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Das Eulenzeichen

Auf einer der höchsten Alpenstraßen, eingeschlossen von himmelhohen Granitmauern, mitten im Schneegestöber, standen zwei menschliche Gestalten von sonderbarem Aussehen, welche mit Aufmerksamkeit die nächste Felswand betrachteten und etwas daran zu suchen schienen. Der Mann trug einen Filzhut mit sehr breiter Krempe und hatte den Kragen seines langen Überziehrockes heraufgezogen, unbekümmert, daß die Strähnen seines grauen Haares hier und da hervorhingen und vom Winde zerzaust wurden. Erfüllte seine Tracht nichts von modischen Forderungen, so war die der weiblichen Gestalt neben ihm noch ungewöhnlicher und etwa ein Mittelding zwischen Soldatenmantel und Mönchsgewand zu nennen. Schlank und hoch aufgeschossen, hatte die Trägerin derselben die Kapuze über den Kopf gezogen, so dicht, daß von ihrem Gesicht kaum etwas zu erkennen war. Beide trugen ihr leichtes Reisegepäck an ledernen Riemen über die Schulter gehängt, und die verschiedenen Futterale, Kapseln und rätselhaften Gehäuse, welche noch selbständig um Hals und Gürtel befestigt hingen, dazu die langen Alpenstöcke, zeigten, daß sie alle Erfordernisse einer Fußwanderung kannten und darin geübt waren.

»Hier muß es aber doch sein! Es muß sich hier finden, sage ich!« rief der Mann, indem er unruhig an der Felswand hin und her lief und forschend hinaufblickte. Sie war von dem Schneegestöber von oben bis unten weiß überzogen und zeigte für ein gewöhnliches Auge nichts, was etwa besonders hätte auffallen können. »Wollen schon dahinter kommen!« fuhr der Mann fort. »Gib die Hacke her!« – Seine Begleiterin schnallte eine kleine Hacke von ihrem Gürtel ab, welche sie immer bei sich zu tragen schien, mit welcher der Mann die dünne Schneeschicht vom Felsen abzukratzen begann, so hoch sein Arm reichte. Die Brille fester setzend, näherte er sein Gesicht der Wand, hin und her gehend, prüfend, mit der Hand sogar den Unebenheiten des Gesteins nachfühlend. »Bindfaden!« rief er jetzt ungeduldiger, mit befehlendem Tone. Die Begleiterin reichte ihm aus ihrer Seitentasche ein Stück starker Hanfschnur und sah seinem Treiben gelassen zu. Er band die Hacke an seinen Stock fest und begann mit dadurch verlängerter Waffe an den höheren Breiten des Felsens schabend auf und nieder zu fahren. »Das Glas! Geschwind!« kommandierte er. Das Mädchen kramte ihm zu lange in der Tasche nach dem Binokel, er stampfte mit den Füßen, riß es ihr aus der Hand und blickte durch dasselbe hinauf, während der Schneewind die Wand schon wieder mit einem weißen Überzuge bedeckte. Seine Heftigkeit steigerte sich, da er nichts entdeckte, und richtete sich, um an etwas auszutoben, gegen seine Begleiterin. »Und du stehst teilnahmlos dabei,« rief er, »als läge gar nichts an der Sache, während es von der höchsten Wichtigkeit ist, daß ich entdecke –«

»Du weißt, Vater,« entgegnete das Mädchen, »daß ich –«

»Daß du eine törichte Person bist! Das weiß ich!« fuhr der Alte auf. »Deinen Einwand habe ich dir zehnmal widerlegt, und hier muß ich sie finden oder nirgends!«

Da erscholl ein jugendlicher Gesang in der Nähe. Die beiden Vermummten wendeten sich überrascht um, und sahen durch den Schleier des Schneewirbels eine dritte Gestalt deutlicher werden. Ein junger Mann von studentischem Aussehen, das Ränzel auf dem Rücken, das Hütchen tief herabgezogen, kam heran und beeilte seine Schritte, als er die beiden anderen erblickte. Er stutzte über die seltsamen Erscheinungen, und da er sich ihren Aufenthalt an dieser Stelle, noch weniger die wunderliche Hellebarde des Alten erklären konnte, fragte er, ob ein Unglück geschehen, ob er einen Dienst leisten könne?

»Einen Dienst vielleicht!« sagte der Alte. »Sie haben junge Beine, und ich unterstütze sie. Versuchen Sie auf den Vorsprung dort zu klimmen und schaben Sie mit diesem Instrument den Schnee von der Wand oben!«

Der junge Mann sah den Alten verwundert an. »Den Vorsprung zu ersteigen, ist eine Kleinigkeit, zu der ich keiner Unterstützung bedarf,« sagte er. »Aber was soll denn dort unter dem Schnee zutage kommen?«

»Eine Inschrift!« entgegnete der Mann mit Sicherheit. »Eine lateinische Inschrift, in den Felsen gehauen, als Cäsar mit der zweiundzwanzigsten Legion den Marsch über diesen Paß machte.«

Der Jüngling stutzte und betrachtete den Alten mit prüfenden Blicken. Dann entgegnete er ebenso sicher: »Warum nicht gar! Die zweiundzwanzigste Legion hat einen ganz anderen Weg genommen!«

Die Kapuze flog plötzlich von dem Kopfe des Mädchens ein wenig zurück, und ein Blick triumphierender Genugtuung schoß dem kühnen Sprecher entgegen. Zugleich betrachteten zwei ernste Augen mit Verwunderung denjenigen, der sich befähigt glaubte, in so ernster Angelegenheit mitzusprechen. Der Alte aber fuhr ärgerlich herum: »Naseweises Dreinreden!« rief er. »Die zweiundzwanzigste Legion ist diese Straße gegangen, hat sie sogar erst gebahnt, und zur Erinnerung an die gewaltige, siegreiche Arbeit ließ Cäsar die Inschrift in den Felsen hauen!« Der Alte fügte einige lateinische Zitate hinzu, welche seine Meinung unwiderleglich bestätigen sollten.

