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Die Schneewoche

Es war nun schon der vierte Tag, daß ich, in dem einsamen Hospiz auf den Alpen eingeschneit, vergeblich auf die Möglichkeit des Hinabreisens wartete. Tag und Nacht rasten und tobten die Schneestürme, stürzten Lawinen mit donnerndem Krachen vor sich her in die Schluchten, hoben Wolken von trockenem, sandähnlichem Schnee in die Höhe und schleuderten sie um die Mauern des Hauses, daß es schien, als sänke es tiefer und tiefer in die immer steigenden weißen Todeskissen. Mühsam, durch unausgesetzte Arbeit, ward von den Knechten des Klosters nur der nöthigste Fußweg erhalten, aber der Saumpfad durch die Felsenschluchten hinunter nach dem Wallis war verstopft durch ungeheure Schneemassen. Und dabei war es Ende Mai, ich hatte drunten im warmen Thale den Frühling im schönsten Blüthenglanz verlassen. Acht Stunden tiefer nur schmückte sich das Jahr mit seiner erwachenden Schönheit; hier oben, wo der Winter neun Monate währt, bringt auch der kurze Sommer auf dem öden Gestein keine Pflanze, und wenn der Schnee langsam weicht, liegen die starren, trotzig finsteren Felsenglieder des Gebirgs kahl und schwarz zu Tage. Es schien aber, als wollten die Schneestürme dießmal das Hochgebirg in ein Chaos verwandeln, daß ja nichts Lebendes, das sich da oben angesiedelt, nicht der starkgeflügelte Steinadler, nicht der barmherzige Bruder in seinem Zufluchtshause, ihrer vernichtenden Gewalt entginge.

Ich war aus meinem Wohnort Martigny nach dem Hospiz des großen St. Bernhard herauf gekommen, da ich als Advokat einen Theil der Geschäfte für die hier ansäßigen Chorherren des Augustinerordens führte. Mein Weg hatte mich schon öfter, aber meist in besserer Jahreszeit nach dem Kloster hinaufgeführt, ich kannte das ganze Personal bis zum jüngsten dienenden Bruder, ja bis zum letztgebornen kleinen Kläffer der hier gezogenen, weltberühmten Hunderasse. War ich sonst schon immer willkommen gewesen, so war man mir dießmal um so dankbarer, daß ich bei dem allerdings wichtigen Geschäft den gefahrvollen Winterweg nicht gescheut hatte, und trug jede freundschaftliche Sorge für mich. So trefflich ich aber aufgehoben war, die bereits viertägige Abwesenheit von meinen Berufsgeschäften machte mich unruhig, und rüstig, wie ich mich noch fühlte, wollte ich das Wagniß einer Heimfahrt durch alles Toben der Elemente antreten. Ich drang in meine Freunde, mir einen der jungen dienenden Brüder, Marronniers genannt, und einige Knechte zur Begleitung und Hülfeleistung mitzugeben, da diese jungen, muthigen und todestrotzigen Mönche sich ja doch täglich und zu jeder Stunde hinauswagten in den Sturm, um mit den Hunden den etwa im Schnee Verunglückten nachzuforschen. Aber davon sollte nicht die Rede sein. Morgen, hieß es, werde die Gefahr sich gelegt haben, es seien alle Anzeichen dazu da, kurz, ich mußte nachgeben. Und an Unterhaltung mangelte es keineswegs. Zwar fehlte in dem großen Gebäude, das neben seinen Hausbewohnern immer auf Beherbergung von achtzig Gästen eingerichtet ist, die Völkerwanderung der Vergnügungsreisenden oder sonstigen Alpenfahrer des Sommers, aber darum war es nicht öde. Läutete doch die Glocke in diesen Sturmtagen unausgesetzt, um sowohl verirrten Wanderern als den ihretwegen ausgesendeten Marronniers die Richtung des Asyls anzuzeigen. Ein Trupp zog aus mit Knechten und Hunden, die sich in diesen Tagen kaum halten ließen und, kaum den Verschlägen entlassen, mit Gebell voran und in die Schneewolken hineinsprangen; ein anderer Trupp zog ein, ein paarmal einen armen Bergbewohner halb erfroren mit sich führend, um ihn durch Pflege wieder zu sich zu bringen. Ein Fall ernstlicheren Unglückes war in diesen Tagen noch nicht vorgekommen.

Indessen konnte mich die Beobachtung der Arbeit dieser dienenden Brüder nicht lange fesseln, wie groß immer meine Verehrung für ihren Muth, ihre Verachtung der Gefahr, ihren ganzen aufopfernden Lebensberuf war. Unter den Chorherren, die, zwölf an der Zahl, das Hospiz bewohnten, hatte ich einige besondere Freunde. Alle diese würdigen Männer waren einst Marronniers gewesen. Denn jeder, der in den Orden treten will (und er muß es schon in seinem zwanzigsten Lebensjahre thun), hat auf fünfzehn Jahre »Profeß zu machen,« das heißt, er muß die Pflicht übernehmen, sich in dieser Zeit hier oben als Marronnier ganz der entsagungsvollen und aufreibenden Thätigkeit für die Rettung der Verunglückten zu widmen. Sehr viele erliegen früher den Anstrengungen, der furchtbaren Rauhheit des Klimas, welches jenem des hohen Nordens von Spitzbergen gleichkommt. Diejenigen, welche ihre Prüfungszeit überstehen, werden unter die Chorherren aufgenommen und wohnen entweder im Hospiz des großen St. Bernhard, oder werden den dazugehörigen Hospizien des Simplon und kleinen St. Bernhard zugetheilt, oder auch sie erhalten Pfarrstellen in den zum Hospiz gehörigen Ortschaften in den Thälern.

Von diesen, im Kampfe mit allen Schrecken einer gewaltigen Natur erwachsenen und, trotz der scheinbaren Abgeschiedenheit von der Welt auch durch mannigfache Lebenserfahrung bereicherten, würdigen Männern stand mir keiner so nahe als Père St. Blanquart. Einer der Nettesten des Klosters, mit weißem Silberbart, hoher, nur wenig gebeugter Gestalt, ein wissenschaftlich vielfach gebildeter Mann. Er nahm auch an den politischen Ereignissen, so weit sie ihm zugänglich waren, noch Theil. Zählten wir doch damals das Frühjahr 1831, das auf eine kurze Revolution und einen Thronwechsel in Frankreich, sowie auf eine noch kaum verwundene Erschütterung in dem übrigen Europa nur eben zurückblicken konnte. An solchen politischen Gesprächen betheiligten sich auch wohl andere Chorherren, besonders während der Mittagsmahlzeit im Refektorium, oder wenn wir nach Tische in dem behaglich durchheizten Saale auf- und niederspazierten. Père St. Blanquart hatte vor langen Jahren unten im Thale eine Pfarrstelle bekleidet, die ihn mit der Welt in reichliche Beziehung gebracht. Er hatte jenen gewaltigen Zug des Konsul Bonaparte über den St. Bernhard mit Augen gesehen, er erzählte mir gern davon und mochte eine Art von Schwärmerei für den einst so Gewaltigen der Erde nicht verhehlen. Das Naturalienkabinet und die Bibliothek des Klosters konnten auch wohl mancherlei Stoff für unsere Unterhaltung liefern, nicht zu vergessen die außergewöhnlichen Kenntnisse des würdigen St. Blanquart in der Botanik und Mineralogie.

Ich ließ mir erklären und erzählen und benutzte meinen unfreiwilligen Aufenthalt im Hospiz nicht ohne Vortheil, und doch blickte ich oft genug seufzend nach den kleinen gefrorenen Fensterscheiben, oder trat in die tiefen Mauernischen der Fenster, um durch meinen Anhauch einen Durchblick in die kahle Umgebung zu gewinnen, in welcher heulende Windstöße den trockenen Schnee bald wie Riesenwellen hinauf- und wie Wolkenbrüche wieder herabschleuderten. An meine Geschäfte, Arbeit und geregelte Thätigkeit gewöhnt, wollte mir der Müßiggang selbst in trefflicher Unterhaltung und in Gesellschaft des würdigsten Freundes auf die Länge nicht behagen. St. Blanquart verstand dieß auch vollkommen, er beklagte mich, daß ich, abgeschnitten von Haus, Familie und dem schönen Frühling in dieser rauhen, winterlichen Alpenhöhe harren müsse, an die er sich, freilich mit aller Entsagung, längst gewöhnt hatte.

Es war gegen Abend, als mein Freund durch einen jungen Mann in Amtspflichten abgerufen wurde. Er empfahl mir den Bruder Dieudonné, der gerade eine Ruhestunde hatte, inzwischen zur Gesellschaft. Ich kannte den jungen Mann bereits. Noch nicht zwei Jahre der Bruderschaft angehörig, war er im letzten Herbst einmal mit einer geschäftlichen Botschaft seines Ordens bei mir in Martigny gewesen. Er hatte etwas Lebensvolles, Offenes in seinem Wesen, und war jung genug und zu wenig mönchisch kopfhängerisch, um ein fröhliches Gespräch nicht einem ernsthaften vorzuziehen.

Ueberhaupt war in diesem Kloster nichts von frömmelndem Augendrehen zu merken, nichts von breitspuriger Salbung oder Heiligthuerei, nichts von Heuchelei und Pfaffenthum. Dieser Orden bietet seinen Novizen keine Aussicht auf ein bequemes, müßiggängerisches Dasein, er ruft sie zu angestrengter Thätigkeit bei Tag und Nacht, zu einem arbeitsvollen Lebensberuf, einem nie rastenden Geschäft des gefahrvollsten Hülfebringens. Und wie es nicht das Streben dieser Brüder ist, das Leben in sich zu ertödten, den Tod im Leben zu suchen, sondern das ersterbende Leben durch ihre Hülfe wieder zu erwecken und dem Tode entgegen zu wirken, so sucht auch ihr Verkehr und Gespräch unter sich und mit ihren Gästen lieber die lichten als die dunkeln Seiten des Daseins auf. Ist die anstrengende Pflicht gethan, so wird der kurzen Mußestunde ohne Zwang Rechnung getragen, und ist der lange Winter vorüber, so wird das Leben mit den heran- und vorüberziehenden Reisenden einige Sommermonate in heiterer Erholung genossen. –

Dieudonné schlug mir vor, das große Wohnhaus der vierfüßigen, hülfreichen Hausgenossen des Klosters zu besichtigen, von dem ich dießmal noch nicht Notiz genommen hatte. Wir gingen nach dem Verschlag der Hunde, der durch Schranken vielfach abgetheilt war. Hier einige Mütter, jede besonders eingepfercht, unter ihren Jungen, die sich in ungeschlachter, drolliger Plumpheit spielend überschlugen, und denen der Unbekannte nicht zu nahe kommen durfte. Dort verschiedene Generationen schon erwachsener Hunde, die Einen noch in der Dressur, aber schon den Spürsinn ihrer Rasse verrathend, die Anderen bereits ausgebildete Thiere in Berufsthätigkeit, darunter einige schon berühmte Lebensretter. Kaum wurden sie des jungen Mönchs ansichtig, als sie in die größte Bewegung geriethen. Sie sprangen mit freudigem Gebell auf, scharrten am Boden, ungeduldig in das Schneetreiben hinauszugelangen, und geberdeten sich unsinnig, als die Schranken ihnen nicht geöffnet wurden.

»Wo ist Charbon?« fragte ich. –

»Hierher, Charbon!« rief Dieudonné, und das mächtige schwarze Thier, das damals berühmteste des Klosters, sprang mit den Vorderfüßen auf den Rand des Verschlags, ließ seinen Kopf krauen und leckte zutraulich die Hände des Mönchs.

»Es ist ein wunderbares Geschöpf,« sagte Dieudonné. »Sein Spürsinn ist so ausgebildet, daß er das Herannahen eines Menschen auch in der wildesten Sturmnacht auf Stunden, ja oft unter Bergen von Schnee wittert. Er hat bereits zwölf Verunglückte hervorgescharrt und selbst da, wo wir mit Hacken und Spaten vergeblich zu arbeiten glaubten, durch rastloses Wühlen unsere Thätigkeit beschämt. Auf ihn kann man sich unbedingt verlassen. Dabei ist er fast eifersüchtig auf seine Kameraden, und kaum heimgekehrt von einer Wanderung, will er sich dem nächsten Zuge unermüdlich wieder anschließen, und muß gewaltsam zurückgehalten und eingesperrt werden. Zu der Rast, die er zu seiner Erhaltung braucht, muß man ihn zwingen.« –

Während Dieudonné die Verdienste des prachtvollen Thiers noch weiter schilderte, wurde draußen mehrstimmiges Bellen vernehmbar, ein Zeichen, daß eine Exkursion heimkehrte, und im Nu gerieth die ganze Kolonie in die wildeste Bewegung. Charbon hob sich bellend in hohen Sätzen empor, nicht anders seine Kameraden; die jüngere Generation bellte tobend auf, kleine Kläffer bellten, die Mütter sogar aus ihren Wochenstuben fingen drohend an zu bellen, als wollten sie dem allgemeinen Lärm Ruhe gebieten; es war ein Gebell, Geheul, ein Lärm, daß ich lachend und mit zugehaltenen Ohren der Gesellschaft der klösterlichen Vierfüßler entlief. Dieudonné folgte mir.

Eine Anzahl Marronniers war von der Wanderung nach der piemontesischen Seite, auf St. Remy zu, heimgekehrt. Sie hatten einen schwer Verunglückten mitgebracht, der, anscheinend todt, auf einer Tragbahre hereingetragen und schneller ärztlicher Untersuchung übergeben wurde. Ich wünschte die Leiche zu sehen, wurde aber gebeten, davon abzustehen, um die dienenden ärztlichen Krankenpfleger in ihren Belebungsversuchen nicht zu stören. Die heimkehrenden jungen Mönche sanken erschöpft auf Stühle und Bänke im Refektorium nieder, und nahmen die Stärkung entgegen, die ihnen nach der anstrengenden Arbeit gereicht wurde.

Furchtbar mußte diese Arbeit, nach den wenigen Andeutungen, die sie machten, gewesen sein. Hatte ich vorher schon bei dem kurzen Wege über den Hof mich wie von Eisfluten übergossen gefühlt, als mir der Sturm den Schnee, der hier nicht in großen Flocken fällt, sondern in kleinen spitzen Nadeln die Haut zu durchbohren scheint, wie mußte draußen in den lawinengleich durch die Schluchten rasenden Schneetreiben die Arbeit gewesen sein, und welche Abhärtung gehörte dazu, diesen wild losgelassenen Naturmächten zu widerstehen!

