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Die Kunstgenossen.

In dem Atelier des Professor N., eines berühmten Malers, war eine Anzahl junger Männer versammelt, welche, als seine Schüler, ihre künstlerische Thätigkeit in verschiedener Weise betrieben. Der Eine zeichnete den Faltenwurf eines Gewandes, welches er einer Gliederpuppe übergehängt hatte; der Andre untermalte ein Oelgemälde, noch Andre waren mit weicher Kohle an größeren oder kleineren Cartons beschäftigt. Es war eine lange, lautlose Stille in dieser großen, geräumigen Werkstätte der Kunst. An einem breiten hohen Fenster saß ein junger Mann in eleganter Kleidung am Tische, und entwarf auf einem Reißbrette eine Composition von vielen Figuren. Dieser unterbrach plötzlich die Stille, indem er eine Opernmelodie vor sich hin pfiff. Das Pfeifen gab die einzigen, hell durch den weiten Raum gellenden Töne, die übrigen sechs Jünglinge saßen in ununterbrochenem Fleiße bei ihrer Arbeit. Nach einigen Minuten wurde in einer entfernten Ecke unruhig mit dem Stuhle gerückt, ein unwilliges Brummen erhob sich, und ging endlich, da das Pfeifen immer lauter wurde, in die Worte über: »Dies Pfeifen ist unleidlich!«

Der Musikalische pfiff unbekümmert seinen Satz zu Ende, fiel dann aber sogleich in eine Choralmelodie, welche, da jeder Anwesende die nähere Beziehung derselben kannte, eine laute Heiterkeit hervorrief. Auch dadurch ließ sich der elegante junge Mann nicht stören, sondern saß ruhig bei seiner Zeichnung und pfiff gelassen seinen Choralsatz durch. Diese Ruhe aber brachte den Unmuthigen nur noch mehr auf. Er trat hinter seinem Carton hervor, welcher groß und umfangreich aufgespannt war, und rief: »Diese Verhöhnung fällt auch auf Sie selbst zurück, Herr Reiling! Durch eine Unsittlichkeit kann man mich nicht beleidigen. Höchstens fühle ich Mitleid mit Ihrer Verblendung!«

Der Elegante legte den Zeichenstift bei Seite, gähnte ziemlich vernehmlich, nahm eine Cigarre aus der Tasche und zündete sie an, indem er langsam durch den Saal schritt, und sich mit großer Behaglichkeit vor den Carton des Sprechers stellte. Reiling war ein schlanker, wohlgewachsener, junger Mann, von fertigem, weltmännischem Wesen, welches den weniger Gewandten sehr zu imponiren pflegte.

»Ei, mein lieber Asmus.« sagte er, »Ihre vortreffliche Composition rückt ja recht schön vorwärts! Und das ist also Alles göttliche Offenbarung, was Ihre Kohle da auf das Papier meistert?«

Asmus wendete sich um, schoß einen feindlichen Blick auf Reiling, und arbeitete schweigend weiter. Er war ein langer bleicher Jüngling von fahrigen, unstäten Manieren. Dunkles, langes Haar hing ihm unordentlich über den hohen Hals herab, während tiefliegende, etwas stechende Augen, verbunden mit der meist aschfarbigen Plaste seines Gesichtes, nicht geeignet waren, einen wohlthuenden Eindruck hervorzubringen.

»So also,« fuhr Reiling fort, »nimmt sich göttliche Offenbarung aus, von deren Erscheinung in der religiösen Kunst Sie uns immer so schöne Dinge erzählen. Aber was stellt denn Ihr Bild eigentlich dar? Ah, ich denke ich hab's! Gott Vater erscheint den ersten Menschen im Paradiese, nachdem sie von der verbotenen Frucht genossen – nicht so? Ja, ja, man erkennt das mit der Zeit. Ueber den Herrn selbst will ich nicht reden, aber was den Adam betrifft, so muß ich gestehen, daß mir seine Nase, ihrer Größe und Dicke nach, in der That wie die Urnase der gesammten Menschheit vorkommt. Und die Eva – also so hat die Unglückliche ausgesehen! Es ist doch schrecklich! Verzeihen Sie – ich mache Ihnen keinen Vorwurf, mich setzt nur das Factum in Erstaunen. Denn daß Eva wirklich so ausgesehen hat, verbürgt mir die göttliche Offenbarung in Ihnen. Und das Gefolge der weinenden Engel! Gut, es mögen lauter Portraits sein, lauter geoffenbarte Portraits, aber ich kann mir nicht helfen, die irdischen Engel sind mehr nach meinem Geschmack! –«