Der junge Bursch aber, herausgefordert, fuhr ihm mit einem nicht minder entschiedenen » Quod non!« in die Rede: »Sie ist nicht hier gegangen, sie konnte gar nicht hier gehen!« rief er. »Eine Römerstraße führte allerdings hin über den Moro, aber erst in späterer Zeit, und verfiel bald wieder. Die zweiundzwanzigste Legion betrat zuerst –« und er bezeichnete den Weg, welchen sie einzig genommen haben konnte.

»Falsch! Nimmermehr!« schrie der Alte und sprach lateinisch in langen Sätzen, welche historische Belegstellen für seine Behauptung enthielten.

Der Jüngling hörte aufmerksamer zu, das Hütchen von der hohen Stirn trotzig zurückgeschoben, mit luftgeröteten Wangen, großen sprechenden Augen, und plötzlich rief er: »Verwechselung der Schriftstellen! Was Sie zitieren, steht im so und so vielten Buche (er gab die Zahl genau an) und bezieht sich auf die zehnte Legion, die aber auch nicht hier marschiert ist. Der Passus über die zweiundzwanzigste lautet –« und nun begann er sein lateinisches Zitat mit schulfest akademischem Wissen und im Tone jugendlicher Bestimmtheit vorzutragen.

Diese gelehrte Unterhaltung wurde zwischen schroffen Felsenwänden und im dichtesten Schneetreiben geführt, welches die drei Gestalten bereits mit einer weißen Hülle bedeckt hatte. – Der Alte schlug sich plötzlich vor den Kopf, er hatte seinen Mann gefunden und mußte seinen Irrtum einsehen. Berührte ihn dies im ersten Augenblicke sehr unangenehm, so blieb doch die Erscheinung seines jungen Besiegers, der sich so keck vor ihm aufpflanzte, nicht ohne Eindruck auf ihn. Er kreuzte die Arme über der Brust, betrachtete ihn von oben bis unten und sagte: »Merkwürdig! Die da – er wies auf das Mädchen – behauptete auch, daß ich auf falscher Fährte sei. Beweisen konnte sie es freilich nicht.«

Ist die so gelehrt, dachte der junge Mann, indem er einen scheuen Blick auf das Mädchen richtete. Der Alte aber fuhr fort: »Ein gutes Zusammenfinden! Sie sind Philolog?« »Von philologischer Herkunft allerdings! Ich hoffe mich zum Historiker zu machen. Daß Sie mich so gut über Cäsars Legionen und die Alpenstraßen beschlagen finden, rührt daher, daß ich kürzlich eine Arbeit darüber gemacht, welche – er mochte nicht sagen, daß er einen Preis und ein Reisestipendium dafür gewonnen – nun, durch welche mir diese Dinge eben geläufig geworden sind. Glauben Sie nicht,« setzte er lachend hinzu, »daß ich auch über sonstige historische Heereszüge so genau berichten könnte!«

In diesem Augenblicke brach die Augustsonne mit einem blendenden Strahlenglanze durch das Schneetreiben, ließ es zerflattern und sog es auf, und goß hellere Farbentöne über die großartige Felseneinsamkeit. Nun erkannte man erst, wo man sich befand. Neben der zum Teil in das Gestein gesprengten Straße fiel senkrecht die Schlucht ab, in deren Tiefe der Gebirgsstrom brauste; gegenüber wieder Granitmauern, welche sich teilten. Eine Brücke, in einem einzigen kühn geschwungenen Bogen, führte den Weg durch das Seitental abwärts. Ein Schneehaupt im Sonnenglanz ragte in die blaue Luft, Matten und Sennhütten wurden sichtbar. Der junge Mann tat einen Jubelruf der Überraschung. »Wie schön! Wie herrlich!« rief er, indem er seinen Hut schwenkte, wie zur Begrüßung des glänzenden Landschaftsbildes. »Sehen Sie dort! Ein Adler schwebt durch die Luft! Möchte man nicht mit ihm fliegen durch all die unendliche Schönheit!«

Das Mädchen hatte die Blicke ohne große Teilnahme dem geöffneten Bilde zugewendet, richtete sie aber schnell auf den jungen Mann, um sie mit Verwunderung auf ihm verweilen zu lassen. Es war, als befremdete es sie, daß man an einer Landschaft so viel Schönes erblicken, oder mehr noch, daß jemand seiner Freude einen so unbefangenen und lebhaften Ausdruck geben könne. Er machte sie noch auf diese oder jene Einzelheit aufmerksam. Sie sah hin, blickte aber wieder in sein Gesicht, als hätte sie das, was sie in der Ferne beschauen sollte, eigentlich in seinen Zügen zu finden. Sie sagte kaum ein Wort, aber es ging etwas wie Überraschung durch ihre Mienen. Sie wendete sich ab und schob die Kapuze vollends zurück. Ihr Kopf erschien mit kurzgeschorenem Haupthaar, das Gesicht gar nicht schön, von blasser Farbe, mit einer scharf gekrümmten Nase und großen, etwas unheimlich blickenden Augen. – Der Alte aber betrachtete die Landschaft noch flüchtiger, mit um so größerem Anteil den in Kraft und Jugendglanz vor ihm stehenden Burschen, der halb kindlich, halb männlich selbstbewußt Rede und Antwort gab auf die ihm gestellten Fragen und die Reisegesellschaft willkommen zu heißen schien. Denn es stellte sich heraus, daß sie zunächst das gleiche Ziel hatten.

