am Thore als Strauchdieb aufgegriffen zu werden. Und jetzt, da ich wohlbehalten bei meinen Braven sitze, ist mir's ganz recht, die gute Stunde erkämpft zu haben, sie ist nun um so erquicklicher.«

Mitternacht war längst vorüber, als das Dreiblatt sich trennte. Meister Quassian stolperte glückselig und mit einem behaglichen kleinen Räuschchen nach Hause, die Freunde suchten ihre Lagerstatt auf. Sie hatten verabredet, um des Alten willen einige Tage am Orte zu verweilen. Denn Reginald brachte seinem Pflegevater die ganze Pietät eines Sohnes entgegen, wie sehr auch seine Natur und sein Bildungsstandpunkt von der Schusterwerkstatt des Alten entfernt war.

Er kannte die Lächerlichkeiten und Schrullen des Meisters sehr wohl. Schon in seinen Knabenjahren, obgleich sie sich damals erst herauszubilden anfingen, hatte er darum mit seinen Kameraden manchen Strauß ausgefochten, und, gegen die Neckereien böser Buben für den Vater in die Schranken tretend, manche Beule, manches blaue Auge ausgetheilt und empfangen. Noch jetzt war es ihm drückend, den Alten als die komische Figur der Stadt zu wissen. Da er nichts dagegen thun konnte, so ließ er selbst ihm wenigstens alle Ehrfurcht angedeihen, und hatte unschwer auch den Freund dafür gewonnen. Er fühlte eine stolze Genugthuung, jetzt, wo er sich eine günstige Lebensstellung errungen, den Lachern und Spöttern zu zeigen, daß er diesen Mann als den ihm am nächsten Stehenden ehre, und die Lacher um des Pflegesohnes willen auch zu einem achtungsvolleren Betragen gegen den Alten zwingen könne. – –

Hell und glanzvoll ging die Sonne am andern Morgen auf, Berge, Felder und Thal standen frisch und erquickt nach dem gestrigen ausgiebigen Bade. Durch die Straßen der Stadt, am Gasthofe vorüber rollte schon in der Frühe ein Landwagen, in dem zwischen Koffern, Schachteln und Bündeln zwei junge Mädchen und ein älterer Herr gar vergnüglich in die Welt fuhren. Bald verschwand der Wagen auf der Landstraße, die dem breiteren Stromthal zuführte.

Auch unsere Fremden im Gasthof erwachten. Arnold war etwas früher aufgestanden. Indem sein Blick zufällig auf den Tisch fiel, bemerkte er neben Reginald's Uhr und Geldtasche ein mit Perlen und Rubinen besetztes Medaillon. Unbeobachtet öffnete er es, und betrachtete mit Bewunderung das Bild eines höchst anmuthigen jungen Mädchens.

»Sieh da!« dachte er. »In meiner Abwesenheit scheint etwas vorgegangen zu sein! Der gute Knabe setzt mich in Erstaunen. Und ich muß heimlich dahinter kommen?«

»Guten Morgen!« rief ihm Reginald entgegen.

Arnold fühlte sich ertappt, er konnte das Medaillon nicht so schnell an seinen Platz legen und behielt es in der Hand. Schnell beschloß er, dem Geheimniß auf den Grund zu gehen. Er setzte sich vor Reginald's Bett und rief:

»Es ist Alles am Tage, Bösewicht! Jetzt hab' ich dich hier wehrlos fest, und du sollst mir beichten! Was hab' ich hier?«

»Mach die Hand auf, dann will ich's dir sagen!«

»Da! Wer ist der Engel, den du in der Tasche herumführst, völlig unehrerbietig, nicht wie sich ziemt, an einem Kettchen auf der Brust?«

»Ah, das Medaillon!« rief Reginald. »Kannst du mir sagen, wer die junge Dame ist?«

»Ich? Du sollst mir Auskunft geben, ausschweifender Knabe, der du bist!«

»Ich kenne dies Gesicht nicht. Ich habe das Medaillon gefunden.«

»Unsinn! Lügnerische Ausrede! Gieb mir Wahrheit, oder ich dreh' dir's Genick um!«

»Siehst du den Kornblumenkranz da? Er hängt wahrscheinlich mit dem Medaillon zusammen.«

»Ich zweifle gar nicht. Dies ›Wahrscheinlich‹ ist ein leerer Hinterhalt.«

»Hör' mich ruhig und verständig an,« sagte Reginald, »ich habe das wunderbarste Abenteuer erlebt, oder mehr, es ist über mich gekommen, es ist mir noch völlig ein Räthsel. Ich erzählte gestern, wie ich unter der Buche einschlief. Als ich von dem Gewitter erwache, fühl' ich etwas auf dem Kopfe, fasse zu, und bekomme jenen Kranz in die Hand. Verwundert seh' ich mich um, kein Mensch ist zu erblicken. Dem Geber des Geschenkes nachsinnend, stehe ich an den Stamm des Baumes gedrückt und warte den Regen ab. Da fällt mein Blick auf etwas Glänzendes am Boden. Ich nehme es auf, es ist das Medaillon. Ich gestehe, daß ich, überrascht, mir Gedanken darüber machte –«

»Versteht sich!« rief Arnold. »Aber jetzt nur erst Thatsachen, die Fortsetzung dieser haarsträubend schönen Geschichte!«

»Sie ist aus!«

»Aus? Du hast doch wohl Alles umher untersucht, jeden Busch auseinandergebogen, jeden Stein aufgehoben?«

»Beinah' so weit ging ich, aber es war nichts zu finden.«

»Nicht der Saum eines Gewandes?«

»Nichts! Ich schalt mich und meine Eitelkeit selbst hinterher. Kranz und Medaillon mögen gar nicht zusammengehören. Den ersten konnte der Wind zu mir getrieben haben, die Kapsel konnte seit vielen Tagen da verloren liegen.«

»Junge, du bist ein Heuchler oder ein ganz täppischer Knabe, jedenfalls aber ein unverantwortlicher Glückspilz! Wenn deine Geschichte wahr ist, dann gehören Kranz und Bild zusammen, und du hast die reizendste Liebeserklärung erlebt. Unbegreiflich ist nur dein Schlafen dabei. Hast du denn nicht einen Kuß auf deinen Lippen gefühlt?«

»Warum nicht gar!«

»Wie kannst du wissen, daß es nicht geschehen, wenn du geschlafen hast wie eine Bombe? Man kann dich geküßt, kann dich abgeküßt haben, wie toll, man kann wer weiß was mit dir vorgenommen haben!«

»Pfui, pfui! Schweige doch!«

»Und dieser Mensch kann dabei schlafen, und scheint noch jetzt durchaus fühllos bei dem Glück, das ihm entgegenkommt! Aber ich werde die Sache in die Hand nehmen. Noch heut' gehen wir zusammen wieder nach der Buche, und du legst dich schlafen wie gestern. Ich aber laure im Gebüsch, und da werden wir ja wohl die liebenswürdige Nymphe oder Diana bei Endymion ertappen!«

»Hör' endlich auf!« rief Reginald halb unwillig. »Ich mag nicht leichtfertig über die Sache reden, wiewohl, ich kann es nicht leugnen, sie dazu herausfordert. Liegt irgend eine Absicht zu Grunde, obgleich es mir unerklärlich wäre, denn ich kenne kaum ein weibliches Wesen hier in der Runde, so wünsche ich doch, daß nichts Ungebührliches von unserer Seite ausgehe. Ich schäme mich eigentlich der ganzen Geschichte. Du nennst sie ein Glück, mir hat die Passivität meiner Lage dabei etwas Unbehagliches, und – möglicherweise ist Alles nur ein Zufall und wir eitlen Gecken machen uns selbst ein Erlebniß zurecht!«

Arnold schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich bin ganz deiner Ansicht,« sagte er ernsthaft, indem er das Zimmer durchschritt, daß hier mit Tact und Zartgefühl verfahren werden muß. »An einen Zufall glaube ich dabei nicht. Würdest du als Finder des Medaillons gern auf die Polizei gehen, und den Fund ausrufen oder im Blättchen ausbieten lassen?«

Reginald stutzte über diese Frage und schwieg.

»Auf die Weise kämen wir zwar bald hinter die Besitzerin –«,

»Aber wer sagt uns denn,« rief Reginald plötzlich, »daß die Kapsel eine Besitzerin haben müsse? Kann nicht ein Mann, ein Bräutigam, ein Verheiratheter, ein glücklich Liebender das Bild verloren haben?«

»Es war doch so leicht wiederzufinden!« meinte Arnold. »Lag es denn sehr versteckt im Grase?«

»Das nicht, es lag gleichsam auf einem Mooskissen, durchaus sichtbar, obenauf.«

»Nun also! deine Annahme paßt auch nicht zu dem Kranze. Der saß also, richtig aufgepaßt, auf deinem Kopfe?«

»Ja doch! Es kann sich irgend ein Kind den Spaß mit mir gemacht haben.«

»Das glaub' ich selbst! Gleich und gleich gesellt sich gern. Nun gut. Bleibe du also in deiner Passivität, es ist vielleicht am besten so. Ich aber werde meine Nachforschungen machen – sei unbesorgt! – ganz unter der Hand.« Er öffnete noch einmal die Kapsel. »Ein liebes Gesichtchen!« sagte er. »Nicht eigentlich eine Schönheit, aber anziehend in hohem Grade, poetisch, echt weiblich, und doch scheint sich Energie des Charakters in diesen Zügen zu verbergen. – Ihr ewigen Götter,« rief er plötzlich, indem er Reginald's zerrissene, von Erde und Lehm starrende und noch nasse Kleider aufhob –« und in diesem Aufzuge hat der Mensch seine Eroberung gemacht!«

Beide Freunde lachten laut auf bei dem Anblick des traurigen Zustandes dieser Reisegewandung. Da pochte es an die Thür, und mit einem freudigen »Salutem vobis!« trat Meister Quassian ein.

Für den wackeren lateinischen Schuster ging heut' ein sehr glücklicher Tag an. Die Werkstatt hatte er geschlossen, um sich ganz der Gesellschaft der beiden Jünglinge widmen zu können. Und als er zwischen den beiden stattlichen Gestalten über die Straße schritt, da reckte das kleine Männlein sein Haupt so hoch als möglich empor, und nickte mit freundlich herablassendem Gruße hier dem Bäcker, dort dem Nagelschmied, und gar dem modischen Stiefelfabrikanten zu.

»Seht,« dachte er, »dies ist mein großer Sohn, und dies ist sein großer Freund, par nobile fratrum, das sind die Meinigen und der Umgang, der mir gebührt. Ihr seid mir heut' die gens minorum, die kleinen Leute, und ihr sollt mich noch verspotten, quos ego!«

Arnold hatte bereits einige Nachforschungen über das Medaillon gemacht, aber wenig herausgebracht. Es war auch nicht leicht, da der Meister ihnen nicht von der Seite ging. Jedenfalls wollte Arnold den Platz des Erlebnisses selbst sehen. So wurde die Wanderung nach Radulf's Buche unternommen.

Es war heut in der Morgenbeleuchtung nach dem nächtlichen Regen ein schöner Aussichtspunkt.

»Warum heißt der Baum Radulf's Buche?« fragte Arnold.

»Der heilige Radulf soll hier in germanischer Heidenzeit zuerst das Evangelium gepredigt haben,« entgegnete Reginald. »Jedenfalls früher, als die Frucht reifte, die diesen Baum erwachsen ließ. Er mag seit einem Jahrtausend von der Baumfamilie abstammen, die den Heiligen zuerst gesehen. Der Name ist geblieben.«

Meister Quassian saß mit ernstem Gesicht, in Gedanken vertieft, und scharrte mit dem Stock im Boden. »Immerhin alte Wurzeln, radices!« sagte er. »Viel verborgen unter ihnen! Man soll nichts der Erde anvertrauen, was man nicht verlieren will. Sie gibt nichts wieder heraus, nihil reddit!«

»Was meint der Alte?« flüsterte Arnold dem Freunde zu.

»Laß ihn! Ich weiß nicht,« sagte Reginald. »So sprach er hier oft, schon in meiner Kindheit. Er mag seine Geheimnisse haben.«

»Mir fällt ein,« fuhr der Andere fort, »ob wir nicht bei ihm auch einmal nach unserem Geheimniß forschen sollen? Stecke mir heimlich die Kapsel zu, ich will's versuchen.«

Reginald that es.

»Ei, sieh da!« rief Arnold, als er sie in Händen hielt. »Da thu' ich plötzlich einen herrlichen Fund! Ein goldenes Schmuckstück!«

Meister Quassian fuhr auf wie elektrisirt. »Gold?« rief er, indem er zusprang und Arnold das Medaillon aus der Hand riß. Aber enttäuscht betrachtete er den Fund, und gab ihn zurück mit den Worten: »Nichts von Bedeutung, nihil refert, res levis!«

Arnold öffnete das Medaillon. »Das muß eine Dame aus der Umgegend verloren haben,« sagte er. »Ist Ihnen dies Gesicht etwa bekannt, Meister Quassian?«

Der Schuster blickte gleichgültig auf das Bild. Seine Züge erheiterten sich. »Wie sollt' ich das Engelchen nicht kennen?« sagte er, »Es ist ja die Tochter meines guten Freundes!«

Arnold und Reginald sahen einander erstaunt an.

»Eines guten Freundes?« fragte der Erstere. »Hier aus der Stadt? Wessen Tochter?«

»Nicht aus der Stadt hier, sondern weit weg. Es ist die Tochter des Herrn Steinacker aus Berlin.«

»Steinacker? Des Fabrikanten? Eines der reichsten Männer in Berlin?«

»Recte dixisti!«

»Der vor noch nicht langen Jahren aus Amerika herüber kam und bei uns seine großartigen Unternehmungen begann?«

»Rectissime dixisti.«

»Ich erinnere mich, ihn in Geschäften gesprochen zu haben. Daß er eine Tochter hat, wußte ich nicht. Und der ist Ihr Freund, Meister Quassian?«

»Amicissimus, von Alters her, von olim's Zeiten. Hat mich im vergangenen Sommer wieder besucht nebst seinem Fräulein Tochter, cum puella!«

»Warum erfuhr ich von dieser Beziehung niemals etwas, lieber Vater?« fragte Reginald verwundert.

Der Meister schien einen Augenblick verwirrt.

»Das hängt zusammen mit – mit – nun, im vorigen Jahre hätt' ich dir schon von ihm sagen können, aber du warst nicht hier, mein Söhnchen, und heut' war ich nicht darauf verfallen, non memini. Allein in früherer Zeit – oh Gott, ja, wenn es gekommen wäre, wie mein guter Wille war! – Aber es kam anders, drum lassen wir's bis an meinen Tod, usque ad mortem. Aber setzen wir uns! Ich will erzählen, was ich kann, narrabo. –

Also, meine Herren! Es war vor bald zwanzig Jahren. Wir hatten deine liebe Mutter begraben, Reginaldchen, und ich war in großer Bedrängniß. An dem Tage lag die Hand des Schicksals schwer auf mir, es war der schrecklichste meines Lebens. Habuissem, sed non habui. Deficiente pecu, deficit omne nia, hat man kein Geld, ist man auf nichts gestellt. Da ich es aber haben mußte, beschloß ich zu einem der Herren Studiosen zu gehen, der eine große Rechnung bei mir hatte.

Solches war dazumal, heuer ist mein Leisten in Mißcredit, und hat die Jugend nichts Feines und Sauberes im Kopfe, so will sie's doch an den Füßen haben. Deine Wanderstiefeln sind derb, Reginaldchen, das lob' ich, laudo, laudatus sum, laudare.

Also, mein Studiosus Steinacker war guter Leute Kind und verbrauchte viel Geld. Wiewohl in der letzten Zeit mit der Franzosenwirthschaft und Kriegsfurie mocht' es ihm auch ausgeblieben sein. Ich hatt' ihn gern und wollte ihn nicht drängen, aber was thun? Ergo, ich ging mit schwerem Herzen zu ihm und fragte an, ob er mir helfen könne? Und siehe da, sperr' oculos, greift er gerührt in sein portefolium und reicht' mir hundert Thaler. Ich stand da, stupefactus und zitternd vor Freude. So groß war die Rechnung nicht, er aber sagte, ich solle mich bezahlt machen, und den Rest ihm zu Liebe und für den langen Credit behalten. Er müsse noch desselbigen Tages für immer abreisen.

Da half kein Sperren, ich mußte das Geld nehmen und – es ist mir gut damit gelungen, es hat mir Segen gebracht. Ich kam damit herauf, und ich kam freilich im Lauf der Zeit, temporis, auch wieder herunter, denn dieses ist oftmals das Geschick der Menschen, so nach Höherem streben, astra petunt. Gedacht hab' ich oft an meinen guten Studiosus Steinacker, dessen Wohlthat mir zu einem fruchtbaren Acker ward, cum grano salis, aber auf ein Wiedersehen hoffte ich nicht.

Da tritt im vorigen Sommer ein feiner, nobler Herr in meine Stube, ad unguem factus homo. Ich sehe zuerst auf seine Stiefeln, in der Meinung, er habe ein Paar neue nöthig, und sei zu mir irre gegangen. Allein dieses weniger, minime! Er reichte mir die Hand und stellte sich mir als meinen alten Freund vor. Holte auch sein Töchterlein herein, welches draußen gewartet hatte, und sie gab mir gar holdselig ihr Patschchen, dextram pulcherrimam, Mit Gewalt wollte er mir neue Wohlthaten erweisen, aber ich blieb standhaft und sagte ihm, ich hätte einen Sohn, der mich keine Noth leiden ließe.

Daß du nur mein Pflegekind bist, Reginaldchen, und einen andern Namen trägst, als ich, dies hab' ich ihm nicht gesagt. Denn ich wollte nicht, daß er bei dir versuchte, was bei mir vergeblich war. Du bist stolz, mein Söhnchen, und ich wollte dir keine Ungelegenheiten bereiten, und ihm auch nicht. Also Dieses ist Dieses, quod erat demonstrandum.«

Arnold sah seinen Freund, der mit niedergeschlagenen Augen nachdenklich dasaß, triumphirend an, und zu dem Meister gewendet, begann er: »Diese junge Dame ist also wohl hier in der Gegend zum Besuch?«

»Gewesen, fuit. Dort bei dem Oberamtmann Hermann. Ich habe sie zuweilen wiedergesehen. Ein artiges Fräulein, immer gütig und liebenswerth. Heut' früh hat sie die Gegend verlassen, um zum Vater zurückzukehren. Ich sah sie an meinem Fenster vorüberfahren. Sie nickte gar holdseligen Abschied. Eheu fugaces! Ach, daß man alt wird!«

»Für uns um so besser!« lachte Arnold. »Wir werden unsern Fund in Berlin persönlich überbringen.«

Nachmittags wurde ein Wagen genommen und nach einem etwa eine Stunde weiten Vergnügungsorte gefahren. Der Meister wollte sich anfangs nicht bewegen lassen, den Ehrenplatz im Wagen neben Arnold einzunehmen, mußte sich aber dazu bequemen. Es war zum ersten Mal, daß er in offener Kalesche großartig zum Vergnügen ausfuhr. Wenn sein Herz aber jemals stolz geschlagen und sein Auge leuchtend über das Kleinbürgerthum der Stadt geflogen, so geschah es heut', da er so vornehm durch die Straßen rollte. –

Auf dieser Fahrt erneuerte Reginald dem Alten den Vorschlag, hier seine Werkstatt zu schließen und mit ihm nach Berlin zu kommen. Er solle dort nicht müßig gehen, wenn er daran etwa Anstoß nehme. Arnold könne in seinen Geschäften gar wohl einen Vertrauensmann zur Aufsicht brauchen, und für seine Bequemlichkeit werde dort besser gesorgt sein als hier.

Der Alte sah die jungen Männer gerührt an und sagte mit Würde:

»Meine Herren! Ein solcher Antrag ehrt mich sehr, dahingegen aber kann ich ihn noch nicht annehmen, non possum. Nicht daß ich übermäßig an der Scholle klebte, in gleba, denn ich schmeichle mir größer zu denken, ich fühle mich als Weltbürger, totius mundi civem et incolam, wasmaßen mich der Einblick in die große Stadt sehr anziehen würde. Auch ist alldort eine Universität, und für geistige Bedürfnisse gesorgt. Nicht möge man glauben, daß die Flickschusterei mich hier zu lieblich fessele! Denn wiewohl ich mein Lebtag des Schusterhandwerks gepflogen, war ich dessen nicht so sehr ein Liebhaber, amator, daß mich nicht eine Thätigkeit, wie Euer Wohlgeboren sie mir bieten, sehr anlocken sollte. Und dazu immer mit Ihnen, meine Herren, zu sein – dieses Alles wäre sehr schön. Allein, Kinderchen, es geht noch nicht, fieri nondum potest. Wiewohl, es ist noch nicht aller Tage Abend. Wenn ich an diesem Orte nichts mehr – wenn – kurz, Ihr müßt mir noch ein Jahr Zeit lassen. Dann aber will ich kommen. Dixi.«

Als Arnold und Reginald Abends endlich allein waren, begann der Ersten:

»Du hast mir nicht zu viel von deinem Pflegevater gesagt. Er ist ein wunderliches Original, phantastisch aus den Schranken seines Daseins hinausstrebend, nur nicht mit den Talenten seiner großen Vorgänger im Handwerk, Hans Sachs und Jakob Böhme, begabt. Dabei eine kernbrave Natur. Und durch dieses kleine dunkle Leben muß auch einmal ein erschütterndes Ereigniß gegangen sein. Ich frage dich nicht danach, ich spreche nur meine Beobachtung aus. Scheint es doch, als erwarte er noch immer die Lösung irgend eines ernsten Geheimnisses.«

»Das hörte ich schon in meiner Kindheit aus seinen Reden heraus,« entgegnete Reginald. »Damals fragte ich ihn wohl, was er mit seinen Andeutungen meine, empfing zur Antwort aber nur ausweichende Liebkosungen. Jetzt frage ich ihn nicht mehr. Laß uns seine Geheimnisse ehren.«

Drittes Capitel.

Wie viel drei oder vier Wochen mit veränderten Umgebungen und erweiterten Lebensanschauungen auf eine gelehrig bildsame Mädchennatur vermögen, kam an der kleinen Sophie Hermann sehr sichtbar zu Tage. Als sie eben von der Terrasse in den Gartensaal trat, gehoben durch einen auserwählten und kleidsamen Anzug, schien sie gewachsen, ihr ganzes äußeres Ansehen bereits in eine ganz andere Form gegossen zu sein. Wie sie die Rose, die sie aus dem Garten mitgebracht, zufrieden lächelnd vor die Brust steckte, und wie sie leise vor sich hin trällernd durch den Saal hüpfte, that sie es mit bei Weitem zierlicherer Anmuth, als da wir sie zuletzt durch das Korn springen sahen. In der That, sie war verändert, und sogar zu ihrem Vortheil verändert, aber dennoch glänzte dieselbe naive Kindlichkeit in ihren Augen, ja es schien auch noch der Zug von ausgelassener Lustigkeit verstohlen in ihnen zu lauern.

Sophie nahm an einem, mit jedem kleinen Zubehör verschwenderisch ausgestatteten Schreibtischchen Platz, um einen Brief an ihre Eltern zu verfassen. Sie schien nicht ganz in der Schreibestimmung – wenn das Schreiben überhaupt zu den ihr bequemen Beschäftigungen gehörte – sie kam sichtlich nicht über den Anfang hinaus. Zerstreut betrachtete sie bald die Bilder über dem Tische, bald nahm sie irgend ein reizendes Nichts von Porzellan, das umherstand, in die Hand, ein Büchelchen, ein Petschaft, bald hing ihr Auge bewundernd an einer schönen Blume, deren in Töpfen viele gruppirt waren, oder sie drehte sich gar um, und nickte lachend dem Cacadu zu, der sich ihr durch häufiges Rufen seines Namens in Erinnerung brachte.

Plötzlich stand sie auf, schritt durch den Saal, blieb in der Mitte stehn, und ließ die Blicke an ihrer Umgebung haften. Sie fand die Einrichtung überwältigend schön. Da mit einemmal schien ihr der Stoff zum Schreiben reichlich zuzufließen. Sie sprang an den Tisch zurück und schrieb mit großem Eifer.

Der Bediente trat ein und meldete, daß ein Herr, der sich Zimmermeister Arnold nenne, sie zu sprechen wünsche.