Durch diese Betrachtungen wurde das ganze Personal des Ateliers herbei gelockt und gruppirte sich, überaus belustigt, um den Carton des Künstlers. Dieser aber, der bis dahin wie auf glühendem Eisen gestanden hatte, warf die Zeichenkohle zu Boden, und verließ wüthend das Atelier. Kaum war er weg, als die Heiterkeit in ein allgemeines Gelächter ausbrach. Die lustigsten Glossen wurden gemacht, zu welchen das verunglückte Bild hinlänglichen Stoff darbot, und es bildete sich ein Gespräch über Asmus, in welchem Keiner viel Günstiges über ihn zu sagen wußte.

»Was liest er denn da?« fragte Reiling, indem er ein auf dem Stuhle liegendes Buch in die Hand nahm. »Da haben wir's: ›der gerettete Jüngling oder der Weg durch die Sünde‹. Anstatt etwas Vernünftiges zu lesen, vertieft er sich in den Weg durch die Sünde.«

»Selten ist mir eine Natur so ohne allen sittlichen Halt vorgekommen!« nahm ein Anderer, Namens Eberhard, das Wort. »Unfähig, seinen Trieben zu gebieten, lebt er ohne ernstliches Studium, ohne Kraft und Sicherheit in den Tag hinein. Wie ein Rohr läßt er sich von der Bewegung des Augenblicks dahin und dorthin biegen. Er führt ganz im Verborgenen das abscheulichste Leben, und ich bin überzeugt, es ist ihm ganz abscheulich dabei zu Muthe. Da wirft er sich denn einer frömmelnden Richtung in die Arme, in welcher er sich allerlei vorlügt, sich tief zerknirscht fühlt, und – im nächsten Augenblicke doch wieder Sclave seiner Natur wird. Vermuthlich um das schöne Gefühl der Reue immer frisch zu erhalten.«

Die Pause, welche die jungen Künstler gemacht hatten, bewirkte, daß die ganze Schaar sich wieder um ein anderes Bild gruppirte.

»Das ist Alles recht gut und hübsch,« begann Reiling wieder, »aber dieser Moses in Egypten sieht dennoch sehr langweilig aus. Daß Ihr Menschen doch gar nicht von diesen alten biblischen Geschichten loskönnt, als gäbe es in aller Welt kein anderes Interesse!«

Von allen Seiten wollte sich ein heftiger Einspruch gegen den Tadler erheben, dieser aber schnitt ihnen die Rede ab, indem er fortfuhr: »Aha! Nun bricht der alte Sturm wieder über mich los! Ich bitte, verschont mich damit! Ich weiß, daß die Bibel das ehrwürdigste Buch ist, daß seine Darstellungen eben so edel, menschlich, als ewig groß sind, aber daß sie der einzige Codex für den stoffsuchenden Künstler sei, davon werdet Ihr mich nicht überzeugen. Und nun ersuch' ich Euch, spart Eure Proselytenmacherei an mir!«

Diese Wendung bewirkte, daß die Meisten schweigend ihre Arbeit wieder aufnahmen.

»Wo ist heute Ulrich?« fuhr Reiling, zu Eberhard gewendet, fort. Eberhard zuckte die Schultern und schien ausweichen zu wollen.

»Was ist mit ihm? Er kommt mir seit einiger Zeit verändert vor,« fragte Reiling weiter, indem er Eberhard in eine entferntere Ecke des Saals führte.