Die Sonne, fast auf der Mittagshöhe stehend, hatte den Schnee von den Kleidern der Reisenden schnell Vertrieben und übernahm nun auch das Geschäft, die Gewänder selbst zu trocknen. Während man auf der langsam sich senkenden Straße gemeinsam fortschritt, stellte sich der junge Mann seinen Gefährten vor als Franz Holmar und gab ohne Umstände über seine Reise und über sein Leben Auskunft. Wenn er dabei einiges bescheiden überging, so ist das in Kürze hier zu vervollständigen. Da seine Eltern früh gestorben, war der unbemittelte Knabe in Waisenhäusern erzogen worden. Aber begabt und zum Fleiße gewöhnt, hatte er mit siebzehn Jahren die Universität bezogen, um sich mit Stipendien und Unterrichtsstunden weiterzuhelfen. Mit einundzwanzig Jahren hatte er seine große Prüfung bereits bestanden, sogar eine Preisaufgabe gelöst, welche ihm die Mittel bot, zum erstenmal eine Reise zu machen. Er kam aus Oberitalien, war auf dem Heimwege durch die Schweiz, und zwar in dem Vollgefühle seiner Freiheit und mit reiner Empfänglichkeit für alles Schöne, das ihm um so schöner erschien, als ihm alles neu war.

Das Mädchen ging, während er redete und sich mit lustigen Bemerkungen oft selbst unterbrach, schweigend neben ihrem Vater her, nur selten, und immer scheuer, einen Blick auf den Erzähler wendend. Der Alte stellte sich dem Wandergefährten denn auch vor als Herrn Pistorius mit seiner Tochter Adelheid, fügte aber sonst nichts über seinen Stand und seine Lebensstellung hinzu. So muß die Geschichte selbst über ihn berichten.