»Mich will er sprechen?« fragte Sophie verwundert. »Ich kenne ihn ja gar nicht!«

»Der Herr fragte zuerst nach Herrn Steinacker,« fuhr der Bediente fort, »und da ich ihm sagte, er wäre nicht zu Hause, sollte ich ihn bei Fräulein Clothilde melden. Als ich sagte, sie sei ausgefahren, fragte er, ob nicht eine fremde Dame, Fräulein Hermann, bei uns zum Besuch sei? Ich bejahte es, und so bittet er, Ihnen seine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Aber ich kenne in aller Welt keinen Zimmermeister Arnold!« wiederholte Sophie. »Was ist es denn für ein Mann?«

»O, ein feiner junger Herr.«

»Wissen Sie was, Johann, sagen Sie ihm lieber, ich sei auch ausgegangen.«

»Wenn ich nur nicht schon gesagt hätte, Sie wären zu Hause! Vielleicht hat er Herrn Steinacker etwas von Belang mitzutheilen, und es könnte durch Sie –«

»Wenn das wäre« – meinte Sophie zögernd – »gut, ich will ihn annehmen.«

Gleich darauf trat Arnold ein. Sein sicheres, weltmännisches Wesen flößte dem jungen Mädchen einige Scheu ein. Sophie verneigte sich sehr zierlich, aber doch gemessen, denn sie hatte bereits gelernt oder erfahren, daß man den Leuten in der Stadt nicht immer trauen dürfe. Der Gast wußte ihre Verlegenheit jedoch bald zu zerstreuen. Er brachte ihr Grüße von ihren Eltern. In der That hatte sich Arnold unter irgend einem Vorwand im Hause des Oberamtmann Hermann einzuführen gewußt, und so konnte er versichern, daß Vater, Mutter und Brüder sich der besten Gesundheit freuten. Damit war das Eis gebrochen, und Sophie ließ fröhlich und arglos ihrer Zunge freien Lauf. Sie machte ihres Entzückens über das Leben in der Stadt kein Hehl, über den ersten Genuß des Theaters, der Kunstsammlungen, den Verkehr, und das Leben im Hause ihrer Gastfreunde.

Da der Cacadu fortwährend mit ihr wetteiferte, rief sie fröhlich lachend: »Hören Sie nur den komischen Vogel! Sowie man mit einem andern Herrn spricht, wird er eifersüchtig!«

»Sie tragen da ein recht schönes Medaillon am Halse,« sagte Arnold mit rascher Wendung des Gespräches.

»Es enthält das Bild meiner Freundin Clothilde,« entgegnete Sophie harmlos. »Kennen Sie sie noch nicht?« Sie nahm den Schmuck ab und öffnete die Kapsel.

»Sehr merkwürdig!« sagte Arnold. »Ich habe hier ein ganz ähnliches.«

»Mein Medaillon!« rief Sophie, indem sie die Hand nach dem Dargebotenen ausstreckte. »Ich hab' es verloren, und wenn Sie es gefunden –«

Arnold aber schloß schnell die Hand, und entzog ihr seine Beute.

»Ich fand es auf eigenthümliche Weise,« sagte er mit der unschuldigsten Miene. »Auf der Wanderschaft hatte ich mich unter einen Baum, den man in der Gegend dort Radulfs Buche nennt, niedergelegt und schlief ein. Als ich erwachte, lag dieses Medaillon neben mir im Grase.«

Sophie stutzte, sie sah dem Sprecher erstaunt ins Gesicht und sagte: »Sie? Nein, Sie – waren es nicht!« Plötzlich aber, erschreckt über ihre eigenen Worte, dunkelroth im Gesicht, fuhr sie auf, es war ihr, als müsse sie, wie damals unter der Buche, die Flucht ergreifen.

»Woher wissen Sie, daß ich es nicht war?« fragte Arnold, indem er sie sehr höflich bat, wieder Platz zu nehmen.

Sophie hätte vor Verlegenheit und Scham in die Erde sinken mögen, sie sah nach der Thür, ob ihr nicht irgend Einer zu Hülfe käme, und zugleich fürchtete sie, es könne Jemand kommen, und das Geheimniß erfahren. Denn jetzt erst, unter so sehr veränderten Umgebungen, empfand sie ein Entsetzen vor der Tragweite ihres kindischen Streiches. Der überlegene, ihr fremde junge Mann wußte um die Geschichte mit dem Kornblumenkranze, und war, wie sie sah, auf dem besten Wege, sein Geheimniß auszubeuten. Da sie, von Furcht und Beschämung bedrängt, kein Wort zu sagen wußte, begann Arnold:

»Ich gebe zu, mein Fräulein, daß ich es nicht selbst war, der unter jener Buche eingeschlafen lag. Es war ein sehr guter Freund von mir, ein vortrefflicher Mensch, dem ich – einen Kranz wohl gönne! Sie sehen, ich bin im Geheimniß, und, offen gestanden, ich bin darum hier. Denn mein Freund ist leider mehr stolz als eitel, und will nichts thun, sein reizendes Glück wahrzunehmen. Nicht wahr, mein Fräulein, Ihre schöne junge Freundin hat ihm jenen Kranz –«

Sophie brach in Thränen aus. »Nein, nein, nein!« unterbrach sie ihn schluchzend, »Clothilde hat gar nichts damit zu thun! Ich bin allein die Schuldige! Wir hatten auf dem Spaziergange den Kranz gewunden, und fanden den Menschen – den Herrn auf unserm Lieblingsplatz schlafend liegen. Wir kannten ihn aber Beide gar nicht. Da überkam mich der abscheuliche Gedanke, ihm den Kranz aufzusetzen, aus gar keinem Grunde, nur des Unsinns wegen! Clothilde hätte so etwas nicht gethan, und machte mir nachher Vorwürfe darüber. Zur Strafe verlor ich mein Medaillon dabei. Ach Gott – ich bin ganz außer mir darüber!«

Ton und Worte, der Schmerz und die Thränen des jungen Mädchens drangen so ehrlich und mit unbedingter Aufrichtigkeit hervor, daß Arnold nicht umhin konnte, den Eröffnungen Glauben zu schenken, die seine Vermuthungen umstießen. Er suchte seine Freiheit zu entschuldigen, die wie ein Kind Weinende zu beruhigen. Er versprach auf seine Ehre, keinen Mißbrauch von dem Geheimniß zu machen, und wirklich gelang es ihm, ihre Thränen zu stillen, ihre Furcht zu zerstreuen. Er nannte sich selbst viel schuldiger, als sie sich zu fühlen brauche, da er so albern gewesen sei, hinter einem offenbaren Scherz eine ernste Absicht zu wähnen. Er sprach so liebenswürdig und Vertrauen erweckend, daß Sophie, erfahrungslos wie sie war, sich begütigen ließ, und, wenn auch immer noch verschüchtert und verschämt, wieder lächelte.

»Einen Vortheil hat mir meine Zudringlichkeit doch gebracht, sagte Arnold, »den Vortheil Ihrer Bekanntschaft. Es soll von jenem kleinen Abenteuer niemals etwas über meine Lippen kommen, auch Ihnen gegenüber niemals, so lange sie selbst es nicht verlangen. Es bleibe unser Geheimniß. Aber ein gemeinsames Geheimniß führt meist zu einer guten Freundschaft, und ich bin so kühn, auf eine solche zu hoffen. Reichen Sie mir als Bürgschaft dafür die Hand.«

Sophie zögerte und erröthete von Neuem.

»Dann thun Sie es wenigstens zum Pfande der Verzeihung, der Versöhnung!« bat Arnold.

Sophie gab ihm die Hand, zog sie aber schnell wieder zurück. »Nun aber geben Sie mir das Medaillon wieder zurück! Bitte! Bitte!« rief sie.

Arnold lächelte achselzuckend. »Es gehört nicht mir,« entgegnete er. »Der glückliche Finder wird verlangen, daß ich es ihm wieder bringe. Denn, im Vertrauen, er trägt es heimlich auf der Brust, und betrachtet es täglich. Ich hab' es ihm nur auf einige Stunden entwendet, und bin überzeugt, er hat den ganzen Morgen danach gesucht. Wenn Sie es zurückhaben wollen, werden Sie es von ihm selbst verlangen müssen. Inzwischen besitzen Sie ja ein anderes, fast ganz gleiches.«

Sophie, von Neuem besorgt, schlug schweigend die Augen nieder. Arnold aber fuhr fort:

»Nun aber, mein Fräulein, noch ein andres Anliegen, das Sie, wie sich unter guten Freunden ziemt, nicht mißdeuten werden. Ich selbst bin sehr zudringlich gewesen, mein Freund aber, der den Namen Reginald Vanbüren führt, würde sich eines Gleichen niemals schuldig machen. Und doch liegt ihm ganz heimlich, und mir ganz ausgesprochen daran, Zutritt in diesem Hause zu haben. Er ist ein großes künstlerisches Talent, und, trotz seiner jungen Jahre, schon Baumeister, überdies ein gar feiner Junge und ein grundbraver Mensch. Glauben Sie nun nicht Grund zu haben, meiner Empfehlung zu mißtrauen, so wär' es recht schön, wenn Sie meinem Freunde den Weg über diese Schwelle ein wenig anbahnen wollten.«

»Ich?« rief Sophie erschrocken. »Wie kann ich das?«

»Es ist nicht schwer, und ich gebe Ihnen auf Ehre und Gewissen mein Wort, Sie laufen keine Gefahr dabei. Herr Steinacker will, wie ich höre, neue umfassende Bauwerke vornehmen, und liebt es, dergleichen in künstlerische Hände zu geben. Dazu wäre nun mein Freund der geeignete Mann. Er hat das wundervolle Haus gebaut, das neben der Johanniskirche steht. Nehmen Sie es einmal in Augenschein, Sie werden einen außerordentlichen Genuß haben. Und dann fragen Sie Herrn Steinacker gelegentlich – aber recht bald – wer es gebaut habe, und bringen ihn auf seine eignen Baupläne, und behaupten dann, Herr Reginald Vanbüren sei der Einzige, dem er die Ausführung seiner Gebäude anvertrauen könne. So wird er aufmerksam auf meinen Freund, und fragt und erkundigt sich weiter. Nicht wahr, Sie thun es? Es ist ja nichts Böses – im Gegentheil, Sie unterstützen damit die Kunst, und helfen auch Herrn Steinacker zu seinem Besten.«

Aus Sophiens Augen blitzte verstohlen der Zug schalkhafter Unternehmungslust hervor. Arnold merkte den ihm verwandten jugendlichen Dämon sehr wohl, doch spielte er ganz harmlos mit seinem Handschuh, und fuhr fort:

»Sieh' da, im Garten blühen immer noch Rosen, und es wird doch schon recht herbstlich! Werden Sie noch längere Zeit in der Stadt verweilen?«

»O ja!« rief Sophie. »Den ganzen Winter!«

»Vortrefflich! Herr Steinacker hat ein gastliches Haus, und gibt sehr schöne Gesellschaften. Leider werde ich in diesem Winter wieder Noth haben, meinen Freund Reginald Vanbüren unter die Leute zu bringen. Er ist gar zu fleißig. Und doch ist er ein ausgezeichneter Tänzer, und macht eine sehr gute Figur in der Gesellschaft. Aber ich raube Ihnen die Zeit, mein Fräulein!«

Arnold erhob sich schnell.

Sophie hatte fast auf den Lippen, zu sagen: »O nein, gar nicht!« – aber sie besann sich schnell, und schwieg.

»Also ich darf auf Ihre gütige Verzeihung hoffen, mein Fräulein?« fragte Arnold.

»Wenn Sie Ihr Betragen sonst danach einrichten –«

»Ich hoffe. Und Ihre freundliche Mithülfe sagen Sie mir auch zu?«

»Ich weiß noch nicht – ich will sehn, was ich thun kann. Aber werden Sie auch Ihr Versprechen halten, und um Gotteswillen schweigen?«

»Unbedingt. Ich werde bestrebt sein, mich Ihres Vertrauens, das ich bisher nicht beanspruchen konnte, würdig zu machen.«

Arnold empfahl sich. –

Sophie war wieder allein. An die Fortsetzung ihres Briefes konnte sie jetzt nicht denken. Die Stunde hatte ihr ein Erlebniß gebracht. Der Scherz, den sie sich in kindischer Lust auf dem Lande erlaubt hatte, war wider alles Vermuthen zu einer ernsten Verwicklung erwachsen, zu einer Verwicklung, deren Tragweite noch gar nicht abzusehen war. Wenn in Sophie bei den letzten Wendungen des Gespräches mit Arnold der Uebermuth schon wieder die Schwingen zu heben begonnen, so ließ er sie jetzt, da sie allein war, um so tiefer sinken, und der Ernst ihrer Schuld begann sie noch einmal schwer zu bedrängen. Aufgeregt ging sie durch den Saal, warf sich nachdenklich in einen Lehnsessel, durchlief den Garten, und kam hastig wieder in das Haus zurück. Heut' empfand sie zum ersten Mal etwas davon, was es heiße, in der fremden Welt allein auf sich selbst gestellt zu sein, etwas vertreten zu müssen, eine Schuld mit sich herumzutragen. Sie faßte zwar auch wieder Muth, denn Arnold's Wesen hatte ihr eine gute Meinung eingeflößt. Aber das Medaillon war denn doch in den Händen des fremden jungen Mannes geblieben, ein gefährlicher Besitz, und eine neue Angst überkam sie.

Auch die Persönlichkeit ihrer neuen Bekanntschaft begann sie lebhafter zu beschäftigen. Denn der günstige Eindruck wurde doch durch eine gewisse Scheu und Furcht vor seinem weltmännisch sicheren Auftreten beeinträchtigt. Mit ihren früheren männlichen Bekanntschaften war sie kurz umgesprungen und schnell fertig geworden, hier fühlte sie sich durch eine überlegene Macht eingeschüchtert. Ihr Selbstbewußtsein schwand mehr und mehr zu Gunsten des schlechten Gewissens, ihre Aufregung wuchs, und ihre Ratlosigkeit in gleichem Maße. Was sollte sie der heimkehrenden Freundin sagen, oder gar deren Vater? Die Herzensangst steigerte ihr Verbrechen immer mehr, es schien ihr unmöglich, Clothilden den ganzen Inhalt dieser Stunde mitzutheilen. Sie beschloß, den Gastfreunden zu erzählen, wie sie einen Besuch gehabt, der ihr Grüße von ihren Eltern gebracht, ihre Sorgen aber für's Erste noch für sich zu behalten. –

Zu derselben Zeit kehrte Arnold in seine Wohnung zurück. Sie war geräumig genug, denn er besaß ein eignes großes Haus, das er vermiethete, und worin er sich eine Reihe von Zimmern vorbehalten hatte. Es war auf eine künftige Vergrößerung des Hausstandes abgesehn, denn Arnold, der sein achtundzwanzigstes Lebensjahr zurückgelegt hatte, wohlhabend und unabhängig war, dachte auch bereits auf seine Verheirathung. An Gelegenheit dazu fehlte es ihm nicht. Er lebte in der Welt, seine gute Erziehung, seine Erscheinung und sein Wohlstand machten auch manche junge Dame der Gesellschaft geneigt, über den Titel einer Frau Zimmermeisterin hinwegzusehn. Ihm selbst aber wurde die Wahl schwer, und er fing an zu zweifeln, in den abgeglätteten Lebenskreisen der großen Stadt das zu finden, was er suchte. So stand denn der größere Theil seiner Wohnung noch leer, und die bewohnten Zimmer boten noch einen etwas junggesellenhaften Anblick dar. Einige Stuben hatte er an Reginald abgetreten. Die Räume für die Zeichner des Zimmermeisters und des Architekten stießen aneinander.

Durch diese schritt Arnold, und erfuhr, daß ein Herr Steinacker vor einer Stunde dagewesen sei, um Reginald zu sprechen.

»Hollah! Was ist das?« dachte Arnold. »So schnell kann meine Intrigue nicht in Wirksamkeit getreten sein! Der Mann muß aus eigenem Antrieb mit Reginald zu verhandeln haben. Um so besser!« –

Er ging in des Freundes Stube, der in Geschäften ausgegangen war, nahm einen kleinen Gegenstand aus der Westentasche und schob ihn unter einen Haufen auf dem Arbeitstische herumliegender Papiere und Zeichnungen.

Dann begab er sich in seine Wohnzimmer zurück, durchflog eingegangene Briefe, setzte sich zerstreut an eine Arbeit, sprang aber schnell auf, um an das Pianoforte zu gehn. Er begann mit kräftigem Einsatz das Allegro einer Sonate von Beethoven zu spielen. Eigentlich hatte er es auf das Scherzo abgesehn, und in dieses vertiefte er sich bald mit solcher Hingabe, daß er das wiederholte Klopfen an seiner Thür überhörte. Endlich wurde sie geöffnet, und ein Herr trat ein, stattlich, mit schneeweißem Haar, aber wie es schien, noch in rüstigen Jahren. Arnold erkannte Herrn Steinacker, dem er sonst schon begegnet war, ohne seine eigentliche Bekanntschaft gemacht zu haben.

Nach den ersten Begrüßungen und Entschuldigungen begann Herr Steinacker sehr höflich:

»So angenehm es mir ist, mich auch Ihnen persönlich vorstellen zu können, gesteh' ich doch, daß mein Weg mich eigentlich zu Herrn Vanbüren führt, der, wie ich von Ihren Leuten höre, Ihr Freund ist.«

»Er wird sehr bedauern!« sagte Arnold, und erzählte dem Gast, wie er selbst vor einer Stunde in seinem Hause gewesen, um Fräulein Sophie Hermann Grüße aus ihrer Heimath zu bringen.

»Es ist ein eignes Zusammentreffen,« entgegnete Herr Steinacker, »und ich wünsche, daß nicht nur mein Besuch, sondern auch mein Haus einige Anziehung für Sie haben möge. Es thut mir leid, Herrn Vanbüren noch einmal zu verfehlen, doch soll es mich nicht verdrießen, wiederzukommen, da ich mancherlei mit ihm zu sprechen habe.«

»Ah, Sie wollen bauen!« warf Arnold hin. »Neue umfassende Fabrikgebäude, wie ich höre.«

Herr Steinacker sah ihn groß an. »Würde Ihr Freund sich denn auf dergleichen einlassen?« fragte er. »Es war nicht meine Absicht – es sind nicht grade Aufgaben für einen Künstler, aber – meinen Sie, daß man ihm mit solchen Anträgen kommen dürfe?«

»Ei nun, vielleicht. Er hat zwar viel zu thun. Allein – er pflegt nichts abzuweisen, wobei er etwas lernen kann.«

»So, so. Vortrefflich! Wir kommen darauf zurück. Der Zweck meines Besuches war freilich ein ganz anderer.«

Arnold stutzte, und sah den Sprecher erwartungsvoll an.

»Nun, Sie sind sein Freund,« sagte Jener, »und es ist vielleicht gut, wenn ich in Ihnen einen Vermittler bei Herrn Vanbüren habe. Gestatten Sie mir daher, daß ich mein Gewerbe zuerst bei Ihnen anbringe.«

Arnold spitzte das Ohr. »Das klingt ja,« dachte er, »als ob der Mann ihn meuchlings zum Schwiegersohn engagiren wollte!«

»Bei einem hiesigen Kunsthändler,« fuhr Herr Steinacker fort, »fand ich neulich eine Reihe von Blättern, welche Prachtbauten verschiedener Art, in Aquarell ausgeführt, darstellten, Schlösser, Landhäuser in landschaftlicher Umgebung, Innenräume mit glänzender Anordnung, feinem Stylgefühl und Geschmack. Sie kennen jedenfalls dieses Werk Ihres Freundes Vanbüren.«

»Gewiß. Es sind seine künstlerischen Beglaubigungsscheine und Visitenkarten beim Publicum. Sie wollen eine Bürgschaft für das Große geben, was er leisten könne, wenn man ihm große Aufgaben stelle. Er will das Werk veröffentlichen.«

»So hör' ich. Aber zugleich, daß jener Kunstverleger sich dagegen sträubt. Er zweifelt an der Einträglichkeit des Geschäfts, und will sich nur unter der Bedingung darauf einlassen, daß man ihn für die Herstellungskosten sicher stelle.«

»Wie?« rief Arnold erstaunt. »Das ist mir neu! Sollte Reginald mir das absichtlich verschwiegen haben?«

»Ich bin nun von diesen Blättern so erbaut,« fuhr der Gast fort, »daß ich, wenn die Veröffentlichung nicht möglich ist, in den Besitz der Originale gelangen möchte. Vielleicht aber ist es möglich, Beides mit einander zu verbinden. Der Verleger fordert eine Herstellungssumme (Herr Steinacker nannte sie), die wohl größer ist, als Herr Vanbüren für seine Originale verlangen wird. Zwar wäre ich gern erbötig, mit dieser Summe für die Veröffentlichung beizutreten, allein die bessere Form ist wohl, daß ich dem Künstler das Werk für jenen Preis abkaufe, und – Ihnen, als seinem Freunde, möchte ich die Aufgabe stellen, ihn zu vermögen, daß er mindestens die genannte Summe von dem Käufer fordre. Freilich, mehr als Ruhm und Anerkennung wird er davon nicht gewinnen!«

»Das wird ihm vorerst auch vollkommen genügen,« entgegnete Arnold. »Der Plan ist gut, und ich stehe für die Ausführung. Aber eine Nebenfrage, mein Herr! Woher ein Interesse für meinen Freund, das sich bis zu solchen Opfern versteigt?«

»Opfern?« fragte der Andre lächelnd. »Es ist reines Kunstinteresse. Ich kenne Herrn Vanbüren gar nicht, erinnere mich nicht, ihn je gesehen zu haben. Doch, wenn Sie wollen, es ist noch etwas von menschlichem Antheil dabei. Einen jungen Mann durch den Druck der Verhältnisse auf einem edlen, tüchtigen Strebenswege gehemmt zu sehn, wirkt gleichsam drückend auf mich selbst zurück. Es läßt mir keine Ruh', bis ich den Versuch –«

Herr Steinacker brach plötzlich die Rede ab, seine Blicke richteten sich starr auf die Wand, die mit vielerlei Zeichnungen und Gemälden geziert war. Er sprang auf, trat zu einem Bilde, und rief erstaunt, hastig und mit Erregung:

»Was ist das? Wie kommt das hierher? Wer hat das gemacht? Das ist ja –«

»Ein Baum, in der Gegend Radulf's Buche genannt,« ergänzte Arnold.

Herr Steinacker verwandte keinen Blick von dem Bilde. »Jawohl! Jawohl!« sagte er. »Ich erkenne die ganze Umgebung. Aber wie kommen Sie grade –?«

»Es ist auch dies Aquarellbild eine Arbeit meines Freundes, und eine angenehme Erinnerung für uns Beide. Er überraschte mich neulich zu meinem Geburtstage damit.«

»Merkwürdig! Sehr merkwürdig!« sagte der Gast vor sich hin. Sein Gesicht hatte den Ausdruck tiefen Ernstes angenommen, ein leiser Seufzer kam aus seiner Brust.

Arnold betrachtete ihn von der Seite sehr aufmerksam, und erging sich in allerlei Vermuthungen. »Es gehört eigentlich noch einige Staffage dazu,« warf er leicht hin, nicht ohne die Absicht, zu prüfen. »Etwa ein schlafender Wanderbursch oder, – oder ein paar junge Mädchen.«

Herr Steinacker schien auf diese Worte kaum acht zu geben. Langsam wendete er sich einem daneben hängenden Portrait zu, und fragte in gleichgültigem Ton: »Und wer ist das?«

»Der Künstler, dessen Bild Sie eben bewunderten, mein Freund Reginald Vanbüren.«

»Auch von ihm selbst?«

»O nein,« lachte Arnold, »von einem bei Weitem schwächeren Pinsel. Meine eigne Hand hat sich an seinem Gesicht versucht.«

Herr Steinacker neigte mit einer achtungsvollen Bewegung das Haupt. »Zwei treffliche Talente haben sich hier vereinigt!« sagte er. Und nachdem er noch dies und jenes an den Wänden flüchtig in Augenschein genommen, trat er nochmals vor Radulf's Buche, und begann, wiewohl stockend und mit Bescheidenheit: »Verzeihen Sie – wäre Ihnen dieses Bild für irgend einen Preis feil?«

»Dieses nicht!« entgegnete Arnold.

»Ich konnt' es denken. Und doch – gestatten Sie mir eine Frage! Wie kam Ihr Freund darauf, Ihnen grade diesen Gegenstand zu malen, der auch mir – ich gesteh' es – Erinnerungen wach ruft?«

Arnold faßte schnell einen Entschluß. Er begann seinem Gast, zwar nicht von jener Bekränzung Reginald's durch die jungen Mädchen zu erzählen, aber doch von seinem Besuch mit dem Freunde in dessen Heimath. Und, die Rücksichten des Schusters Quassian preisgebend, berichtete er ohne Umschweif von Reginald's Herkunft, Erziehung und Jugend, und verfehlte nicht den Charakter des Pflegevaters wie des Pflegesohnes in das günstigste Licht zu stellen.