Man hatte den Verunglückten in einer Schneegrube entdeckt, in die er, von einem aus dem Felsspalt hervorbrechenden Windstoß überrascht, fast köpflings gestürzt sein mußte. Hinter ihm trieb und wühlte eine aufgebäumte Schneewoge her, bedeckte und begrub ihn, und vielleicht erst lange nachher wehten die Stürme einen Theil seiner Decke wieder hinweg, um einen Zipfel seines Mantels den Nachforschenden erkennbar zu machen. Stundenlang hatten die braven Burschen sich gemüht, um ihn aus dem Schnee und dann die gefahrvolle, fast ungangbare Schlucht hinauf zu bringen. Einer der Brüder war selbst dabei gestürzt und mit verstauchten Gliedern heimgebracht worden. Er befand sich ebenfalls bereits in den Krankenräumen.

Mit gesteigertem, bewunderndem Antheil sah ich bald darauf, wie ein neuer Trupp sich zum Auszug rüstete, denn der aufgefundene Unglückliche ließ auf noch mehr Opfer schließen und vermehrte den Pflichteifer des Klosters. Die Nacht war angebrochen, aber der Sturm hatte sich sehr plötzlich gelegt, nur ab und zu kam noch eine verspätete Windwelle daher, dann legte sich tiefe Grabesstille über die Höhen. Die Abziehenden nahmen für solche Zwecke vorgerichtete Laternen mit, und verließen mit Knechten und Hunden das schützende Haus. Dieudonné war unter ihnen. Er grüßte mir einen freundlichen Abschied zu, und zog mit den Brüdern dahin.

Ich folgte ihnen einige Schritte ins Freie. Noch hoben sich die dunkeln Gestalten von dein Schneeteppich ab, noch sah ich den matten Lichtschein auf weißen Umgebungen. Dann verschwanden sie in der finstern Felsenwendung, und nur das dumpfe Gebell der Hunde war in der Ferne noch vernehmbar. Lautlos lagen die breiten Gebirgsmassen, darüber in grauenvoller Ruhe der noch immer schwere Schneehimmel. Da dröhnte es dumpf aus ferner Tiefe, vom Echo zehnfach weiter getragen, bis es wie ein Seufzer verscholl. Lawinen warfen sich in die Thäler, Felsen und Erdstürze mit sich reißend, eine schreckliche Folge der auf den Höhen und Abhängen aufgehäuften Schneemassen.

Ein Bruder holte mich herein und lud mich zu St. Blanquart ein, und zwar nach der sogenannten Morgue, wo die aufgefundenen Leichen ausgestellt wurden. Ich fand ihn mit schmerzlich ernstem Gesicht an der Bahre stehen, einen Brief in der Hand, während ein Mönch mit der Fackel das Antlitz des Todten beleuchtete. St. Blanquart winkte mir. »Sehen Sie dort!« begann er. »Der Mann war mir einst bekannt, ich nannte ihn Freund!«

Der Chorherr schwieg. Ich betrachtete die Züge des Todten. Es war ein verwittertes, von tiefen Furchen durchzogenes Antlitz, das, wenn immer entstellt, doch in seinen edel gezogenen Linien, die Spuren einstiger Schönheit zeigte. Dichtes Haar lag über der hohen Stirn, und ein buschiger, ergrauter Bart umgab den eingesunkenen Mund und das Kinn. Mich ergriff der Anblick, es war mir, als spräche ein Rest von furchtbaren Seelenschmerzen auch noch aus den leblosen Gesichtszügen. –

»Der Mann hat einst eine schwere Schuld aus seiner Heimath mitgenommen!« fuhr der Chorherr fort. »Diesen Brief an mich fand man bei ihm. Er schrieb ihn, ehe er den Weg über diesen Paß antrat, der Gefahren seiner heimathlichen Berge wohl eingedenk. Ein Wort von ihm sollte noch an mich gelangen, auch wenn er selbst nicht sein Ziel erreichte. Er hat es erreicht!«

Der würdige Freund schwieg wieder, ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Da ließ sich das Glöckchen hören, welches die Bewohner des Klosters zum Abendimbiß rief. Wir verließen die Morgue.

»Ich habe Sie nicht bloß neugierig machen wollen,« begann St. Blanquart im Gehen zu mir,« sondern bin bereit, Ihnen eine Geschichte zu erzählen, wenn es Sie unterhalten kann. Es lebt Niemand mehr von den darin vorkommenden Personen außer mir, und ich glaube die Mittheilung verantworten zu können. Der Abend ist lang, und mein Gespräch würde doch durch alte Erinnerungen einsylbig gemacht werden – wollen Sie daher diese Erinnerungen anhören?«

Ich dankte ihm voraus für sein Vertrauen.

»Nicht Sie,« entgegnete er, »ich bin's, der zu danken hat, denn die Erzählung wird mir wohl thun. So sehr wir auch das Leben und die Welt im Alter von uns abthun, ein Stück unseres Lebens bleibt immer in uns zurück. Wer eine große Zeit gesehen, oder in seinem kleinen Dasein etwas erlebte, das sich über die engen Schranken zum Gewaltigen erhob, hat einen unvergänglichen Besitz, gleichviel ob beglückend, ob schmerzlich, er läßt sich nicht abthun. Doch auch das Bitterste mildern die Jahre, und es kommt eine Stunde, wo wir das tief Verschwiegene hervorziehen, um die verjährten Habseligkeiten vor einem verstehenden Freunde zu mustern. Erwarten Sie mich nach dem Tischgebet auf Ihrem Zimmer.«

St. Blanquart entfernte sich und erschien nicht bei Tische. Die Brüder sahen mich zum Theil fragend an, die älteren Chorherren verriethen nichts von Neugier. Meine Nachbarn meinten, der verunglückte Mann sei noch nicht unzweifelhaft todt, es wären öfter Fälle von Scheintod vorgekommen, und der Bruder Medicus habe noch nicht die Hoffnung aufgegeben. –

Als ich auf meinem Zimmer endlich anlangte, fand ich es behaglich durchwärmt, und auf St. Blanquarts Veranstaltung eine Flasche des trefflichsten Vino d'Asti, dem ich, wie er wußte, unter den Kellervorräthen des Klosters den Vorzug gab. Bald erschien auch der alte Herr selbst, und nach wenigen Wechselreden begann er:

 

Vor dreißig Jahren war ich Pfarrer in Orsières, durch das Sie, bei der Wanderung zu uns herauf, oft gekommen sind. Ich hatte mein Noviziat als Marronnier absolvirt und jetzt zum erstenmal das Amt des Seelsorgers einer Gemeinde übernommen. Eine Schwester von mir, die im Wallis verheirathet war, wurde um diese Zeit Wittwe, und zog, um in meiner Nähe zu leben, mit ihrem Kinde, einem Töchterchen, nun auch nach Orsières. Sie lebte in nicht ungünstigen Verhältnissen, fürchtete aber bei ihrer Kränklichkeit ihr Leben nicht mehr hoch zu bringen, und wollte das Kind unter meinem Schutz gesichert wissen. Wirklich starb die gute Frau schon nach wenigen Jahren, und es blieb mir nichts übrig, als ihre Tochter, die nun fünfzehnjährige Madelon, in mein Haus zu nehmen.

Ich hatte also eine Nichte im Hause, ein sehr schönes, munteres junges Geschöpf, das die bisher stillen Räume belebte, zuweilen bei ihrer Lustigkeit mehr als mir gut schien. Sie fügte sich zwar allen meinen Anordnungen, denn sie hatte gelernt, mich nicht nur wie den Oheim, sondern wie den Vater zu betrachten, und doch hatte ich an dem anmuthigen Kinde viel zu tadeln. Ihre Ansichten, Wünsche, ihre Gemüthsart paßten gar nicht in ein Pfarrhaus. Sie war sehr weltlich, gefallsüchtig, und schon früh zeigte sich bei ihr ein Zug von Koketterie, der mich oft unwillig machte. Alle ihre Fehler traten in der reizendsten Form auf und bewirkten eher, daß sie gefiel, als daß man sie getadelt hätte. Wenn sie geputzt war – und das konnte sie nicht oft genug sein – fühlte sie sich in ihrem Element, und wenn sie tanzen durfte, lachte das helle Glück aus ihrem ganzen Gesicht.

Niemand bestritt, daß sie die graziöseste Erscheinung, das schönste und geistig geweckteste Mädchen im ganzen Orte war, und man ging so weit, mir dazu Glück zu wünschen. Freier hatte sie genug, eigentlich die gesammte männliche Jugend von Orsières, und ich wünschte im Stillen recht sehr, daß sie sich bald verheirathete. Aber dazu schien ihr Uebermuth noch keine Lust zu haben. Der und Jener gefiel ihr wohl, sie bevorzugte und ließ sich den Hof machen, aber sie spielte mit Allen, und hatte eine ausgelassene Freude, wie Einer dem Andern den Rang bei ihr abzulaufen suchte. So vergingen zwei Jahre. Das thörichte Wesen des verzogenen Kindes wurde immer bedenklicher, und ich beschloß selbst und ernstlich auf eine Heirath für Madelon zu denken.

Nun gehörte zu den Angesehensten in dem kleinen Orte das Haus Turgot. Die Turgots waren wohlhabend, hatten schöne Güter, Weideplätze und Heerden auf den Alpen, hatten Besitzungen im Thale, die sie sämmtlich verpachteten, und konnten leben ohne mehr zu schaffen, als ihnen angenehm dünkte. Die Mutter Turgot, von Jugend her mit meiner Schwester befreundet und, wie diese, lange Zeit Wittwe, war inzwischen auch gestorben und hatte drei Söhne hinterlassen. Der jüngste, Etienne, war in den letzten Kindheitsjahren Madelons Spielkamerad gewesen, plötzlich aber davon gelaufen, und man hatte seit fünf Jahren nichts mehr von dem Knaben gehört. So bestand das Haus eigentlich nur noch in den beiden Brüdern Jacques und Adrian Turgot, die von Natur so verschieden als möglich waren.

Jacques, der Aelteste, war ein sehr stattlicher junger Mann, leidenschaftlicher Gemsjäger und einer von Madelons entschiedensten Verehrern. Er gefiel ihr auch sehr gut, aber sie wollte nicht leichten Kaufs geworben sein, und sein bestimmtes, stolzes Wesen rief ihren Trotz hervor. Daher kokettirte sie in seiner Gegenwart erst recht mit Anderen und suchte ihn durch Flatterhaftigkeit zu ärgern. Dies hatte zur Folge, daß er nun auch nicht den Gefügigen spielen wollte, sich Wochen lang auf der Jagd im Gebirge aufhielt und, wenn er heimkehrte, nicht viel nach ihr zu fragen schien. Ich merkte recht wohl, daß sie dadurch stutzig wurde, und hörte eines Tages, wie sie den jüngeren Turgot, Adrian, auf eine gar feine, liebenswürdige Weise nach Jacques ausforschte. Es ist wahrscheinlich, daß Adrian dem Bruder darüber Andeutungen machte, denn bald darauf erschien Jacques wieder bei uns, war herzlicher als je, und wurde von Madelon mit unverhehlter, freudiger Genugthuung empfangen.

Jetzt stand mein Plan fest. Ein besserer Mann konnte für Madelon nicht gefunden werden. Jacques' fester Charakter war ganz geeignet, des Mädchens Flattersinn und Uebermuth in Schranken zu halten. Ueberdies meinte er es ernst, es war kein Zweifel. Ich sprach also mit meiner Nichte, verbat mir alle Koketterie mit Anderen, und betonte sehr stark meinen Wunsch, daß sie Jacques Turgot bei seiner Bewerbung Gehör geben möge. Denn daß sie ihn liebte, war ja nicht hinwegzuleugnen. Sie that bei dieser Unterredung sehr verschämt und schüchtern, erröthete und vergoß ein paar Thränen, lachte dann aber laut auf und schalt mich einen bösen Onkel, daß ich sie durchaus los werden wollte. Inzwischen glaubte ich denn doch zu bemerken, daß meine Mahnung gefruchtet habe. Madelon benahm sich besser, war gleichmäßiger in ihrem Betragen gegen Jacques, und so wurde er aufgemuntert häufiger zu kommen. Alles ging gut, ich war recht froh und sah Beide schon vereinigt.

Einmal fragte Madelon, warum Jacques seinen Bruder Adrian niemals mit zu uns bringe, da er sich doch früher häufiger bei uns sehen ließ. In der That war Adrian einst öfter in unserem Hause gewesen, und eigentlich eine ältere Bekanntschaft von uns als Jacques. Seit einem Jahr etwa hatte Adrian sich fast ganz von uns zurückgezogen. Ich knüpfte an die Frage meiner Nichte den Wunsch, der jüngere Bruder Turgot möge uns nicht so ganz meiden, denn ich hielt sehr viel von dem jungen Manne.

Er glich seinem älteren Bruder in keinem Stück. Er hatte weder die kräftige, einnehmende Körperbildung, noch Jacques' stolzen, energischen Charakter. Adrian war schmächtig von Gestalt, weich und fügsam von Gemüthsart; eine fein empfindende, sinnige Natur, die Jeder, der sie näher kannte, lieben mußte. Allein was er war, trug er still in sich verschlossen, und Wenige kannten seinen inneren Werth. Schweigsam und zurückhaltend nahm er wenig an den Freuden der Jugend Theil. Der Spott, der ihn darum zuweilen traf, schien ihn tiefer zu berühren, und da er bei den Versuchen, die er wohl machte, sich wie ein Anderer unter die jungen Schönheiten des Ortes zu mischen, nur neue Spötteleien und Mißerfolge erntete, kam er zu der Ueberzeugung, daß es ihm nicht gegeben sei, zu gefallen und zu gewinnen, und lebte still für sich hin. Während Jacques seine Tage auf der Jagd oder sonst nach Gefallen verbrachte, führte Adrian die Geschäfte des Hauses, den Haushalt selbst, und brachte seine Mußestunden meist unter Büchern zu. Er las französisch, italienisch und deutsch, und kam dann nicht selten zu mir, um sich Auskunft und Rath über Dies und Jenes zu holen. Er wurde mir lieber und lieber, und es that mir leid, daß mit der Zeit seine Besuche bei mir ausblieben.

Trotz dieser großen Verschiedenheit lebten die Brüder doch in Eintracht. Jacques konnte immer zufrieden sein mit Adrians Verwaltung der Geschäfte, und hielt um so mehr von der Gewissenhaftigkeit und Klugheit des Bruders, als ihm selbst jeder geschäftliche Sinn abging und ihrer Beider Besitzstand ohne Adrians Hülfe gewiß nicht so blühend geblieben wäre. Jacques war kein Müßiggänger zu nennen, er nahm sich der Interessen des Hauses an, insoweit sie mit Reisen, Wanderungen, energischem Eingreifen draußen auf den Liegenschaften verbunden waren. Nur das Leben daheim, das Rechnen und Verwalten im Hause war ihm langweilig, gleichgültig. Wie hätte es anders sein können? dachte ich. Wenn nur erst eine Häuslichkeit gegründet ist, wird das Behagen im Hause und die Freude am Besitz schon kommen! –

So also lebten die Brüder zusammen, zwar ohne ein besonders inniges Verhältniß, doch auch ohne gegenseitiges Abstoßen ihrer so verschiedenen Naturen.