Herr Pistorius war Gutsbesitzer, ohne etwas von Landwirtschaft zu verstehen oder sich darum bekümmern zu wollen. Von einem älteren Bruder, welcher früh starb, erbte er das Gut und ein sehr ansehnliches Vermögen zu einer Zeit, da er noch in seinen akademischen Studien war. Schon damals eine ungewöhnliche Sonderlingsnatur, setzte er seine Studien nun auf eigene Weise fort, und man sagte, daß es für ihn ein Glück sei, nicht für sich sorgen zu müssen, da er, wenn auch gelehrt, bei seiner Fahrigkeit und seinem konfusen Wesen es doch nie zu etwas gebracht haben würde. Das Gut verkaufte er und siedelte sich in einer Universitätsstadt an, um immer eine große Bibliothek zur Verfügung zu haben. Seine Grillen und Wunderlichkeiten wuchsen mit der Zeit und brachten ihn in den Leumund eines überstudierten oder halb verrückten Gelehrten. Aber da er reich war, fand er, obgleich in schon vorgerückten Jahren, auch eine Frau, die es mit ihm wagte, für ihn sorgte, ihm eine Tochter gab und, nachdem sie es zehn Jahre mit ihm ausgehalten, ihn sterbend beschwor, das Kind gut zu erziehen. Der Witwer und völlig ungebundene Privatgelehrte benutzte nun sein Vermögen, um seine Tochter zu erziehen. Es geschah in sehr umständlicher Weise. Denn die Reisen, welche er mit ihr, die noch im Kindesalter stand, zu ihrer Belehrung machte, oft in die entlegensten Gegenden, galten meist nur seinen eigenen Forschungen und lieferten fast kein anderes Resultat, als daß er selbst nun an einem Orte gewesen, wo einmal etwas Historisches sich begeben hatte. Als er seiner Tochter die Geschichte Griechenlands vortrug, kam er plötzlich zu der Überzeugung, daß es am besten sei, ihr das Schlachtfeld von Marathon selbst zu zeigen. Daß sich daran auch Thermopylä und Salamis schließen mußte, verstand sich dann von selbst. So wurde aufgepackt und nach Griechenland gereist, mit einem kleinen Koffer voll griechischer Autoren und möglichst geringem Handgepäck. Bei Gelegenheit von Cäsars Ermordung sprang ihm die Notwendigkeit in die Augen, mit seiner Tochter das Kapitol selbst zu untersuchen. Und als er sie in einem Buchladen, wo er sich lange verweilte, in Ossians Gefangen blätternd fand, leuchtete ihm ein, daß nicht nur die schottischen Hochlande zu betrachten, sondern auch die uralten Steingräber und stonehenges bei Salisbury und sonst, genauer zu durchforschen wären. So war Adelheid, welche ihr siebzehntes Lebensjahr noch nicht erreicht hatte, bereits in Griechenland und dem Orient, in Italien öfter, in England und Frankreich gewesen, um überall unterrichtet und erzogen, und zwar eigentlich nur zu einem bequemen Handwerkszeug ihres Vaters ausgebildet zu werden. Sie war im Lateinischen fester als mancher philologische Student, hatte mehr römische Historiker gelesen als deutsche; denn der Vater brauchte sie zum Bescheidwissen und raschen Nachschlagen, da er zu fahrig und ungeduldig war, um es selbst mit Glück zu tun. Er diktierte lieber, als er schrieb, und so brauchte er ihre Handschrift. Er wollte stets hundertfach bedient sein, und so wäre er ohne sie ein verlorener Mann gewesen. Für die gelehrte Ausbildung, welche Adelheid empfangen, und zwar immer auf Reisen, immer unstet, hatte sie aber alles opfern müssen, was sonst das Leben schön macht. Ohne Haus und Heimat, ohne Mädchenjugend, ohne weiblichen Verkehr, allen weiblichen Tätigkeiten und Neigungen gewaltsam entfremdet, führte sie in ihren blühendsten Jahren ein freudloses Dasein. Freilich kannte sie kein anderes. Obgleich immer auf den Sammelplätzen der großen Welt und unter vielen Menschen, hatte sie doch weder Welt noch Menschenkenntnis erlangt; da sie niemals in eigentlichem Verkehr gewesen, war sie ein Fremdling in den Kreisen des Lebens geblieben. Mußte sie sich doch sogar in ihrer Kleidung von allem entfernen, was man Mode oder gar kleidsame Tracht nennt, denn der Vater dachte sich selbst Reisegewänder für sie aus, die sie unbedingt anzulegen hatte. Mochten sie gegen Regen, Sturm und Hagel recht zweckmäßig eingerichtet sein, so waren sie selten angenehm, oft nicht einmal bequem zu tragen; denn was bei Hagelschlag und Schneesturm sich wohl eignete, war bei Staub und Hitze nicht immer gleich erträglich. Aber Adelheid kannte die Tyrannei des Vaters, sie wußte, daß dagegen nicht aufzukommen sei, und gewöhnte sich, unter Frauen eine Ausnahmestellung oder vielmehr eine Mittelstellung zwischen Mann und Frau einzunehmen. Daß sie nicht hübsch sei, wußte sie auch, denn alle Eitelkeit hatte die Erziehung ihr ausgetrieben. Gleichwohl war sie mit ihren großen ausdrucksvollen Zügen nicht eigentlich häßlich zu nennen. Erschien sie durch eine innere Anregung plötzlich belebt, dann konnte sie auffallen, ja verblüffen, daß man nicht zu sagen wußte, ob man sie für schön oder für unschön halten sollte, ihr Gesicht aber für geistvoll erklären mußte. Aber es war immer nur ein flüchtiges Aufleuchten, und wenn sie in ihr gewöhnliches düster beschattetes und brütendes Wesen zurückfiel, sah sie aus, als wollte sie nicht nur niemand gefallen, sondern als habe sie geradezu die Absicht, zu mißfallen und zurückzustoßen. Aber für das große Opfer an Jugend und Lebensfreuden war ihr doch hin und wieder eine Entschädigung geworden. Manches hatte sie sich an Kenntnissen erworben, meist neben dem zerstreuten Wesen des Vaters, der, wenn er in Büchern stöbernd von irgend einer Schrulle besessen war, auf sie nicht acht gab. Hauptsächlich aber empfing sie vielfache Anregung durch Anknüpfung mit wissenschaftlichen Berühmtheiten in ganz Europa. Denn Herr Pistorius unterließ nicht, sich überall den bedeutendsten Männern vorzustellen. Und diese, wenn sie vielleicht über den gelehrten Sonderling den Kopf schüttelten, gewannen Teilnahme für das merkwürdige junge Geschöpf an seiner Seite, und unterhielten sich gern mit dem halb geweckten, halb innerlich gedrückten und lebensscheuen Mädchen.

Heut' aber und in dieser Stunde, da sie mit den Männern zu Tale schritt, hatte Adelheid die grauesten Schatten über ihre Mienen gezogen; sie blickte kaum noch auf, aber ihr Gehör lauschte aufmerksam der klangvollen Stimme, welche munter plaudernd die Unterhaltung fortführte. Holmar war eigentlich der erste junge Mann, den sie in so unmittelbarer Nähe gesehen, mit dem sie sogar gesprochen hatte. Und dieser Jüngling, der das Leben von früh auf auch als einen Druck empfunden hatte, der jetzt auf gleichem gelehrten Gebiet mit dem Vater und ihr selbst verkehren konnte, der war jugendlich, lebensprühend und fröhlich, der hatte ein Aussehen – gar nicht wie andere, der lachte und scherzte zwischen Gesprächen über holländische und deutsche Ausgaben des Cicero und Horaz und trieb allerlei kleine Possen, als wären ihm Gelehrsamkeit und Druck des Lebens die gleichgültigsten Dinge von der Welt!

In ganz anderer Stimmung aber war Herr Pistorius. Während ihm sonst jeder, mit dem er unterwegs anknüpfte, nach fünf Minuten davonlief und seine Unterhaltung und Gesellschaft zu meiden suchte, fand er in Holmar einen jungen Gelehrten, der sich geistig ganz ebenbürtig mit ihm unterhielt und bereits eine Stunde mit ihm ausgehalten hatte. Das stimmte ihn glücklich. Gegensätze traten im Gespräch hervor, man stritt hartnäckig; das erhöhte nur die gute Stimmung. Sprang Holmar einmal ab, um zu scherzen, so ließ der andere dies nicht nur der Jugend hingehen, sondern lachte laut auf, was Adelheid noch nie von ihrem Vater gehört hatte. Immer ließ Holmar doch wieder auf gelehrte Dinge zurück sich locken und in neuen Eifer bringen.