Herr Steinacker hörte mit Ueberraschung zu.

»Man macht immer neue Erfahrungen!« rief er endlich. »Wenn man die Schattenseiten des Menschengeschlechts täglich in anderer Wendung wiedererkennt, so muß ich für meine Person doch gestehn, auf oft verborgnen Pfaden so viel Edelsinn, Hochherzigkeit und reiner menschlicher Größe zu begegnen, daß ich beschämt und bescheiden mit meinem Streben, durch äußere Mittel zu nützen, zurücktreten sollte. Ausdauernde Kraft und edler Stolz helfen sich schon selbst weiter. Trotzdem, mein Verehrtester – bei unserm Abkommen bleibt es, nicht wahr? Nehmen Sie mich für einen jener Kunstenthusiasten, die nicht ruhen, bis sie ein Werk, in das sie sich verliebt haben, besitzen. Und so, hoffe ich, gelingt es mir auch wohl noch, eine Copie von jenem Bilde zu erlangen.«

Er trat noch einmal vor Radulf's Buche, schien aber des eigenthümlichen Eindrucks, den er durch dieses Bild empfing, schon mehr Herr zu sein, denn er lobte nur noch die künstlerische Ausführung und das feine landschaftliche Verständniß. Dann empfahl er sich, nicht ohne das Versprechen Arnold's, ihn mit seinem Freunde recht bald in seinem Hause begrüßen zu dürfen.

Als er gegangen, stellte sich auch Arnold noch einmal vor das vielbetrachtete Bild, und dachte: »Was ist das nur für ein Wunderbaum, diese Radulfs-Buche? Reginalds alter Schuster scheint daran ernste Geheimnisse zu knüpfen, und so auch dieser neue Kunst-Mäcen. Mein Freund hat unter den Schatten dieser Zweige etwas erlebt, zwei junge Mädchen scheinen auch von dem Zauberbann ergriffen zu sein, und ich –?«

Er setzte sich an das Clavier und spielte sein Scherzo zu Ende.

Viertes Capitel.

Reginald galt bei seinen Freunden, so jung er war, und so harmlos heiter er sich im gewöhnlichen Verkehr gab, für einen »Charakter«. Was er geworden war, verdankte er zumeist der eigenen Kraft und Ausdauer. Denn wie väterlich Meister Quassian sich seiner Kindheit angenommen hatte, der Wille und das Talent, schon des aufstrebenden Knaben, entwuchsen früh der engen Sphäre und den Mitteln des guten Schusters. Eigne rastlose Arbeit mußte schon in den Schülerjahren für den Erwerb zur Fortbildung sorgen. Die elastische Natur, der frohe Muth und glücklich zutreffende äußere Umstände halfen vorwärts und brachten den jungen Mann zeitig zur Selbständigkeit.

So durfte auch ein ruhiges Selbstgefühl, frei von Eitelkeit oder Anmaßung ihn erfüllen, und da sich in seinem Wesen und Schaffen klar und entschieden aussprach, was er wollte und bedeutete, so verfehlte seine Persönlichkeit nicht des Vertrauen und Achtung erweckenden Eindrucks. Selbst Aeltere verschmähten es nicht, sich bei ihm Rath in allerlei Dingen zu holen, und da er ihn unbefangen gab, ohne seine Ueberlegenheit jemals geltend zu machen, wurde er, ohne es eigentlich zu wissen, eine Autorität in seinem Kreise.

Sogar Arnold, der ihm vier Lebensjahre voraus hatte, stand durchaus unter seinem Einfluß, so wenig es den Anschein hatte. Auch Arnold war eine tüchtige Natur, wenngleich sie sich mit einer gewissen Absicht hinter leichtfertige Formen versteckte, zu welchen äußere Bedingungen und Verkehr in der Welt ihn erzogen hatten. Er liebte den Freund mehr als er zeigte, und zeigte die Gewalt, die jener über ihn ausübte, weniger, als er sie empfand. Er spielte den weltmännisch Ueberlegenen, und Reginald war harmlos liebenswürdig genug, sich von ihm hänseln und necken zu lassen; wo es aber darauf ankam, diesem etwas abzugewinnen, was seinem Stolz, seinen Anschauungen zuwider lief, trat Arnold mit größter Behutsamkeit auf, und mußte auch in geringfügigen Dingen meist das Spiel verloren geben. Bei der hohen Meinung, die er von dem Freunde hegte, hätte er ihm gern mehr genützt, als jener es duldete, und er nahm zu kleinen Intriguen seine Zuflucht, wo er ihn, auch wider seinen Willen, zu fördern hoffte.

So hatte er an das gefundene Medaillon im Stillen bereits die schönsten Pläne geknüpft, und sein Besuch bei Sophien sollte der erste Schritt zur Verwirklichung sein. Schneller als er erwartet, sah er sich durch Herrn Steinacker selbst auf den gewünschten Weg gebracht, zugleich aber sah er voraus, daß Reginald durch das Anerbieten des reichen Mannes keineswegs angenehm berührt sein werde, und sann insgeheim auf kleine Hülfsmittel, die bestimmend für den jungen Künstler sein könnten. Plötzlich schlug er sich halb lachend vor den Kopf, als verfiele er auf Etwas, worauf er von Anfang an hätte verfallen müssen, und glaubte unfehlbar gewonnen zu haben.

In der That wollte Reginald, als er von Arnold das Anerbieten Herrn Steinackers (wiewohl nur theilweise) erfuhr, nicht gar viel von einem derartigen Geschäfte wissen. Zwar stand ihm im ersten Augenblick die ermöglichte Veröffentlichung seines Werkes verlockend vor der Seele, doch verwarf er in einem etwas rigoristischen Stolze die Art und Weise dieser Ermöglichung. Denn der Name des so bereitwilligen Kunstfreundes stand in Beziehung mit jenem geheimnißvollen Abenteuer unter der Buche, und Reginald, so wenig er eitlen Regungen Raum geben mochte, konnte doch nicht umhin, von jenem Augenblick an sich von einer absichtlichen Einwirkung umgeben zu glauben.

Arnold, der den Charakter seines Freundes kannte, hatte es vermieden, mit ihm über jenes kleine Ereigniß weiter zu sprechen, ihn aber um so genauer beobachtet. Ihm den wahren Sachverhalt, wie er ihn von Sophie erfahren, aufzuklären, hütete er sich wohl, da das seine Pläne zerstört haben würde.

So blieb Reginald innerlich befangener, als er nöthig gehabt hätte. Doch kann nicht verhehlt werden, daß er das anmuthige Bildniß in dem Medaillon täglich lieber betrachtete, und auch wohl auf Straßen und Spazierwegen, in Museen, im Theater, die Augen fleißig offen hielt, ob nicht irgend eine Gestalt ihm begegnen werde, die seinem geheimen kleinen Schatz ähnlich wäre. Doch bisher waren seine Forschungen vergeblich gewesen.

Auch über Herrn Steinacker hatte er einige Erkundigungen eingezogen. Von seinem Kunstsinn und Eifer war dabei wenig verlautet, desto mehr von seinem Reichthum, und nebenbei von seiner Wohlthätigkeit, die man, da sie ins Erstaunliche ging, eher für eine Sonderbarkeit als für eine Tugend gelten ließ. Reginald wollte aus solchen Berichten etwas von Vordringlichkeit erkennen, einer Sucht, sich als reichen Mann geltend zu machen, die ihn anwiderte. Um so weniger fühlte er sich durch das Anerbieten desselben geschmeichelt oder gehoben, denn es erschien ihm eher von Prahlsucht, als von Kunstliebe eingegeben, und gegen die Annahme einer Wohlthat sträubte sich sein Selbstgefühl.

Arnold sah bald ein, daß er mit Gegenreden wenig ausrichten werde, schwieg von der Sache, ging aber auf eigne Hand daran, sie um so wirksamer zu betreiben.

Reginald ließ geraume Zeit verstreichen, ohne den ihm zugedachten Besuch Herrn Steinackers zu entgegnen, und ging seinen Geschäften nach. Der Weg führte ihn einmal an dem Hause des Kunstverlegers vorüber, bei dem seine Entwürfe immer noch zur Besichtigung auslagen. Er trat ein, um sie endlich abzuholen, erfuhr aber zu seiner Ueberraschung, daß dieselben an Herrn Steinacker ausgeliehen seien. Nicht ohne Groll über das willkürliche Schalten mit seinem Eigenthum, beschloß Reginald, sich nun sogleich nach dem Hause des Entführers zu begeben.

Herr Steinacker wohnte draußen vor der Stadt, wohl eine Stunde weit zu gehen. Sein Haus mit dem schönen Garten lag, ungestört durch den Dampf der Fabrikgebäude, hart am Flusse, und vereinigte ländliche Abgeschiedenheit mit den Vortheilen der Stadt, ohne von ihrem Lärm und Staub zu leiden. –

Es war ein schöner Herbstnachmittag, die öffentlichen Spaziergänge sehr belebt, Alles drängte ins Freie, um Luft und Sonnenschein zu genießen.

Reginald hemmte bald die von Erregung beflügelten Schritte. Die Möglichkeit, dem jungen Mädchen, dessen Bild er – wenn auch nur in der Tasche – immer mit sich trug, am Ziele zu begegnen, begann seiner Stimmung eine andere Richtung zu geben. Er sammelte seine Gedanken und überlegte, wie er es anstellen müsse, um, wenn innerlich nicht unbefangen, in seinem Betragen nicht unhöflich zu erscheinen.

Endlich schellte er an dem eisernen Gitterthor, und wurde durch einen Vorgarten mit schönen alten Bäumen auf Rasenstücken, nach dem Hause des Besitzers geführt. Herr Steinacker empfing den Eintretenden mit einer Zuvorkommenheit, die fast wie lange erwartete Freude aussah. Er begann sogleich sich schuldig zu bekennen, daß er eigenmächtig mit fremdem Gut verfahren sei, zugleich aber bat er so artig um Verzeihung, daß es dem Gast nicht eben schwer ward, den gleichen Ton anzustimmen.

Reginald hatte sich den Fabrikherrn als einen hochfahrenden, eitlen Mann vorgestellt, dessen Geldstolz sich auch wohl zu kleinen Passionen, wie Wohlthätigkeit und Kunstspielerei, herabließ – waren doch dergleichen Persönlichkeiten ihm öfter schon über den Weg gelaufen – nun aber mußte er einen Mann von Weltton und Bildung erkennen, einen Mann, der sich mit einer gewissen natürlichen Bescheidenheit gab, und dessen Freude an Reginalds Werk sich aufrichtig, einfach und ungeschmückt aussprach. Ueberdies muthete den jungen Künstler schon beim Eintritt in das Haus die künstlerische Atmosphäre versöhnlich an, die er in den Räumen verbreitet sah, der anständige Tact, mit welchem der Reichthum sich in einfach geschmackvolle Formen kleidete, so daß Reginalds Vorurtheile von Minute zu Minute mehr zusammenschwanden.

Herr Steinacker bekannte nun ganz offenherzig, wie er, da es ihm nicht gelungen sei, die Originalblätter für sich zu erwerben, mit dem Kunsthändler hinter dem Rücken des Künstlers conspirirt habe, und zeigte dem verwunderten Gaste einen Bogen mit vielen Namen, der nichts anderes war, als eine Subscriptionsliste, die bereits als geschlossen erklärt werden konnte, weil mit ihr die Veröffentlichung des Werkes gesichert war. An der Spitze stand natürlich der Name des Hauptconspiranten, dann folgte der Name Clothilde Steinacker – Reginald erröthete, als er ihn las – als Dritter hatte Freund Arnold den seinen hingesetzt, der heimtückische Mensch! Die darauf folgende Reihe bestand aus bekannten reichen Kunstfreunden der Stadt, Vereinen, Genossenschaften, wissenschaftlichen und künstlerischen Instituten.

Solchen Erfolgen gegenüber mußte denn selbst das peinliche Selbstgefühl Reginalds verstummen, und er erwehrte sich nicht, der Freude, ein lange mit Liebe gehegtes Werk bald in die Welt treten zu sehen. Herr Steinacker schien sehr beglückt über seines Gastes Einwilligung und begann mit ihm über seine eigenen Baupläne zu sprechen. Das Ergebniß war, daß Reginald die Ausführung derselben übernahm.

Auf die freundliche Einladung Herrn Steinackers, ihm und seinem Hause den Abend zu schenken, wußte der junge Mann keine Ablehnung zu finden, und so ließ er sich von ihm zu den Damen führen. Sie saßen in der Thür des Gartensaals, Clothilde mit einer winzig kleinen weißen Stickerei beschäftigt, Sophie mit gehobener Stimme vorlesend.

Es war für zwei Personen ein verhängnißvoller Moment, als Reginald mit dem Hausherrn eintrat und den jungen Mädchen vorgestellt wurde. Sophie, die den »Wegelagerer« sogleich in ihm erkannte, sprang erschreckt auf, dunkelroth im Gesicht, und wendete sich, bebend vor möglichen Entdeckungen, zu dem lärmenden Kakadu. Sie suchte den unartigen Vogel mit einer Angst zu beschwichtigen, als wäre auch er im Stande, Entsetzliches auszuplaudern – und freilich, gegenwärtig war auch er bei einer Unterredung gewesen, in der sie bedrohliche Geständnisse abgelegt hatte. –

Auch Reginald erröthete, da er nun endlich das oft gesuchte Urbild seines Geheimnisses erblickte, ein leichter Schauer der Ueberraschung überlief ihn, als er das junge Mädchen weit über seine Erwartung anmuthig vor sich sah, und er stand da, verlegen um ein Wort der Begrüßung.

Ganz unbefangen aber war Clothilde und sie konnte es sein. Denn da sie sich damals den Wegelagerer nicht genau angesehen, auch durch Sophien noch keine Andeutung über die erfolgte Verwicklung empfangen hatte, betrachtete sie Reginald zwar als einen Fremden, aber doch von künstlerischer Seite ihr schon vortheilhaft bekannten Gast. Die Erwähnung der Arbeiten Reginalds machte noch einmal den Uebergang zum Gespräch. Clothilde wußte durch ihren Vater von der Reise der Freunde nach Süddeutschland, sie kannte den wackern Meister Quassian, so fehlte es nicht an Anknüpfungen. Auch auf die Radulfs-Buche kam die Rede – Sophie zitterte, und fürchtete, daß nun Alles ans Tageslicht kommen werde. Sie schöpfte erst wieder Athem, als man dies und jenes Gemälde, woran an den Wänden kein Mangel war, betrachtete. Aber von neuem stiegen ihre Befürchtungen, als Herr Steinacker plötzlich in Geschäften abgerufen wurde.

So zu dreien waren die Mädchen schon einmal mit dem jungen Manne gewesen. Damals schlief er freilich, und die Situation war bei weitem bequemer – wer konnte Sophien Bürgschaft leisten, daß er das, was ihm im Schlafe widerfahren, nicht im Wachen mißbrauchen werde? Denn die Männer hier zu Lande waren weit gefährlicher und umständlicher zu behandeln, als sie sich daheim vorgestellt, das hatte sie bereits erfahren! Und sie wußte nicht recht, ob sie es für ein Unrecht halten sollte, daß sie Clothilden nicht schon das ganze Geheimniß vertraut, oder ob es nicht ein Glück war, daß die Freundin noch so ruhig mit dem Gast verkehren konnte. Sie saß kleinlaut da, kaum betheiligt an dem Gespräch der beiden Andern, die von ihren Aengsten nichts ahnten.

Reginald nahm wenig Notiz von der Schweigsamen, da seine Gedanken und Augen allein an Clothilden hingen, und das Gespräch mit ihr ihn mehr und mehr fesselte.

»Ist es denn glaublich,« dachte er, »daß eine junge Dame von solcher Vornehmheit und Feinheit des Wesens, so viel Bildung und Tactgefühl, sich einen Spaß mit mir erlaubt haben kann, wie jenen unter der Buche? Kann die reine Unbefangenheit, die sie heute zeigt, erheuchelt sein?«

Solche Gedanken spann er während ganz entgegengesetzter Unterhaltung fort, und er verwirrte und verwickelte seine Rede oft zu seinem Aerger dermaßen, daß Clothilde ihn zuweilen befremdet ansah. Sie mußte ihn, so fürchtete er, für einen halb unzurechnungsfähigen Menschen halten. Sophie beobachtete ihn wahrend dem, so weit ihre eigene Befangenheit es zuließ, genau, und grade sein etwas verlegenes Wesen begann ihre Besorgnisse zu vermindern.

»Er scheint ein guter Junge zu sein,« dachte sie, »man kann Vertrauen zu ihm fassen. Er wird wahrscheinlich öfter in diesem Hause sein, und es wäre zu wünschen, daß man mit ihm gut stände, man könnte ihn zugleich als eine Wehr und Waffe brauchen gegen seinen abscheulichen Freund, der einen Tag um den andern bei uns vorspricht, um mich in ewiger Angst zu erhalten!«

Immer mehr beschäftigten sie diese Gedanken, und als Clothilde sich auf einen Augenblick entschuldigte, um nach häuslichen Dingen zu sehen, war Sophie nicht mehr bestürzt, mit dem Gast allein zu bleiben.

»Jetzt gleich muß es klar werden zwischen uns Beiden,« dachte sie. »Wer weiß, wann die Gelegenheit so günstig wieder kommt.«

Sie lud Reginald zu einem Gang durch den Garten ein, um ihm die hübschen Anlagen zu zeigen. Er folgte ihr, und schien im Gespräch mit ihr freier, als mit Clothilden. So recht geheuer war es Sophien freilich nicht bei diesem Gange, aber ihr Entschluß stand fest.

Als sie weit genug vom Hause entfernt war, um sich unbelauscht zu glauben, begann sie mit pochendem Herzen: »Herr Baumeister, ich muß mit Ihnen von einer Sache sprechen, die mir sehr viel Sorgen macht.«

Reginald sah sie überrascht und fragend an.

»Ich brauche mich nicht auf Erzählungen einzulassen,« fuhr sie fort, »denn Sie wissen ja die ganze Geschichte nur zu gut. Aber wer weiß, was Ihnen Ihr Freund über die Sache weiß gemacht hat, denn dem ist nicht zu trauen! Und kurz – den Kranz, den Sie unter der Radulfs-Buche auf Ihrem Kopfe gefunden – habe ich Ihnen aufgesetzt.«

Reginald blieb stehen, halb erschrocken über diese Eröffnung, und blickte der Sprecherin sehr erstaunt ins Gesicht. Er hatte bisher wenig Notiz von ihr genommen, und nun stellte sich diese kleine Person plötzlich, und zwar als Hauptperson, in den Vordergrund seines Abenteuers. Er wußte in seiner Ueberraschung nicht gleich ein geeignetes Wort zu finden, und brachte etwas wie einen »ergebensten Dank für die große Güte« hervor.

»Ach Gott, Sie haben mir nicht zu danken!« rief Sophie. »Ich habe es aus purem Uebermuth gethan, und hätt' ich ahnen können, daß ich dem Menschen jemals wieder begegnen würde, ich hätte mich gewiß vor dieser Thorheit gehütet. Ich weiß nicht, wie es geschah – der Kranz war einmal da, und – und – ich bitte Sie um Gotteswillen, lassen Sie die schreckliche Geschichte jetzt ruhen, und machen Sie sich keine Gedanken darüber.«

Reginald, im Gefühle einer Enttäuschung ging schweigend neben ihr her. Dann begann er zögernd: »Also Fräulein Clothilde war gar nicht dabei, und hat mit dem Kranze nichts zu thun?«

»Dabei war sie freilich,« entgegnete Sophie, »und gewunden hat sie den Kranz, nicht ich. Aber den Schlafenden hat sie sich nicht angesehen, und mich hat sie für meine Leichtfertigkeit nachher ausgescholten. Clothilde selbst hätte sich dergleichen nie zu Schulden kommen lassen.«

Reginald athmete froh auf, eine angenehme Genugthuung erfüllte ihn. Allein auf Sophiens Bitte, ihr nun das gefundene Medaillon zurück zu geben, konnte er nicht eingehen.

»Es ist mir inzwischen sehr werth geworden,« entgegnete er, »aber ich gebe Ihnen mein Wort, keinen Mißbrauch damit zu treiben.«

Da Sophie noch immer einige Ängstlichkeit verrieth, fuhr er fort:

»Was wir in dieser Stunde gesprochen, soll unser tiefstes Geheimniß bleiben. Nie wird ein Wort davon über meine Lippen kommen, und Sie müssen mir versprechen, auch Fräulein Clothilde ganz unbefangen darüber zu lassen. Ich weiß Ihnen doch mehr Dank, als Sie von mir annehmen wollen. Wenn Sie mich näher kennen lernen, hoff' ich in Ihnen die Ueberzeugung zu erwecken, daß ich über ernste Dinge nicht leichtfertig denke, und Geheimnisse zu bewahren weiß.«

Der Ton seiner Worte, der Blick seiner Augen erschien Sophien so ehrlich und wahr, daß sie sich beruhigte und Vertrauen zu dem jungen Manne faßte. Diesem Fremden gegenüber war ihre Empfindung eine ganz andere, als Auge in Auge seinem Freunde, der ihr nicht mehr ganz fremd war. Vor Arnold, so häufig sie ihn inzwischen gesehen und gesprochen, trug sie immer noch eine große Scheu, und war ärgerlich auf sich und ihn, daß sie bei jedem Gespräch mit ihm erröthete, und seinen Neckereien nicht siegreich entgegen treten konnte. Reginald gegenüber, den sie anfangs noch mehr gefürchtet hatte, als seinen Freund, fühlte sie sich bald ruhig und sicher, sie glaubte auf ihn bauen zu können, und so kamen beide in ganz heitrem Gespräch von der verhängnißvollen Wanderung nach dem Saale zurück.

Reginald wußte nicht, daß heute der gewöhnliche Empfangstag des Hauses sei. Bald sah er die Räume sich mit einer Gesellschaft von Herren und Damen füllen, und es befremdete ihn schon nicht mehr, daß auch Arnold eintrat, und sich wie einen guten Freund der Familie gab. Der junge Künstler wurde von dem Hausherrn sehr bevorzugt, was wiederum Arnold als selbstverständlich anzunehmen schien, denn auch er suchte seinen Freund, wo er konnte, in den Vordergrund zu schieben, er schien ihn zwingen zu wollen, sich von seiner vortheilhaftesten Seite zu zeigen.

So viel man aber Reginald auch in Anspruch nahm, seine Gedanken und Blicke waren doch nur nach einem Ziele gerichtet. Er bewunderte Clothilden, mit welcher ruhigen Sicherheit, und doch mädchenhaften Einfachheit sie die Wirthin zu machen verstand, und Keinen in der Gesellschaft außer Acht ließ. Es überrieselte ihn freudig, wenn sie ab und zu auch zu ihm heran trat, ihn bald dieser, bald jener Dame vorstellte, ihn auf deren besondere Interessen oder Eigenheiten aufmerksam machte, um ihm einen Anknüpfungspunkt für die Unterhaltung zu geben. Ihre Winke waren ihm Befehle, und so sprach er heut mehr, als die Anregung der ihm fremden Damen sonst wohl hergegeben hätte, er fühlte sich beglückt, Clothilden damit einen Dienst zu leisten.

Er war so vertieft, daß er nicht bemerkte, wie Sophie und Arnold in sehr sonderbarer Unterhaltung zu sein schienen, die damit endete, daß Sophie plötzlich aufstand, und in flammendem Aerger das Zimmer verließ. Sie kam zwar wieder herein, begab sich aber unter den Schutz zweier älterer Damen, und verwandte kaum noch ein Auge von ihrer kleinen Stickerei.

In so heiterer Stimmung war Reginald lange nicht gewesen, als da er mit Arnold den Heimweg nach der Stadt antrat.

»Ja, ja, die Steinackers scheinen recht brave Leute zu sein!« meinte Arnold.