Nicht lange nach unserem Gespräch mit Jacques über den Bruder erschienen denn auch eines Nachmittags Beide zusammen, und Adrian durfte mit unserem entgegenkommenden Empfang wohl zufrieden sein. Gleichwohl war er noch stiller als sonst, häufig zerstreut, und mußte sich von Madelon darüber necken lassen. Er erröthete, blieb aber immer sanft und freundlich.

Nach ein paar Wochen schienen Jacques und Madelon so gut wie einig. Die Leute nahmen es als gewiß an, ich selbst freute mich darüber, und Adrian schien es ebenso anzusehen.

Einmal gingen wir Nachmittags in meinem Garten spazieren und durch das Pförtchen weiter hinaus über die grasige Berglehne, wo ich auf der Höhe unter Nußbäumen ein Ruheplätzchen hatte anlegen lassen. Ich wandelte mit Adrian im Gespräch voran. Wir redeten von politischen Ereignissen, die uns um diese Zeit sehr nahe angingen, wie ich sogleich berichten werde – hinter uns hörten wir Jacques und Madelon scherzen und lachen. Ich sah wohl, daß Adrian sich ein paarmal umwendete, und darauf zerstreuter wurde, ohne daß ich im Eifer meines Redens noch besonders darauf achtete. Denn das Gespräch betraf Dinge, die mich damals in hohem Grad interessirten, nämlich den Feldzug des jungen Generals Bonaparte in Aegypten, seine erst im vergangenen Herbst erfolgte Rückkehr nach Paris und seine Selbsterhebung zum Konsul von Frankreich. Ich erwärmte mich, und es entging mir, daß Adrian, der sonst mein Interesse theilte, stumm blieb und mich allein reden ließ.

Als wir oben auf dem Hügel anlangten und Platz nahmen, bemerkte ich, daß Madelons Antlitz geröthet war, ihre Augen höhnisch funkelten, daß sie das Köpfchen trotzig zurückwarf, während Jacques seine stolz beherrschende, etwas tyrannische Miene angenommen hatte. Sie scherzten und lachten nicht mehr, es mußte etwas zwischen ihnen vorgefallen sein. Adrian mochte davon bereits eine Witterung gehabt haben, er sah besorgt von Einem zum Andern. Ehe wir es uns aber versahen, war Madelon wieder bei Laune, ja in der übermüthigsten, und band durch allerlei herausfordernde Neckereien mit Adrian an. Jacques redete ab und zu ein Wort dazwischen, das ziemlich höhnisch klang, während ein spöttischer Zug auf seinen Lippen blieb und seine dunklen Augen scharf auf Madelon gerichtet standen. Sie schien gar nicht darauf zu achten, antwortete ihm auch nicht, sondern beschäftigte sich in gesteigerter Lustigkeit mit Adrian. Der treuherzige und feinfühlige Bursche war peinlich davon berührt, aber sein Ausweichen half ihm nichts. Madelon nahm seinen Arm, als wir hinunter stiegen, ihre ganze reizende Koketterie war auf ihn gerichtet, Jacques schien für sie nicht mehr gegenwärtig. Dieser ging in die Rolle des lachenden, anscheinend gleichgültigen Beobachters über, wie man etwa über die drolligen Unarten eines fremden Kindes scherzt, das man zu erziehen keine Befugniß hat; ich aber war sehr ungehalten. –

Sobald ich das Mädchen unter vier Augen hatte, setzte ich ihr den Kopf ernstlich zurecht und trat dabei mit aller väterlichen Strenge auf. Sie rümpfte das Näschen und schwieg.

Sie blieb Tage lang schweigsam gegen mich, mit Nachbarn und Freundinnen dagegen hörte ich sie in Garten und Hof oft genug reden und lachen. Kurz, das Verhältniß zu Jacques, obgleich nicht völlig abgebrochen, schien doch gelockert, und zwar zu Gunsten Adrians, so zurückhaltend dieser immer blieb. Niemals würde Adrian es über sich gebracht haben, das Entgegenkommen eines Mädchens zu erwiedern, an welches das Herz seines Bruders gefesselt war. Darüber schienen sich beide Brüder bereits ausgesprochen zu haben, und so sah Jacques, in vollem Vertrauen auf Adrians Pflichtgefühl und Ehrenhaftigkeit, eine Weile lachend zu.

Nun aber traten die politischen Ereignisse plötzlich gewaltsam in unser durch kleine Dinge hin- und herbewegtes Stillleben. Denn wir standen im Frühling des Jahres 1800, und der ganze Westen Europas hatte durch die französische Staatsumwälzung und die Kriege der Republik eine neue Gestaltung angenommen. Heereszüge und Schlachten bewegten sich nicht nur um die Grenzen unseres Alpenlandes herum, sie waren bereits in unsere Thäler gedrungen. Waren wir Eidgenossen doch selbst kein eigentlich selbständiges Volk mehr. Wie die überall siegreichen Franzosen aus Holland eine batavische, aus Neapel eine parthenopäische Republik gemacht hatten, so benutzten sie einige innere Streitigkeiten unseres Landes, um auch bei uns einzudringen und, nach harten Kämpfen, aus der Schweiz eine helvetische Republik zu machen. Die Staaten Europas hatten sich zum zweiten mal gegen Frankreich verbündet. Von Italien herauf zogen Russen und Oesterreicher durch das Graubündnerland über Berge und Felsen, auf den ungangbarsten Wegen nach unsern nördlichen Kantonen, wo sie in mehreren Schlachten von den Franzosen geschlagen und nach Schwaben zurückgedrängt wurden. So wiederhallten auch unsere Berge von Waffenlärm, obgleich es hier im Wallis noch stiller geblieben war.

Da kam im Mai die Nachricht, daß der junge Konsul Bonaparte beschlossen habe, durch das Wallis über den St. Bernhard nach Italien zu ziehen, um die dort stehenden Österreicher im Rücken anzugreifen. Ein solches Riesenunternehmen schien unglaublich, und doch war dem jungen Helden, der von Jahr zu Jahr mächtiger aus dem Schlachtengewühl republikanischer Kriege aufstieg, zuzutrauen, daß er siegreich neben Hannibal und Cäsar als Dritter seinen Namen in unsere Alpen einzeichnen werde.

Ich gestehe, daß, wenn ich bis dahin schon für den aufsteigenden Heros eingenommen war, durch diesen Plan nur noch mehr für ihn gewonnen wurde. Ich selbst hatte fünfzehn Jahre lang als Marronnier meines Ordens ein Leben der Anstrengung, der Gefahren, des Kampfes mit den Mächten der Natur geführt, das Abenteuerliche eines gewaltigen Unternehmens berührte mich wie etwas innerlich Verwandtes, trotz meiner Stellung als Seelsorger einer Gemeinde; ich konnte nicht umhin, den Plan des Konsuls zu billigen, zu bewundern. Ja, der Gedanke, ihn selbst zu sehen, erfüllte mich mit geheimem Entzücken, denn er mußte ja durch Orsières kommen, mußte fast an meiner Schwelle vorüber!

Die nächsten Tage wurden nur durch Gespräche über das bevorstehende Ereigniß ausgefüllt. Unser Städtchen war belebter als jemals, aus allen Ortschaften strömten die Bewohner zusammen, fragend, berichtend, Nachrichten tauschend, und bald kam die Kunde aus Martigny zu uns herauf, daß in wenigen Tagen die Fouriere, Quartiermacher, und kurz darauf der Vortrab den ungeheuren Zug eröffnen würden. –

Diese Aussichten und Gespräche darüber brachten leider Zwietracht in unsern kleinen Kreis. Adrian Turgot theilte im Stillen meine Bewunderung für Bonaparte, so wenig dies mit seinem Charakter übereinzustimmen schien. Aber es lag ein Zug von Heroismus in Adrians Natur, der, wie tief immer verborgen hinter einem stillen, träumerischen Wesen, nur eines großen Momentes harrte, um sich geltend zu machen. Allein wir hatten mit unserer Vorliebe für den Konsul hart gegen Jacques anzukämpfen. Denn dieser fühlte sich ganz als Republikaner, er haßte Bonaparte, weil er die republikanische Staatsform in Frankreich durch die Konsularregierung gestürzt hatte; er haßte ihn als Schweizer, dem ein fremdes Volk seine Selbstständigkeit genommen; er haßte den Franzosen; er haßte ihn instinktmäßig als den aufsteigenden Gewalthaber; er haßte ihn, weil er den gleichen Zug des Selbstgefühls, des Stolzes, des Trotzes, ja der Tyrannei in sich fühlte. So verschieden wirkte das Gleichartige. Bei mir anziehend, freudig entgegenkommend, bei ihm abstoßend, zu heftigem Gegensatz aufstachelnd.

Kaum hatte Madelon sich überzeugt, wie tief der Groll ihres voraussichtlichen Verlobten (denn dafür galt er noch immer) gegen den französischen Helden war, als sie sich mit Leidenschaft als Bonaparte's Verehrerin erklärte. Sie lobte Adrian, daß er ihre Ansicht theilte, sie sprach mit Jubel von der Aussicht, den Helden zu sehen; sie that, als sei sie halb verliebt in ihn, als hätte sie gar die Absicht, den Konsul Bonaparte in sich verliebt zu machen. – Von dem Augenblick an betrat Jacques unser Haus nicht mehr, er schien an keine Verbindung mit Madelon mehr zu denken. Und doch sagte mir Adrian sehr betrübt, er sei bange um den Bruder, denn er liebe Madelon wohl mehr, als er zeigen möge.

Es blieb nicht bei dieser Betrübniß, ernstere Besorgnisse gesellten sich dazu. Denn während die meisten Thalgenossen dem heroischen Zuge der Franzosen begeistert entgegensahen und zu Hunderten bereits beschäftigt waren, die Wege zum St. Bernhard hinauf für die Armee zu bahnen – während dem verlautete im Stillen das Gerücht, Jacques Turgot sei mit der Bildung einer Freischaar gleichgesinnter Jünglinge und Männer beschäftigt, um den Franzosen den Weg in einem Engpaß oben zu verlegen. Die Felsenwände sollten besetzt, die Schlucht durch Bäume und Felsstücke verrammelt, kurz Alles zu einem hartnäckigen Kampfe vorbereitet werden. Es wäre ein unsinniges Unternehmen gewesen, da es bei der geringen Mannschaft, die Jacques im besten Falle aufbringen konnte, die französische Armee nur eine Weile aufhalten, nicht aber durchaus hindern konnte. Indeß schien mir der Plan, da ich Jacques' Gesinnungen kannte, nicht so unglaublich und ich erschrak vor den Folgen. Nicht nur Jacques war verloren, unsere ganze Gegend, das ganze Land konnte dadurch in ein entsetzliches Unglück gestürzt werden. Denn die Franzosen kamen nicht als unsere Feinde, sie wollten freien Durchzug durch ein befreundetes Land. Was mußte daraus entstehen, wenn sie hier auf eine feindliche Gegenwehr stießen, sich von Verrath umgeben sahen – sie, mit einer großen Armee in wehrlosen Ortschaften, die sie nun als Feindesland betrachten mußten!

Es war später Abend, als mir einer der Väter der Gemeinde diese Mittheilung machte und meinen Einfluß auf Jacques Turgot anrief. Ich wußte zwar, daß Jacques seit einigen Tagen verreist war, allein er konnte zurückgekommen sein, und ich schickte mich sogleich zu einem Besuch bei ihm an. Kaum aus dem Hause getreten, vernahmen wir Feuerlärm und den Ruf, daß es bei den Turgots brenne. Wir eilten dahin, die Flammen schlugen schon aus dem Dache. Jacques war noch nicht zurückgekehrt. Indessen zeigte sich Hülfe bald bereit, und es fehlte nicht an Eifer, des Feuers Herr zu werden. Allein es war vergeblich. Trotz einer arbeitsvollen Nacht sah Adrian am Morgen nur die ausgebrannten kahlen Mauern seines väterlichen Hauses. Er trug den Verlust mit Gelassenheit, und sorgte nur darum, wie Jacques heimkehrend durch den Anblick der Trümmer berührt sein werde.

Die Frage nach der Ursache des Feuers fand schon am andern Morgen eine im Stillen herumgeflüsterte Beantwortung. Jacques Turgots geheimen Plänen sollte dadurch von irgend einer noch unbekannten Hand schon zum Voraus eine Strafe bereitet worden sein.

Wie dem auch sein mochte, Adrian war für den Augenblick obdachlos, und ich lud ihn in mein Haus ein. Er lehnte es freundlich ab, um bei andern Bekannten Wohnung zu nehmen.

Madelon war durch dies Ereigniß sehr niedergeschlagen, und ich sah wohl, daß ihr der Verlust des schönen Hauses, das mit seinem eisernen Balkon so altväterisch wohlbehäbig an der Straße gestanden, das vom Keller bis zum Boden von Alters her so wohl ausgestattet, mit gefüllten Kisten, Kasten und Truhen nur der neuen Hausfrau zu warten schien – kurz daß dieser Verlust selbst dem Flatterkinde sehr zu Herzen ging. Auch Adrian merkte das, und um sie zu erheitern, sprach er bereits von dem Plan eines neuen Hauses, das auf der Stelle des alten so bald als möglich in Angriff genommen werden solle. Er ließ in sanftem, fast bittendem Tone einfließen, daß Madelon, wenn sie nur wolle, auch eine Stimme bei der Erbauung des neuen haben könne, daß ihre Wünsche gewiß berücksichtigt werden würden, und daß es eine große Freude wäre, wenn Jacques bei seiner Rückkehr für den erlittenen Verlust eine Entschädigung fände, die –

»Für wen wäre das eine Freude?« unterbrach ihn Madelon rasch.

»Nun, für Jacques,« entgegnete Adrian, »und – für uns Alle!«

Sie sah ihn scharf an. Er ertrug ihren Blick nicht, ein Schreck schien ihn plötzlich zu überkommen, als fühle er sich in seinem verborgensten Innern ertappt. Er erhob sich und entfernte sich bald.

Es war spät in der nächsten Nacht, als ich durch ein leises Klopfen an die Fensterladen aus dem Schlaf erweckt wurde. Da es sich wiederholte, öffnete ich und erkannte Jacques Turgot. Er bat um Verzeihung, daß er noch so spät störe, ich aber hieß ihn willkommen und ließ ihn rasch ein.