Endlich war man am Ziel, einem kleinem Orte in dem herrlichsten Alpentale, von Reisenden um diese Zeit meist überfüllt. Holmar verbarg sein Entzücken nicht und konnte nicht umhin, all der neuen Schönheit laut entgegenzusingen. Da die Wanderer zeitig eintrafen, fanden sie im Gasthofe ohne Schwierigkeit ein Unterkommen für die Nacht, und für die späte Speisestunde, die man hier hielt, auch noch Plätze an der Tafel. Da sie nicht darauf eingerichtet waren, die Kleidung zu wechseln, nahmen sie Platz, wie sie eben ankamen. Fiel das hier, wo man in den wunderlichsten Reiseanzügen durcheinander saß, nicht eben auf, so waren es doch die Persönlichkeiten, welche die Beobachtung vieler anzogen. Der Mann mit dem lang herabfallenden grauen Haar, dem starken, fast die Brust bedeckenden Barte, die in schwarzes Horn gefaßte Brille auf der Nase; neben ihm das Mädchen in ihrer schwer zu beschreibenden Manteltracht, das kurz geschorene Haupt erhoben und teilnahmlos wie über das Gewöhnlichste die Blicke auf die Gesellschaft richtend; dazu die prächtige Erscheinung des jungen Burschen, der sich überall durch Neues angeregt fühlte, lebhaft umherblickte und sich mit seiner Nachbarin munter zu unterhalten suchte; man hielt das Dreiblatt für zusammengehörig, für eine Familie, und wunderte sich doch über ihre auffallende Verschiedenartigkeit. Adelheid, die selten wo anders als an einem öffentlichen Wirtshaustische gespeist hatte, fühlte sich weder durch beobachtende Blicke noch durch auf sie gerichtete Augengläser mehr beeinträchtigt. Sie verstand sogar solche Blicke auszuhalten und mit scheinbar starrem Trotze zu erwidern, so daß der Beobachter die Augen eher abwendete als sie die ihren, und doch hatte sie kaum ein Bewußtsein davon. Die Menge der Menschen in solchen Stunden war ihr das Alltägliche, der einzelne darin für ihre Teilnahme nicht bedeutender als der Kleiderständer oder der Kellner, welcher sie bediente. Anders war es heute, da sie einen Tischnachbar hatte, der sich um sie bekümmerte. Zwar gesprächig wurde sie auch nicht, sie gab nur kurze Antwort, aber doch so, daß er verstand, wie sie auf die Unterhaltung einging und sich weder in der guten Laune noch im Gespräch gestört zu fühlen brauchte.

Die beiden jungen Leute waren sich darin um so mehr überlassen, als Herr Pistorius auch seinerseits einen Nachbar gefunden hatte, den er zu fesseln wußte. Er sprach Englisch mit ihm, da derselbe der deutschen Sprache nicht mächtig war. Dieser Nachbar stellte sich als ein Professor der Universität zu Edinburg heraus und schien auch ein auf gelehrtem Boden recht eigenartig gediehenes Geschöpf Gottes. Die Gelehrsamkeit bringt nicht nur in Deutschland, sondern auch bei den verwandten germanischen Nationen und ebenso in Frankreich und Italien menschliche Spielarten hervor, deren Vertreter meist eine gewisse Fühlung zueinander haben. Ob sie einander ergreifen oder abstoßen, das hängt oft nur von der Form der ersten Prüfung ab. Zwischen Herrn Pistorius und dem schottischen Original schienen die ersten Minuten für die Annäherung günstig zu sein. Beim Nachtisch waren sie in die Unterhaltung fest verflochten, und als man sich erhob, begaben sie sich in das Lesezimmer, um das angesponnene Thema weiter durchzusprechen.

Holmar und Adelheid gingen vor die Tür und setzten sich unter die Nußbäume. Dem jungen Mädchen fiel plötzlich eine Ode des Horaz ein, deren Anfang ihr auf die Lippen trat. Holmar fuhr darin fort, zum Zeichen philologischen Entgegenkommens. Und nun gerieten sie auf ein Unterhaltungsspiel, wie es im Angesicht der Eisgebirge von Reisenden selten getrieben werden mag. Sie prüften einander gleichsam auf Horazische Oden, indem eins dem anderen den Anfang irgend einer Strophe hinwarf und zur Fortsetzung aufforderte. Zehn Minuten lang wurde das Spiel mit aufregendem Eifer fortgesetzt, dann aber hielt es der junge Mann nicht mehr aus. »Nein, das ist zu toll!« rief er, indem er lachend aufsprang. »Sind wir in die Alpen gegangen, um mit dem alten ledernen Römer Fangball zu spielen? Kommen Sie mit, wenn Sie nicht zu müde sind! Von der Anhöhe dort muß die Aussicht auf das Tal wundervoll sein. Den alten Herrn lassen wir unten, er könnte den steilen Weg doch nicht zurücklegen. Ich will ihm sagen, daß wir allein gehen.«