Reginald lachte: »Das hast du eher gewußt als ich! Spiele jetzt nicht den Harmlosen, du hinterlistiger Patron! Alle Intriguen sollen dir vergeben sein, aber unter der Bedingung, daß du eingestehst, unter jener Radulfs-Buche, obgleich du da nicht geschlafen und nichts bekommen hast, auch etwas erlebt zu haben! Schade, daß nicht lieber ein anderes Bildniß dort verloren gegangen! Nicht wahr?«

»Es ist verloren gegangen!« sagte Arnold. »Und nun sitzt die schnippische kleine Visage mir im – Kopfe, und macht sich darin zudringlicher, als ich selbst es in meinen besten Stunden zu Stande brächte. Es ist ein Scandal! Wenn sie aus dem Kopfe gar in die Bel-Etage meines Ich einzöge, wär' ich geliefert. Höre, Reginald, Vorsicht ist die Mutter der Weisheit, ich muß dir zu Ostern nächsten Jahres die Wohnung kündigen!«

Reginald lachte laut auf.

Als er aber allein in seinem Zimmer war, zog er aus einem geheimen Fach einen verwelkten Kornblumenkranz, und betrachtete ihn sehr aufmerksam. »Sie hat ihn doch geflochten!« dachte er, und verschloß ihn wieder, um seine Blicke auf etwas noch Angenehmeres zu richten.

Fünftes Capitel.

Nun folgte ein an bunten Zerstreuungen so reicher Winter, wie ihn weder Reginald noch Sophie je erlebt hatten, ein Vergnügtsein, das die kühnsten Vorstellungen des jungen Mädchens übertraf. Das Steinacker'sche Haus wurde der Mittelpunkt einer jugendlichen Geselligkeit, deren Theilnehmer es nicht scheuten, auch im Winter den weiten Weg zurück zu legen. Die beiden Freunde gehörten bald auch zu den am meisten bevorzugten Freunden des Hauses. Am liebsten war es Reginald, wenn die Gesellschaft in dem kleinen rothen Zimmer zu Füßen der sinnenden Muse von weißem Marmor, nur zu fünf Personen beisammen saß. Auch Herr Steinacker schien so am meisten befriedigt und glücklich, und seine Augen ruhten dann häufig auf der Tochter und dem jungen Künstler. Hier wurde gelesen, gezeichnet und die Unterhaltung entbehrte nie des Stoffes. Hier aber wurden auch allerhand Pläne geschmiedet, Bälle ausgedacht, die außerordentlichsten Tanztouren ausgeklügelt, oder, wenn Alles glanzvoll in die Welt getreten war, das Erlebte im frohen Gespräch nochmals durchgenossen.

Arnold war es, der eines Tages den Vorschlag machte, nun auch noch Komödie zu spielen. Das nächstemal erschien er mit einem Dutzend kleiner Lustspiele, die man zuerst im engsten Kreise vorlas, um eine geeignete Auswahl zu treffen. Dann aber wurde das rothe Stübchen zu eng, das erweiterte Personal drängte in die größeren Räume. Der Rausch von Wonne und kleinen Aengsten, den die Proben brachten, das Gelächter über Mißlungenes oder glücklich gelungene komische Situationen, erfüllte den Saal. Reginald war nicht immer mit seinen Gedanken ganz bei dem Jubel der Uebrigen. Es zog ihn nach dem rothen Zimmerchen mit der vereinsamten sinnenden Muse.

Es war heut nur durch eine Ampel mäßig erhellt. Er setzte sich auf den runden Divan, der die Ecke ausfüllte, das Lachen drang nur aus der Ferne zu ihm, man schien ihn nicht zu vermissen. Wie es zuweilen geht, mitten in der Stimmung geräuschvoller Lust, die er anfangs getheilt hatte, war ihm ein gewisses Weh in die Seele gedrungen. Er fühlte, daß er sich allzu kühnen Träumen hingegeben hatte. Er liebte Clothilden, in der er die schönste Jungfräulichkeit verkörpert sah, so warm und innig, wie ein gesundes, kräftiges Jünglingsherz nur zu lieben vermag, und diese Liebe konnte nicht ohne Hoffnung auf künftigen Besitz der Geliebten leben. Aber immer klarer wurde ihm der Abstand zwischen ihm und ihr. Wie durfte er, der arme Künstler, es wagen, auf sie, die Vielumworbene, Vielbegehrte, auf die Tochter des reichbegüterten Mannes zu hoffen? Zwar Herr Steinacker zeichnete ihn sehr aus, aber ein Wort konnte die Freundschaft zerstören. Clothilde war immer freundlich, herzlich, sie reichte ihm beim Kommen und Gehen die Hand, es war ihm oft, als lese er sogar etwas von tieferem Antheil in ihren Augen, und doch, er konnte sich täuschen, er dachte sich den Augenblick furchtbar, wenn sie sein Herz und seine Hand zurückwiese. Nicht allein der Schmerz, auch die Demüthigung mußte dann sehr groß sein. Denn es fehlte nicht an Anspielungen, die ihm widerwärtig waren, Anspielungen auf sein Glück, das er bei einer der reichsten Erbinnen mache. Der Gedanke aber, daß man ihm unterlegen könne, nach Reichthum zu freien, brachte sein Selbstgefühl in Empörung und machte ihn oft befangen und kälter in seinem Wesen, als sein Herz dem geliebten Mädchen gegenüber es wünschte. Wie glücklich ist Arnold! dachte er. Er freit um ein Mädchen ohne Vermögen, sie zanken sich zum Vergnügen und sind doch ganz sicher, daß sie eines Tages ein glückliches Paar werden müssen!

Aus solchen Gedanken wurde er durch das leise Rauschen eines seidenen Gewandes aufgestört. Schnell er, hob er sich. Clothilde stand in der Thür. Sie schien gar nicht befremdet über seine Gegenwart, vielleicht hatte sie ihn hier sogar gesucht.

»Sie haben sich ein wenig zurückgezogen, Herr Vanbüren?« fragte sie in freundlichem Tone.

»In der That,« entgegnete er, »mich überkam eine Sehnsucht nach unserer stillen Muse, zu deren Füßen wir so lange nicht gesessen haben.«

Clothilde, eingehend auf seine Wendung, nahm auf dem Divan Platz. »Ich weiß noch Jemand,« sagte sie, »dem es auch am wohlsten ist, hier im kleinsten Kreise ein anregendes Gespräch zu führen.«

»Und wer ist das?«

»Mein guter Vater. Er läßt sich unsere lärmende Heiterkeit gefallen, weil er unsere Freuden nicht stören will, er kann auch selbst unter uns heiter sein, sogar seine Person der Ausgelassenheit unserer Freunde preisgeben, sein Herz hängt doch mehr an stillern Freuden. Es ist eine merkwürdige Veränderung mit ihm vorgegangen. Und wissen Sie auch, wem wir diese Wandlung danken? Ihnen, Herr Vanbüren! Ihnen allein!«

»Mir?« rief Reginald überrascht. »Ich kann nicht annehmen, allein die Ursache eines geräuschvolleren Verkehrs zu sein, der Herrn Steinacker in seinem häuslichen Behagen beeinträchtigt. Das wäre ein Vorwurf–«

»Es soll kein Vorwurf sein, sondern ein Wort des Dankes!« fiel Clothilde ein. »Nicht den geräuschvolleren Verkehr haben Sie uns, wohl aber meinem Vater die heitere Stimmung gebracht, ihn zu ertragen, Geschmack daran zu finden. So lange ich denken kann, kenne ich an meinem guten Vater einen Zug tiefer Traurigkeit, der meist mitten in den Genuß einer frohen Stunde trat, und die kaum genossene verbitterte. Vielleicht war es der frühe Tod meiner Mutter, deren ich mich leider kaum erinnere, welcher ein wehmüthiges Gefühl der Vereinsamung in ihm nährte. Als ich heranwuchs, und seinen geheimen Kummer zu empfinden begann, suchte ich ihn durch verdoppelte Liebe und Zärtlichkeit zu bannen. Mir wurde manche schöne Genugthuung dadurch, aber die letzte blieb doch aus, die Ergründung und die Heilung seines Grams. Auch die Aerzte wurden gefragt, sie sprachen von melancholischer Naturanlage, mein Vater schüttelte nur traurig lächelnd den Kopf, und wies die Mittel und Curen ab, die ich ihm aufnöthigen wollte. Da kamen Sie, Herr Vanbüren, und im Verkehr mit Ihnen schwindet von Woche zu Woche meines Vaters geheimer Kummer. Er lebt von Neuem auf, ist glücklich, wenn Sie da sind, und freut sich auf Ihr Wiederkommen. Was für Zaubermittel Sie angewendet haben – wer weiß es? Ich will nicht verhehlen, daß ich oft schon recht eifersüchtig auf Sie war, daß Ihnen so leicht gelungen, was ich durch alle liebevolle Mühe nicht habe durchsetzen können. Allein größer ist doch die Dankbarkeit in mir. Ich muß Ihnen einmal recht froh und glücklich dafür die Hand geben!«

Reginald ergriff hastig die dargereichte kleine Hand, barg sie in seinen beiden Händen, und drückte einen heißen Kuß auf das vielverheißende Pfand. Er konnte nicht sprechen, nur halb geflüstert drang leise der Name »Clothilde« auf seine Lippen.

Das Mädchen entzog ihm leise die Hand und begann in etwas gemessenerem Tone: »Ich hätte Sie noch um eine Gefälligkeit zu bitten, Herr Vanbüren. Mein Vater hat bei Ihrem Freunde ein Bild von Ihnen gesehen, es stellt die Radulfs-Buche dar. Er wünscht sehr, eine Wiederholung davon zu besitzen. Im April ist sein Geburtstag, ich möchte ihn damit überraschen. Wollen Sie mir darin gütig zu Hülfe kommen?«

Reginald hätte die Welt in diesem Augenblick versprochen. Clothilde aber erhob sich schnell, und eilte nach kurzem Dank auf eine Tapetenthür zu. Er folgte ihr, ergriff noch einmal ihre Hand, und rief leise:

»Clothilde lassen Sie diesen Augenblick nicht vorübergehn, ohne einen Blick in mein übervolles Herz zu werfen –«

»Ich weiß seit lange, was Sie erfüllt,« unterbrach sie ihn sanft, »verkennen Sie mich nicht! Harren Sie aus – ich will Ihr Bestes!«

Damit verschwand sie aus dem Zimmer.

Reginald glaubte den Hinweis auf ein namenloses Glück aus diesen Worten zu hören. Er konnte so mit pochendem Herzen und glühendem Gesicht nicht zur Gesellschaft zurückkehren und warf sich noch einmal zu Füßen der Muse auf den Divan.

Da traten zwei junge Dämlein, die sich kichernd Geheimnisse zuflüsterten, in die Thür, und blickten in das Halbdunkel des kleinen Zimmers. Plötzlich schrie die eine laut auf, und in nachgeahmter Furcht und unter halbem Lachen eilten sie in den Saal zurück.

»Im rothen Zimmer sitzt ein Mensch!« riefen sie.

»Ein Mensch? Ein Mensch!« wiederhallte es von einem Dutzend Zungen, und in wohlgespieltem Entsetzen ergriff man Armleuchter und Lampen, um das unerwartete Geschöpf auszuspüren. Die ganze Gesellschaft drängte nach, und unter erstaunlichem Lachen beleuchtete man Reginald, der sich bereits erhoben hatte und verneigte.

Sophie war es, die hier irgend einen dunkeln Vorgang ahnte und schnell zu Hülfe zu kommen beschloß.

»Das nenne ich einen gehorsamen Mann!« rief sie. »Ich habe Herrn Vanbüren befohlen, sich in die Einsamkeit zu begeben und seine Rolle zu lernen, damit die Scene, die wir zusammen zu spielen haben, endlich einmal ordentlich geht. Jetzt aber bitte ich zu Tische, nachher wiederholen wir das Stück!« –

Um das Vergnügen um so länger zu genießen, setzte man immer neue Proben an, und so vergingen die Wochen unter endlosen Vorbereitungen. Reginald, der in seinen Berufsgeschäften vollauf zu thun hatte, mußte die Zeit zu Rathe halten, um einige Abendstunden für die gesellige Zerstreuung zu gewinnen, und versagte sich manchen andern Genuß, den Arnold sich gönnte.

Die Freunde hatten eines Tages verabredet, sich noch spät in einem Kaffeehause zu treffen. Arnold war in die Oper gegangen, wo er Sophie und die Steinacker'sche Familie wußte, und zögerte ziemlich lange. Während Reginald, als zuerst am Orte, nach einer Zeitung griff, hörte er eine ganz laut geführte Unterhaltung einiger ihm unbekannter Herren, deren Inhalt ihn sehr überraschte. Es stehe mit Herrn Steinacker nicht mehr zum Besten, hieß es, er habe sich auf zu gewagte Speculationen eingelassen, große Verluste erlitten, sein Credit beginne zu wanken. Man sprach davon achselzuckend, wie es schien mit schlecht verhehlter Genugthuung, daß dem Manne, dem bisher Alles geglückt, das Glück nun doch einmal den Rücken wende. Er sei aus Amerika herüber gekommen, um hier die Leute in Erstaunen zu setzen, am Ende werde er eines Tages leerer zurückkehren müssen, als er gekommen.

Reginald, höchst peinlich berührt durch diese Entdeckung, konnte den Freund kaum erwarten, der ohne Zweifel Näheres darüber wußte. Er theilte ihm das Gehörte sogleich mit. Arnold machte eine beruhigend abwehrende Bewegung.

»Es ist nicht der Rede werth,« sagte er. »Verluste hat Steinacker allerdings gehabt, sie sind aber gedeckt. Wo mit so großen Summen gewirthschaftet wird, wie in seinem Geschäft, da klingt ein Verlust natürlich ungeheuer, während er in Wahrheit wenig auf sich hat. Die Leute sind eben mißgünstig, und gönnen dem Glücklichen einen tiefen Fall, daher greifen sie gern auf, was in ihren Kram paßt.« –

Reginald konnte dennoch nicht umhin, den Faden jenes Gesprächs im Stillen weiter zu spinnen. So bitter ihm der Gedanke war, Clothilden und ihren Vater ihres Besitzes, und damit ihrer Stellung und des Ansehens vor der Welt, einst beraubt zu sehen, so wollte ihm doch scheinen, als ob ihm grade dadurch Clothildens Hand um so eher gesichert sei. Ein Zwiespalt that sich in ihm auf, zwischen den eigennützigen Wünschen seines stolzen Selbstgefühls, und dem Wunsch, die Geliebte vor einer schweren Enttäuschung über die Welt und die Menschen bewahrt zu sehen.

Im Steinacker'schen Hause selbst hätte auch ein kundiges Auge nicht erkennen können, daß eine Wolke über das fröhliche Treiben, das sich darin ausbreitete, herauf ziehe. Die Proben waren beendet. Die Räume strahlten am festlichen Abend in auserwähltem Glanz. Das aufgeschlagene Theater war wunderschön, man spielte mit wonniger Angst und vollster Hingebung. Der darauf folgende Ball suchte an Herrlichkeit seines Gleichen, die Opulenz des ganzen Festes war über alle Erwartung. Den Wirth des Hauses hatte man selten so heiter gesehen, und so theilte sich seine Stimmung den Anwesenden mit. Wie hätte nicht auch Reginald sich mit Freude dem Genuß der Stunde hingeben sollen? Schwebte doch Clothilde, die Krone des Festes, in seinem Arm durch die Reihen, ließ sie sich doch ihn, als den bevorzugten Tänzer gefallen! So vergingen die Stunden der Nacht ungezählt und viel zu schnell für die glücklichen Herzen und rastlosen Beine.

Endlich war das Fest verrauscht. Die Freundinnen befanden sich allein in ihrem Zimmer. Da warf sich Sophie plötzlich an Clothildens Brust, und rief:

»Jetzt muß es heraus, ich kann nicht länger schweigen! Als das Stück aus war, hat mir Arnold hinter den Coulissen seine Liebe erklärt, er will mich durchaus heirathen!«

Clothilde war nicht eben überrascht durch diese Eröffnung, und fragte lächelnd: »Und du?«

»Er war eigentlich sehr unartig,« fuhr Sophie eifrig fort, »und sprach gar nicht so, wie es sich für eine so feierliche Sache schickt, und ich war sehr erschrocken, ja sogar ärgerlich über ihn – wenn ich nicht den Augenblick so voll Angst gewesen wäre, ich glaube – ich weiß nicht« – Sophie stotterte, erröthete, und knitterte verlegen an ihrer Schärpe.

»Ja, ich sehe wohl voraus,« meinte Clothilde lächelnd, »daß du dem armen Mann – was man nennt einen Korb geben wirst!«

»Ach Gott, ich habe ja schon Ja gesagt!« rief Sophie, halb beschämt, halb strahlend vor Freude.

»Und du bereust es nicht?«

Sophie fiel der Freundin noch einmal um den Hals:

»Nein, nein, niemals! Ich bereue es nicht. Denn so unartig er sein kann, er ist doch gewiß ein guter Mensch! Und wenn er mir nicht von Herzen gut wäre, würde er mich dann heirathen wollen? Denn was hab ich und bin ich dummes Mädchen denn, was er sonst an mir hätte? Er könnte gewiß manche glänzende Weltdame zur Frau bekommen, aber daß er sie nicht will, sondern nur mich, das – das ist doch edel von ihm, nicht wahr? Ach und ich bin ihm ja so herzlich gut! Ich möchte nur gleich an meine Eltern schreiben, und sie um ihre Einwilligung bitten! Was werden die zu dem Glück ihrer Tochter sagen! Clothilde, ich kann's noch nicht begreifen, daß ich so glücklich werden soll!«

Aehnliche Eröffnungen machte Arnold noch in derselben Nacht seinem Freunde, und, viel zu erregt, um schlafen zu können, setzte er sogleich einen Brief an den Oberamtmann Hermann auf, worin er ihn um die Hand seiner Tochter bat.

Acht Tage darauf erschien Sophiens Vater selbst in der Stadt, um sich den Bräutigam, den er nur von einem flüchtigen Besuch her kannte, näher zu betrachten. Der Erfolg war so günstig, daß er seine Einwilligung nicht vorenthielt. Herr Steinacker feierte die Verlobung seines Pflegekindes, wie er Sophie nannte, wie die einer eigenen Tochter, und die häuslichen Feste schienen kein Absehen zu finden.

Eines Morgens wurde Reginald durch Besuch von seinem Arbeitstische aufgestört. Arnold führte seine Braut und deren Vater in sein Haus ein, um ihnen die künftige Wohnung zu zeigen. Beide fanden die Räume wunderschön, und Sophie schien in Seligkeit zu schwimmen.

Während die Männer dies und jenes betrachteten und beriethen, sagte Reginald zu Sophie: »Eigentlich sollte ich Ihnen zürnen, daß Sie mich aus meiner Wohnung vertreiben!«

»Oh, wenn es auf mich ankäme,« rief Sophie mit lachendem Gesicht, »dann bekämen Sie eine viel schönere! Sie sind doch eigentlich die Ursache meines Glückes, wenn Sie es auch nur durch Ihren gesunden Schlaf bewirkt haben! Ich verdiene gar nicht, so viel Freude von meiner Thorheit zu ernten. Aber das muß nun aus sein, und solche Kinderstreiche sollen nicht mehr vorkommen. Ihnen aber sag' ich – setzte sie leiser hinzu – daß die Geschichte, die unter jenem Baume angefangen hat, noch nicht aus ist. Wenn Sie nicht noch immer schlafen, sondern die Augen endlich aufmachen, dann – ja, ja, ich komme!«

Sie brach kurz ab, und sprang, dem Rufe ihres Vaters folgend, davon.

Am letzten Tage der Anwesenheit des Oberamtmanns Hermann wurde Herrn Steinackers Geburtstag gefeiert. Clothilde überraschte ihn mit dem Aquarellbilde der Radulfs-Buche. Und als später Reginald erschien, ging Herr Steinacker ihm mit offenen Armen entgegen, und schloß ihn in tiefer Bewegung an's Herz. Der Oberamtmann, dies erblickend, und schon vorher sehr gerührt, daß der brave junge Mensch einen Baum von seinem eigenen Grundbesitz so hübsch gemalt hatte, öffnete sogleich auch die Arme, und drückte einen kräftigen Kuß auf die Backe des Ueberraschten. Kaum war Reginald von ihm entlassen, als er sich von Arnold umklammert fühlte, der solchen Rührscenen gern eine humoristische Wendung gab. Rasch aber ließ dieser ihn los, und eilte auf seine Braut zu. Er habe sich nur vergriffen, behauptete er, mußte dafür aber einen Nasenstüber als Strafe erdulden. –

Nachdem der Oberamtmann mit seiner Tochter abgereist war, trat endlich eine stillere Zeit ein. Der Winter rüstete sich zum Abzuge, Veilchen und Schneeglöckchen brachten den Frühling, und in wenigen Wochen prangten die Gärten der Stadt schon im grünen Blätterschmuck,

Reginald lenkte nicht seltener den Schritt nach dem Hause der Geliebten, als in jener bewegten Festzeit des Winters. Gern saß man auch jetzt noch Abends in dem rothen Zimmerchen, meist aber nur zu drei, denn Arnold befand sich viel unterwegs zu seiner Braut. Zwischen Reginald und Clothilde war inzwischen kein Wort der Erklärung gesprochen worden. Und doch fühlten sie sich innerlich nah, es bestand ein Verhältniß des Vertrauens zwischen ihnen, in welchem Jedes von der innigsten Zuneigung des Andern überzeugt war. Es schien als ob Clothilde irgend ein Ereigniß abwarten wolle, ehe sie dem Freunde gestatten könne, die strengere Form ihres Verkehrs aufzugeben, und Reginald glaubte sie zu verstehen, und harrte getrost der Stunde, wo er, ihrem leisen Winke folgend, sein ganzes Herz ihr zu öffnen, und ein Uebermaß von Glück zu empfangen hoffte.

Clothilde verhehlte ihm nicht, daß jene trüben Stimmungen ihres Vaters wieder hervor getreten seien, und sie ernster als jemals beängstigten. Ja, fast hätte sie ihm vertraut, daß es ihr vorkomme, als ob irgend eine finstere Schuld auf dem Herzen des Vaters laste. Doch barg sie auch vor dem Freunde noch die Vermuthung, die ihr wie eine Versündigung an dem geliebten väterlichen Haupte erschien. Reginald strengte sich auf jede Weise an, den auch von ihm geschätzten und verehrten Mann aufzuheitern. Gesprächig, immer bereit, durch Bücher, Kunstwerke, die Stunden anregend auszufüllen, gelang es ihm wohl zuweilen, den stumm Hinbrütenden freier aufathmen zu machen, doch endlich wollte auch das bisher immer Wirksame gegen die melancholische Stimmung nichts mehr ausrichten.

Aber enger und enger wurde bei solchen Bestrebungen das geheime Bündniß der Liebenden. Freudige Hingebung und Bereitschaft zu jeder Hülfe von seiner, und innigster Dank, unerschütterliches Vertrauen von des Mädchens Seite, vereinigte sie auch ohne Worte für das Leben.

Eines Tages fand Reginald, als er in den nun wieder geöffneten Gartensaal trat, Clothilden in Thränen. Sie trocknete sie schnell. Er fragte nicht nach der Ursache, sie aber las die Frage in seinen Augen, und sagte lächelnd:

»Es ist eigentlich nichts. Mein Vater hat mir eben eröffnet, daß er große Verluste gehabt, und daß – ein Tag kommen könne, wo er Alles – – doch das ist es nicht, was mich betrübt. Ich hänge nicht an den bunten äußern Dingen, die mich umgeben, und glaube viel entbehren zu können. Wie gern würde ich, wenn die Nothwendigkeit einträte, das was ich gelernt habe, verwerthen, um diesen lieben, gütigen Vater zu erhalten. Ein solcher Fall, den die Menschen ein Unglück nennen, könnte mich fast stolz machen. Aber so leicht wie ich trägt mein Vater das Drohende nicht. Zwar den Verlust seiner Besitzthümer würde er standhaft überwinden, glaube ich, und über das Urtheil der Welt, das immer ungerecht ist, könnte er hinwegsehen, allein ihn drückt, so fürchte ich, die Sorge um seine Tochter zu Boden, deren Herz er an äußern Glanz gekettet wähnt, und deren Charakter er weniger hoch stellt, als es mir wünschenswerth wäre!«

Wehmüthig wendete sie ihr Gesicht ab, und sah in den blühenden Garten hinaus, ohne seine duftende Herrlichkeit wahrzunehmen.

Reginald's Herz aber schlug hoch auf, er fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen, wo er frei aussprechen durfte, was er empfand, und mit leuchtenden Augen blickte er in Clothilden's sorgenvolles Antlitz.