»Es geht ihm schlecht!« entgegnete Eberhard mit gedämpfter Stimme. »Seine Verhältnisse sind sehr drückend. Seit er von seiner Stipendienreise aus Italien zurück ist, scheint ihm Alles fehlschlagen zu wollen. Seine Ruth, die er in Italien gemalt hat, ist doch gewiß ein vortreffliches Bild, aber es will sich kein Käufer dazu finden.«

»Ein ausgezeichnetes Bild!« bekräftigte Reiling, indem er den Duft seiner Cigarre von sich blies. »Ist denn Ulrich in gar so trostlosen Verhältnissen?«

»Leider!« sagte Eberhard. »Sein Hauswirth, dem er schon seit einem halben Jahre die Miethe und allerlei Auslagen schuldet, droht gerichtlich gegen ihn zu verfahren. Und das ist noch das Geringste, denn auch von andern Seiten wird er stark bedrängt. Er sagte mir, er wolle heute auf das Leihhaus gehen, um – seine Uhr zu versetzen. Es ist eine geringe Aushülfe für den Aermsten!«

»Und er hat gar keine Unterstützung von seiner Familie?« fragte Reiling.

»Seine Eltern leben nicht mehr,« entgegnete Eberhard, »sein Vater war ein armer Dorfschullehrer. Ulrich hat stets in großer Dürftigkeit gelebt, sich fast immer von Zeichenunterricht erhalten. Nach seiner Rückkehr aus Italien wurde ihm ein abgeschmackter Auftrag zu einem Bilde gegeben, den er von sich wies. Diese Zurückweisung ist ihm für Hochmuth ausgelegt worden, und hat ihm Manche abwendig gemacht, die vielleicht geneigt gewesen wären, etwas für ihn zu thun.« –

Das Gespräch wurde unterbrochen. Mehrere der jungen Kunstgenossen hatten ebenfalls flüsternd die Köpfe zusammengesteckt, und einer derselben trat jetzt hervor mit den Worten: »Herr Reiling, unsere Bilder sind täglich Ihren Blicken ausgesetzt, Sie aber halten die Ihrigen unter Schloß und Riegel. Wollen Sie uns nicht endlich einmal Ihre Mappen öffnen, und uns einen Blick in Ihre bisher so geheimnißvolle Thätigkeit thun lassen?«

Alle Anwesenden stimmten in diese Bitten ein.

»Schlauköpfe!« sagte Reiling. »Dafür, daß ich Euch unbarmherzig kritisire, wollt Ihr Euren Humor jetzt an meinen Machwerken üben? Ich will Euch den Spaß machen.«

Damit räumte er den Tisch ab, und legte eine große Mappe auf, um welche sich die ganze Gesellschaft mit neugierigen Blicken drängte.

Die Spannung, mit welcher man den geheimnißvollen Blättern entgegen sah, war durch das eigentümliche Verhältniß begründet, in welchem Reiling zur Kunst und seinen Kunstgenossen stand. Man wußte, daß er der Sohn eines sehr reichen Mannes war, der in einiger Entfernung von der Stadt großartige Fabriken von Maschinen aller Art besaß; man wußte, daß Reiling große Reisen gemacht hatte, man hörte von einigen Professoren der Akademie viel Gutes von seinen Studien sagen, obgleich die jüngere Genossenschaft im Atelier sich nicht erinnerte, etwas davon gesehen zu haben. Was man von seinem Schaffen sah, war ein mehr cavaliermäßiges, als ernsthaftes Betreiben der Kunst als solcher, dagegen aber eine große Hingabe an die Kunst, das Leben zu genießen und große Summen auszugeben. Sein Urtheil, welches meist sehr treffend und stets im höchsten Grade rücksichtslos war, wurde in gleichem Maße begehrt und gefürchtet, seine Satire tyrannisirte das Atelier. In einem eigentlich befreundeten Verhältnisse stand er zu keinem der Kunstjünger. Manche beneideten die Vorzüge seiner Erscheinung und seiner Stellung, hüteten sich aber vor einem ungeselligen Benehmen gegen ihn. Andere haßten und beneideten ihn gleichmäßig; zu diesen wurde Asmus gezählt. Alle aber nahmen ein Interesse an ihm, dessen sich bei der sicheren Geschlossenheit, bei dem kecken Selbstbewußtsein seiner Persönlichkeit Niemand erwehren konnte. Er pflegte in den Sommermonaten Wochen lang in der Umgegend umher zu schweifen, und man erzählte sich, daß seine Skizzenbücher sich mit jedem Tage füllten, wiewohl Niemand den Inhalt erblickt hatte. Jetzt im Winter schien er fast nur der buntesten Geselligkeit zu leben, im Atelier hatte man ihn selten gesehen. Vor einigen Tagen jedoch war er, und zwar mit einer großen gefüllten Mappe, unter den Schülern des Professors wieder erschienen, und hatte, wie es schien, sich mit mancherlei Entwürfen beschäftigt. Diese aber, sowie den Inhalt seiner Mappe, wußte er geflissentlich vor den Augen Aller zu verbergen. Wie gespannt mußten daher die Erwartungen der jungen Männer sein, als ihnen die geheimnißvollen Blätter endlich geöffnet werden sollten!