Adelheid zögerte einen Augenblick, dann entgegnete sie: »Er geht mit. Er ist sehr rüstig,« Sie gab diesen Worten eine Betonung, aus der etwas wie Bitterkeit hervorklang. »Ich will ihn fragen!« fuhr sie schnell fort und ging nach dem Lesezimmer. Hier fand sie den Vater mit dem schottischen Herrn im Gespräch über normannische und angelsächsische Einwanderung so ineinander geraten wie Seekrebse, die sich mit Scheren und Ruderfüßen für den Augenblick unlösbar verwickelt haben. Kaum konnte sie die Worte dazwischen werfen: »Herr Holmar will mich nach einem Aussichtspunkte begleiten –.« Der Alte nickte nur und machte eine Handbewegung, ohne sich in der Rede zu unterbrechen; und Adelheid in rascher Überlegung, daß der schottische Herr möglicherweise in fünf Minuten davongehen könne, beeilte sich, ihrerseits die Füße zu brauchen und das Zimmer zu verlassen. Es war ein eigentümlicher Vorgang in ihr, ein Erwachen zum Parteinehmen für einen eigenen Wunsch, ein erstes geplantes Entschlüpfen aus der Macht eines fremden Willens. – »Gehen wir?« fragte Holmar, als er sie erregt zurückkommen sah. Sie nickte und eilte ihm fast voraus, die Straße unter den Nußbäumen entlang. Ihr war zumut wie einem Kinde, das davonläuft, um nicht sobald eingefangen zu werden, und es war ein wohliges Gefühl, einmal etwas zu wagen. – Der Weg ging eine halbe Stunde ansteigend, gegen das Ende wurde er steil und beschwerlich. Holmar wollte ihr an einigen Stellen die Hand reichen, sie unterstützen. Sie lehnte es ab, aber es freute sie, daß sich jemand aufmerksam gegen sie bezeigte. Sie war auch darin unverwöhnt. Auf der Platte des Vorsprungs angelangt, ließen sie sich auf Rasen und Moos nieder. Holmar mußte bei all der Naturschönheit, die ihn überraschte, seiner Freude Worte geben. Adelheid hatte dergleichen Landschaften viel gesehen, war aber nie von jemand aufmerksam gemacht worden, worin das Schöne liege, wie die Einzelnheiten sich zum Ganzen verhielten, welchen Wert Farbe und Luftstimmung brachten. Sie war darin unentwickelt wie ein Kind, dessen Auge noch nicht gelernt hat, die Natur zu sehen. Ihr junger Gefährte, ohne Absicht, etwas zu erklären oder sie zu belehren, setzte bei ihr den gleichen Genuß voraus, sie aber hörte von ihm Bezeichnungen, Bemerkungen, die sie wie Winke überraschten. Ihr Auge wurde gleichsam weiter und tiefer, schärfte sich und blickte forschender auf das, was ihm gefiel.

Plötzlich rief Holmar: »Da sind Alpenrosen! Die hol' ich!« Sie sah ihn davonspringen, einen Felsen erklettern und, auf schroffer Kante sich höher wagend, die Hand ausstrecken, um die Blumen zu erreichen. Das Herankommen schien schwieriger und gefährlicher. Ihr wurde bange, als sie ihn gleiten, rutschen sah – aber sie sagte nichts und verfolgte seinen Weg mit gespannten Blicken. Endlich tat er einen herzhaften Sprung und kam heil unten an. Mit gerötetem Gesicht und etwas verschobenen Kleidern überreichte er ihr den Strauß Alpenrosen. Adelheids Gesicht wurde von einer etwas lebhafteren Farbe überflogen, denn eine ganz unbekannte Genugtuung überraschte sie. Es hatte ihr jemand nicht ohne Gefahr einen Strauß vom Felsen geholt – ihr, dieser Adelheid Pistorius, der noch niemals Blumen geschenkt worden waren! Und das war nun ihr Eigentum, sie hielt es in der Hand, und es bewegte sie trotz der Freude in einer Weise, daß sie die Augen niederhalten mußte, denn sie fühlte, daß sie feucht wurden. – Holmar, der nichts davon gewahr wurde, ließ sich auf das Moos nieder, zog etwas aus der Tasche und sah sie lächelnd an. »Eins könnten Sie mir zur Belohnung erlauben!« begann er. »Darf ich eine Zigarre anzünden?« Adelheid gab nickend ihre Zustimmung. Ihr Vater rauchte nicht, und sie hatte niemals auf das Rauchen der Männer acht gegeben. Aber als sie jetzt zusah, wie Holmar seine Zigarre anzündete und die ersten Züge tat, fand sie, daß das Rauchen unter Umständen doch eine recht kleidsame Beschäftigung sei.

Das Gespräch lockerte sich ein wenig, und Holmar summte ab und zu ein Stück Melodie vor sich hin. »Singen Sie etwas!« sagte Adelheid. – »Wenn Sie große Musik gewöhnt sind,« entgegnete er munter, »dann fordern Sie mich lieber nicht auf.« – »Ich kenne fast gar keine Musik!« gab sie zurück. »Singen Sie das weiter, was Sie eben anfingen!« Es war ein einfaches Volkslied, und Holmar ließ es unbefangen und ohne Kunst bis zur letzten Strophe in die Weite klingen. Adelheid sah schweigend hinaus und blieb in regungslosem Schweigen, als er geendet hatte. Nach einer Weile begann er: »Sie sagen, daß Sie fast gar keine Musik kennen, und sind doch so weit in der Welt umher gewesen. Sie deuteten im Gespräch an, daß Sie in Paris waren, in Rom, Neapel, London. Haben Sie da niemals Musik gehört? Keine Oper? Kein Konzert?« Adelheid schüttelte den Kopf. »Immer nur auf der Flucht?« fuhr er fort. »Wie muß ich mir überhaupt Ihr Leben denken? Ich habe Ihnen von meinem einfachen Lebensgange gleich ehrlich Rechenschaft gegeben – ich will zwar nicht unbescheiden sein, aber ein bißchen könnten Sie mir von dem Ihrigen wohl mitteilen.«