»Clothilde!« rief er, »wenn Jemand Ihren Charakter ganz erkennt und verehrt, so ist es der Freund, den Sie vor sich sehen! Wie theuer Sie mir sind, Sie können es nie ganz erfahren, denn ich selbst kann das Unaussprechliche nicht in Worte fassen. Wenn ich Ihnen so werth bin, wie Sie mich hoffen ließen, dann reichen Sie mir in dieser Stunde die Hand für das Leben. Ein Theil der Sorgen Ihres Vaters wird dadurch gehoben – ein kleiner Theil, denn ich weiß, er will mir wohl. Nehmen Sie das Bekenntniß, daß ich mich erst heut' Ihnen gegenüber ganz frei fühle, da der Gedanke an den leidigen Mammon nicht mehr zwischen uns steht. Ich bin stolz, ich bin hochmüthig – lehren Sie mich besser zu werden! Weisen Sie mich heut' nicht zurück – nur heut' nicht, wo Sie mir das höchste Vertrauen schon gezeigt haben!«

Er hielt ihre Hand in der seinen, sie entzog sie ihm nicht.

»Ich habe Sie niemals anders als so großdenkend erwartet, Reginald!« sagte sie. »Ich wußte lange, daß Sie mich lieben, und fühlte mich dadurch beglückt. Bekennen Sie sich als stolz, so bekenne ich mich noch stolzer auf Ihren Stolz! Ich liebe Sie, und hoffe einst die Ihre zu werden. Aber urtheilen Sie selbst, ob ich es jetzt schon darf? Ein ernstes Geschick tritt an meinen Vater heran – meine Pflichten müssen ihm gehören. Ich muß ganz Tochter sein, kann nicht daran denken, ihn zu verlassen. Wir sind jung, Reginald, wir haben hoffentlich noch eine lange Zeit vor uns. Und nun Sie wissen, wie ich über Sie und mich denke, versprechen Sie mir, nicht weiter in mich zu dringen! Wir verkehren wieder als aufrichtige Freunde, wie wir bisher mit einander verkehrten.« –

Reginald hatte seine Wohnung in Arnold's Hause verlassen, die Freunde sahen sich nicht mehr täglich, zumal der glückliche Bräutigam geschäftiger war als sonst, und den Weg nach dem Gute seines Schwiegervaters bereits zum dritten Mal durchmaß. Gern hätte sich Reginald näher nach den geschäftlichen Verhältnissen Herrn Steinackers erkundigt, allein er mochte bei Fremden nicht anfragen, aus Scheu, man könne ihm unlautere Absichten unterlegen. Sehnlichst erwartete er daher den Freund zurück, der sich darüber stets zu unterrichten wußte.

Arnold kam, forschte nach, und auch diesmal war das Resultat günstiger, als Reginald erwartet hatte. Herr Steinacker hatte allerdings hart am Abgrund gestanden, aber noch einmal, so berichtete Arnold, habe er sich ganz leidlich »arrangirt,« und vielleicht sei die Gefahr gänzlich vorüber.

Mitte Juni sollte Arnolds Hochzeit sein. Clothilde glaubte nicht anders, als daß ihr Vater die Einladung ablehnen würde, da die Geschäfte seine Abwesenheit zu verbieten schienen. Doch mußte Herr Steinacker sich bereits völlig wieder geborgen fühlen, da er sich zur Reise für eine ganze Woche rüstete. Daß Reginald bei der Hochzeit des Freundes nicht fehlen durfte, verstand sich von selbst, und so begab man sich in schönster Jahreszeit und heitrer Stimmung auf den Weg.

Sechstes Capitel.

Einige Tage darauf schritt Herr Steinacker allein durch das wieder hochaufschießende Kornfeld. Er war in tiefen Gedanken und lenkte die Schritte langsam der altehrwürdigen Radulfs Buche zu. Als er unter ihren Zweigen Platz nehmen wollte, erhob sich von der Steinbank eine andre Gestalt, und zwei alte Bekannte begrüßten einander überrascht und herzlich.

»Mein wackrer Meister Quassian!« rief Herr Steinacker, »Willkommen! Auch Sie sind, wie ich sehe, ein Freund der Natur, Ein schöner, herrlicher Baum, nicht wahr?«

»Ein schöner? Formosus? Möglich, possibilis. Nescio!« meinte der Schuster bedenklich. »Für mich aber ein gewöhnliches Ziel. Wenn ich mein braves Kind, mein Reginaldchen aus der Fremde erwarte, wandre ich stets hierher. Mir ist's als müßt' ich ihn hier melden. Morgen kommt er, vivat! Euer Wohlgeboren haben ihn sehr gütig in Dero Hause aufgenommen. Er verdient es, ich bin stolz auf ihn. Sine dubio, er verdient es!«

Herr Steinacker sprach sich sehr warm und anerkennend über Reginald aus, er redete von ihm, als von einem jüngeren Freunde, und von einem Künstler, von dessen Zukunft er noch Großes erwarte. Wie die schönste Musik drangen solche Worte in das Ohr und Herz des glücklichen Meisters, seine Augen glänzten, und gerührt ergriff er Herrn Steinackers Hand.

»So ist es, so ist es, recte dixisti!« rief er. »Freude ist es, nur von ihm zu hören, denn nur Gutes und Freudiges weiß jede Zunge von ihm zu sagen! Ich verdiene solch' ein Glück nicht, und bleibe still im Hintergrunde, daß sein Glück nicht durch mich getrübt werde. Ja, wär' es gekommen, wie es vorbereitet war, er hätte von Kindheit auf noch glücklicher sein können! Doch – longum est.«

Herr Steinacker machte ihm Vorwürfe, daß er ihm niemals von diesem seinem Pflegesohne erzählt habe, und zeigte sich im Allgemeinen bekannt mit Reginalds Jugendereignissen.

»Und was meinten Sie, lieber Quassian, mit Ihrer Andeutung: Sie müßten den jungen Mann so zu sagen hier melden? Bei diesem Baume? War dies auch sein Lieblingsplatz?«

»Mehr als das!« sagte Quassian mit ernstwichtigem Gesicht. Dieser Baum ist gleichsam sein Schuldner, debitor. Doch davon weiß Reginald nichts. Ich aber weiß es, ich bin für mein Pflegekind der Gläubiger dieses Baumes, ich hab' ihm viel anvertraut, und er hat es nicht wiedergegeben, non reddidit! Wenig Hoffnung ist, daß er, arbor, es jemals zurückerstatten werde, und dennoch muß ich den alten Schuldner immer wieder aufsuchen, ihm zu sagen: Er kommt! Er kommt, dem du nicht Treue gehalten!«

Herr Steinacker sah den Sprecher mit höchstem Erstaunen an.

»Wie das?« fragte er in gedehntem Tone, während in seinem bleichen Antlitz, in seinen weitgeöffneten Augen sich die gespannteste Erwartung aussprach.

Meister Quassian bemerkte nichts davon, er blickte schweigend vor sich hin, und schien zu überlegen. Plötzlich sah er auf, und rief:

»Es sei, fiat! Euer Wohlgeboren sind ein Mann, wie es wenige giebt, ad unguem factus homo, Sie lieben meinen Reginald, Ihnen will ich Alles erzählen. Ein halbes Menschenleben hab' ich es verschwiegen in der Brust getragen – man hätte mich ausgelacht, verspottet, für verrückt gehalten, wenn ich mein Geheimniß ausgesprochen – jetzt mag es sein. Ich und Reginald können nichts mehr dabei verlieren, und was er noch gewinnen kann – hier hat er es nicht mehr zu suchen. Also –!«

Immer erwartungsvoller sah Herr Steinacker auf den geheimnißvollen Sprecher. Dieser fuhr fort:

»Ergo! Es ist Euer Wohlgeboren nicht unbekannt, wie Reginald's Mutter bei mir wohnte, und wie sie starb, und wie der Knabe mein wurde. Als es mit der Dame zum Sterben kam, begehrte sie mich insgeheim zu sprechen. Sie empfahl mir ihr liebes Kind, ach so rührend! und dann eröffnete sie mir, daß sie Reginaldchen auch nicht ganz arm in der Welt verlasse. Ich mußte ihr aus dem Schranke ein Kästchen reichen. ›Das ist meines Sohnes Vermögen,‹ sagte sie. ›Ich habe, als ich meinem Gatten ins Feld und in die Gefangenschaft nachreiste, all' unsern Besitz zu Gelde gemacht. Zwar mußte das meiste verschleudert werden, und ich erhielt nicht ein Drittel dafür von dem was es werth war. Aber bei der Unsicherheit dieser Zeiten dacht' ich zu retten, was noch zu retten war, ehe der Krieg uns Alles raubte.‹ Dann öffnete sie das Kästchen und zeigte mir in allerhand großen Geldscheinen das Ganze, und sagte, es wären an die zwanzigtausend Thaler. Ich hab' es nicht nachgezählt, – es war auch keine Zeit dazu – mir schwindelte, daß so viel Geld unter meinem Dache sein sollte. Dann bat sie mich, das Geld in Verwahrung zu nehmen, denn sie habe großes Vertrauen zu mir, und gab mir guten Rath, wie ich mit dem Gelde umgehen, und ein Vormund des Kindes sein solle, denn sie wußte in ihrer Rathlosigkeit sonst Niemand. Ich versprach ihr Alles, und legte auf mein Gewissen vor Gott und ihr einen heiligen Schwur ab, redlich mit dem Geld und dem kleinen Reginald umzugehen. Ich verwahrte das Kästchen, und Abends starb die Dame.

Aber zugleich kamen Nachrichten zu uns, die mir das Blut gerinnen machten. Kaum waren wir die Einquartierung unserer Truppen los, und nun hieß es, feindliches Kriegsvolk rücke schon wieder an. Sie hätten wie die Teufel ringsumher gehaust, die Satansfranzosen, gebrannt und geplündert, und nun sollt' es auch über unsere Stadt hergehen. Mich ergriff eine Angst! Das viele Geld in meinem Hause, und das Raubgesindel im Anzuge! Wenn sie das Kästchen fanden und wegnahmen! Und ich konnt' es keinem in Verwahrung geben, Sicherheit war nirgends, die Furcht allgemein, und die Verantwortung hätte kein Mensch übernommen. Viele vergruben ihr Weniges, was sie baar hatten. Da kam auch mir der Gedanke, das Kästchen einzugraben, aber weit weg von der Stadt, im Walde, wo der Feind es nicht suchen werde.

Noch in derselben Nacht schlich ich mich von der Leiche der Verstorbenen weg und aus dem Hause, das Kästchen auf der Brust fest eingeknöpft. Eine Stunde weit ging ich, hierher auf die Felsenwand. Dazumal standen noch mehr Bäume hier. Der Platz war abgelegen, die Landstraße entfernt genug, keine menschliche Wohnung in der Nähe, auch das Haus des Herrn Oberamtmanns stand noch nicht da – so glaubte ich mich sicher. Hier an den Wurzeln dieses Baumes grub ich das Kästchen ein« – der Meister stand auf, und zeigte die Stelle – »hier grub ich es ein, und dachte es unter ihrem Schutz geborgen, bis ich käme, es wieder zu holen.«

Herr Steinacker hatte sich abgewendet, und barg sein Gesicht im Taschentuch. Seine Brust schien krampfhaft zu arbeiten.

Quassian gab im Eifer seines Erzählens wenig acht auf ihn.

»Nun ging ich beruhigt nach Hause,« fuhr er fort. »Am andern Tage kamen richtig die Franzosen und hausten wie nichts Gutes. Auch bei mir suchten sie nach – aber ich lachte in mich hinein: Ja, sucht nur! wiewohl mir nicht lächerlich zu Muthe war. Da sie nichts fanden, als eine Leiche und unsre Armuth, ließen sie mein Haus ungeschoren. Ach Gott, aber was war es für eine Wirthschaft in der Stadt: Hercle, Hercle! und ich hatte nicht so viel Geld beisammen, um die Dame begraben zu lassen. Da wendete ich mich an Sie, Herr Steinacker. Dazumal waren Sie noch Student, und ich bekenne, daß ich Ihnen den Besitz von viel Baarem nicht zugetraut, aber ich dachte doch ein Weniges zu bekommen. Sie wissen, wie ich verdutzt war, stupefactus, als Sie mir hundert Thaler gaben. Nun, die waren mir dazumal wie ein Segen vom Himmel gefallen, und ich schulde Ihnen noch heut' –«

Herr Steinacker fuhr zusammen, wie von Entsetzen angepackt.

»Quassian!« rief er: »Sie? Sie? O Gott! O Gott! Und ein Segen wurde Ihnen – die kleine Summe, ein Segen!«

»Ja, gewiß!« fuhr der Schuster fort, »ein Segen! Es geht Ihnen zu Herzen, lieber Herr, ich seh' es, aber hören Sie nur weiter! Die Hauptsache kommt erst. Unsere arme Dame war begraben, und die Franzosen zogen ab. Es waren ihrer ungeheure Züge gewesen, selbst um die Stadt herum hatten sie campirt, und ich stand noch Angst genug aus, um meinen vergrabenen Schatz, wenn ich mir auch immer sagte, er sei gut aufgehoben. In der Erde werden sie ja nicht wühlen, die Plünderer nehmen nur, was sie auf der Erde finden! –

So vergingen acht Tage, und wir hatten endlich einmal Ruhe. Da ging ich in einer Nacht wieder hierher, um meinen Schatz zurückzuholen. Ach, lieber Herr, wie soll ich sagen, wie mir zu Muthe ward, als ich nur herauf kam! Wie sah es aus! Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum – hatte das Satansgesindel das ganze Feld hier zertrampelt! Tiefe Spuren von Kanonen und Packwagen, Brandstätten von Wachtfeuern – ich rannte wie gehetzt darüber weg! Und ich komme zu diesem Baume – es überrieselt mich vor Schreck, die Haare steigen mir empor – das Moos, das ich sorgfältig über die Stelle gelegt, ist weggerissen, der Boden durchwühlt, ich finde das Kästchen, es ist erbrochen, ist leer – das anvertraute Gut geraubt, mein Reginald arm und bloß, meiner eigenen Armuth preisgegeben! Hatten die Bestien selbst hier gespürt, gewühlt und geraubt, und waren mit ihrer Beute abgezogen! Ich fiel um vor Jammer. Dann raffte ich mich wieder auf, und begann von Neuem zu suchen – es war thöricht, denn was das fluchwürdige Gesindel einmal in den Krallen hatte, davon verlor es nicht leicht wieder etwas.

Und ich fand nichts, und wankte mit dem leeren Kästchen wieder heim. Wie ein Verbrecher, denn mir war, als hätte ich selbst das anvertraute Gut veruntreut! Und meine Schuld war es immer, ich hätte einen andern Ort wählen können, um es zu verbergen. Aber noch konnt' ich mir nicht einbilden, daß es verloren, ganz verloren sein sollte. Täglich ging ich wieder hin, und wenn ich heim kam, war ich elend, wie zerschlagen. Die Leute hielten mich dazumal für nicht gescheit, und gar wenn ich ihnen gesagt hätte, was geschehen, sie würden mich als einen Unsinnigen ausgelacht haben, denn die verstorbene Dame in meinem Hause hatte für blutarm gegolten. Meine Frau glaubte, mich drückten die Sorgen, daß wir nun das fremde Kind hatten, und redete mir immer gut zu, das gute Weib, ich sollte doch froh sein, daß wir einmal wieder eins im Hause hätten.

Na, endlich kam es über mich, und das liebe Jüngelchen lachte mir den Kummer weg. Ich ging an die Arbeit, und dachte, fortan muß ich dem Kind durch eigenes Schaffen ersetzen, wenn auch nur ein Tausendtheil von dem, was ihm durch mich verloren gegangen ist. Und es förderte, ich kam auf und wurde ein ganz gemachter Mann. Alles hat seine Zeit, auch der Erwerb. Zurücklegen konnt' ich wenig, und auch das ging drauf, aber wir hatten was wir brauchten, und ich konnte meinen Reginald erziehen. Das Beste dazu mußt' er freilich selbst thun.

Jetzt ist er was man wünschen kann und dazu ein dankbarer Sohn. Was ihm verloren gegangen, ich hab' es ihm nie erzählt, damit er sein Herz nicht an etwas hänge, was doch nicht mehr da ist. Aber mir hat es mein Lebtage keine Ruh' gelassen, und zu dem Baum hier geh' ich noch immer, wie zu einem schlechten Gesellen, um ihm sein Unrecht vorzuhalten. Unrecht mag's auch von mir sein, aber wer das erlebt hat – der hat eine Stelle in seinem Leben, davon er nicht los kann. Und oft hab' ich hier gefragt, warum das so hat kommen müssen? Ja warum? Davus sum, non Oedipus!«

Meister Quassian blickte, nachdem er seine Erzählung beendet, eine Weile schweigend in das Thal hinab. Auch Herr Steinacker schwieg, nur den hörbaren Athemzügen seiner Brust merkte man die Bewegung seines Innern an. Er hatte mit einer Erschütterung zugehört, als empfienge er die furchtbarsten Aufschlüsse über sein eignes Leben, und schien danach zu ringen, die Schrecken, die er empfand, wenigstens äußerlich nicht zum Ausdruck kommen zu lassen. Einen Augenblick war es, als wollte sein eignes Geständniß gewaltsam aus seiner Brust hervor. Aber ein plötzliches krampfhaftes Zusammennehmen seines Wesens zeigte die Erregung seines Innern von einem energischen Entschluß beherrscht.

Meister Quassian, zu sehr von dem Inhalt seiner eigenen Erzählung hingenommen, merkte nicht auf den ungewöhnlichen Antheil des Zuhörers, und so saßen beide endlich in Gedanken verloren, schweigend neben einander. Die von Schmerz entstellten Züge Steinackers begannen sich aufzuklären, und durch sein immer noch bleiches Gesicht ging ein leises Lächeln. Er athmete aus, als habe er eine drückende Last abgeworfen. In der Nähe erscholl Lachen und frohes Geplauder.

»Ich danke Ihnen, lieber Quassian!« sagte Herr Steinacker, indem er des Meisters Hand drückte. »Sie und ihr Pflegesohn sind meinem Leben näher verbunden, als Sie wähnen. Ich danke Ihnen!«

Arnold mit seiner Braut, und Clothilde am Arme des Oberamtmanns Hermann, traten aus dem Gebüsch.

»Sieh da!« rief der Letztere lachend, »da haben sich zwei Jugendfreunde gefunden! Na, es mögen schöne Geschichten sein, die Ihr aus Euren Studentenjahren aufgefrischt habt! Rede gestanden, Schusterchen! Der vortreffliche Herr hier war dazumal wohl nicht immer so gesetzt wie heute, was?«

»Euer Wohlgeboren irren sich, mit Verlaub!« entgegnete Quassian. Ich kann Herrn Steinacker das testimonium geben –«

Der Oberamtmann unterbrach ihn lachend und abwehrend. Clothilde aber, der die auffallende Blässe ihres Vaters nicht entging, drängte sich an ihn, und sah ihn liebevoll fragend an. Er küßte sie auf die Stirn und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Es thut mir leid,« sagte er nach einer Weile, »eingegangene Briefe rufen mich plötzlich nach Hause. Ich muß heut' noch abreisen, fahre mit dem Nachtzuge, hoffe aber bestimmt zur Hochzeit wieder hier zu sein.«

Man war überrascht und bedauerte. Clothilde erschrak und flüsterte dem Vater die Bitte zu, mitreisen zu dürfen. Er lehnte es freundlich ab. Auch Arnold witterte nichts Gutes. Er wußte, während man langsam nach Hause spazierte, sich einen Augenblick unter vier Augen mit Herrn Steinacker zu bringen, und legte es ihm sehr nahe, daß er im Nothfall auf seine Dienste rechnen könne. Der aber schien es nicht verstehen zu wollen, und sprach von andern Dingen.

Abends reiste Herr Steinacker ab. Am andern Morgen traf Reginald ein. Arnold nahm ihn sogleich bei Seite, und fragte, ob er etwas Näheres erfahren habe über Steinackers Verhältnisse. Reginald war betroffen. Noch einige Stunden vor seiner Abreise aus Berlin hatte er im Steinackerschen Hause und bei dem Factor des Geschäftes angefragt, ob etwas zu bestellen oder mitzunehmen sei. Nach seinem Wissen und Vermuthen schien Alles gut zu stehen. Er sprach Clothilden Muth ein, und brachte gute Laune mit, so daß die allgemeine Stimmung, zumal unter den heitern Umgebungen des Landaufenthaltes wenig zu leiden hatte.

Allein Herr Steinacker kam zur bestimmten Zeit nicht zurück, die Hochzeit wurde, sehr zum Verdruß der am nächsten Betheiligten, um einige Tage aufgeschoben. Da fuhr eines Morgens ein Wagen vor, und Herr Steinacker traf ein, zu einer unerwarteten Stunde. Er war, so berichtete er, schon gestern Abend nach der Stadt gekommen, aber, um zu später Stunde nicht zu stören, die Nacht über im Gasthofe geblieben. Er selbst schien heiter und zufrieden, und so war Alles gut, und man setzte die Trauung auf den nächsten Tag an.

Abends feierte man sehr lustigen Polterabend. Die kleinen Brüder Sophiens sagten der Braut in allerlei Verkleidungen lustige Verse her, Bekannte aus der Umgegend und der Stadt hatten sich gleichfalls ihre Späße ausgedacht, man lachte und scherzte, und endlich wurde, trotz der Sommerwärme, mit großer Hingabe getanzt. Die Räume des nicht großen, einstöckigen Hauses waren beschränkt, und nicht für so große Gesellschaft berechnet, doch nahm man den Hausflur zu Hülfe, hielt alle äußeren und inneren Thüren offen, um frische Luft einströmen zu lassen, und half sich, wie es ging.

Während Alles vergnügt durcheinander drängte, fühlte sich Reginald plötzlich am Arm gefaßt. »Komm einen Augenblick hinaus, mein Söhnchen!« flüsterte Meister Quassian, der auch zum Feste geladen war, sich aber bescheiden zurückhielt. Reginald folgte.

»Dort in den Garten, Kind! Es darf uns Niemand hören!« fuhr der Schuster fort. »Nein halt! Lies erst diesen Zettel!«

Reginald trat an ein Fenster, das von innen nur grade so viel Licht dringen ließ, um die Schriftzüge zu entziffern. Er las:

»Was vor zwanzig Jahren der Erde anvertraut war, kann heut' wieder abgeholt werden. Radulfs-Buche will ihre Schuld zurückzahlen.« –

»Was heißt das?« fragte Reginald heiter.

»Gieb her! Komm!« rief Quassian, indem er ihm den Zettel aus der Hand nahm und Reginald in den Garten fortzog. In einer dunklen Laube nahmen Beide Platz. »Reginaldchen, den Zettel hab ich seit drei Stunden in der Tasche – ich bekam ihn durch die Post – ich kann nun nicht länger schweigen! Höre mich!«

Und Meister Quassian erzählte seinem Pflegesohne in Kürze und fliegender Aufregung die Geschichte seines vergrabenen und verlornen Schatzes. Anfangs glaubte Reginald, bei der Verwirrung des Erzählers, der gute Alte habe des Weines ein wenig zu viel an sich gewendet, und faßte ihn besorgt an Stirn und Hände, bald aber überzeugte er sich von der Nüchternheit und dem Ernst desselben. Daß irgend ein Geheimniß noch mit seiner Kindheit verbunden sei, hatte er immer geahnt, nun aber, da er es erfuhr, daß es sich dabei nur wieder um Geld handelte, konnte er der Sache kein Interesse abgewinnen.