»Armer Freund!« rief ich, »du kommst heim und findest statt deines Hauses nur einen Haufen verkohlter Trümmer!«

»Das wäre das Geringste, was mich bedrückte,« entgegnete er finster, »und darum würde ich Sie, Herr Pfarrer, nicht in dieser Nachtstunde aufstören. Es sind andere, quälendere Sorgen, die mich treiben!«

»Jacques!« unterbrach ich ihn schnell, »es gehen beängstigende Gerüchte über dich. Du sollst ein tollkühnes Wagniß vorbereiten, das dich verderben, das uns Alle, deine Freunde und Heimathgenossen, in unsägliches Elend stürzen muß!«

»Ich hatte auf Vaterlandsliebe gerechnet,« rief er, » auf männlichen Muth, auf den Freiheitssinn und die Tapferkeit, womit unsere Väter uns vorangingen! Ich finde ein verblendetes Geschlecht, das dem Götzen einer fremden Nation dienen will!«

»Dich verblendet die Leidenschaft, Jacques! Du bist von deinem Haß befangener, als wir von Vorliebe für den Fremden. Gälte es, mit gemeinsamer Kraft ein drückendes Feindesjoch abzuwerfen, ich selbst schlöße mich euch an. Allein betrachte die Sache mit Ueberlegung. Nichts ist vorbereitet, ich kenne eure Verbindung nicht, allein ihr könnt nur eine kleine ungenügende Schaar sein –«

»Unsere Vorfahren haben in ihren Freiheitsschlachten stets der Uebermacht den Sieg abgewonnen!«

»Jacques, mein armer Freund,« sagte ich, »du verkennst unsere Lage, verkennst die Umstände, mißkennst die ungeheure Verantwortung, die du auf dich nimmst! Ich beschwöre dich, laß ab von deinem Unternehmen!«

Seine Brauen zogen sich finster zusammen. »Hätt' ich es ausführbar gefunden, so säß' ich jetzt nicht hier, sondern oben in den Bergen. Denn morgen kommen die ersten Franzosen.«

Ich athmete auf. »Nun, Gott sei Dank! Du siehst, mein Sohn, daß du mit deinem erbitterten Haß allein stehst. Ueberwinde dich –«

»Das hab' ich, wenn auch in anderem Sinne, als Sie, Herr Pfarrer, es verlangen. Das sei für jetzt abgethan. Auch komme ich aus anderem Grunde zu Ihnen. Morgen wird, wie ich weiß, der erste Trupp Franzosen durch diesen Ort kommen. Andere werden bald folgen, werden wahrscheinlich bei uns Quartier nehmen, denn die Hauptmacht kommt erst in drei Wochen. Ich habe genaue Kunde von Allem. Ich selbst kann nicht am Orte, kann nicht in der Gegend bleiben, ich bin meines Zorns, meiner Leidenschaft nicht Herr, und da ich das Unzulängliche eines Plans zum Widerstand für den Augenblick eingesehen, werde ich mich entfernen, um Kräfte und Gedanken für den besseren Tag aufzusparen. Denn aufgegeben hab' ich den noch nicht! Also ich gehe. Allein, Herr Pfarrer, eine dringende Bitte richte ich noch an Sie. Entfernen Sie auch Madelon von hier! Bringen oder schicken Sie Madelon noch in dieser Nacht aus Orsières hinweg!«

Ich sah ihn verwundert an und fragte nach dem Grunde seines Wunsches.

»Ich weiß nicht« – begann er zögernd – »eine unglückliche Ahnung weissagt mir – ich kenne mich selbst in dieser Furcht nicht mehr, aber – ich kenne Madelon. Wär' es nach meinem Wunsch gegangen, so wär' sie jetzt mein Weib. Glaubte ich noch an ihre Liebe, so peinigte mich jetzt kein verzweifelter Gedanke – aber ich glaube nicht mehr daran. Und dennoch, ich kann nicht aufhören, das Mädchen zu lieben, und eine rasende Eifersucht erfüllt mich bei dem Gedanken, sie könne – und wär's nur aus leichtsinniger Kinderei – diesen fränkischen Bestien freundlich entgegenkommen, diesen gottverfluchten, frivolen –«

Ich faßte seinen Arm und rief: »Mäßigung, Jacques! Ich dulde keine Flüche in meinem Hause. Du bist von Sinnen!«

»Ich will nicht andern Sinnes sein,« fuhr er mit zornrollenden Augen fort, »ich will ihn nähren, meinen Haß gegen die Fremden! Ich hasse sie mit dem heißesten Rachewunsch, ihr Blut zu vergießen, ich hasse jeden einzelnen französischen Soldaten als meinen Todfeind!«

Er stand auf und stürmte durch das Zimmer. Ich hielt ihn fest.

»Jacques,« rief ich, »du legst mir eine furchtbare Beichte ab, für die ich keine Absolution habe! Liebe und Haß gehen in leidenschaftlicher Verworrenheit bei dir durcheinander, dein ganzes Wesen ist getrübt von verbrecherischen Regungen, und wollte ich als dein Seelsorger zu dir sprechen, ich hätte viel zu thun, um dein Gemüth umzustimmen und zu reinigen! Ich rede jetzt nur als Freund und mahne dich zur Fassung, zur Ueberlegung. Du liebst Madelon – gut. Aber du mißtraust ihrem Charakter. Sie ist ein eigenwilliges, flatterhaftes Kind, aber du sollst ihr nichts Schlechtes zutrauen – denn dahin zielt dein Argwohn! Ist es aber nicht geradezu eine Schlechtigkeit von dir, da zu mißtrauen, wo du liebst? Ist das eine rechte Liebe, die so schändliche Regungen aufkommen läßt? Geh', geh', diesen Zug habe ich von deinem Charakter nicht vermuthet! Madelon ist – das sollst du überdieß in Anschlag bringen – Madelon ist in meinem Schutz, ich werde sie zu hüten wissen! – (Jacques seufzte bei diesen meinen Worten und wandte die Augen ab.) – Und was denkst du?« fuhr ich fort. »Wenn ich das Mädchen jetzt aus dem Schlummer riefe, um sie hinweg zu führen, ja, und wenn es wirklich gelänge, was würde man morgen in der Stadt davon sagen? Der Pfarrer des Ortes versteckt seine Nichte vor den Franzosen! Vor den Franzosen, die nur durchmarschiren, nicht als Feinde, sondern denen nur die Heerstraße durch unser Land gewährt ist! Schimpflich wär' es für Madelon, für mich selbst, und – für dich, Jacques, ist's kein Ruhm, mir das angerathen zu haben?« –

Ich sprach noch lange und viel, und suchte ihn nach dem harten Tadel auch wieder zu begütigen, ruhiger zu stimmen. Das wurde er denn in der That, ob ich ihn jedoch überzeugt hatte, lass' ich dahingestellt. Ernst und resignirt erhob er sich, dankte mir und bot mir zum Abschied die Hand.

»Wohin gehst du, Jacques?« fragte ich.

»Weit hinweg, über Gletscher und Felsrücken, den Gemsen nach. Fragen Sie nicht wohin. Mein Haus ist hier in Flammen aufgegangen – drüben im Berner Land hab' ich Gastfreunde – vielleicht such' ich sie auf.«

Er ging. Mir wurde weh um's Herz, denn ich hatte den Burschen sehr lieb. Und doch sagt' ich mir, es sei gut, daß er jetzt gehe, so weit als möglich!

Am andern Morgen kam denn auch die Nachricht, daß die ersten Franzosen bereits den Weg nach Orsières heraufkämen, und bald, daß sie die äußersten Häuser des Ortes erreicht hätten. Die Aufregung war groß, man jubelte ihnen entgegen, und Alles hielt sich draußen auf der Gasse. Meine Nichte wollte gleich andern Mädchen zum Willkommen hinaus, ich aber bedeutete sie, daß sich das nicht für sie schicke, und daß sie sich im Hause zu halten hätte. Sie wollt' es kaum glauben, als sie aber meinen Ernst sah, stellte sie sich ärgerlich schmollend ans Fenster. Ich bemerkte, daß sie sich durch auserwählten Putz ganz besonders schön gemacht hatte, und war drauf und dran, ihr auch das Fenster zu verbieten, denn der Zug mußte an meinem Hause vorüber. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn, und es kam mir doch ein banger Zweifel, ob ich geeignet sei, ein junges Mädchen zu hüten? Ich hatte ihr schon zu viel Freiheit gelassen, ich wußte, daß meine Autorität nur eine scheinbare Geltung hatte, daß Madelon meist hinter meinem Rücken that, was ich nicht gestattete. Die Mahnung meines armen Jacques kam mir wieder in den Sinn. Ach Gott! – nur noch eine kurze Spanne Zeit, und ich hatte zu bereuen, daß ich ihr nicht gefolgt war. Nun, in jenem Augenblick setzte ich doch meinen Willen durch. Madelon stand schmollend an dem einen Fenster, ich an dem andern.

Und so sahen wir denn den ersten Trupp des französischen Heeres heranziehen, umgeben und gefolgt von dem Willkommruf unserer Bevölkerung. Es war nur eine kleine Abtheilung von einigen hundert Mann, Sappeurs und Reiter, mit Wagen voll Geräthschaften, um die Wege in der Höhe für die große Armee zu bahnen, in die Felsen zu sprengen, für Kanonen und Gepäck möglich zu machen. Hülfreiche Hände fanden sie in der Gegend genug. Es hieß, sie würden bei uns nicht Rast machen, sondern seien für Bourg St. Pierre und das Hospiz auf dem St. Bernhard bestimmt.

Schon waren sie fast vorüber und nur ein kleiner Trupp Reiter noch übrig. Da will das Unglück, daß ein Pferd auf unserem allerdings nicht guten Straßenpflaster stolpert. Der Reiter reißt es in die Höhe, es scheut und bäumt sich und wirft den Reiter ab, der fast auf die Schwelle meines Hauses fliegt. Er erhebt sich rasch, taumelt aber zurück und fällt für todt nieder.

Madelon schrie auf und lief nach der Thür. Ich schob sie zurück, befahl ihr zurückzubleiben, und eilte selbst hinaus. Ein Auflauf hatte sich um den jungen Soldaten gebildet, der, an der Schläfe stark blutend, auf dem Steinpflaster lag. Einige seiner Kameraden waren abgestiegen, um ihn aufzuheben. Es war nicht möglich, ihn wieder aufs Pferd zu bringen. Was thun? Der französische Sergeant bat mich, den Kameraden zu beherbergen, bis er sich so weit erholt hätte, um ihnen folgen zu können, zumal sie einige Zeit, weiter oben im Gebirg, auf die Armee zu harren hätten. Meine Nachbarn unterstützten die Bitte – wäre ich ein rechter Hirt meiner Gemeinde gewesen, hätte ich ein Beispiel christlicher Liebe gegeben, wenn ich einem Verunglückten, der blutend auf der Schwelle lag, mein Haus verweigerte? Dazu kam, daß ich bereits eine Entdeckung gemacht hatte, die mich halb mit freudigem Schreck, halb mit Bestürzung erfüllte. Ein Blick in das Gesicht des Jünglings hatte mich den einst entlaufenen Knaben Etienne Turgot, den jüngsten der drei Brüder, erkennen lassen.

Wir trugen ihn herein, brachten den Bewußtlosen auf ein Lager, schickten nach dem alten Chirurgus der Stadt und zu Adrian Turgot. Etienne's Kameraden zogen ab, ich bat die Menge, die sich vor dem Hause gesammelt und sogar bis hinein drang, auseinander zu gehen. Allein die Kunde, daß Etienne sich in dem Verunglückten wieder gefunden, verbreitete sich schnell, und wenn man je von dem räthselhaften Verschwinden des Knaben übel gesprochen, so hätte er in diesem Augenblick in keiner glänzenderen Gestalt wieder erscheinen können, denn als Soldat der großen französischen Armee, als Soldat des Konsuls Bonaparte. Die Theilnahme war allgemein, und Jeder hätte etwas zu seiner Pflege thun mögen.

Am glücklichsten schien Adrian über den wiedergefundenen Bruder. Er nahm sogleich den Platz an seinem Lager ein, und waltete da mit der Sorgfalt einer Mutter. Etienne's Verwundung schien nicht gefährlich. Die Ohnmacht schwand, und ich sah einen rührenden, frohergreifenden Auftritt mit an, da Etienne sich in den Armen feines Bruders wieder zum Leben erwacht fand. Seine Abenteuer gab er in der ersten Stunde zum Besten. Sie waren nicht groß. Der Siegesruhm der französischen Waffen hatte den fünfzehnjährigen Knaben angelockt, und in der Voraussicht, daß er von seiner Familie doch nicht die Erlaubniß erhalten werde, in die französische Armee einzutreten, war er davongelaufen, um sich anwerben zu lassen. Es gelang, da er früh körperlich entwickelt war, und jetzt hatten wir einen jungen zwanzigjährigen Kriegsmann vor uns, der bereits den Feldzug nach Aegypten und die Schlacht bei den Pyramiden mitgemacht hatte. –

Er erholte sich bald von seiner Wunde und stand schon am andern Tage auf, um sich wie ein Gesunder zu betragen. Das mißglückte zwar, und es machte ihn ungeduldig, den Kranken spielen zu müssen, doch fügte er sich Adrians Anordnungen, halb lachend, halb scheltend, und schien sich dem freudigen Gefühl hinzugeben, einmal wieder im Heimathsorte, unter den alten Freunden zu sein. Und so hatte ich denn nicht nur eine französische Einquartierung im Hause, sondern sogar eine Einquartierung, über die ich mich, wie alle Nachbarn meinten, zu freuen hätte, und die man mir gleich in den ersten Tagen gar sehr zu verwöhnen anfing.

Und wie verhielt sich Madelon während dem? Auch sie hatte Etienne auf den ersten Blick erkannt, und ich fand sie in Thränen, als ich von dem Lager des Kranken zu ihr zurückkam. Auch sie wollte sich seiner Pflege widmen, aber ich litt es nicht, ich duldete nicht, daß sie sein Zimmer betrat. Dafür wurde sie plötzlich in Küche und Wirthschaft geschäftiger als sonst, bereitete jede Speise für ihn selbst, und wenn ich mit ihr allein war, schienen alle ihre Kindheitserinnerungen erwacht, und das Gespräch drehte sich nur um Etienne und die Spiele, Wagnisse und Thorheiten, die sie zusammen ausgeführt. Ihre Augen lachten heller, ihre Wangen rötheten sich, und plötzlich brach sie ab, gleichsam vor ihren eigenen Worten erschreckend, als habe sie zu viel gesagt. Ich bekenne, daß mich das verstimmte und ich viel an meinen armen Jacques dachte.