Mit dem Beifallsrufe eines allgemeinen »Ah!« wurde gleich das erste Blatt bewillkommnet, und immer beifälligere und staunendere knüpften sich an die folgenden. Es waren Darstellungen aus dem Volksleben, bald humoristisch, bald ernst, einige sogar großartig und ergreifend. Zum Theil Zeichnungen, zum Theil Aquarellen, waren alle diese Blätter gewandt, frisch, künstlerisch abgerundet und im besten Style selbstständig durchgeführt.

Die Freude der Betrachtenden steigerte sich mit jedem Blatte, und Eberhard legte die Hand auf Reilings Schulter (eine Zutraulichkeit, welcher er sich sonst enthalten haben würde) und sagte: »Reiling, Sie sind ein glücklicher Mensch!«

Reiling lachte, zog die Handschuhe an, und warf, indem er sich in den Mantel hüllte, die Worte hin: »Sehen Sie das Zeug nach Belieben an. Eberhard, es sei in Ihre Hände gelegt. Ich muß gehen.«

»Wohin?« fragte Einer.

»Studien machen!« war die Antwort.

»Jetzt im Winter?« wendete der Erstere ein, welcher an Reilings landschaftliche Excursionen gedacht hatte.

»Ist das Studienmachen an eine bestimmte Jahreszeit gebunden?« gab Reiling als Gegenfrage zurück, und verließ lachend das Atelier.

Die Zurückbleibenden konnten nicht aufhören, die Zeichnungen zu bewundern. Wie erstaunten sie jedoch, als sie im Verfolg sich selbst abconterfeit fanden, und zwar Jeden in einer Situation, mit welcher er einmal geneckt worden, oder welche für ihn besonders charakteristisch war. Lachender Jubel begleitete diese humoristischen Darstellungen, und das bloße Interesse an dem Künstler ging in förmlichen Respect über, von welchem sich sogar diejenigen nicht ganz befreien konnten, welche sich zu absoluten Anhängern der biblischen Historienmalerei bekannten.