»Söhnchen!« rief der Alte, »wir müssen untersuchen, ob dieser Zettel die Wahrheit sagt. Folge mir! Wir graben sogleich nach! Schnell, eh' uns noch einmal ein Andrer zuvorkommt!«

Reginald war zu dem abenteuerlichen Unternehmen nicht zu bewegen. Der Zettel kam ihm wie eine Mystification vor, und er hätte dem Alten gern eine häßliche Enttäuschung erspart. Plötzlich fragte er: »Wer außer uns beiden weiß um diese Sache?«

»Niemand als der Räuber des Kästchens, und – und Herr Steinacker, dem ich erst vor wenigen Tagen davon erzählte.«

»Wie? Steinacker!« rief Reginald. »Da wär' es auf einmal klar! Bei der grenzenlosen Güte dieses Mannes, bei seiner Aufopferung, überall, wo es gilt zu Hülfe zu kommen, bei seiner Freundschaft – und – aber nein, nein! Es ist doch nicht möglich! Eine solche Summe, in diesem Augenblick – wie könnte der Mann sie entbehren? – Seine Lage erlaubt es ja nicht!«

»So laß' uns doch nur vor Allem nachforschen!« unterbrach der Alte den laut vor sich hin Denkenden. »Wie es dahin gekommen, wer es dahin gelegt, das können wir später untersuchen. Jetzt nur schnell periculum in mors!«

Reginald zögerte noch immer. »Laß es gut sein, lieber Vater,« sagte er. »Man will dir sicher einen Streich spielen. Möglich, daß du einmal einen Andern zum Vertrauten gemacht, du hast es nur vergessen.«

»Nein, nein, nein!« eiferte Meister Quassian. »Ich rede zwar Mancherlei, dies aber ist nie über meine Lippen gekommen. Reginaldchen, ich könnte jetzt allein an den besagten Platz gehen – aber ich will einen Zeugen haben. Du mußt mit mir!«

»Gut, Vater! Wenn du denn durchaus dieser abenteuerlichen Aufforderung folgen willst, allein sollst du nicht nach dem Orte gehen. Laß mich mit Arnold sprechen. Ich bin gleich wieder hier.«

Er eilte aus der Laube. Der Alte blieb in fieberhafter Aufregung zurück. Was er sein halbes Leben lang beklagt, was er verloren gegeben, und woran seine Gedanken doch noch bis zum letzten Augenblick fest gehalten, das war ihm plötzlich neu in Aussicht gestellt. Er fragte nicht mehr, wer den Schatz geraubt, nicht wer sein Vorhandensein ankündigte, er dachte nur an die Wiedererlangung. Es war ihm wie eine Rechtfertigung vor sich selbst, er fühlte sich in dem Gedanken von einer Schuld befreit. Er wollte ja sonst nichts davon für sich. Dem Pflegesohn sein verlornes Erbtheil wieder geben zu können, diese Aussicht erfüllte ihn wie ein Rausch, zugleich aber brachte die Angst ihn halb außer sich, durch Verzögerung noch einmal den Verlust zu verschulden. Es war zehn Uhr Abends, die Nacht dunkel, die Stunde günstig, und Reginald zögerte so lange, so unendlich lange! Schon wollte der Alte, von Ungeduld und Besorgniß gepeinigt, allein ausbrechen, einen Spaten hatte er bereits irgendwo im Hofe ausgespäht und bei Seite geschafft – da kamen Tritte näher, und Reginald trat mit Arnold in die Laube.

Der Freund mußte in Eile erst in den Sachverhalt eingeweiht werden. Reginald hatte vermuthet, Arnold werde ihn und den Meister einfach auslachen, der Freund aber hörte sehr ernsthaft zu, und seine Verwunderung schien keineswegs mit Unglauben gepaart. Sonderbare Vermuthungen durchflogen ihn, und drangen peinvoll ergreifend in seine frohe Bräutigamsstimmung.

»Soll es denn untersucht werden, »sagte Arnold endlich, »so muß es schnell geschehen. Ich selbst werde mit Ihnen gehen, Meister Quassian. Du, Reginald, bleibe zurück, unterhalte dich mit Sophie, erfinde etwas, ihr meine Abwesenheit zu erklären. Rasch fort, eh' uns Jemand hier aufspürt.«

Sie trennten sich. Reginald ging zur Gesellschaft zurück. Sophie saß im Kreise junger Mädchen. Sie lachten, und schienen das Fehlen des Bräutigams nicht zu beargwöhnen.

Der aber schritt bereits mit dem Schuster hastigen Ganges durch das Kornfeld. Sie langten bei der Buche an. Es war finster, kaum die Umrisse des Baums und der Gesträuche zu erkennen, aber eine zwanzigjährige Bekanntschaft mit dem verhängnißvollen Platze, ließ den Alten die Stelle nicht verfehlen, wo er zu graben hatte. Bebend vor Erwartung stieß er den Spaten in die Erde – er rührte an etwas Hartes! Hastig griffen feine zitternden Hände darnach, er konnt' es kaum halten und ächzte vor Freude, Thränen stürzten über sein Gesicht, Arnold zog ein Feuerzeug und machte Licht. Ein Kästchen war zum Vorschein gekommen, federleicht, unverschlossen. Der Alte griff hinein, und – wäre vor Schreck fast umgefallen, denn es barg nur einen zusammengelegten Zettel.

»Ruhig, ruhig, Meister!« flüsterte Arnold. »Sehen wir zu, was darauf steht.« Er las: »In dem Banquierhause N. N. zu Berlin liegt die Summe von ... Thalern (da die Zinsen in zwanzig Jahren das Kapital um das Doppelte vermehrt haben) für Herrn Quassian bereit, und kann dieser oder sein Pflegesohn R. V. das Geld dort ohne Schwierigkeit erheben.« – »Sehr vernünftig!« fuhr Arnold fort. »Der ehrliche Dieb weiß, wie man mit Geld umzugehen hat. Er vergräbt nicht, was er wiedergeben will, sondern vertraut es einem sichern Geschäft an.«

»Es ist also sicher? Ganz sicher?« stammelte Quassian, der in athemloser Spannung zugehört hatte.

»Jenes Banquierhaus ist sicher, entgegnete Arnold, »und wenn das Geld dort niedergelegt ist, was ich wohl Grund habe zu glauben, so ist es Ihnen auch sicher.« – Denn, sprach er im Stillen für sich fort, die Handschrift ist nur zu sicher – o weh! Man wird in der Nähe bleiben müssen!

Der Schuster hatte einige Augenblicke nachgesonnen, dann sagte er mit Entschiedenheit: »Ich werde selbst nach Berlin reisen, und das Geld erheben!«

»Sie sind in Ihrem Recht,« meinte Arnold, indem er den Rückweg antrat. »Aber – Meister Quassian, Sie sind ein Mann, der zu denken und zu überlegen weiß – haben Sie keine Vermuthung, wer der Dieb sein könnte? Oder der ehrliche Finder, der nur eben zwanzig Jahre lang nicht gewußt hat, wem er den Fund zurückgeben sollte?«

Der Meister war in unsagbarer Aufregung, und nicht im Stande zu grübeln und zu combiniren. Er hatte die unläugbare Bürgschaft in Händen, daß er das ihm einst anvertraute Gut wieder haben, und nun gar durch den Lauf der Jahre gedoppelt wieder haben sollte, und sein ganzes Wesen zitterte und bebte vor Freude. Er war kaum der Worte mächtig.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht!« sagte er, während er neben dem mächtig ausschreitenden jungen Mann mehr taumelte, als ging – »ich weiß nicht, wer der Dieb – der Finder sein könnte. Die Franzosen werden's am Ende doch nicht gewesen sein. Ich will, – ja, ich will Herrn Steinacker fragen! Der brave Mann hat die Sache vielleicht aufklären helfen –«

»Thun Sie das lieber nicht!« fiel Arnold ein. »Ich nehme Ihnen Ihr Wort ab, mit Herrn Steinacker jetzt nicht weiter darüber zu sprechen.«

Meister Quassian versprach Stillschweigen. Nur wenige Worte wechselte Arnold mit Reginald und bat ihn, ein Auge auf seinen Alten zu haben, und ihn womöglich nicht mehr in Herrn Steinackers Nähe kommen zu lassen. –

Sophie hatte natürlich ihren Bräutigam längst vermißt, und kam ihm mit einem schüchternen Versuch zu schmollen entgegen.

»Sei verständig, Kleine!« sagte er. »Ich habe eben eine Nachricht bekommen, die mich gleich nach unsrer Hochzeit nach Berlin ruft.«

»Was geht denn nur in dem dummen Berlin vor,« fragte Sophie, »daß ihr Einer nach dem Andern so schnell zurück müßt?«

»So wird meine kleine Frau künftig nicht mehr fragen, wenn sie erst sieht, daß ihr Mann Geschäfte hat. Wir müssen die Hochzeitsreise nach der Schweiz aufschieben, so sehr du dich darauf gefreut hast, und gleich in unser Haus in Berlin einziehen. Bist du traurig darüber?«

Sophie sah ihn fragend an. »Ach!« rief sie, »reise mit mir, wohin du willst! Wenn du dabei bist, wird es überall schön sein!«

Der Tanz ging ununterbrochen fort, es war ein sehr lustiger Polterabend, und besonders in den Nebenzimmern, wo die Väter und älteren Herren saßen, wurde es sehr laut. Hier befand sich Meister Quassian, den wenige Gläser Wein heut' in eine Aufregung brachten, nicht unähnlich derjenigen, welche einige biedre Herrn vom Lande bereits durch ein halbes Dutzend Flaschen erzielt hatten. Er sprach ungewöhnlich viel Lateinisch, brachte Gesundheiten aus, und Jubel und Gelächter erscholl in der Gruppe, die sich um ihn gesammelt hatte. Der dicke Oberförster war ganz entzückt von dem Biedermanne und machte Brüderschaft mit ihm.

Reginald, der eben erhitzt von einem Tanze kam, sah mit einigem Schreck, was hier vorging. Es ging ihm wie ein Stich durch das Herz, in den lachenden Gesichtern Spott über seinen Pflegevater zu erkennen. Mit guter Manier wußte er ihn aus dem Zimmer zu bringen. Dann ergriff er seinen Arm und schickte sich an, mit ihm den Heimweg nach der Stadt anzutreten. Kaum hatte er ihn im Wagen, als der Alte, weniger von Wein, als von den fieberhaften Aufregungen des Abends erschöpft, einschlief. Er nahm ihn mit nach dem Gasthofe, brachte ihn zu Bett, und warf sich auf das Sopha, um den Morgen zu erwarten. Denn peinigende Gedanken verscheuchten ihm den Schlaf. Er hatte Arnolds Gesicht einen Augenblick sehr ernst gesehen, und ein Wort von ihm gehört, das ihn in tiefster Seele berührte. Er hatte Clothilden zum Abschied stumm die Hand gedrückt, und einen Blick von ihr empfangen, der ihm sagte, daß auch sie ahne, wie eine verhängnißvolle Wolke über ihrer beider Leben herandrohe. –

Gegen Mittag des folgenden Tages begab sich der festliche Hochzeitszug vom Hause des Oberamtmanns nach der kleinen Dorfkirche. Braut und Bräutigam standen vor dem Altar, der Pfarrer hielt die Traurede. Er war ein guter Herr, der aber schwer das Ende fand, wenn er einmal zu reden angefangen hatte. Da wurde unter den Umstehenden eine Bewegung laut. Herr Steinacker wankte, und fiel ohnmächtig zu Boden. Der Pfarrer hielt inne, der Bräutigam konnte nicht umhin, sich betroffen umzuwenden. Schon aber war Reginald hinzugesprungen, und trug mit Hülfe eines andern Gastes den Ohnmächtigen aus der Kirche. Clothilde folgte mit angstvollem Herzen.

Die Trauung war in betrübender Weise gestört. Indessen nahm der Pfarrer den Faden feiner Rede wieder auf, und sprach den Segen über das Paar.

Herr Steinacker war so angegriffen, daß Clothilde zweifelte, ob es ihm möglich sein werde, beim Hochzeitsmahle zu erscheinen. Bald aber schien er wieder völlig Herr seiner Kräfte, und saß heiter wie die Andern bei Tische. Er brachte die Gesundheit der jungen Gatten aus, und wußte seinen Unfall dabei so scherzhaft gemüthlich einzukleiden, daß man den liebenswürdigen Mann nur um so mehr als trefflichen Gesellschafter pries.

Noch an demselben Abend reiste Arnold mit seiner jungen Frau ab, begleitet von den Segenswünschen der Eltern. Auch Herr Steinacker mit seiner Tochter machte sich auf den Heimweg. Reginald wollte Tags darauf nachfolgen.

Siebentes Capitel.

Nicht so leicht war für den jungen Mann die Reise mit seinem vortrefflichen Pflegevater, und nicht so schnell langte er mit ihm an seinem Wohnorte an, als er wünschte. Er hatte absichtlich die Tagfahrt gewählt, um dem Alten, der noch keine Eisenbahn gesehen, diese und die Gegenden, die sie durchfuhr, zu zeigen: im Stillen aber beseufzte er fast, nicht den Nachtzug vorgezogen zu haben. Denn Meister Quassian, der seit seiner Handwerksburschenzeit nicht unterwegs gewesen war, zeigte sich von einer quälenden Unruhe, Aufregung und Wißbegierde ergriffen. Nachdem er das Schnauben des Dampfrosses, das Erstaunenerregende der Fahrt, genugsam bewundert hatte, band er mit allen Reisegefährten an, und prüfte sie, ob sie wohl dem gelehrten Stande angehörten. Sein Wesen, seine Bemerkungen forderten zur Belustigung heraus, es fehlte nicht an böswilligen Versuchen, ihn aufzuziehen.

Reginald bestach einen Schaffner nach dem andern, um die Wagenplätze zu wechseln und den aufgeregten Alten in andere Gesellschaft zu bringen. Endlich ging er ihm auf einer Station gar verloren. Reginald suchte und lief, denn schon wurde zum Einsteigen geläutet. Meister Quassian schlenderte inzwischen, uneingedenk der Pünktlichkeit bei dieser Art zu reisen, behaglich durch die entfernteren Gartenanlagen hinter dem Bahnhof. Denn man hielt vor einer Universitätsstadt, und der immer wissenschaftlich interessirte Mann stellte Vermuthungen und Betrachtungen an, welches von den Dächern der Stadt, soweit sie ihm sichtbar wurden, wohl dem Universitätsgebäude angehören könnte. Bei dieser angenehmen Beschäftigung ertappte ihn endlich Reginald, schon aber gellte ein Pfiff, und der Zug brauste von dannen.

Der Meister war sehr erschrocken, als ihm Reginald das Unangenehme eines solchen Sitzenbleibens, ohne Reisegepäck, an einem gleichgültigen Ort, auseinander setzte, und begriff die Eile nicht, mit der man auf der Eisenbahn zu Werke gehe. Ein Wenig hätte der Zug doch warten können! Es galt, sich eben in die Lage zu finden, und Reginald suchte seine gute Laune aufrecht zu halten. Gern willfahrte er jetzt dem Alten, einen Gang durch die Stadt zu machen, denn Zeit hatte man nun vollauf. Der Meister, glücklich, seinen Sohn wieder getröstet zu sehen, kam in die angenehmste Stimmung und brachte durch seine drolligen Bemerkungen den Gefährten oft zu herzlichem Lachen.

Arm in Arm wanderten sie durch die Straßen. Das kundige Auge des Alten prüfte im Vorübergehen die Schuhmacherwerkstätten und lobte die »noble Arbeit,« er verneigte sich fast, als er ein offenes Bank- und Wechselgeschäft erblickte, denn eine innerste Hochachtung erfüllte ihn seit Kurzem vor solchen Instituten. Er zählte die akademischen Buchhandlungen, und fand bei der Besichtigung des neuen Universitätsgebäudes, die Wissenschaft sei »brav und kostbar logirt, optime receptata.« In diesen Stunden erst fühlte er das ganze Behagen, auf Reisen zu sein und erzählte allerhand Schnurren aus seinen Wanderjahren. Es war ihm gar nicht recht, daß die Eilfahrt mit dem Nachtzuge wieder fortgesetzt werden sollte.

Zu Hause angelangt, fand Reginald so viele und dringende Geschäfte, daß er nicht daran denken konnte, sich seinem Pflegevater zu widmen. Er mußte darauf verzichten, bei Arnold vorzusprechen, wie sehr es ihn immer drängte, über Clothilde und ihren Vater etwas zu erfahren, denn seine Wege führten ihn nach andern Gegenden. Den Alten übergab er einem seiner jüngeren Gehülfen, damit er ihm etwas von der Hauptstadt zeige.

Meister Quassian war gar nicht einverstanden, daß er ohne den Sohn ausgehen sollte, zumal in für diesen, wie er meinte, so wichtigen Angelegenheiten. Denn wie zerstreut und von hundert andern Dingen angeregt des Meisters Gedanken während der Fahrt auch gewesen, von dem Augenblick, da er die Stadt betrat, stand ihm das Hauptziel seiner Reise unverrückbar vor Augen. Es galt vor Allem, jenes Banquierhaus aufzusuchen, sich zu überzeugen, ob die auf jenem Zettel angegebene Summe wirklich dort nieder gelegt sei. Und nun wollte Reginald dringendere Geschäfte haben – der Alte begriff eine solche Gleichgültigkeit nicht.

Doch war er um einen Entschluß nicht verlegen, und machte sich mit seinem jungen Führer auf den Weg, um allein bei dem Banquier vorzusprechen. Der Weg war weit, und so sehr es ihn zum Ziel drängte, gab es doch genug Aufenthalt in den Straßen. Dieses Rennen, Laufen, Fahren, Karren, Lärmen setzte den Meister in Verwirrung. Er mußte oft stehen bleiben, um sich von seinem Erstaunen zu sammeln. Dann wurde er gestoßen und angerannt, und wenn er sich hinstellte, um in würdigem Tone dem Unhöflichen ein Wort des Vorwurfs oder der Zurechtweisung zu sagen, dann war dieser längst vorüber, und wer es vernahm, lachte ihm ins Gesicht. Sein junger Führer hatte ihn aus allerlei drohenden Conflicten zu retten, denn Meister Quassian wollte sich nichts Unrechtes bieten lassen, noch dazu in einer Stadt, wo sein Sohn doch etwas galt.

Endlich, nach mancherlei Fährlichkeit, war das vielersehnte Ziel erreicht. Der Meister stellte sich dem Banquier vor, zeigte seinen Zettel, und prüfte mit durchdringenden Blicken das Gesicht des Geschäftsmannes, der das Papier sorgsam von allen Seiten besah.

»Das Capital ist, wie hier angegeben, richtig bei mir niedergelegt« – begann der Banquier.

»Richtig? Dann bitte ich, es mir schnell auszuzahlen, denn ich werde es sogleich mitnehmen!« unterbrach ihn Quassian mit freudestrahlendem Gesicht und von der Genugthuung Hochgefühl durchdrungen.

»Sie, mein Herr?« – fragte der Kaufmann.

»Ja, ich. Ipse.«

»Verzeihen Sie, mein Herr, es ist eine sehr große Summe« –

»Dieses habe ich nicht zu verzeihen, denn es ist mir sehr angenehm, gaudio mihi vertitur!«

Der Banquier lächelte. »Ich meine nur – Sie scheinen fremd hier, und Sie sind auch mir fremd – warum ist Herr Vanbüren nicht mit Ihnen gekommen?«

»Hercle! Das hab' ich auch gefragt! Aber Reginaldchen ist nun mal gegen das Geld eingenommen, und in diesem Punkt gar nicht – minime tractabilis.«

»Sonderbar! Haben Sie nicht hier irgend eine Bekanntschaft, durch die Sie Ihre Person legitimiren könnten?«

»Sine dubio. Herr Zimmermeister Arnold ist ein Freund von mir.«

»Arnold – so? Sein Zeugniß würde mir genügen. Haben Sie nun die Güte, mich mit Herrn Arnold zu besuchen, wir würden dann über das Arrangement des Geschäftes bald einig werden.«

»Also noch einmal kommen? Iterum?«

»Wenn ich bitten dürfte –«

»Und das Geld ist wirklich fest und sicher bei Ihnen eingezahlt?«

»Wenn es Sie beruhigen kann, will ich Ihnen meine Bücher vorzeigen.«

»Vorzeigen, optime!« rief Meister Quassian, und griff mit beiden Händen nach dem dargereichten Buche, mit den Augen die verwirrenden Zahlenreihen überfliegend.

»Gestatten Sie mir eine Frage,« hub der Kaufmann wieder an. »War Ihnen Herr Steinacker denn wirklich dieses Capital schuldig?«

»Herr Steinacker? Mir? Nunquam! Hat Er es denn bei Ihnen eingezahlt?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Herr Steinacker ist mir nichts schuldig. Aber er wird mir sagen, woher – ich werde mich noch heut' zu ihm begeben.«

»So wissen Sie vermuthlich seinen jetzigen Aufenthalt?«

»Nun, der ist doch hier in dieser Stadt?«

»Haben Sie ihn heut' schon gesprochen?

»Heut'? Nein. Aber vor drei Tagen. Er reiste vor uns ab.«

»O mein Herr, in diesen drei Tagen ist viel vorgegangen, was Ihnen noch unbekannt zu sein scheint. Herr Steinacker ist seit gestern verschwunden –«

»Verschwunden?« Abiit, evasit, erupit, cur? Aus welchem Grunde?«

Der Kaufmann zuckte die Achseln.

»Er ist ruinirt,« sagte er. »Sein Haus, seine Fabriken sind gerichtlich mit Beschlag belegt. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß die Summe, die er Ihnen schulden will, ihm den letzten Stoß gegeben hat. Sein seit lange schwankendes Geschäft ertrug dies nicht mehr. Ihn selbst sucht man seit gestern vergeblich. Mich selbst betrübt dieser traurige Fall außerordentlich, da ich Herrn Steinacker stets als Ehrenmann gekannt habe. Etwas Unehrenhaftes läßt sich auch jetzt nicht von ihm sagen. Um so unbegreiflicher ist sein Verschwinden. Man vermuthet noch schlimmere Dinge.«

Meister Quassian stand wie eine Bildsäule, erschreckt über den Bericht des Kaufmanns, an dem ihm doch noch Vieles dunkel blieb. Zwei Befürchtungen aber schossen ihm durch die Gedanken, die eine: an dem Unglück des hochgeachteten Mannes Schuld zu tragen, die andere: das Erbtheil seines Sohnes nun doch noch verlieren zu können, im Augenblick, da er es endlich wieder zu haben glaubte. Denn wie er Reginald kannte, würde dieser jeden Anspruch auf das Geld ohne Weiteres zu Gunsten des unglücklichen Mannes aufgeben. Wie aber dieser ganze Conflict möglich war, wie Herrn Steinackers Niederlage mit seinem eigenen Glück Hand in Hand gehen konnte, darüber erfüllte ihn eine verwirrende Unklarheit. Angstvoll schlug ihm das Herz, er sah den Kaufmann fragend an, als müsse er von ihm Aufschluß über diese Verwicklung erhalten.

Der Kaufmann jedoch, der wohl einen Gläubiger sehr verschiedenen Charakters in ihm vermuthet haben mochte, sah den räthselhaften alten Mann nicht minder fragend an, und wußte nicht, was er aus dem Schweigenden machen sollte.

»Es wird gut sein,« begann er endlich, »wenn Sie mit Herrn Vanbüren und Herrn Arnold recht bald wieder zu mir kommen, damit wir uns deutlicher über Ihre Forderung aufklären.«

»So ist sie – nicht – klar?« stammelte der Schuster, indem er sich an einem Stuhl hielt, denn er fühlte, daß ihm die Knie zitterten und wankten.

»Wir werden sicher zu einem Resultat kommen,« sagte der Banquier ausweichend. »Ich lasse Ihnen einen Wagen holen, denn Sie scheinen angegriffen.« –

Ungefähr zu derselben Stunde flog Reginald die Treppe in Arnolds Hause hinauf, und stürmte in des Freundes Arbeitszimmer.