In wenigen Tagen war Etienne wieder frisch auf den Beinen, und das erste Wiedersehen der beiden einstigen Spielgefährten im Wohnzimmer hätte vor arglosen Augen einen sehr reizenden Anblick gewähren müssen. Etienne und Madelon kamen einander entgegen halb wie lachende Kinder, halb erstaunt über die Wandlung, die mit ihnen vorgegangen war. Etienne schien auf das Angenehmste überrascht, seine Gespielin zu solcher Anmuth und Schönheit entwickelt zu finden, und eine ähnliche Beobachtung mochte Madelon ihm gegenüber machen. Es war gar nicht zu verwundern, daß Etienne ihr gleich eifrig den Hof machte, und daß sie es sich lachend und neckend gefallen ließ.

Ich hoffte nun, Etienne werde so bald als möglich seinen Kameraden nachfolgen, allein dieß geschah nicht. Doch bestand ich darauf, den jungen Burschen nicht länger in meinem Hause zu behalten. Auch Adrian war ganz einverstanden, und nahm ihn in seine Wohnung. Etienne wußte sich Urlaub zu verschaffen, und blieb in Orsières. Er wurde allgemein gefeiert, verwöhnt, er wurde der Held des Tages.

Um aufrichtig zu sein, muß ich zugestehen, daß Etienne das hübscheste Bürschlein war, das ich jemals gesehen. Offen, frei, liebenswürdig, geschmeidig, von dem einnehmendsten Wesen, gewann er Jeden, und auch mich, der ich seine Fehler nur zu bald erkannt hatte. Er war ein Leichtfuß, unstät und flatterhaft; das Glück hatte ihn begünstigt, keck, sorglos, übermüthig gemacht; er lachte des Ernstes und wollte nur im Fluge leben, den leichten Champagnerschaum vom Becher des Lebens schlürfen. Er war gutmüthig und treuherzig; ich habe, so oft ich den Kopf schüttelte über den Sausewind, doch nie etwas Böses, wohl aber manches brave Wort von seinen Lippen vernommen. Selbst wenn ich seinen Leichtsinn tadelte, wußte sein einschmeichelndes Wesen, seine halb kindliche, halb überlegene, siegesgewohnte Art mich zu berücken. Gelang ihm dies bei mir, um wie viel mehr bei Andern. Es war mit ihm ähnlich, wie mit Madelon. Seine Fehler selbst wurden ihm zu Tugenden gerechnet, da sie in so einschmeichelnder Erscheinung auftraten. Und wenn er dann von seinen ersten Kriegserfahrungen sprach, von der Pyramidenschlacht, wenn seine Augen leuchteten von Begeisterung für den Konsul, für die »gloire« der französischen Armee, wie hätte das Feuer des prächtigen Jungen nicht Alle hinreißen sollen? Etienne Turgot war (wie man in der großen Welt zu sagen pflegt) der »Löwe« von Orsières geworden, er war den Leuten der Repräsentant des französischen Ruhmes, man war stolz auf ihn. So weit hatte der Knabe es gebracht, durch kein anderes Verdienst, als durch seine glücklichen Naturgaben und durch sein Wiedererscheinen im rechten Zeitpunkt.

Es konnte nicht wohl anders kommen, als daß der Löwe von Orsières sich täglich in meinem Hause einfand. Ich war zufrieden, daß auch Adrian meist mit ihm kam. Inzwischen machten er und ich Entdeckungen, die wir einander zwar nicht in Worten gestanden, über die unsere Blicke sich aber vereinigten; Entdeckungen, die nicht eben überraschen konnten, darum aber nicht minder bedrückend waren. Etienne und Madelon liebten einander. Bei Madelon war es unverkennbar, sie liebte jetzt vielleicht zum erstenmal. Ihr Wesen war ein anderes geworden. Noch neckte sie sich mit Etienne, aber sie forderte ihn nicht heraus, sie war mädchenhafter, scheuer, und sie war in dieser Wandlung anmuthiger als zuvor. Bald schien ein verschwiegenes Glück ihre ganze Natur verklärt zu haben, der alte Uebermuth war wie abgestreift, sie zeigte sich sogar sanft und fügsam, sie ließ sich (und mehr als mir selbst gefiel) jeden Scherz gefallen, ja, mir schien, als ließe sie sich von dem übermüthigen Knaben beinahe tyrannisiren!

Ich suchte unter Adrians stillschweigender Mithülfe das Maaß dieser Besuche einzuschränken, ich machte dem jungen Krieger Andeutungen, sich zu mäßigen, ich sprach mit ihm endlich geradezu von seines Bruders Jacques Liebe zu meiner Nichte, und wie Beide eigentlich so gut wie versprochen wären. Ich ging wohl etwas weiter in dieser Versicherung, als ich noch verantworten konnte – ich that es, um eindringlicher zu wirken. Und es schien von Erfolg. Die Besuche wurden kürzer, der Verkehrston gemessener, Etienne schien nicht mehr nur Augen und Worte für Madelon zu haben, er hatte auch ein freundliches Gespräch sogar für mich. Ich ward ein wenig beruhigt, im Herzen aber sah ich mit Ungeduld der französischen Armee entgegen. Dasselbe schien bei Adrian der Fall, der mir in den letzten Tagen etwas blaß und verstört erschien. Ja es kam mir vor, als nähme er ein paarmal einen Anlauf, mir eine Mittheilung zu machen, die doch nicht über seine Lippen wollte. Ich kam ihm nicht entgegen. Ich dachte: laß uns nur über die nächsten Tage hinweg sein, und wir sind auch von unsern Sorgen frei. Aber sie sollten mir noch furchtbar über den Kopf wachsen.

Inzwischen war unser Oertchen voll Leben und Bewegung, und eigentlich das ganze Walliser Thal mit all' seinen Seitenthälern, hinauf bis zu den gewaltigsten Felsrücken auf der Schneescheide der Hochalpen. Denn nicht nur auf unserer Straße, auch über den St. Gotthard, den Simplon, den Bernardin waren Heereszüge angesagt, und sowohl auf schweizerischer wie auf italienischer Seite zeigten sich Tausende von enthusiastischen Landesbewohnern thätig, den Zügen vorzuarbeiten. Bei uns, auf dem Paß, den der Konsul selbst mit der Hauptarmee überschreiten sollte, war es vielleicht am buntesten. Ungeheure Vorräthe zur Beköstigung wurden oben im Hospiz angesammelt, und in irgend einer Weise war jeder Bewohner von Orsières für die Vorbereitung des großen Ereignisses beschäftigt.

Es waren nur noch drei Tage vor der Ankunft der Franzosen. Ich kehrte gegen Abend von einem Krankenbesuch zurück. Da sehe ich, in meine Hausthür tretend, etwas Buntes pfeilgeschwind über den Hof und durch das Thor schlüpfen. Ich hatte Etienne erkannt. Eine tiefe, schmerzvolle Empörung erfaßte mich. Die jungen Leute betrogen mich, sie hatten hinter meinem Rücken Zusammenkünfte. Ich trat mit ganzer Strenge vor meine Nichte, und sagte ihr ihren Betrug auf den Kopf zu. Sie läugnete nicht, sie nahm meinen Tadel schweigend hin, und brach endlich in heftige Thränen aus.

Was in aller Welt sollte ich jetzt thun? Ich war rathlos. Mir stand keine Erfahrung zur Seite. Meine eigene Jugend war ernst, meine Jünglingsjahre bis zum Mannesalter unter harten Mühen und Entsagungen oben auf dem Hospitium dahingegangen, mein Leben und Wirken als Pfarrer hatte zwar manches schwere Geschick in der Gemeinde mit durchgemacht, aber mir kein Mittel in die Hand gegeben, um mich in solchem Falle wirksam zu berathen. Sollte ich Madelon aus dem Hause treiben? Mich dauerte das elternlose, leichtsinnige Kind dennoch. Sollte ich Etienne den Text lesen? Was würde es geholfen haben, da er, wie ich gesehen, mein Vertrauen mißbrauchte, mich zu hintergehen verstand? Dennoch beschloß ich, mit Etienne rund heraus zu sprechen, und ging nach seiner und Adrians gemeinsamer Wohnung. Ich fand ihn nicht. Auf meine Aufforderung, zu mir zu kommen, folgte er nicht. Er kam überhaupt seit jener Entdeckung bei Tage nicht mehr in mein Haus. Auch Adrian hatte den Bruder seitdem nicht gesehen, selbst des Nachts erschien er nicht mehr in seiner Wohnung.

Endlich, wie eine Erlösung von diesen tief peinlichen häuslichen Wirren, erscholl die Nachricht, die französische Armee sei in der Nähe, und am andern Morgen sollte sie Orsières passiren. Ich hatte mich in den letzten Tagen nicht aus dem Hause gewagt, aber, sicher gemacht durch Etienne's Verschwinden, stieg ich am letzten Abend mit Adrian eine Höhe hinan, von wo aus man vielleicht mit bewaffnetem Auge ein Stück des französischen Lagers schon erblicken konnte. Wir täuschten uns zwar in dieser Erwartung, doch genügte es unserer Ungeduld, zu wissen, daß von jener Richtung uns Hülfe kommen müsse. Ich lud Adrian ein, den Abend bei mir zu bleiben, und wir nahmen den Weg von der Rückseite meines Hauses, um durch das Hofthor einzutreten.

Noch kaum angelangt, vernahmen wir drinnen einen herzzerreißenden Aufschrei. Es war Madelons Stimme. Dazu Geräusch, abgerissene wilde Worte, dann etwas wie der Fall eines menschlichen Körpers, ein Ringen am Boden, und erneute, halb erstickte Verzweiflungsrufe Madelons. Wir rütteln am Hofthor, es war von innen verriegelt. Adrian war schnell hinüber, öffnete mir, und ich hatte einen Anblick, dessen Grausen ewig der Erinnerung eingeprägt bleibt. Etienne lag noch einmal blutend am Boden, Madelon mit gerungenen Händen über ihm, während Jacques mit der Erstarrung des Entsetzens daneben kniete und in Etienne's erbleichende Züge sah.

»Mörder! Mörder!« schrie ihm Madelon entgegen. »Dein Bruder ist's, den du gemordet! Sei verflucht, verflucht! O Etienne! Etienne!«

Wir standen wie in den Boden gefesselt. »Jacques!« rief ich nach einigen Augenblicken, – und konnte weiter nichts sagen. Jacques aber kam aus seiner Erstarrung zu sich. Er erfaßte, wie sehr Madelon ihm wehren wollte, den regungslosen Körper des Bruders, und trug ihn ohne fremde Hülfe auf seinen Armen ins Haus. Etienne ward auf dasselbe Lager gebracht, von welchem er nur wenige Wochen vorher erstanden war. Adrian lief nach ärztlicher Hülfe, Jacques selbst aber entkleidete den Bruder und untersuchte die Wunden. Sie waren tödlich, der Athem des Getroffenen begann bereits zu schwinden. Jacques fiel mit dem Kopf auf die Kante des Lagers, er hatte die Hand Etienne's erfaßt und barg darauf in sprachlosem Schmerz Lippen und Augen. Sobald der Wundarzt erschien, ergriff ich Jacques Arm und zog ihn hinweg in mein Studirzimmer, dessen Thür ich verriegelte. Er sank erschöpft auf einen Stuhl und warf Kopf und Arme auf den Tisch.

Ich schritt durch das Zimmer, Jacques beobachtend und abwartend, bis er einige Fassung wieder erlangt hätte. Als ich ihn endlich laut seufzen hörte, berührte ich seine Schulter.

»Jacques!« begann ich, »du hast dein Wort nicht gehalten! Du kehrtest zurück, und – zu welcher That!«

Er fuhr auf. Seine Züge waren zerstört, fahl, kaum wieder zu erkennen. Der Jammer schnitt mir ins Herz, ich konnte nicht im Tone des drohenden Richters zu ihm sprechen.

»Mein unglücklicher Jacques!« rief ich. »Wußtest du, was du thatest?«

Die Brust des Verzweifelnden hob sich in schweren Athemzügen. Er rang nach Worten. Endlich begann er in abgerissenen Sätzen:

»Ja, St. Blanquart, ich ging mit der That um, da ich zurückkehrte, aber ich ahnte nicht, wen mein Dolch treffen würde! – Ich war zu Vispach. Ein hiesiger Bekannter wußte um meinen Aufenthalt. Er sollte mir Nachricht von hier geben. Da kommt eine Botschaft von ihm, daß ein französischer Soldat, der in Orsières geblieben, allnächtlich in Madelons Fenster steige.«

»Jacques!« unterbrach ich ihn, »das ist Verleumdung!«

»Daß der Soldat mein Bruder Etienne sei, verschwieg mir der Brief. Vielleicht absichtlich. Der Schreiber haßt die Franzosen, wie ich. Er hatte sich einst um Madelon beworben, wie ich. Er kannte meine Leidenschaft, und ließ mich thun, was er nicht – O Gott! Etienne, mein kleiner Etienne!«

Jacques brach in furchtbar hervorstürzende Thränen aus. Es währte lange, bis er weiter reden konnte. Dann fuhr er fort:

»Von Eifersucht und Todesgrimm gejagt, eile ich hierher. Ich sehe, spreche Niemand, verberge mich in Ihrem Hofe so, daß ich Madelons Fenster beobachten kann, entschlossen, bis zur Nacht auf meinem Wachtposten zu bleiben. Ich brauchte nicht so lange zu warten. Bald hör' ich ein leises Pochen am Hofthor. Madelon kommt und öffnet, läßt einen französischen Soldaten ein, und verriegelt das Thor wieder. Die Liebenden liegen sich in den Armen. Das Gesicht des Fremden konnte ich nicht sehen – und wenn ich es gesehen, erkannt hätte – wer weiß, ob die Wuth mich abgehalten hätte! Ich springe hervor, reiße ihn zu Boden. Mein Dolch trifft ihn dreimal, und als es geschehen, sehe ich in meines Bruders Züge!« –

Es folgte bei Jacques ein neuer Sturm überwältigenden Schmerzes.

Ich hörte Adrians Stimme an der Thür, und schob den Riegel weg. Adrian kam in tiefer Erschütterung.

»Er ist todt!« sagte er und legte schweigend die Hand auf Jacques' Haupt.

»O mein Gott!« rief ich. »So mußte eine abscheuliche Verleumdung zu diesem Ausgang führen! Adrian, hilf mir das Mädchen rechtfertigen! Bestätige, daß es nicht wahr sein kann, daß Etienne zu Nacht in Madelons Fenster gestiegen! So schmachvoll kann sie mich nicht hintergangen haben!«

Adrian sah erbleicht zu Boden.