Adelheid zögerte, plötzlich aber faßte sie sich ein Herz. Und so erzählte sie ihm, nur in den äußersten Umrissen, von ihrer Erziehung, ihren Studien und dem Leben mit dem Vater. Holmar geriet in Erstaunen. Ohne daß sie eine eigentliche Unbefriedigung ihres Daseins aussprach, erkannte er es doch als ein freudloses, und die innerlich verkümmerte Natur des Mädchens wurde ihm klar. Ein tiefes Mitleid erfüllte ihn, zugleich mit heftigem Groll gegen den Mann, der ihr eine Entwickelung wider alle Regel und menschliche Ordnung aufgedrungen hatte. Aber er scheute sich noch, seine Erregung in Worte zu sammeln, und blieb schweigend neben ihr sitzen. Da sprang Adelheid erschreckt auf. »Die Sonne ist untergegangen!« rief sie. »Wir haben noch ein Stück Weges. Der Vater wird längst ungeduldig sein!«

Holmar war beim Herabsteigen ernster, aber nur noch ritterlicher und zuvorkommender gegen seine Begleiterin. Auf gesenkter Straße kamen sie schneller nach dem Gasthofe, als sie erwartet hatten. Der Abend war nach Sonnenuntergang sehr kühl geworden, die Reisenden saßen im Saal in noch lebhaften Gruppen bei der Lampe. Die Ankömmlinge sahen Herrn Pistorius in eifrigem Gespräch – aber nicht mehr mit dem gelehrten Schotten, sondern mit zwei Herren, welche kaum etwas anderes als deutsche Gymnasiallehrer auf der Ferienreise sein konnten. Sie waren des Gespräches überdrüssig, machten sich augenscheinlich über ihn lustig, und eben kam der Augenblick, da sie aufbrachen, um ihn allein sitzen zu lassen, als Adelheid und Holmar zu ihm traten. Er zeigte keinen üblen Humor über ihr längeres Ausbleiben, denn er hatte sich nach seiner Art gut unterhalten und sah nun mit Vergnügen den jungen Mann wieder vor sich, mit dem er seine Redelust weiter üben konnte. Aber er sollte erfahren, daß er auch über diesen nicht so ganz verfügen könne. Denn Holmar, der sich bereits ein annähernd richtiges Urteil über Herrn Pistorius gebildet hatte, wollte dem Egoismus und den tyrannischen Launen des Mannes nicht dienen. Adelheid mußte müde sein, und eigentlich war es Holmar auch. So erklärte er denn die Gespräche für heute beendigt und verlangte Rücksicht für die junge Dame, die nach den Anstrengungen des Tages der Ruhe bedürfe. Der Alte ließ sich bedeuten, und man trennte sich. Holmar, um einer Nacht gesunden Schlafes ohne Träume entgegenzugehen; nicht so Adelheid. Sie hatte in den Stunden eines halben Tages innerlich mehr erlebt als in einem halben Leben. Noch ging es wie Erstaunen über ein Unbegreifliches durch ihre Seele, daß sie Vertrauen um Vertrauen mit einem Fremden getauscht hatte – aber er war ihr schon kein Fremder mehr. Im Halbschlaf, in huschenden Träumen gingen die Erlebnisse nochmals an ihr vorüber – dann sah sie ihn plötzlich springen, in den Abgrund stürzen, und fuhr entsetzt auf. Oder sie sah ihn im Schneegestöber verschwinden, wollte ihm nachrufen, aber die Stimme versagte ihr, und angstgepeinigt rang sie dem Erwachen entgegen. Als aber die innere Erregung nachließ, und sie gegen Morgen einige Stunden beruhigten Schlafes gefunden, atmete sie dem Sonnenschein des Tages erquickt entgegen, erfüllt von der Hoffnung, daß das gestern Erlebte sich heute freudebringend fortsetzen werde.

Holmar war beizeiten auf den Beinen und spazierte mit Ränzel und Stab bereits vor der Tür umher, ab und zu einen Blick in den Saal werfend, ob Vater und Tochter noch nicht erschienen, von welchen er sich verabschieden wollte. Er, der gewöhnt war, den Tag früh zu beginnen, um so mehr noch den Wandertag, wurde ungeduldig über die Langschläfer, denn schöne kühle Morgenstunden waren ihm schon verloren gegangen. Endlich erschienen sie. Holmar begrüßte sie, zur Wanderung gerüstet, und wollte sich empfehlen, da, wie er meinte, die Reiseziele leider jetzt wohl auseinander gehen würden. Adelheid erschrak, als sie von Abschiednehmen hörte, und Herr Pistorius sprach laut aus, daß er nicht begreife, warum Holmar allein von dannen wolle, da sie ja gemeinsam reisen könnten.