»Kommst du endlich!« rief ihm dieser entgegen. »Dein Aussehen sagt mir, daß du schon gehört hast –«

»Ich weiß, ich weiß!« rief Reginald. »Wo ist Clothilde?«

»Bei meiner Frau. Gestern Abend holten wir sie zu uns.«

»Laß mich sie sprechen!«

»Warte noch! Sie hat sich, wie ich höre, ein wenig zur Ruhe gelegt. Suche auch du erst zur Ruhe zu kommen, denn was jetzt noch gethan werden kann, muß ohne Hast und Aufregung geschehen. Komm, setz dich! Von wem hast du erfahren –«

»Von jedem Bekannten, der mir begegnete! Steinacker ist ruinirt, er selbst verschwunden. Und das Capital, welches er auf meines Vaters und meinen Namen bei dem Banquier S. nieder gelegt hat, soll die Ursache sein? O entsetzliche Schmach für mich! Ich will nichts wissen von dem fluchwürdigen Gelde, das nicht nur ihn und Clothilden dem Verderben, das auch meinen Namen der Schande preisgeben soll! Es versteht sich von selbst, daß ich es den Gläubigern vor die Füße werfe, die ein Recht darauf beanspruchen!«

»Fassung, lieber Freund! Verzichte und verachte nicht zu schnell! Denk' an Clothilden, der nichts geblieben ist, und für die vielleicht dadurch mit gesorgt werden kann.«

»Wenn Clothilde sich mir vertraut, wie ich ihr Wort habe, bedarf sie keiner andern Hülfe! Ich habe kaum nöthig sie zu fragen, was mit dem Gelde angefangen werden soll. Aber sage mir nur, wie war es denn möglich, daß der Mann sich in diesem Augenblick einer solchen Summe, und auf meinen Namen entäußerte? Ich weiß nicht – eine abscheuliche Vermuthung geht mir durch den Kopf, ich – mag sie nicht aussprechen!«

»Man zögert natürlich, und sieht sich bei sich selbst vor, um nicht Unglaubliches zu vermuthen,« meinte Arnold. »Allein nennen wir die Sache auch nur räthselhaft, so führen doch die Beobachtungen auf das Ergebniß einer – alten Schuld. Steinacker brauchte sich nicht verloren zu geben, seine Angelegenheiten standen keineswegs so schlimm, man hätte ihm gern geholfen, und eigentlich war die Gefahr eines Banquerottes bei ihm schon vorüber. Aber er hatte plötzlich den Kopf verloren, und that die unbegreiflichsten Dinge. Jenes für dich eingezahlte Capital war es keineswegs allein, was ihn zu Grunde richtete, im Gegentheil, es konnte anfangs Vertrauen erwecken, daß er solcher Zahlungen fähig sei. Er war aber plötzlich, wie von einem Dämon geplagt, und dieser Dämon war nichts anderes als – sein Gewissen. Erinnere dich, wie Clothilde oft über seine Schwermuth klagte, wie wir ihn zuweilen in den wunderlichsten Stimmungen sahen, in welchen Zustand er einst gerieth, als wir eine Novelle lasen, worin von einem Schatzgräber die Rede war. Da erzählt ihm Meister Quassian die Geschichte von seinem vergrabenen Erbtheil. Steinacker reist sofort ab, und Quassian erhält jenen sonderbaren Zettel – das Uebrige füge dir selbst zusammen.«

»Und wenn du dir nun diesen Mann vergegenwärtigst,« entgegnete Reginald, »seine Erscheinung, seine Bildung, die Vornehmheit, Güte, die Liebenswürdigkeit seines Wesens, die Aufopferung, die er überall zeigte, wenn es Noth that – kannst du ihn dir dann denken, wie er das Geld, das ein armer Schuster eingräbt, entwendet, und mit seinem Raube entflieht?«

»Mein lieber Freund, das sind Fragen, welche die schwierigsten psychologischen Probleme berühren. Er wird vor zwanzig Jahren noch nicht der Mann von heut' gewesen sein. Um eine solche That zu erklären, dazu fehlen uns alle Bedingungen, allein – der Schein spricht gegen ihn. Es thut mir leid, denn auch ich habe ihn sehr geschätzt.«

Sophie öffnete leise die Thür, und reichte Reginald zur Begrüßung schweigend die Hand. Ihr Gesicht zeigte einen sonderbar gemischten Ausdruck, denn der Zug eines innigen Antheils an dem Unglück der Freunde konnte doch den Sonnenschein des Glückes, der sich in ihr aussprach, nicht trüben. Auch flog sie, nachdem sie Reginald ernst begrüßt hatte, rasch auf ihren Gatten zu, damit er ja nicht zu kurz käme, und schlang die Arme um seinen Hals.

»Arme Kleine!« sagte Arnold liebkosend, »du fängst deinen Ehestand mit nicht gar fröhlichen Tagen an.«

»Damit ich nicht zu übermüthig werde!« entgegnete sie lächelnd, »denn dazu war eben so viel Grund als Gefahr vorhanden.« Dann, zu Reginald gewendet, fuhr sie fort: »Clothilde weiß, daß Sie hier sind. Sie bittet Sie, erst diesen Brief zu lesen, den ihr Vater ihr zurückgelassen hat. Nachher will sie Sie sprechen.«

Arnold wußte nichts von diesem Briefe, doch vermuthete er, daß derselbe Clothilden bereits Aufschluß gegeben, und auch dem Freunde zu geben bestimmt sei.

»So lies hier ungestört,« sagte er, »ich muß in Geschäften ausgehen. Bald bin ich wieder hier.«

Arnold ging. Der Brief, welchen Reginald jetzt entfaltete, war überschrieben: »An meine Kinder, Clothilde und Reginald.«

»An Euch Beide sind diese Zeilen gerichtet,« schrieb Herr Steinacker, »denn Ihr gehört zusammen, ich weiß es längst, und zu hoch denke ich von Dir, Reginald, um zu fürchten, daß Deine Liebe durch das, was geschehen, und was ich noch mitzutheilen habe, getrübt werden könne. Verbannet, wenn Ihr müßt, mich selbst aus Euren Herzen, laßt mir aber den einen Trost, Euch um so fester verbunden zu wissen. Vernehmt denn die Geschichte eines Elenden, dessen ganzes Leben durch eine einzige verruchte That vergiftet und vernichtet worden ist.

Vor jetzt zweiundzwanzig Jahren war ich Student in H. Der Eltern früh beraubt, hing ich von einem Vormunde ab, der mein Vermögen schlecht verwaltete. Ich war wohl leichtsinnig, verbrauchte viel Geld, aber einer niedrigen Handlung konnte mich bis dahin Niemand, noch ich selbst, mich zeihen. Es war eine politisch bewegte und trübe Zeit in Deutschland, das unter dem Joch der Fremdherrschaft schmachtete. Aber das Leben ging darum doch seinen Gang, und eine leichtsinnige Jugend wußte sich mit dem Unvermeidlichen abzufinden. Ich verbrachte meine Tage in einer bunten Gesellschaft, wo man lebte und leben ließ. Da machte mein Vormund banquerott, und mein Vermögen ging damit verloren.

Ich war rathlos, ohne Hülfe, auf mich selbst angewiesen, ohne schon die Fähigkeit zu besitzen, mir selbst fortzuhelfen. Im Gegentheil suchte der Verwöhnte sich durch Genuß gegen die mahnenden Gedanken zu betäuben. Ich gerieth in Schulden, und meine Lage wurde sehr bedrohlich. Ich kam zu dem Entschlusse, mir das Leben zu nehmen. Lange trug ich ihn, zugleich mit der geladenen Pistole mit mir herum, aber immer kam etwas, das mir das Leben anziehend machte – freilich um dann eine um so schwächlichere Stimmung zurück zu lassen. Ich lief Nachts in der Umgegend umher, ruhelos, ohne festen Vorsatz, ich setzte die todbringende Waffe wohl hundertmal zögernd und prüfend an die Stirn – es war meiner Schwäche vorbehalten, ein viel erniedrigenderes Verbrechen auszuüben. –

In einer Nacht schweifte ich im Walde umher, entschlossen meiner Lage durch eine Kugel schnell ein Ende zu machen. Schon ist der Hahn gespannt, schon erhebe ich die Waffe – da höre ich in meiner Nähe ein Geräusch, und sehe eine menschliche Gestalt sich vorsichtig einem Baume nähern. Ich erschrak, der Arm und die Waffe sanken mir noch einmal, doch blieb ich sonst regungslos, und beobachtete, gedeckt vom Schatten, das sonderbare Treiben des Andern. Er schien an den Wurzeln des Baumes zu graben, zu schaufeln, er schien Moos zusammen zu tragen, und es dann mit den Füßen fest zu stampfen. Es dauerte wohl eine Stunde. Ein Gedanke durchzuckte mich. War es vielleicht geraubtes Gut, was hier vergraben wurde? Sollte man dem Verbrecher sein schmachvolles Werk nicht vereiteln? Die Pistole hatt' ich bei der Hand. Dies dacht' ich noch, nur dies allein, und nichts Schlimmeres daneben. Doch ich zögerte noch.

Endlich ging der Andere. Ich folgte ihm langsam, zu sehen, welchen Weg er nähme. Er ging zur Stadt hinab. Ich aber kehrte an den Platz zurück, und fand den Baum wieder. Er war der größte umher, vereinzelt stehend, nicht weit vom Abhange der Felsenwand. Rasch machte ich mich ans Werk, zu untersuchen, was man hier der Erde vertraut habe. Bald war ein Kästchen in meinen Händen. Ich erbrach es mit dem Taschenmesser. Ich machte Licht an, ich sah hinein – Geld blinkte mir entgegen, eine ungeheure Summe! Da hielt ich es in Händen – schauderhafte Gedanken durchzuckten meine Seele, verlockend und zugleich mit Entsetzen erfüllend, ein Fieberfrost schüttelte meine Glieder, ich starrte regungslos in die verführerische kleine Truhe. Da erlosch die schwache Leuchte, die plötzliche Finsterniß um mich her entzog meinen Augen den dämonischen Reiz, und ich fuhr auf aus meiner Betäubung. Rasch schloß ich den Deckel, warf das Kästchen hin und sprang auf. Eine bessere Stimme in der Brust mahnte mich, zu fliehen aus der unheilvollen Nähe des Schatzes, und dennoch blieb ich, regungslos an den Baum gelehnt, laut athmend, wie gebannt an die Stelle. Wilde Gedanken, Beschönigungen eines verbrecherischen Gelüstes, bahnten sich tiefer und tiefer den Weg in meine Seele. Hier lag am Boden, was mich aus meiner Ratlosigkeit wenigstens äußerlich retten konnte – ich durfte wieder leben – die Verwirrung der aufgeregten Zeit begünstigte mich, wenn ich das Kästchen nahm und damit über's Meer entfloh.

Wie lange ich unter solchen Ueberlegungen gestanden, ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur, daß ich noch vor Morgengrauen mit meinem Raub der Stadt zu eilte. Ich fühlte mich wie von Furien gejagt, aber ich hatte den Schatz, und das Bewußtsein eines rettenden Besitzes trotzte den Aengsten und Drohungen des Gewissens. Daheim angelangt zählte ich bei verschlossener Thür und in fieberhafter Aufregung die geraubte Habe. Sie überstieg meine Erwartungen.

Noch desselben Tages beschloß ich, mich heimlich aus der Stadt zu machen. Sie war voll von französischen Plünderern, die auch das Haus, worin ich wohnte, bedrohten. Ich zog die schlechteste Kleidung an, die ich besaß, und trieb mich, meinen Schatz in der Tasche, auf der Straße herum, um jedes Heimlichthun zu vermeiden. Ich stand Hunger aus, um nicht zu wechseln, und dadurch zu zeigen, daß ich Geld besaß. Gegen Abend betrat ich einen Augenblick meine Wohnung, aus der die Plünderer gewichen waren, da sie nichts gefunden hatten.

Da trat einer meiner Gläubiger ein, ein armer Schuster, mit Namen Quassian – er kam nicht fordernd, er kam nur klagend über seine Noth, demüthig um eine kleine Abhülfe bittend. Mitleid ergriff mich, ich reichte ihm einen Hundertthalerschein, denn einen geringern besaß ich nicht. Von dem Augenblick aber, da ich mein Geld hatte sehen lassen, erfaßte mich die Angst mächtiger. Kaum konnte ich die Nacht erwarten, die meine Flucht begünstigen sollte. –

Und ich entkam wirklich. In Marseille fand ich eine Schiffsgelegenheit, und bald fühlte ich mich sicherer auf dem Meere. Aber ich sollte meinen Raub nicht mit an das Reiseziel bringen. Widrige Winde trieben uns lange umher, und endlich scheiterte unser Schiff im Angesicht der Küsten westindischer Inseln. Mit wenigen Gefährten rettete ich mich, und kam nackt und baar an den Strand von Martinique. Schlecht war mir unrechtes Gut gediehen, allein ich gestehe, als ich mein armes Dasein gerettet, meinen verbrecherischen Besitz aber in den Wellen verloren wußte, fühlte ich mich zuerst wieder erleichtert und faßte den ernstesten, heiligsten Vorsatz, mein ganzes Leben der Arbeit, der reue- und bußevollen Arbeit, und einem tüchtigen Streben zu weihen.

Ich fand bald eine Stellung in einem kaufmännischen Hause, und nicht lange darauf eine vortheilhaftere, die mich nach dem amerikanischen Festlande zog. Ich erwarb viel, mein Glück machte mich stutzen. Ich erwarb noch größeres Glück durch die Hand eines Mädchens, das ich bald zum Altar führen konnte. Sie war eine Deutsche und brachte mir nichts mit, als ihren eigenen stillen Werth, der mich meinen Unwerth nur um so tiefer fühlen ließ. Schon nach drei Jahren starb sie, nachdem sie mir eine Tochter gegeben hatte. Was ich an ihr verlor, versuche ich nicht auszusprechen.

Aber nach diesem unverschmerzbaren Unglück schien das Glück mich in seine ganz besondere Obhut zu nehmen, indem es mich für die innere Leere mit äußerem Gewinn rastlos überhäufte. Ich wurde ein reicher Mann, dessen Besitz selbst amerikanischen Umgebungen Achtung einflößte. Glücklich war ich niemals, denn ein finsteres Schuldbewußtsein nannte mich jeder schönen Lebensfreude unwerth. Die Rückkehr in meine Heimath schien mir für immer abgeschnitten. Und dennoch überkam mich die Sehnsucht nach Deutschland immer mächtiger. Wie gerne hätt' ich drüben im Vaterlande meine Schuld gesühnt! Die Rückgabe des entwendeten Gutes wäre mir jetzt so leicht gewesen, hätt' ich nur gewußt, an wen ich mich wenden sollte?

Ich knüpfte brieflich die Beziehungen zu alten akademischen Freunden wieder an, deren Familienwohnort mir erinnerlich war, ich wagte es sogar, prüfend mich an einen Bekannten zu Wenden, der der Universitätsstadt selbst angehörte. Die Antworten waren heiter und herzlich, keine Spur eines Verdachtes gegen meine Schuld war aus den Briefen zu lesen. Beschämend war mir das Vertrauen der Freunde, die meist in engen bürgerlich deutschen Verhältnissen, sich meiner günstigeren Lage freuten, und unbefangen mir von ihrer Stellung, von Weib und Kind, von ihren Welt- und Lebensanschauungen oder den inneren Ergebnissen ihres Denkens und Schaffens mittheilten, was einen lange entfernten Freund interessiren konnte. Wie glücklich schienen sie mir alle in ihrer bescheidenen Stellung, in ihrem reinen Charakter und tüchtigen Streben!

Endlich widerstand ich der Sehnsucht nicht länger, und beschloß, meine Geschäfte in der neuen Welt aufzugeben, und nach Deutschland überzusiedeln. Ich erfüllte damit eine fromme Pflicht, denn mein geliebtes Weib hatte mir sterbend den Wunsch ausgesprochen, unser Kind einst in die Heimath ihrer Eltern zurückzuführen.

So schiffte ich mich wieder ein, und zwar mit dem Vorsatz, mein altes Schuldgefühl gleich an den schrecklichen Platz zu führen, der die That selbst gesehen. Ich wollte den Kelch gleich bis auf den bittersten Tropfen ausleeren, auf die Gefahr hin, durch einen Zeugen oder überführende Verhältnisse entdeckt zu werden. Ich war gefaßt auf Alles, und wollte meinem Geschick nicht widerstreben. Doch hatte ich für diesen Fall alle Maßregeln zur Sicherstellung meines Kindes getroffen. –

Ich kam in der Stadt an. Mit welchen Empfindungen, will ich verschweigen. Wenige Menschen erinnerten sich meiner. Diese aber freundlich und arglos. Ich wollte Keinen, den ich einst gekannt hatte, vermeiden, und besuchte auch Manchen, der sich meiner kaum erinnern mochte. Der wackere Meister Quassian war nicht der letzte, in dessen Haus ich trat. Ach, ich wußte nicht, daß er es war, dessen Leben ich sorgenvoll gemacht, an dem ich das Verbrechen meiner Jugend verübt hatte! Und alle waren freundlich, höflich, voll Achtung gegen mich, es war, als ob meine That hier nie begangen worden wäre.

Nur draußen der Platz im Walde, den ich einsam und im tiefsten Seelenschmerz aufsuchte, sprach anklägerisch, finster, unerbittlich grausam von meiner Verworfenheit. Ich fand ihn, obgleich er sehr verändert war. Von dem gelichteten Walde stand nur wenig, aber die große Buche, als äußerster Vorposten am Felsenabhange noch unangetastet. Ueber Kornfelder sah man die neuen rothen Ziegeldächer eines Gütchens. Ich besuchte auch den Besitzer – denn ihm durfte bekannt sein, was hier einst der Erde anvertraut worden, ich sprach mit ihm von jenem Baume, ich wollte ihn sondiren. Er schien nichts zu wissen. Von diesem Besuche leitete sich die Bekanntschaft mit dem Oberamtmann Hermann, der Jahre lang mir und meiner Tochter ein wackerer Freund gewesen.

Wochen vergingen, ich war bald sehr bekannt in der Stadt, Niemand schien Arges von mir zu denken. Und doch war ich einmal nahe daran, mich selbst öffentlich anzuklagen, überwältigt von meiner peinigenden Erinnerung. Doch siegte die Rücksicht auf das Glück meines Kindes, und ich beschwichtigte mein Gewissen.

Allein drüben im neuen Vaterlande an rüstige Thätigkeit gewöhnt, überkam mich der Drang nach Arbeit auch bald nach der Rückkehr nach Deutschland. Es ist hier gleichgültig, auseinander zu setzen, durch welche Beziehungen ich bewogen wurde, nach Norddeutschland zu gehen und mich dort niederzulassen. Das Glück begünstigte mich nun einmal äußerlich in Allem, was ich unternahm, und so blühte mein Geschäft bald und mit unglaublicher Schnelligkeit auf. Ich war geachtet, geehrt, beneidet, ich durfte mich sicher fühlen, sicher auch vor einem Gefühle meiner alten Schuld, ich hatte eine Tochter, die mein Entzücken, der Abgott meiner Seele war, und doch – war ich glücklich? Konnte ich glücklich sein? Ich konnte auf Zeiten so scheinen, mein Herz im holden Traum des Glückes wiegen, um dann den Stachel in der Brust um so gewaltiger zu empfinden.

Hörte ich von Jünglingen, die ihr Leben nutzlos vergeudeten, so ging mir ein Stich durch das Herz, ich glaubte mich selbst in ihnen zu sehen, ich hätte helfen, retten mögen, denn ich wußte, wohin ein Moment der Versuchung den Schwachen führen kann. Verschuldetes und unverschuldetes Unglück, Dürftigkeit, Armuth ergriffen meine Seele, ich hätte überall beispringen mögen, um Schritten der Verzweiflung zuvor zu kommen. So kam ich in den Ruf großer Wohlthätigkeit – ach, ich verdiente auch ihn nicht, denn all mein Helfen war nur eine Waffe gegen die eigene innere Verzweiflung!

Um so ehrwürdiger aber war mir jedes ernste und edle Bestreben, das mit dem Leben zu ringen hatte. Dies nicht unterliegen zu lassen es zu fördern war meine Freude, und wo es mir gelang, selbst mit eigner Demüthigung gelang, fühlte ich mich zufrieden, ich fühlte einen Schimmer echten Glückes in meine Seele dringen. So drängte ich mich auch an dich, mein theurer Reginald, so gewann ich dich zum Freunde, dich, der mich viel vergessen ließ, und in dem ich mich gewöhnen lernte, einen Sohn zu erblicken, wie ich ihn nicht erwarten durfte! Ich ahnte nicht, welche schwere Schuld ich an dir begangen hatte! –

Wir reisten zur Hochzeit deines Freundes Arnold. Auf einem Spaziergang treffe ich unter Radulfs-Buche deinen Pflegevater. Er erzählt mir, daß er es gewesen, der einst jenen Schatz, das Erbtheil deiner Mutter, unter den Baum eingegraben. Es war eine Entdeckung, ein Augenblick, furchtbarer als jener, da ich einst mit meinem Raub von dem verhängnißvollen Platze entfloh. Nimm denn zurück dein Erbtheil aus der Hand des reuigen Verbrechers. Damit aber, und mit diesen Geständnissen, streiche ich meinen Namen aus der Reihe der in Ehren Lebenden aus. Die Schmach, vor Denen, die ich am meisten liebe, am meisten schuldig und erniedrigt zu sein, macht mich gleichgültig gegen jede andere Achtung, ich will vor der Welt nichts mehr gelten, ich habe absichtlich mein seit lange wankendes Geschäft durch falsche Manipulationen rasch untergraben, ohne einem Andern damit zu schaden, ich habe mich, wie ich es verdiente, selbst zu Grunde gerichtet. Dein Erbtheil wirst du mit meiner Tochter theilen, und dir, meine Tochter, lasse ich in unserm Freunde mehr zurück, als ich dir hätte bieten können, da wir noch reich waren.

Und nun, meine Kinder, lege ich in eure Hände mein Geschick. Ich werde nicht Hand an mich legen, es wäre nur ein neues Verbrechen, ich bin bereit, den Rest meiner Tage in Schanden zu leben, wie ich es verdiene. Ich fühle mich den Gesetzen verfallen, und es drängt mich, als mein eigener Ankläger aufzutreten. Zugleich aber erfüllt es mich mit tiefem Jammer, durch eine solche Veröffentlichung meiner Schuld auch über euch eine Schmach zu bringen. Drum sollt ihr Beide entscheiden, und eurem Ausspruche unterwerfe ich mich. Gelitten hab' ich viel, und in mir selbst gebüßt, und kann nicht tiefer büßen, als dadurch, daß ich mich bei euch anklage. Sage drum Niemand, daß ich das Leichtere wähle, wenn ich euch zu meinen Richtern mache! –

Ich bin nicht weit von euch. Gebt mir euren Ausspruch unter der Aufschrift, die ich beisetze, zur Post, und ihr sollt erfahren, wo ich bin. Lebt wohl und liebet einander, auch wenn ihr mich verachten müßt!« –

Reginald hatte noch nicht zu Ende gelesen, als er die Thür des Nebenzimmers leise gehen horte, und gleich darauf Clothilden vor sich stehen sah. Er sprang auf sie zu, und, in einen Strom von Thränen ausbrechend, lag sie an seiner Brust. Es gab kaum Worte für das, was sie einander hätten sagen mögen, beredt genug war das Schweigen, das sie in dieser schmerzlichen Stunde innerlich verband, während ihre Arme sich umschlungen hielten.

Nach einer Weile begann Clothilde, ihre Thränen abtrocknend:

»Reginald, ehe wir Anderes reden, versprich mir Eins! Du hast jenen Brief gelesen – laß seinen Inhalt unser Beider einziges Geheimniß bleiben! Es ist genug der Sühne und Buße für einen theuren – Unglücklichen!«

Ihre Stimme erstickte von Neuem in Thränen.

»Brauch ich dir noch zu versichern,« entgegnete Reginald, »daß jenes Geheimniß in meinem Herzen begraben sein soll? Es gehört uns, uns Beiden allein. Wenn sein strenges Rechtsgefühl ihm gleich sagen mag, daß seine Schuld vor ein irdisches Gesetz gehöre, so glaube ich nicht unsittlich zu denken, wenn ich sie für getilgt ansehe. Begangen ist sie gegen mich, der ich nie etwas davon ahnte, nie etwas darunter zu leiden hatte – ich streiche sie aus, und spreche keinem Gesetz mehr ein Recht zu, ihre Sühne zu verlangen!«

So sprach Reginald. Allein sein eigenes strenges Rechtlichkeitsgefühl strafte im Innern seine Worte Lügen. Liebe, Theilnahme und seine persönlich peinliche Stellung zu der unglücklichen Entdeckung hatten ihm die Worte in den Mund gelegt, kaum aber waren sie seinen Lippen entflohen, als er sich im Gewissen als den Hehler einer Schuld empfand, die, wenn auch ohne sein Wissen und vor langer Zeit begangen, ihn, den Unbetheiligten, in ihren Kreis zu bannen drohte. Und war nicht sein Pflegevater halb und halb im Geheimniß? Eiskalt berührte es ihn – ernste Gewissensfragen drängten sich vor sein Gemüth. Lud er nicht eine Schuld auch auf die Geliebte, durfte er für sich und sie ein reines Lebensglück erhoffen, wenn sie solch ein Geheimniß zu bewahren hatten?

Clothilde ahnte, was in ihm vorging, denn die gleichen Empfindungen und Gedanken standen plötzlich auch vor ihrer Seele auf. Sie ließ die Arme, die ihn umschlungen gehalten, von ihm herab gleiten, und sank auf einen Stuhl, bleich und verstört vor sich hinstarrend. Er nahm ihre Hand, strich liebkosend über ihre Stirn – sie schüttelte nur das Haupt und ein tiefer Seufzer entwand sich ihrer Brust.

Ein leises Klopfen an der Thür ließ sich hören. Beide fuhren empor, wie aufgescheucht aus verbotenen Gedanken. Meister Quassian trat ein. Er sah erschöpft aus, begrüßte die Anwesenden kaum, und fragte nur hastig nach Arnold.

Reginald sammelte sich und ging auf ihn zu.