»Es ist so!« sagte er nach einer Pause. »Es war öfter geschehen, da ich es erfuhr. Ich habe Etienne, ich habe sogar – Madelon gewarnt. Ich habe es zu verhindern gesucht – sie wußte auch mich zu täuschen. Ihre alte Haushälterin war durch Etienne bestochen. Ich wollt' Ihnen die Entdeckung ersparen und schwieg. Lassen wir jetzt vorbei sein, was vorbei ist. Morgen kommen die Franzosen, und wir haben die Leiche eines ihrer Kameraden, der gewaltsamen Todes gestorben ist, im Hause. Verbergen läßt es sich nicht, der alte Wundarzt kann nicht schweigen, und – es darf nicht verschwiegen werden. Vor allen Dingen müssen wir Ihr Haus, Herr Pfarrer, von jedem Verdacht der Betheiligung befreien, Sie sollen nicht noch mehr durch uns zu leiden haben. Jacques, ermanne dich! Wir tragen die Leiche in meine Wohnung.«

Ich wendete ein, daß mein Haus bei der Anklage und Untersuchung als die Stelle, wo die That verübt worden, doch nicht zu umgehen sei. Allein schon war Jacques aufgesprungen, und eilte mit dem Bruder hinaus. Für eine Tragbahre hatte Adrian gesorgt. Ich sah auf die Straße hinaus. Es war, obgleich schon gegen Morgen, noch still und dunkel, die Stunde des letzten Schlafs für unser Städtchen. Jacques und Adrian trugen die Leiche Etienne's unter einer Decke geborgen fort. Ich schloß mich an. –

Als sie in Adrians Wohnung niedergelegt war, drang plötzlich ein sonderbares Tönen von draußen an mein Ohr. Ich öffnete das Fenster. Das klang wie Trompeten aus der Tiefe herauf, noch fern, aber doch erkennbar. Waren das schon die Franzosen? Es konnte nicht anders sein.

»Jetzt, mein Bruder,« rief Adrian, »entflieh! Noch ist es Zeit! Du kennst auch in dieser Dämmerung die Wege, die dich retten werden.«

»Darf er entfliehen?« wendete ich ein. »Gehört seine That nicht vor den irdischen Richter?«

»O St. Blanquart!« bat Adrian, »fordert ihn nicht zu strenge vor Gericht! Nicht überlegt war seine That, unter der er selbst am furchtbarsten von uns Allen leidet! Leidenschaft, Liebe, ein furchtbarer Taumel des Augenblicks hat ihn bethört. Wer jemals selbst geliebt hat, wird ihn verstehen und lossprechen von dem schwersten Theile seiner Schuld!«

»Laßt es gut sein!« entgegnete Jacques. »Ob ich mich dem Gesetz entziehen darf oder nicht, darüber werde ich mit meinem Gewissen zu Rathe gehen. Diesen Richtern aber, diesen, die wir kommen hören, den hochfahrenden Sklaven des Tyrannen, werde ich mich nicht stellen! In die Bande meiner gehaßtesten Feinde gehe ich nicht freiwillig. Und fänden sie mich im verborgensten Schlupfwinkel aus, noch da würd' ich mich bis zum letzten Blutstropfen gegen sie vertheidigen.« –

Er trat zu seines Bruders Leiche und beugte sich über sie:

»Leb' wohl, mein Etienne! Dein Unrecht an mir ist klein gegen meine Schuld! Leb' wohl, mein armer Knabe!« –

»Und du, mein Adrian, auch du leb' wohl!«

Er preßte den Bruder in wildem Schmerz an sich.

»Du kannst mir vergeben, ich weiß es! Du liebtest selbst – du liebtest Madelon, ich wußt' es! Und dennoch wirst du mir vergeben können, denn du bist besser als ich. Ich war stets eigensüchtig, du immer opferbereit und selbstvergessend! – Und Sie, St. Blanquart?«

Er ergriff meine Hand, drückte sie und suchte nach Worten.

»Beten Sie für mich! Leben Sie wohl!«

Er rief es mit von Schmerz erstickter Stimme und stürzte hinaus. Erschüttert setzten wir beiden Zurückbleibenden uns an Etienne's Lager. Näher und näher hallten die Fanfaren aus den Tiefen herauf. Der Morgen brach an, und ich begab mich in der Dämmerung in mein Haus zurück.

Ich wachte den Tag in meinem Studirzimmer heran. Die alte Haushälterin ward entlassen. Madelons Zimmer fand ich verschlossen. Schlief sie? Konnte sie schlafen? Ich mocht' es jetzt nicht untersuchen. Im Tiefsten erschüttert durch die letzten schrecklichen Stunden, hatte ich doch keine Zeit, mich dem Eindruck zu überlassen. Ich mußte auf eine Reihe unberechenbarer Folgen gefaßt sein, ich mußte mich waffnen, handelnd und eingreifend in die kommenden Ereignisse aufzutreten. Mit ganz andern Empfindungen, als ich dem Herannahen des französischen Heereszuges noch vor wenigen Wochen entgegen gesehen, sah ich ihn jetzt wirklich kommen.

Und so zog sie denn herauf, die Riesenarmee des ersten Konsuls, herauf aus dem schon frühlingsmäßig grünen Thale von Martigny, durch hundert Felsenwindungen, in unser schon auf rauheren Höhen gelegenes Orsières. Und immer höher hinauf durch wieder hundert Biegungen der Felsenschluchten, über kahle, schaudervolle, sturmdurchheulte Einöden, wo der Adler haust; über Schnee und Eis, schwarze Untiefen zu beiden Seiten, schwindelnde Abgründe, über morsches Gestein, das jeder Wegbahnung trotzte. Reiterei und Fußvolk, Artillerie, Kanonen, Pulver- und Munitionswagen – Rosse glitten aus und stürzten, Geschütze blieben in Schneegruben stecken und mußten mit stundenlanger Arbeit herausgegraben werden, Krieger sanken ohnmächtig an der Straße nieder. Aber weiter hinauf ging es, geführt von dem Gewaltiges bereitenden Konsul, weiter hinauf durch Sturmgeheul und Schneegestöber, denn drüben, jenseits der Firnen, sah er im Geist schon die Sonne von Marengo aufgehen.

Drei Tage lang wälzte sich so der Zug langsam empor, eine in allen Gliedern bewegte Riesenschlange, unabsehbar, grausig wie ein ungeheuer daherschreitendes Verhängniß, das unaufhaltsam seinen weltumgestaltenden Zielen entgegen geht.

Ich hatte nicht Zeit, mich diese ganzen drei Tage lang einem müßigen Beschauen zu widmen. Als um Mittag, trotz meines wiederholten Pochens, Madelons Zimmer noch immer nicht geöffnet wurde, sah ich mich genöthigt, das Schloß mit Gewalt zu erbrechen. Das Zimmer war leer, Madelons Bett unberührt. Ein neuer Schreck für mich! Wo sollte ich das Mädchen jetzt suchen. Ich fragte bei den Nachbarn. Niemand hatte sie gesehen. Ich mochte meine Besorgnisse noch Keinem mittheilen, hätte doch Keiner in der allgemeinen Aufregung die Stimmung gehabt, mir zu Rath und Hülfe zu gehen, da jedes Haus sich auf eine Menge Einquartierung einzurichten hatte. Die letzten heut heraufkommenden Truppen sollten in Orsières übernachten. Weiter in der Stadt nach Madelon herum zu fragen, war auch unmöglich, da unser Ort durch den unablässigen Zug der Armee wie von einem Strome durchschnitten war, über den keine Brücke führte.

So war ich allein im Hause – die Wirthschafterin hatte es meinem Befehl zufolge früh verlassen, der Knecht war schon einige Tage vorher als Wegarbeiter mit hinaufgegangen – und so mußte ich mich allein auf eine Einquartierung von zwanzig Mann einrichten. Vorbereitet war ich allerdings bereits leidlich, und doch gab es in Stallung, Hof und Haus noch genug zu thun.

Endlich kam der Abend. Die enge, kleine Gebirgsstadt glich einem Bivouak. In den Häusern Soldaten, auf den Thürschwellen, auf den Straßen gelagert; lachend oder scheltend, todmüde oder zu Tollheiten aufgelegt, essend, trinkend, die Pferde abzäumend, nach Heu und Stroh rufend; mit den Hauswirthen hadernd, mit den Weibern auf besserem Fuß, fordernd und die Herren spielend Alle. Ich war Knecht, Läufer, Aufwärter, Alles zusammen in meinem Pfarrhause. Ich konnte es nicht verlassen, wie sehr mich auch verlangte, nach Madelon zu forschen, wenigstens Adrian aufzusuchen und durch ihn etwas auskundschaften zu lassen.

Da vernehme ich eine drohende Bewegung auf der Straße. In einer Gruppe von Soldaten theilt man sich mit, daß man in einer zum Nachtquartier bestimmten Wohnung einen französischen Kameraden ermordet gefunden habe. Es sei dem Commandeur Anzeige gemacht, und schon sei die Canaille, die den armen Jungen umgebracht, verhaftet, um standrechtlich erschossen zu werden. Ich fliege hinaus.

»Sollte man nicht,« fuhr einer der Entrüsteten fort, »das ganze Nest in Brand stecken? Will man uns hier abschlachten? Auf! Feuer unter die Brut! Sie soll an uns denken!« –

»Haltet, Freunde!« rief ich, indem ich die Gruppe theilte. »Ein Brand in der Stadt wär' euch nicht minder verderblich als uns, denn ihr müßtet mit Sack und Pack mit verbrennen, da ihr in diesen Bergen, zumal bei anbrechender Nacht, die Gelegenheit nicht kennt, euch in Sicherheit zu bringen. Nehmt Vernunft an und begleitet mich zum Commandeur, der allein hier zu richten hat.« –

»Wahrhaftig, der Herr Pfarrer hat recht! Verbrennen wär' weder angenehm noch rühmlich, und wir haben drüben in Italien noch viel Ruhm einzukassiren. Kommt mit zum Commandeur!«

Der Commandeur hatte sein Quartier im Stadthause. Der Platz vor der Thür war gedrängt voll Menschen, ich hatte Mühe, hinein zu gelangen. Den Bürgermeister und die Gemeindevorsteher fand ich bereits im Verhör, denn der außerordentliche Fall hatte den Verdacht einer Verschwörung in Orsières gegen die Franzosen hervorgerufen. Der Commandeur trat mit furchtbarer Strenge auf. Die Väter der Stadt, voll Erstaunen und Schrecken, in dem Getödteten Etienne Turgot zu erkennen (denn die Leiche war nach dem Stadthause gebracht worden), erklärten den Vorgang, der den jungen Soldaten in der Stadt zurückgehalten. Sie erzählten, daß er ein Ortsangehöriger sei, daß er beliebt gewesen, daß es unerklärlich sei, wie eine so entsetzliche That an ihm habe verübt werden können. Umsonst, der Commandeur wollte Verrath, wollte ein Complott gegen sich und seine Leute erkennen, und drohte der armen Stadt die grausamste Strafe, wenn ihm die Mitschuldigen nicht sofort ausgeliefert würden.

Ich trat vor, mein Eindringen entschuldigend.

»O, da ist unser Herr Pfarrer, St. Blanquart!« rief der Bürgermeister. »Er wird uns bezeugen, mit welcher frohen Begeisterung wir der Armee des Konsuls entgegen gesehen!«

Ich bestätigte das, indem ich zugleich meine eigene Bewunderung für das Unternehmen des jungen Helden Bonaparte hinzufügte, und suchte den Commandeur zu überzeugen, daß das Verbrechen durchaus vereinzelt dastehe und von allen Bewohnern unserer Stadt gleichmäßig verabscheut werden werde.

»Nun, was in aller Welt hat den Buben veranlaßt,« rief der Commandeur, »einen jungen französischen Soldaten meuchlerisch zu tödten, der, wie ihr sagt, bei euch allgemein beliebt war?«

Ich erklärte, daß es aus Eifersucht geschehen sei. »Wenn der unglückliche junge Mensch,« fuhr ich fort, »der die That begangen, sich jetzt durch die Flucht dem Gesetz entzogen hat –«

»Was?« unterbrach mich der Commandeur – »entflohen? Was ist das? Wir haben ihn doch, denk' ich?«

Er winkte einem Offizier, welcher das Zimmer verließ. Bald darauf wurde die Thür aufgethan, und herein trat unter militärischer Wache und in Ketten – Adrian Turgot.

»Welch' ein Irrthum, Herr Commandeur!« rief ich. »Dieser junge Mann ist nicht der Mörder! Für seine Unschuld stehe ich mit der Heiligkeit meines Amtseides ein!«

»Zum Teufel mit Ihrem Amtseide!« rief der General ungeduldig. »Jetzt wird uns gar noch der Pfaffe Winkelzüge machen! Der Bube hat sich selbst als den Mörder bekannt, er hat ein ehrlicheres Bekenntniß seines Verbrechens abgelegt, als der Herr Pfarrer, der die Sippschaft weiß brennen möchte!«

O jetzt ward es mir klar! Um seinen unglücklichen Jacques zu retten, der vielleicht noch nicht sicher geborgen war, hatte Adrian sich selbst als den Mörder ausgegeben. Ich erklärte dem General den Sachverhalt.

Er stutzte. »Das wär' eine wunderliche Geschichte!« meinte er. Er trat auf Adrian zu. »Mensch, der Mann da ist dein Beichtvater, wie er sagt – wenn er dir vor dem Heiligsten Wahrheit abverlangt, wirst du dann bei deinem Geständniß bleiben?«

»Ja!« rief Adrian mit fester Stimme: »Ich habe die That begangen.«

»Adrian, du lügst!« sprach ich mit aller Eindringlichkeit. »Du lügst! Es ist die erste Lüge, die ich von dir höre – aber so groß dir auch der Zweck erscheint, das Mittel bleibt darum doch verbrecherisch. Du kannst, du darfst deinen Bruder auf diese Weise nicht retten, du würdest durch einen Tod für ihn seine Qualen verhundertfachen, ohne ihn von der Strafe des Gesetzes zu befreien, die ihn früher oder später doch erreichen muß!«

Ich sah, wie Adrian erbleichte, die Augen zu Boden geheftet und doch anscheinend fest und ruhig. Der Commandant saß da, die Arme untergeschlagen, sah ihn scharf beobachtend an und fragte: »Nun?«

»Ich wiederhole, ich habe Etienne Turgot erstochen!« entgegnete Adrian.