»Es tut mir sehr leid,« sagte dieser, indem er das junge Mädchen ehrlich anblickte, »wirklich sehr leid, daß wir uns schon trennen müssen, aber ich habe mir einen Weg bestimmt vorgezeichnet, will eine bestimmte Anzahl von Orten sehen und habe dazu nur noch eine bestimmte Anzahl von Tagen zu verwenden.« Er hätte hinzufügen können: und ein bestimmtes Reisegeld, welches ich nicht überschreiten kann. »Eine Änderung meines Planes dürfte mir Verlegenheiten bereiten,« fuhr er fort, »und – Sie werden vermutlich nun die andere Römerstraße aufsuchen, wo die lateinische Inschrift sich findet –«

Herr Pistorius aber hatte diesen Reisezweck bereits vergessen und wollte jetzt nichts mehr davon hören. »Römerstraße! Zweiundzwanzigste Legion – was da!« rief er. »Lassen wir die Inschrift stehen, wo sie Lust hat! Laufen Sie uns nicht davon! Wir reisen zusammen!« Holmar entgegnete mit Ernst und Ruhe, daß er sich um keinen Preis von seinem Wanderplan werde abbringen lassen, und – so gestand er jetzt offen – auch nicht von seiner Art und Weise zu reisen, die eben durch seine Mittel vorgeschrieben sei. Aber er sollte ja auch nicht um einen Schritt davon abgebracht werden, versicherte Herr Pistorius; er möge nur die Führung übernehmen, man wolle sich ihm gern anvertrauen. Holmar erfuhr, daß der Gelehrte nur um jener Inschrift willen nach der Schweiz gereist, und jetzt, da er diese Nachforschung aufgegeben, ganz ohne Ziel und Plan sei. Der junge Mann sah Adelheid lächelnd an, und gestand, daß er sich aufrichtig freue, unter solchen Umständen noch in ihrer Gesellschaft bleiben zu können. Er sah auf den Strauß der gestern gepflückten Alpenrosen, der, obgleich schon etwas welk, noch in ihrer Hand war, und sagte: »Wenn Sie Mut haben, meine Kletterwege mitzugehen, pflücke ich täglich frische!« Adelheid nickte, ohne für ihre Freude ein Wort zu finden. Bald darauf brachen sie auf.

Welche Täler sie sahen, welche Berge sie bestiegen, auf welchen Seen sie fuhren, ist nicht von Belang. Adelheid hatte eins und das andere früher schon gesehen, jetzt sah sie alles doch eigentlich zum erstenmal. Sie scheute keinen Weg und kein Wetter, sie ermüdete nicht, solange Holmar vergnügt neben ihr schritt, sie fand alle seine Anordnungen gut, besser, als sie dergleichen gewöhnt war. Auch der Alte zeigte sich sehr rüstig, und da er in den gewöhnlichen Dingen des Lebens ziemlich unpraktisch war, ließ er sich die Führung Holmars gern gefallen. Die Reise selbst, die Gegenden, Berge und Seen waren ihm ganz gleichgültig, sein Interesse gehörte dem jungen Führer, welcher Geduld genug zeigte, sich gelehrt mit ihm zu unterhalten. Er nahm es auch nicht übel, wenn diesem der Geduldfaden einmal riß, und er mit kecker oder lachender Abwehr auf etwas anderes übersprang. Kleine Konflikte drohten freilich schon in den ersten Tagen, wobei denn, der Entschiedenheit Holmars gegenüber, Herr Pistorius sich zum Nachgeben entschloß. Ja er, der rechthaberische, despotische Mann, dessen harter Kopf sonst seinen Willen durchzusetzen pflegte, war so eingenommen von dem jungen Gefährten, daß er sich nach geringem Widerstand von ihm bestimmen ließ. Daß Herr Pistorius ein reicher Mann war, wußte Holmar nicht, und niemand wäre darauf gekommen, der ihn und seine Tochter nur in ihrem gewöhnlichen Reiseaufzuge kannte. Der Alte war aber gewöhnt, überall in den ersten Hotels einzukehren, um dort freilich immer schlecht untergebracht zu werden und bei der Abreise die Dienerschaft durch unerwartet große Trinkgelder in Erstaunen zu setzen. Er wurde überall mürrisch empfangen, nachlässig bedient, aber mit angelegentlichster Höflichkeit entlassen. Holmar aber war nicht zu bewegen, sich der »Beutelschneiderei« anheim zu geben und dem Gewimmel der Kellner, welchen gegenüber ihm, wie er sagte, die Hand juckte. Er hatte für die ganze Reise seine Notizen über kleinere Gasthöfe, wo man nicht minder gut aufgehoben sei, und zu diesen mußte sich Herr Pistorius nach einigem Kampfe denn auch entschließen. Holmar wagte noch viel mehr, aufgemuntert durch das tägliche Zusammenleben. Er verlangte von dem Alten mehr Rücksicht für Adelheid, und schnauzte ihn ganz wacker an, wenn dieser in der Gleichgültigkeit für die Bedürfnisse seiner Tochter den egoistischen Tyrannen spielen wollte. Dafür gestattete Holmar, entgegenkommend, auch ab und zu einen Wagen für Wege, die er allein wohl gegangen wäre, und war großmütig genug, darin mitzufahren. Bei dem andauernden kleinen Kampfe gegen Herrn Pistorius mußte es zu scherzhaften Einverständnissen zwischen Adelheid und Holmar kommen, so weit, daß sie zuweilen List brauchten, ihn irgendwo durch Unterhaltung mit anderen zu beschäftigen, um ein Stündchen allein ihre Wege zu gehen, harmlos, als unverdorbene Kinder, wie am ersten Tage ihrer Begegnung.


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