»Mein guter Vater!« rief er, »ich habe dich gleich am ersten Tage deines Hierseins sehr vernachlässigt, verzeih mir! Aber eine Freude hab' ich doch für dich. Sieh, in diesem lieben Mädchen stelle ich dir meine Braut vor!«

Clothilde, erröthend, schmerzlich lächelnd, näherte sich ihm. Meister Quassian aber war so erschrocken über das Unerwartete, daß die Verwirrung, in der er schon eingetreten, nur noch stieg, und einem Ausdruck der Freude kaum Raum ließ. Nur Eins fühlte er in rascher Erkenntniß des Moments, daß er alle Würde zusammen zu nehmen habe. Und so begann er, wie er in solchen Augenblicken pflegte:

»Meine Herren –!« Aber die Anrede paßte ja nicht, er besann sich und verbesserte sich rasch: »Meine Damen –!« Er fühlte, daß das auch nicht paßte, und, verwirrt wie er war, verlor er die würdevolle Haltung, und stotterte in Thränen ausbrechend: »Kinder – Gott segne euch, und – und –«

Er konnte nicht weiter, die Stimme versagte ihm, schweigend ließ er sich von Reginald umarmen, und duldete es, daß zwei schöne Lippen seine rauhe Hand berührten. Endlich hatte er sich gefaßt. Aber sein ganzes Sinnen war doch zu sehr auf einen einzigen Punkt gerichtet, als daß es durch das Unerwartete hätte aus der Bahn gelenkt werden können.

»Reginaldchen,« begann er – »Kinder, ich war bei dem Banquier. Das Geld ist richtig niedergelegt, aber –«

»Um Gotteswillen, Vater,« unterbrach ihn Reginald, »kein Wort mehr von dem unglücklichen Gelde!«

Der Alte wollte unwirsch werden, allein seine Ungeduld wurde abgelenkt durch Arnold, welcher zurückkehrte und Reginald einen Brief überreichte, den er dem Postboten draußen abgenommen hatte. Reginald erkannte Herrn Steinackers Handschrift, und riß den Brief auf. So schmerzhaft bitter der Inhalt war, so überkam es ihn doch wie eine Erlösung. Clothilde hing mit banger Ahnung an seinen Augen. Er reichte ihr den Brief.

»Nein, meine Kinder« – so las sie – »ich kann euch nicht in den furchtbaren Conflict mit eurem Gewissen bringen, das meinige ließe sich doch niemals beschwichtigen. Wenn ihr diese Zeilen empfanget, habe ich mich bereits als mein eigener Ankläger vor Gericht gestellt. Viel neue Trübsal und harte Schmach vor der Welt bringe ich so über euch, doch kann ich es euch nicht ersparen. Erlaßt mir jedes weitere Wort.« –

Clothilde wurde nicht ohnmächtig, wie Reginald gefürchtet. Sie faltete schweigend den Brief zusammen, und erhob sich mit ernster Ruhe, gefaßt und mit Kraft dem unvermeidlichen Geschick entgegen zu gehen.

Arnold, von dem Inhalt des Briefes nicht viel Gutes vermuthend, wußte unter einem Vorwand den Meister Quassian, der nicht recht begriff, was um ihn vorging, mit sich aus dem Zimmer zu nehmen, um die Liebenden allein zu lassen.

Nach einigen Augenblicken bangen Schweigens begann Clothilde: »Sollen wir unthätig bleiben, Reginald? Was werden wir thun?«

»Für ihn? Ich fürchte, es bleibt uns nichts zu thun übrig, bis – auch wir vor die Schranken geladen werden. Denn darauf müssen wir uns gefaßt machen, Geliebte, und bittere Stunden werden uns nicht erspart bleiben. Wir können deinen Vater aufsuchen, man wird uns nicht zurückweisen, doch ist die Frage, ob er uns jetzt wird empfangen wollen. Vielleicht aber empfängt er uns bald getrösteter, und wir führen ihn freudig in unser Haus zurück. Denn mir bleibt eine Hoffnung. Die Schuld, deren er sich zeiht, ist alt, ist veraltet, und mir kommt der Gedanke, sie muß auch vor dem Gesetz verjährt sein. Man wird die Selbstanklage zurückweisen, sie durch die Zeit gesühnt erachten.«

Clothilde athmete auf, und voll innigsten Dankes für den Ausweg, den Reginalds Gedanken ihr aus ihrem Schmerz eröffnete, schlang sie mit Heftigkeit die Arme um seinen Hals.

»Wie es aber auch komme,« fuhr er fort, »wir Beide stehen jetzt zusammen. Dein Vater hat uns gleichsam seinen letzten Willen ausgesprochen, du sollst nicht allein bleiben, er giebt dich mir zum Weibe. Laß uns den Willen des theuren Mannes, der uns durch nichts getrübt werden kann, ehren und erfüllen, laß uns, Geliebte, noch heut' zum Altar gehen! So, für die Ewigkeit verbunden, suchen wir ihn auf, es wird ihn trösten, ihm eine Genugthuung sein, uns vereinigt zu sehen. Wird er uns noch einmal wieder gegeben, so gehöre er ganz unserer Liebe und Sorge an. Gerechtfertigt vor sich selbst, wird er mit uns glücklich werden, und vor der Welt werden wir ihn zu bergen und zu schützen wissen.«

Clothilde neigte einwilligend das Haupt, barg ihr Antlitz an seiner Brust, und sagte unter leisem Weinen:

»Es sei! Ich folge dir in Allem!«

Achtes Capitel.

Nicht ungeschehen machen kann die Zeit, was vor langen Jahren im Dunkel begangen ist, und nicht völliges Vergessen lehrt sie selbst den Verzeihenden, aber sie hat eine reinigende und erlösende Kraft, die von einer innerlich gebüßten Schuld die Hälfte mit sich hinweg nimmt, und den Nest einem milderen Urtheil an's Herz legt. Sie wandelt Leichtsinn und Schwäche zu fest ausdauerndem Ernst, sie entwickelt das haltlos Unfertige zu innerer Vollendung, und aus scheinbaren Gegensätzen weiß sie ein einig Ganzes zu erschaffen. Was aber vor seinem Entstehen kräftig und gesund war, in Liebe, Muth, Willen, freiem Pflichtgefühl und schönem Schaffensdrang, das läßt sie wachsen über alle Schranken des Lebens hinaus.

Und diese sühnende, erlösende Macht der Zeit hat auch das Gesetz anerkannt, mit dem die Menschen ihr bürgerliches und staatliches Leben geregelt und befestigt, um sich gegen Eingriffe zu wehren und zu schützen. Das Gesetz will eine Schuld (wenn sie nicht zu den finstersten gehört) nicht mehr zur Rechenschaft ziehen, die über eine Zeitdauer hinaus den Menschen innerlich verzehrt hat, und drängt er sich selbst noch vor die richterlichen Schranken, so weist es ihn verzeihend zurück und giebt ihn seinem eigenen Gewissen anheim. Wohl ihm, wenn er es nur halb so beschwichtigen kann, als die es wünschen, die ihm liebevoll verziehen haben!

Unter solchen und ähnlichen Gedanken wandelte Meister Quassian aus dem Thor seines Heimathstädtchens, und mußte, in sich versunken, wenn auch halb lächelnd, den Kopf schütteln. Denn er hatte in alten Tagen noch eine merkwürdige Erfahrung über Menschen und Welt gemacht, er wußte ein Geheimniß, das einmal auf dem Wege gewesen, allgemein bekannt zu werden, nun aber einen kleinen Kreis um so enger verband. Langsam, die Hände auf dem Rücken, schritt der Meister die vielgewundene Straße durch das Thal entlang, und nach einem oft gesuchten Ziele, einem Häuschen, das am Ende des Thales nett und wohnlich, aber einsam und verborgen lag. Dort lebte seit länger als einem Jahr ein alter Herr mit seiner Tochter.

Wer diesen alten Herrn noch kurz vor dieser Zeit gesehen, würde ihn kaum wieder erkannt haben. Die hohe stattliche Gestalt war zusammengesunken, er ging mühsam an einem Stabe, das Gesicht zu Boden gewendet, er war ein hinfälliger Greis geworden. Er floh die Menschen nicht, aber er war lieber allein. Er erschrak und seufzte, wenn Landleute ihn zuerst grüßten, aber er war freundlich gegen sie, und sie verehrten ihn wegen seiner Güte und Wohlthätigkeit. Sie wußten recht wohl, daß seine Tochter eine junge Frau sei, denn der junge Mann hatte sie und den alten Herrn selbst hier angekauft und hergebracht – und wunderten sich, daß der Mann sie hier beim Vater lasse, und allein in der Welt umherziehe.

Auch Meister Quassian wunderte sich, obgleich er über die Gründe unterrichtet war, und zu den häufigsten Besuchern des Häuschens gehörte. Und während er so sinnend dahinging, ließ er die Ereignisse, die er im vergangenen Jahr in der Stadt erlebt, durch seine Erinnerung gehen. Er dachte an die Stunde, da Reginald ihm seine Braut vorstellte, und wie er selbst, den Kopf voll von Geldangelegenheiten, gar zu keiner rechten Freude hatte kommen können. Es war ein sehr sonderbarer Tag. Denn Meister Quassian glaubte seinen Augen nicht, als gegen Abend ein Prediger im Amtskleid plötzlich im Zimmer stand und die jungen Leute traute, blos in seiner und Arnolds, wie dessen jungen Frau Gegenwart. Es war gar nicht wie eine wirkliche Hochzeit!

Und es folgten an dem Tage noch sehr bewegte Stunden. Denn man meldete zwei Fremde, und herein trat Herr Steinacker, geführt von einem sehr würdig aussehenden alten Herrn. Was nun geschah, hatte Meister Quassian nicht mit angesehen, aber es blieb ihm nicht vorenthalten. Der andre alte Herr war ein Staatsanwalt, bei dem Herr Steinacker sich angeklagt hatte. Aber so sehr dieser darauf gedrungen, jener hatte die Anklage nicht angenommen, und ihm Gesetze und Bücher gezeigt, worin geschrieben stand, daß seine alte Schuld längst verjährt sei. Und weil Herr Steinacker so innerlich und äußerlich gebrochen und vernichtet war, unternahm der Staatsanwalt es selbst, ihn zu seiner Familie zurückzuführen, denn er wußte nichts als Gutes von ihm, und wollte nicht, daß noch ein Aufheben von Dingen gemacht würde, die selbst das Gesetz schon verziehen habe.

Freilich, als währenddem Arnold dem Meister in einem Nebenzimmer erzählte, um was es sich eigentlich handle, da war sein Erstaunen über das Unerwartete groß, und er selbst gar nicht so schnell zum Verzeihen geneigt, denn ein langes Leben voll Kummer und Sorge stellte sich anklägerisch zur Wehr. Aber er gab sich denn wohl, da Alle so verzeihlich gestimmt waren, und vor Allem das verlorne Erbtheil des Sohnes, mit den Zinsen, wieder da war. Dabei verstimmte es ihn allerdings auch wieder, daß Reginald auf das Geld feierlich und förmlich verzichtete, so lange Herr Steinacker lebe, und ihm dasselbe für die Dauer seiner Tage zuschreiben ließ. Meister Quassian sah wohl ein, daß Herr Steinacker ohne das gar nichts gehabt hätte, aber er konnte seinen Groll doch nicht ganz beherrschen. –

Noch denselben Abend spät reiste dann Reginald mit Clothilde und deren Vater weg. Der Meister wollte mit, allein Reginald drang in ihn, noch dazubleiben und seine Rückkehr abzuwarten. So blieb Meister Quassian denn in der großen Stadt, und wohnte bei Arnold, wo es ihm sehr gut ging. Der Herr Zimmermeister war jetzt in vorzüglicher Laune und zeigte dem Gaste allerlei Merkwürdigkeiten der Hauptstadt.

Allein auf diesen machten nur dreierlei Dinge Eindruck. Erstens zwei Häuser, die sein Pflegesohn gebaut hatte, über deren Herrlichkeit er sich nicht beruhigen konnte, und vor die er sich jeden Morgen bei seinem ersten Ausgang hinstellte, ganz aufgehend in Bewunderung, und die gleichgültig Vorübergehenden beobachtend, was sie wohl dächten, und ob sie wohl eine Ahnung hätten, daß er der glückliche Vater sei.

Zum Zweiten staunte er die außerordentliche Entwicklung der Schuhmacherarbeit in der Residenz an. Da sah man durch ganze Wände von Glas in die feinsten Läden hinein, in förmliche Museen von Stiefeln und Schuhen! Völlig unsichtbar war hier die Werkstätte geworden, das Pech und Rindsleder schienen mythische Begriffe, das Auge ruhte auf Saffian, Glanzlack, Atlas, Juchten, auf Kunstwerken, deren Entstehungsweise dem sonst kundigen Auge des Meisters ein Räthsel blieb.

Zum Dritten endlich betrachtete er mit Staunen den Riesenbau der Universität, und durchwanderte mit Arnold ihre Sammlungen von ausgestopften Thieren. Er fand Alles verwirrend erhaben, und schwankte in seiner Empfindung, ob er sich stolz oder recht klein davor fühlen sollte. Doch konnte er nicht umhin, einmal auf seine eigne Hand dem Pedell seine Aufwartung zu machen, um sich als einen entfernteren Verehrer und halben Angehörigen der akademischen Genossenschaft zu erkennen zu geben. Natürlich redete er ihn lateinisch an. Allein hier erlebte Meister Quassian eine arge Enttäuschung. Denn der Pedell, so vornehm er aussah, verstand kein Lateinisch, was bei einer solchen Universität und in einer so großen Stadt gewiß eine Schande war, ja noch mehr, der Mann war nicht einmal höflich, und wies dem Gaste endlich mit Unart die Thür.

Dies verletzte den Meister aufs Tiefste, und gab ihm eine Art Widerwillen gegen die ganze Stadt ein. Das betäubende Straßenleben wurde ihm auch lästig, und die Bewunderung erlag der Sehnsucht nach seinem kleinen Heimathstädtchen, wo die Wissenschaft gemüthlich und idyllisch lebte. Arnolds Frage, ob er sich nicht entschließen wolle, nunmehr ganz in der Residenz zu bleiben, konnte er bald mit einem entschiedenen Nein entgegnen.

Endlich nach acht Tagen kam Reginald zurück. Er schien überglücklich zu sein, zumal er in seiner Wohnung einen sehr ehrenvollen Auftrag zu einem großen öffentlichen Prachtbau vorfand, woran er seine ganze Kunst zum erstenmal zu bethätigen hoffen konnte. Aber dieser Auftrag schien ihm die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches zur Notwendigkeit zu machen, und so beschloß er eine Studienreise über den Rhein und die Alpen hinaus. –

Meister Quassian, der solche Dinge halb bewundernd, halb kopfschüttelnd anhörte, fühlte mit jedem Tage mehr, daß hier nicht sein Boden sei, und machte sich auf den Heimweg.

Und darüber war nun ein Jahr vergangen. Noch immer reiste Reginald in Italien umher, während Clothilde mit ihrem Vater hier in der Gegend still und verborgen lebte. Daß ein Verhältniß, wie das zwischen Reginald und Clothilde, eine ordentliche Ehe sei, obgleich sie einander richtig angetraut waren, mochte Meister Quassian nicht zugeben, und hoffte, die eigentliche feierliche Hochzeit werde eines Tages noch nachkommen. Trotzdem aber sagte er sich, daß seine Schwiegertochter ein gar vortreffliches und liebes Geschöpf sei, und konnte nicht viel dagegen aufbringen, daß sie bei dem jetzt sehr gebrechlichen, unglücklichen Vater vorerst ausharren wollte, bis er sich einigermaßen erholt habe.

Mit Herrn Steinacker hatte sich der Meister, nachdem ein erstes erschütterndes Aussprechen stattgefunden, versöhnt, und jede Woche wanderte er ein paar Mal nach seinem Hause. Und während er dies heute that, gingen ihm alle die Erinnerungen, alte und neue durch den Kopf, und auch an daran geknüpften Betrachtungen fehlte es nicht. Denn war es nicht ganz merkwürdig, daß er den Verlust, um den er sein halbes Leben in Kummer gewesen, endlich doch noch ersetzt erhalten hatte? Und nun – was war denn nun? Außer einer überraschenden Erfahrung, die ihm geworden, fand er eigentlich keinen Gewinn dabei. Denn Reginald, dessen Phantasie er selbst absichtlich von Kindheit auf von einer Anhänglichkeit an den verlornen Schatz frei erhalten, machte sich auch nichts aus dem Wiedergewonnenen und ließ ihn unangetastet.

Wir fragen und quälen uns und hoffen, dachte der Meister, und wenn sich's endlich erfüllt, dann sehen wir, daß es eigentlich unnütz ist, denn wir können's kaum noch brauchen! Aber leichter und freier war dem wackren Schuster doch um's Herz, daß er seines Kummers ledig, daß er gleichsam vor seinem eignen Gewissen gerechtfertigt war.

Als er sich dem Ziel seiner Wanderung näherte, bemerkte er zwei Wagen vor der Thür des Häuschens.

»Hollah! Was ist das? Quid novi?« dachte er. »Ist der eine nicht der Wagen des Arztes aus der Stadt? Der andre ist vom Gute des Oberamtmanns Hermann.«

Er beeilte seinen Gang.

Aus der Thür trat der Oberamtmann mit seiner Tochter, Frau Sophie Arnold, die nebst ihrem Kinde zu einem Sommerbesuch zu den Eltern gekommen war.

»Ich fahre mit dem Herrn Doctor nach der Stadt,« sagte der Oberamtmann zu seiner Tochter, »und besorge Alles, was zum Begräbnis; nöthig ist, die liebe Frau Vanbüren braucht sich um gar nichts zu kümmern. Behalte du unsern Wagen hier, oder lass dir durch den Kutscher besorgen, was du von zu Hause brauchst.«

Sophie verschwand wieder im Hause.

»Sieh' da, Meister Quassian!« fuhr der Oberamtmann fort. »Hier ist's schnell gegangen! Unser guter Herr Steinacker hat das Zeitliche gesegnet. Er schien kaum krank zu sein, fieberte nur ein bischen, kein Mensch dachte an das Ende, und heut' Mittag war er mit einem Mal weg. Ihm ist's am wohlsten so, zu einer rechten Lebensfreude kam er doch nicht mehr. Gott hab' ihn selig! Na, wollen Sie mit nach der Stadt? Wir haben Platz im Wagen.«

Meister Quassian konnte nur ablehnend das Haupt schütteln. Der Schreck war ihm in die Knie gefahren, er mußte sich auf das Bänkchen vor der Thür niedersetzen. »Cita mors ruit, rasch kommt der Tod, wenn er 'mal unterwegs ist!« sagte er still vor sich hin. Er hatte kaum den Muth, in das Haus einzutreten, und fühlte doch die Verpflichtung, wie das Bedürfniß, seinem lieben Schwiegerkinde ein freundliches Wort zu sagen. Sophie Arnold war es, welche ihn bald entdeckte und herein holte. Clothilde zeigte unter Thränen auf die entseelte Hülle ihres Vaters, und Meister Quassian setzte sich zu ihr an das Lager, hielt ihre kleine Hand in der seinen, und weinte mit ihr. –

Auch diese schweren und trüben Tage vergingen, und Woche um Woche flog vorüber, bis die Herbstsonne über die letzte Farbenpracht des Thals schien. Reginald war aus Italien zurück, hatte aber nur kurz hier verweilen können. Er rüstete in der Ferne das Haus, in das er jetzt erst Clothilde einzuführen dachte.

Von den beiden schönen weiblichen Gestalten, welche Arm in Arm durch das kahle Stoppelfeld gingen, trug die eine das schwarze Trauerkleid, und sah etwas blaß aus, während die andere in frischester Farbe blühte. Aber auch durch das blassere Gesicht ging ein Lächeln und ein rosiger Hauch flog über die Wangen bei den Worten der Freundin.

»Clothilde!« sagte diese lebhaft, »Du weißt noch kaum, wie einer jungen Frau zu Muth ist, denn du bist noch so gut wie im Brautstande! Aber bald wirst du so glücklich werden, wie ich. Deinen Reginald brauch ich dir ja wohl nicht herauszustreichen, den guten Jungen! Mein Gott, was doch in so kurzer Zeit mit Einem vorgehen kann! Wie lange ist's her – dritthalb Jahre kaum – da wanderten wir auch hier durch das Korn, du flochtest einen Kranz, und ich hatte thörichte Mädchendinge im Kopf. Weiß der Himmel, so thöricht war es doch nicht, daß ich damals dem schlafenden Handwerksburschen deinen Kornblumenkranz aufsetzte! Was ist nicht Alles daraus geworden! Viele scheuen sich zu bekennen, wie glücklich sie sind, ich aber kann es nicht verhehlen, und dir am wenigsten, obwohl du es längst haarklein auswendig weißt. Es ist zwar nicht so ganz leicht, wie man sich's als Mädchen denkt, mit einem Manne auszukommen, und selbst ein so vortrefflicher, wie mein Arnold, hat seine Nücken. Dein Reginald wird sie auch haben, und – ich sage: hoffentlich! Denn ein Mann, der sich so ganz um den Finger wickeln läßt, taugt nicht viel, und ich möchte ihn weder haben, noch dir wünschen.«

Unter solchen Worten waren sie bis zur Radulfs-Buche gekommen, von deren Krone der Herbstwind das Laub bereits wie einen goldnen Regen schüttelte.

»Schau hin,« rief Sophie lachend, »unser Platz ist wieder einmal besetzt!«

Und von der Steinbank erhob sich Meister Quassian mit einer sehr vergnügten Verbeugung.

»Mein liebes schönes Töchterchen!« begann er – »es wird Herbst, aber auf Ihre Wänglein kehrt der Frühling zurück. Allein, ich weiß wohl, non nescio, bald werde ich auch den nicht mehr sehen! Wie lange währt es, ein paar Wochen, dann kommt unser Reginald und holt Sie ab –«

»Ein paar Wochen?« unterbrach ihn Clothilde halb erschreckt. »Er kommt übermorgen wie er mir schrieb!«

»So? Uebermorgen?« meinte Meister Quassian schmunzelnd, und kniff die Aeuglein schlau zusammen.

»Ueberlegen Sie noch einmal, Papa – oder entschließen Sie sich besser schnell, mit uns zu kommen, und mit uns zu leben. – Sie sind hier so allein! Wie lieb wir Sie haben, wissen Sie –«

»Kindchen, Kindchen, ich weiß es! Aber es ist Alles überlegt und beschlossen, conclusum. Ein alter Schuster gehört nicht in eure junge, feine Wirthschaft! Nicht unterbrechen, Engelchen! Zwar mit euch zu leben, könnte mir schon gefallen, denn ich bin stolz auf euch, aber, meine Herrn – Kindchen, wollt' ich sagen, ich gehöre nicht da in eure große Stadt, die mir fremd ist, und der ich fremd bin. Ich habe sie in Augenschein genommen, veni, vidi – das vici paßt nicht. Da, hier steht ein dicker alter Baum, eine Buche, fagus, manches Jahr ist darüber hingegangen, der Baum hat auf diesem Boden sein Theil erlebt, er gehört zu diesem Boden, sie können ihn nicht mehr verpflanzen. Alsogleich ist es mit mir, wiewohl ich nicht nach Jahrhunderten zähle, sondern nach nicht einmal sechs Decennien, welches mir gar angenehm ist, dieweil ich hoffen kann, es noch auf eine Handvoll Jährlein zu bringen. Also laßt mich hier, und habt die Genugthuung, daß mich eure Lieb' und Güte auch da drinnen im alten Neste gar warm und sorglos eingebettet hat. Allein werd' ich nicht sein, denn wer an viel Schönes und Gutes zu denken hat, mein Töchterchen, der hat von gar lieber Gesellschaft zu sagen. Also nichts weiter davon, dixi!«

Der Meister war in sehr guter Laune, und während er sich weiter mit den Damen unterhielt, konnte er nicht umhin, mit schlauer Miene ein paar Mal hinter sich zu blicken. Plötzlich spitzte er das Ohr, ein Lächeln ging durch sein Gesicht, und schalkhaft suchte er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen auf irgend einen gleichgültigen Gegenstand unten im Thale zu fesseln.

Aber im Rücken der Gruppe näherten sich rasche Tritte, Männerstimmen wurden laut – »Da sind sie!« und »Gefunden!« erscholl es – die beiden jungen Frauen sprangen jauchzend auf, und flogen in die Arme ihrer Gatten.

Die alte Buche schüttelte ein Gestöber von buntem Laub über die Glücklichen, hoch durch den sonnigen Aether reiste ein Zug von Kranichen davon – Meister Quassian aber rieb sich mit strahlendem Gesicht die Hände und dachte: »Finis coronat opus, Ende gut, Alles gut!«


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