Ich war außer mir vor Schmerz, Unwillen, Furcht, und wenn ich auch Bewunderung vor der Geistesgröße Adrians empfand, sie wurde überwältigt durch das Entsetzen, daß hier das Kriegsgericht einen Unschuldigen richten sollte, der sich freventlich selbst zum Tode drängte. Ich sprach nur, was ich empfand und dachte, sprach eindringlich und in großer Bewegung – und doch wurde von meinen Worten wenig vernommen. Denn draußen vor dem Hause riefen und tobten die Soldaten, die Offiziere im Saal sprachen unter sich und tauschten Bedenken, ob es möglich sei, unter den augenblicklichen Umständen den Angeklagten laufen zu lassen, selbst wenn man sich von seiner Unschuld überzeugte.

Der Commandeur trat vom Fenster zurück.

»Herr Pfarrer,« begann er, »meine Leute sind aufgeregt durch den Verdacht einer Verschwörung in der Stadt, die ihnen Allen nach dem Leben stehe. Ich kann ihnen diesen Wahn benehmen und sie zur Ruhe verweisen. Aber das Recht, den Tod Dessen zu fordern, der einen ihrer Kameraden ermordet hat, kann ich ihnen nicht nehmen. Der junge Mensch da muß in einer Stunde sterben. Die Exekution erfordert Eile, denn morgen mit dem Frühesten marschiren wir weiter. Er klagt sich selbst an – Sie bezweifeln feine That, aber Sie können feine Unschuld nicht beweisen. Oder – gut! Können Sie mir vor Ablauf einer Stunde Denjenigen herschaffen, den Sie für den Mörder halten?«

Ich schüttelte seufzend den Kopf, ich konnte nicht hoffen, Jacques aufzufinden, obwohl ich überzeugt war, er würde herbeieilen, wenn er von feines Bruders Gefahr unterrichtet wäre.

»Nun denn, so wird der Bursch erschossen!«

Der Commandeur winkte.

Adrian ward abgeführt. Ich stand wie angewurzelt. Na schoß mir ein Gedanke durch den Kopf.

»Herr Commandeur!« rief ich, »nur noch bis morgen früh Aufschub! Lassen Sie das Urtheil von der Gnade des Konsuls abhängen! Ich selbst suche den Konsul auf, stelle ihm die Sache vor, ich hoffe ihn zu überzeugen und die Befreiung meines Beichtsohnes auszuwirken!«

Der General lachte unwillig.

»Wie wollen Sie bis morgen früh zum Konsul und wieder zu uns zurück gelangen? Der Konsul hat sein Hauptquartier oben im Hospitium auf dem St. Bernhard! Dazu ist es Nacht, und es beginnt ein stürmisches Wetter.«

Ich erklärte, wie ich von meinen Jugendjahren als Marronnier des Klosters ein rüstiger Bergsteiger sei und den Unbilden des Wetters zu trotzen wisse. In fünf Stunden hoffe ich auf dem Hospiz zu sein, in dreien den Heimweg zurückzulegen. Wenn ich nur eine Stunde Aufenthalt zur Rast und zur Audienz bei dem Konsul rechnete, könnte ich schon um fünf Uhr Morgens wieder zurück sein.

Der General sah mich mit äußerstem Erstaunen an, die Offiziere wechselten Blicke des Zweifels und der Verwunderung.

»Sie trauen sich viel zu!« sagte der General dann. »Zwar die Audienz beim Konsul könnt' ich Ihnen durch ein Schreiben auswirken – aber der Weg! Hoffen Sie ihn wirklich in so kurzer Zeit zurückzulegen?«

»Ich hoffe mit Gottes Hülfe!«

»Nun, meine Herren!« wandte er sich zu den Offizieren, »sind Sie der Meinung, daß wir dem Manne willfahren?«

Die allgemeine Ansicht war mir günstig. Der Commandeur warf ein paar Zeilen aufs Papier und reichte es mir.

»Dies an den Konsul, Sie selbst werden den Bericht vervollständigen. Das Loos unseres Gefangenen sei in Ihre Hand gelegt. Wem man solche Opfer zu bringen bereit ist, der ist doch wohl – nicht ganz schuldig. Loslassen kann ich ihn darum doch nicht vor Ihrer Rückkehr. Viel Glück zu Ihrer Wanderung!«

Ich eilte hinweg, nahm zu Hause nur einen Mantel und tüchtigen Bergstock, und begann meine nächtliche Felsen-, Schnee- und Wolkenreise. Ich hatte ein Leben zu retten, das Leben eines edlen, großherzigen, schuldlosen jungen Freundes, und das beflügelte meinen Schritt und hielt meine ganze Geistesgegenwart wach, daß ich auf den dunklen, unsichern, von Schneegestöber umhüllten, von schwarzen Untiefen umdrohten Wegen sicher vorwärts blickte. Ich merkte kaum auf das Wetter, das sich immer bösartiger gestaltete, ich merkte nicht auf das Heulen und Dröhnen, das wie Angstruf vor dem Herannahen des Schneesturms aus den Schluchten hervordrang. Der Wille, ans Ziel zu gelangen, die Furcht, es zu verfehlen, trieben mich gleichmäßig – und als ich endlich, in tiefster Seele aufathmend, den Lichtschein aus dem alten Gemäuer des Hospitiums erblickte, war mir's, als hätt' ich kaum eine Stunde gebraucht für das Hinaufsteigen.

Noch waren viele Fenster erhellt, das Kloster wiederhallte noch von kriegerischem Leben, und seine ganze Umgebung schien verändert. Verschläge, Schuppen und hölzerne Stallungen, die man in der Eile aufgeführt, Gepäckwagen, Pulverkarren, Kanonen durcheinander, daß ich mich durch dieses Labyrinth von Rädern und Fuhrwerk nur mühsam zur gewohnten Pforte hindurchfand. Die aufgestellten Posten, obwohl bis an die Zähne verhüllt, zitterten und fluchten über die eisige Nacht auf der Alpenhöhe, und stampften mit den Füßen den Schnee, um sich vor Erstarrung zu wahren. Sie mochten mich für ein unheimliches Nachtgespenst halten, und schraken zurück, als ich ihnen, zugleich mit einer sausend auffegenden Schneewelle, entgegentrat und Einlaß verlangte.

Ich war noch sehr bekannt in diesen Räumen, und da das gesammte Klosterpersonal in dieser Nacht wach blieb, war ich auf die Nachricht von meiner Ankunft bald von den Freunden umgeben. Doch ich hatte nicht Zeit, mein ungewöhnliches Erscheinen zu erklären, ich mußte eilen, mein Gesuch anzubringen. Man wies mich an einen Offizier, dieser wieder an einen anderen, höheren, und dieser, nachdem ich ihm nur kurz die Dringlichkeit meines Anliegens ausgedrückt hatte, hieß mich ihm in das Refektorium folgen.

Napoleon – oder vielmehr der Konsul Bonaparte, wie er damals noch hieß – saß in dieser nächtlichen Stunde mit einigen seiner Generale noch schlaflos zusammen, über die Karte von Italien gebeugt, in ernster Gedankenarbeit die Ereignisse der nächsten Tage vorausbildend.

Er sah auf, als ihm der späte Bittsteller gemeldet wurde, und empfing mein Beglaubigungsschreiben ohne eine Miene zu ändern. Ich starrte forschend, erwartend, betend in tiefster Seele, in sein Gesicht. Ich werde dieses Antlitz niemals vergessen. Es hatte noch nicht die Fülle der späteren Jahre. Die blassen, noch schmalen, eher etwas tief gesenkten Wangen sprachen von schlummerlosen, unter Plänen und werdenden Entschlüssen herangewachten Mitternächten; der schmale, feine Mund mit der kaum sichtbaren Unterlippe deutete auf energisches, eigenwilliges, schreckenloses Durchsetzen des einmal Beschlossenen. Die Augen aber waren nicht die des werdenden Weltgebieters. Sie lagen wie unter einem Schleier, traumhaft bedeckt, wie in sich selbst zurückschauend, und als sie sich jetzt erhoben und zu mir herüberblickten, war es in ihnen nur wie das erste Wetterleuchten künftiger vernichtender Blitze. Er winkte mir, näher zu treten.

»Erzählt mir Eure Sache!« begann er. »Aber kurz, denn Ihr selbst habt weniger Zeit dabei zu verlieren als ich.«

Ich war sehr erschöpft, ich gesteh' es, und meine ersten Worte geriethen mir so verworren, daß mich eine Angst überfiel und mir die Stimme stockte.

»Einen Stuhl für den Mann!« sagte der Konsul. »Er hat einen Marsch gemacht, den wir ihm nicht nachmachen. Erholt Euch erst, Herr Pfarrer.«

Ich sank auf den mir bereiten Sessel und nahm das Glas gewärmten Weines, das man mir brachte, dankbar an. Inzwischen sah ich, wie Bonaparte mit einem der Generale über mein Handschreiben konferirte, und wie der Letztere Feder und Papier ergriff und etwas aufzusetzen schien. Es wird die Begnadigung Adrians! frohlockte es in mir, und ich war schon wieder gestärkt. –

»Nun, St. Blanquart? So heißt Ihr ja wohl?« begann der Konsul nach kurzer Pause. »Seid Ihr jetzt so weit?«

Ich begann meinen Vortrag, kurz, knapp, nur in den Hauptzügen, ohne doch etwas zu verabsäumen, was die Unschuld Adrians überzeugend darzulegen vermochte. Ich hatte, wie ich wohl bemerkte, in dem hohen kriegerischen Kreise eine aufmerksame Zuhörerschaft, und dies erwärmte und beflügelte meinen Eifer.

Als ich geendet hatte, begann der Konsul:

»Ihr habt mir eine merkwürdige Geschichte erzählt, Herr Pfarrer. Von Euren Lippen klingt sie wahrhaft. Es ist nur schlimm, daß Ihr mir den eigentlichen Mörder nicht stellen könnt, der mir einen Soldaten erstochen hat. Indessen findet auch der, wie ich höre, in Euch einen Anwalt. Er ist, wie Ihr meint, von den drei Brüdern der Unglücklichste – gut, ich will annehmen, daß Ihr, St. Blanquart, in diesem Falle der kompetenteste Richter seid. Das Urtheil über den – wie hieß er? – Adrian Turgot, soll niedergeschlagen werden, die Sache sei erledigt.«

Er nahm die von einem der Offiziere ausgefertigte Schrift und setzte seinen Namen darunter.

»Da, nehmt!« fuhr er fort, indem er mir das Papier reichte, »das wird Euren Freund befreien.«

Ich flog auf ihn zu, ergriff nicht nur den Brief, sondern auch die Hand, die ihn mir reichte, und drückte in überwältigender Freude heiße Küsse darauf. Ja, ich habe sie geküßt, diese Hand! Sie hat später tiefe Wunden geschlagen, hat vernichtet und viel gewaltiges Unrecht gethan, sie hat wie die Eisenhand einer unerbittlichen Schicksalsmacht auf der Welt schwer gelastet – ach! mir war sie damals eine Segenshand, die Hand eines erlösenden Retters!

Der Konsul suchte sie mir zu entziehen und fuhr fort:

»Versäumt Euch nicht länger! Ihr müßt fort. Ihr habt freilich einen bösen Weg, und es stürmt heftig. Aber ich mag solche Leute gern, für deren Willen es kein Hinderniß giebt. Lebt wohl, und alles Glück auf Eure Heimwanderung!«

Ich stotterte meinen Dank, barg das inhaltschwere Papier auf der Brust, und eilte hinaus. Nicht eine Minute wollte ich länger verlieren, und lief durch die Gänge des Klosters, ohne einen meiner Freunde weiter zu sehen, dem Ausgang zu. Es war, als ob der Nachtsturm meinen Weg begünstigte, denn hinter mir her sauste er, schob, trieb, jagte er mich abwärts, daß ich, fast getragen von seinen Schneeflügeln, der Felsenschlucht entgegen flog. Wohl hatte er hier hohe, weiße Hügel zusammengehäuft, die durchwatet werden mußten, und um die Felsenspalten wimmerten, zischelten, fröstelten versprengte Windeswellen, wie in Aengsten nach einem Ausgang suchend, und zerrten mich am Mantel, und rißen meinen Hut mit sich fort, ihn hoch in die Lüfte schleudernd – dennoch setzte ich meinen Weg fort, bis zum Felsenthor des Engpasses.

Da aber plötzlich stieg und bäumte sich's auf wie eine aus den Untiefen himmelan geschleuderte Sturmlawine und stellte sich mir entgegen und schien mit Donnerstimme zu rufen: Bis hieher und nicht weiter! –

Ich mußte mich umwenden, nach Athem suchen, in die Kniee sinken, denn ich hielt mich vor diesem Anprall nicht auf den Füßen, und über mich hinweg ging die Gewalt der rasenden Winde, mich mit einer Last von Schnee bedeckend. In der Besorgniß, ganz verschüttet zu werden, erhob ich mich mühsam, die Hülle trockenen Schnees abschüttelnd, und versuchte weiter vorzudringen. Jeder Schritt mußte erkämpft werden. Eine Vernichtungsschlacht schien zwischen Höhen und Tiefen um mich geliefert zu werden.

Von den kalten Eisfirnen kam es wie mit Hohngelächter auf weißen Luftlawinenrossen daher geschnaubt, das wilde Riesenheer packte die granitnen Rippen des Urgebirgs und schleuderte, was nicht Widerstand leistete, mit Donnerskrachen in die Schluchten, gefolgt von einem Strome von Schneestaub und prasselndem Geröll.

Drunten aber wiederhallte es wie von Schmerzgeheul, kam dann in tobender Wuth aufwärts gestiegen, näher, näher wie Rachegebrüll, flog plötzlich mit mächtigem Anlauf empor und theilte die wilde Schneejagd, daß sie wiehernd und schreiend nach allen Seiten auseinander stob.

Aber sie sammelte ihre Kräfte wieder, und droben und drunten erfaßten sich die unbändigen Alpengeister im Tumult der Lüfte, ringend und vernichtungswüthig, in allen Grundtönen dröhnend und mit jedem Aufschrei gellend, in allen elementaren Tonarten durcheinanderfahrend, jeden Mißlaut der lebendigen Schöpfung verhundertfacht nachahmend, wie Dämonenspottruf über jedes organische Leben, das sich aus seinen Thälern bis auf diese Gipfel wagte. –

Ich wanderte nicht mehr, ich tappte nur noch vorwärts. Wenn ich nur erst bis zum ersten Gebirgsdorfe gelangte, so dacht' ich, dann war mir die Heimkehr gesichert! Und doch dehnte sich's und dehnte sich's hin, und eine Angst überfiel mich, ich könnt' es nicht erreichen! Seit einem Weltalter war dieser Gebirgspaß einmal wieder belebt von vielen Tausenden von Kriegern; sie waren oben im Hospitium, sie waren in allen Dörfern, Flecken, Städtchen, vom Gipfel bis zum Fuße des Passes vertheilt, sie konnten mir zu Hülfe kommen, aber sie schliefen, während ich einsam den nächtlichen Weg suchte, den sie auf ihrer Tagfahrt empor zogen. Aber, wenn immer halb verzweifelnd, ich hatte die heilige Pflicht, ans Ziel zu gelangen, und so mußt' ich vorwärts. Bald glitt ich und versank in Schneegruben, bald stürzte ich über glattgefegtes Felsgestein – ich preßte die Hand vor die Brust, um nur mein Kleinod, den Gnadenbrief, nicht zu verlieren.

Da, wie ein Blick um die Bergwand frei wird – schimmert es nicht auf durch den Nebel wie der Morgen? Der Tag graute schon, und ich war noch weit, weit ab vom Ziele! Da erfaßte mich eine Todesangst, die Kniee zitterten mir, ich konnte nicht von der Stelle und lehnte mich an den vorspringenden Felsenpfeiler. Und wenn der Tag anbricht, und ich treffe nicht ein in Orsières, so wird Adrian erschossen – erschossen, während ich mit der Rettungsbotschaft säumte! Das riß mich noch einmal auf.

Noch war der Schein wohl nicht das Morgengrauen, vielleicht des Mondes Versuch, durch die Nebelschichten zu dringen. Ich war wie gekräftigt durch diese Annahme, und konnte plötzlich aufrecht und mit sicheren Füßen zuschreiten. Mocht' es auch wieder finsterer um mich werden, der Schneestaub wie Millionen spitze Nadeln mir das Gesicht zerreißen und sich durch die Kleider einen Weg auf die nackte Haut suchen, ich schritt zu – um plötzlich, wie von einer Ohnmacht ergriffen, nieder zu fallen.

Ich konnte mich nicht erheben, Ermattung, tiefe Schläfrigkeit überkamen mich – ich wußte, das waren die Vorzeichen jener Erstarrung, des Todes durch den Schneefrost. Noch konnt' ich es denken, und tastete mit der Hand nach der Brust, wo der Brief des Konsuls lag, noch konnte ich alle Verzweiflung meiner Lage durchempfinden – dann begannen mir die Sinne zu schwinden. Einen Moment schienen sie wieder zu erwachen, mir war's, als vernähme ich Hundegebell – ein Hoffnungsschimmer durchdrang mich – dann wurde es bewußtlose Nacht in mir.

St. Blanquart schwieg einige Augenblicke, gleichsam erschöpft von der grauenvollen Erinnerung an jene Nacht, die ihm mit so lebhafter Deutlichkeit noch vor der Seele stand. Dann fuhr er fort:

Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich mich in meiner alten Zelle auf dem Hospitium. Dieses erkennen und einen ganzen Umkreis entsetzlicher Befürchtungen durchlaufen, war Eins. Ich war nicht nach Orsières gelangt, Adrian war erschossen worden! Schwach und dazu innerlich wie zerschmettert, fragte ich den Mönch, der mit freudigem Gesicht das wiederkehrende Leben in mir beobachtete und meine Hand in der seinen hielt:

»Freund, wie lange habe ich erstarrt gelegen?«

»Drei Tage lang! Aber nun willkommen wieder im Leben, St. Blanquart! Sprecht nicht viel ...«

»O mein Gott!« rief ich. »Und Adrian ist hin! Adrian, Adrian!«

»Hier bin ich!« rief eine wohlbekannte Stimme, wie himmlische Musik an mein Ohr, und Adrians Gesicht neigte sich über mich. Ich umschlang ihn, und fühlte seine Freudenthränen auf meinen Wangen und Händen.

»Wie kamst du frei?« fragte ich, nachdem ich die ärztliche Erlaubniß erhalten, mich mit ihm länger zu unterhalten. »Sprich, wie war es möglich, loszukommen, ohne den Gnadenbrief des Konsuls?«

»Nicht ohne diesen Gnadenbrief!« entgegnete Adrian. »Er wurde richtig überbracht.«

»Allein durch wen?«

»Durch – meinen Bruder Jacques.«

»Durch Jacques? Wie ist das möglich? Hat Jacques an deiner Statt den Tod erlitten?«

»Nein, St. Blanquart, mein armer Jacques lebt, er ist frei, er läßt Euch durch mich die treuen Hände küssen, und den heißesten Dank sagen – aber er ist nun schon fern von uns, und er will uns fern bleiben.«

»Doch wie gelangte jener Brief des Konsuls, den ich doch auf der Brust trug, an Jacques?«

»Jacques war es, der Euch im Schneesturm aufsuchte, Euch fand und – doch erlaubt,« unterbrach sich Adrian, »daß ich im Zusammenhang erzähle, damit es Euch deutlicher werde. In jener Nacht vor dem Einrücken der Franzosen flüchtete sich mein armer Bruder von uns und der Leiche unseres Etienne hinaus, und zwar denselben Weg vorauf, den seine so gehaßten Feinde nehmen wollten. Ein furchtbarer Plan brütete, wie er mir bei unserem Wiedersehen gestand, noch immer in seiner Seele. Er wollte den Konsul selbst ermorden, denn die schreckliche Stimmung, die seine Hand gegen Etienne mißleitet hatte, steigerte sich zu einem Rachegefühl, das nun vor nichts mehr zurückschreckte. Es war ein Wahnsinn, den er selbst bald genug einsah.

Er eilte seinem vermeintlichen Feinde nach dem Hospitium voraus, wo er unter den jüngeren Brüdern einen Bekannten hatte. Dieser, dem er vorspiegelte, daß er durch die Einquartierung um seine Wohnung in Orsières komme, fand sich bereit, ihn im Hause unterzubringen. Die Ausnahmezustände dieser Tage machten es möglich. So saß Jacques unter finsteren Gedanken in seinem Versteck und harrte der Ankunft Bonaparte's. Dieser traf am Abend des zweiten Tages ein.

In der Nacht wagt sich Jacques hervor. Da erfährt er, daß Ihr, St. Blanquart, bei dem Konsul gewesen, erfährt von meiner Verurtheilung, erfährt, daß Ihr mit dem Begnadigungsschreiben Bonaparte's den Rückweg genommen, er sieht in das Wüthen des nächtlichen Schneesturms hinaus, und im Nu sind seine Entschlüsse gewandelt. Nicht mehr denkt er an seinen Schreckensanschlag, er denkt nur noch daran, Euch sicher mit der Botschaft zu Hause, mich gerettet zu sehen.

Er läßt sich ein Klostergewand geben, weiß in Eile einige junge Maronniers aufzubieten und führt den Zug durch die Nacht. So findet er Euch, durchsucht Eure Kleider nach dem inhaltschweren Briefe und eilt mit seiner Beute bergabwärts, während Ihr selbst von den Klosterleuten nach dem Hospiz zurückgetragen werdet. Jacques kommt rechtzeitig an, wird in seiner Verkleidung von Niemand erkannt und meldet sich bei dem Commandeur. Er giebt sich für einen der Marronniers aus, und überreicht den Brief des Konsuls, da Ihr selbst, wie er sagt, durch Erschöpfung oben zurückgehalten wäret. Der Commandeur findet das nur zu glaublich, des Konsuls Handschreiben spricht unzweifelhaft, und so werde ich in der Frühe des Morgens heimlich entlassen. –

Noch wußt' ich nicht, welchem Umstand ich meine Befreiung zu verdanken hatte, da ergreift mich ein Mönch bei der Hand, reißt mich fort zu den noch schwarzen Trümmern unseres niedergebrannten Hauses, und hier, in der einzigen für Jacques sichern Umgebung des Orts, fühle ich mich von den Armen meines Bruders umschlungen. –

Den ganzen Tag über, der die letzten Züge des französischen Heeres in Orsières erblickte, saß Jacques hier versteckt. Er wollte nicht hinweg ohne eine Nachricht, was – aus Madelon geworden wäre.«

»Unseliges Kind! Wo blieb sie?«

»Ach, St. Blanquart! – Sie ist dahin! Wir fanden sie, aber – es war nur Madelons leblose Hülle!«

»Verschweige mir nichts!«

»Während Jacques kummervoll und in sich gebrochen zwischen Schutt und Trümmern saß, eilte ich nach dem Pfarrhause. Es stand leer, alle Thüren geöffnet, die Spuren der Einquartierung wüst umhergestreut in der sonst so saubern Wohnung. Von Madelon keine Spur. Ich fragte vergebens. Der Tag war noch verworren durch die immer nachrückenden Truppen, die folgende Nacht die unruhigste in unserem Städtchen. Ich verbrachte sie bei Jacques in seinem Versteck. Der nächste Morgen brachte endlich Ruhe, und unsere Mitbürger überblickten aufathmend und zugleich mit Erschöpfung die allgemeinen Spuren dreier wilder Tage, denen man so begeistert entgegengesehen hatte. –

All' mein Nachforschen nach Madelon war vergeblich, und ich mußt' es einstellen, denn es galt, die Leiche unseres Etienne zu Grabe zu tragen, und zwar unter großer Begleitung der Bewohner von Orsières. Spät Abends fand ich Jacques über das frische Grab gebeugt. –

Wir hatten die Hoffnung aufgegeben, Madelon wiederzufinden. Mit Sonnenaufgang des nächsten Tages begleitete ich Jacques aus der Stadt. Er wollte auf wenig betretenen Wegen über's Gebirg nach Italien, sich dort gegen die Franzosen anwerben lassen. Eine Stunde lang gingen wir zusammen. Wir standen an einem Wassersturz, welcher dröhnend in die Tiefe des Tobels hinunterschäumte. Da wird etwas Buntes am Rand sichtbar, und zu gleicher Zeit fahren unsere Hände danach, denn unsere Augen erkannten zu gut ein Halstüchlein, das Madelon oft getragen. Wir ahnten, warum wir es hier finden mußten, und blickten erschreckt umher und in die Tiefe. Wir fanden einen Weg hinunter, und hundert Schritte von dem Niederfall des Sturzbaches, zwischen Gestein und Wurzeln o Gott! St. Blanquart, sie war es, die wir vermißten! Sie war todt, sie hatte ihren Tod gesucht! Wir trugen sie hinauf, und brachten die Leiche nach einer nicht entfernten, niedrig gelegenen Almhütte. Laßt mich nicht sagen, was wir hier empfanden oder sprachen! Wir trennten uns an dieser Stätte. Jacques riß das seidene Tüchlein Madelons in zwei Theile, und gab mir die Hälfte. Dann umarmte er mich noch einmal und ging fort, vielleicht auf Nimmerwiedersehen.« –

Adrian barg sein Gesicht in den Händen, seine Thränen zu stillen. Dann schloß er:

»Ich holte noch an demselben Tage Madelons Leiche nach der Stadt ab und begrub sie neben Etienne.« –

Es folgte eine geraume Pause. Endlich nahm St. Blanquart die Rede auf:

»Es sind dreißig Jahre vergangen seit jenen Schreckenstagen. Sie lenkten den Strom gewaltiger Ereignisse verheerend über die Welt, sie brachten auch wieder Ordnung und Frieden, im großen wie im kleinen Leben.

Als ich mich von meiner Erschöpfung erholt hatte, kehrte ich mit Adrian in unser Städtchen zurück. Er blieb mein Freund bis zu seinem Lebensende. Wir suchten in Arbeit und Eifer für unsere Mitbürger unsere Herzen zu beruhigen und aufzurichten. Adrian wurde ein angesehener Mann unserer Gemeinde und lebte bis noch vor kurzer Zeit. Er starb unvermählt. Seine Güter vermachte er zur Hälfte seinem Gemeinwesen, zur Hälfte den hülfreichen Zwecken des Hospitiums. Noch bei seinen Lebzeiten wurde ich von meiner Pfarre ab und hierher in das Kloster zurückgerufen, wo er mich noch oft besuchte.

Seinen Bruder Jacques hat er nicht wiedergesehen, und auch ich hatte es nicht mehr erwartet. Und jetzt, nach dreißig Jahren, bringt das Geschick ihn noch einmal vor meine Augen – aber nicht den Lebenden, sondern seine Leiche. Denn der Verunglückte, den unsere Marronniers in dieser Nacht herausgebracht haben, ist Niemand anders als Jacques Turgot.

Man fand einen Brief an mich bei ihm (denn er hatte erfahren, daß ich noch lebe), einen Brief, den er, kundig der winterlichen Gefahren seines Weges, schrieb, und der seinen letzten Gruß an mich bringen sollte, wenn er selbst mich nicht erreichte.

Armer Jacques! Er hat keinen Frieden gefunden. Er ließ sich in Italien gegen Napoleon anwerben, er kämpfte in Spanien vergeblich gegen ihn, er schloß sich den tapfern Tyrolern an, er erlebte überall Niederlagen vor dem Gewaltigen. Aber er sah endlich auch ihn wanken, er zog mit den Heeren, die ihn besiegt hatten, in Paris ein. Wo es einen Kampf für die Unabhängigkeit gegen die Tyrannei gab, dahin wendete Jacques sich, um sein Leben zu einer ununterbrochenen Kette von Kriegsabenteuern zu machen. Und so haben ihn die jüngsten Jahre nochmals zum Mitgenossen der Italiener und Spanier, endlich der siegreichen Griechen gemacht.

Nun wollte er noch einmal heimkehren, die Stätte seiner Jugend wiedersehen, um unerkannt in einem verborgenen Alpenwinkel sein Leben im Kampfe mit der heimischen Natur abzuschließen. Er hat erreicht, was er wollte, und wenn er's anders erreicht, als er es vielleicht noch gehofft, so war ihm auch dieser Abschluß nichts Unvorbedachtes. Dieß ist die Geschichte meiner Freunde, der Brüder Turgot.«

Der Chorherr erhob sich langsam, reichte mir die Hand und verließ das Zimmer. Ich hörte den Schneesturm noch immer um die Fenster toben, ich hörte ihn die ganze Nacht, denn kein Schlaf kam über meine Augen. Noch vergingen zwei Tage, ehe die Dämonen der Lüfte sich ausgerast hatten.

Als am Morgen des nächsten endlich Ruhe über die schneebedeckten Felsenrücken einkehrte, rüstete ich mich zur Heimwanderung. Die Sonne brach plötzlich mit blendendem Glanz über die weiße Winterwelt des Hochgebirgs, und ich ging bergabwärts dem warmen Thal entgegen, wo ich den Frühling, den ich drunten verlassen, wiederfinden sollte. Noch lange hörte ich den Ton der Glocken von droben, unter deren Geläut Jacques Turgot von den Mönchen des Hospitiums zu Grabe getragen wurde.


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