*

Ulrich, der schon erwähnte Kunstgenosse der vorgeführten jungen Männer, schritt um diese Zeit durch das Schneegestöber einer engen Straße, einem alten finsteren Hause entgegen. Der Februarnachmittag war dunkel, der Schneehimmel führte die Nacht früher als sonst herauf. Der Wanderer hatte sich dicht in ein dünnes Mäntelchen gehüllt, auf welchem, sowie auf dem schwarzen Filzhütchen, das zu besserer Zeit so phantastisch ausgesehen hatte, sich die Schneeflocken dick aufhäuften. Er zögerte einen Moment auf der Schwelle des verschwärzten Gebäudes, durch dessen Flur der Wind den Schnee jagte, blickte noch einmal scheu hinter sich, und schlich dann die Treppe des Leihhauses hinauf. Er trat in das Büreau, ein großes verräuchertes Zimmer, und sah sich inmitten einer Gesellschaft, welche reichlichen Stoff zur Betrachtung und zum Nachdenken geben konnte. Auf den Tischen der Beamten, welche hinter Gittern und Verschlagen saßen, brannten Oellampen, und drangen unheimliche Lichter in die dunkle Mitte des Raumes, wo sich eine Menge von Gestalten durcheinander drängte. Alle waren in ihrer Armuth gekommen, um einige Stücke ihres Eigenthums in baare Münze umzutauschen. Der Ofen pustete vor Gluth, und um das Gitter, welches denselben umgab, drängten sich arme Weiber, um ihre nassen Kleider zu trocknen, und von dem freigebigen Geschenk der Wärme zu profitiren. Der feuchte Dunst erwärmter feuchter Kleider mischte sich mit dem Qualm der Oellampen, und durch das dumpfe Gemurmel halblauter Gespräche klapperten die Geldstücke, welche die Beamten auf die Tafeln zählten. Welche Gesichter, welche Mienen wurden in den wandernden Lichtreflexen dieser Atmosphäre sichtbar! Dort saßen ein paar Frauen auf einer Bank, jede hatte ein Bündel auf dem Schoße, vielleicht Kleidungsstücke, oder die besten Stücke ihrer Wäsche. Die eine erzählte ihrer Nachbarin eine Geschichte, bei welcher sie reichliche Thränen vergoß, während die andere verstehend mit dem Kopfe nickte und seufzte. Nicht weit davon stand ein Mann, der die Mütze tief in's Gesicht gedrückt hatte, und ein karirtes Taschentuch hervorzog, aus welchem er sechs silberne Löffel wickelte. Er schien unschlüssig zu sein, hüllte seinen Schatz wieder ein, und wandte sich nach der Thüre. Dort stand er einen Augenblick still, drängte sich dann aber mit schnellem Entschlusse durch die Menge zu den Tafeln, wo die verlockenden Silberstücke klapperten. Hier wiederum standen zwei jüngere Frauenzimmer, welche laut miteinander sprachen und lachten, während ein junger Mensch von lüderlichem Aussehen zuweilen einen unfeinen Scherz in ihre Unterhaltung warf. Die drei schienen sich an diesem Orte schon oft getroffen zu haben. Die Unbefangenheit ihres Benehmens in einem Raume, dessen Schwelle manche Thräne benetzte, zeigte, daß ihre Empfindung entweder durch Gewohnheit und Druck des Unglücks, oder durch sittliche Rohheit verhärtet war. Es gab heute ein lebhaftes Drängen um die Verschlage. Der im Februar noch einmal hart ausbrechende Winter mit seinen gesteigerten, unerwarteten Bedürfnissen schien der Grund des erneuten Andranges zu sein.

Ulrich machte sich Platz bis zu einer der Tafeln, gab seine Uhr an, und empfing dafür ein paar trübselige Thaler. Sie erleichterten sein Herz nicht, er bereute sogar, sie entlehnt zu haben, da sie seiner bedrängten Lage durchaus nicht abhelfen konnten. Es schien ihm wie eine Entweihung, seine Uhr, das einzige Erbstück seines seligen Vaters, in diesen Umgebungen zu lassen. Er drängte sich in die Mitte des Raumes zurück, und hinter ihm drückte sich die Schaar der übrigen Bedürftigen, wie die Fluth hinter dem Kiele des Schiffes zusammen. Noch einen Blick that er auf die Gruppen des Zimmers. Sie kamen ihm malerisch vor, doch hinderte ihn seine bedrückte Gemüthsverfassung, irgend etwas zum Behuf des Griffels fest zu halten. In einer Ecke gewahrte er einen Mann mit einem starken schwarzen Barte, dicht in den Mantel gehüllt. Die Augen des Fremden waren auf ihn gerichtet, seine Züge schienen ihm halb und halb bekannt, ohne daß er sie unter den Personen seines Umgangs unterbringen konnte. Verwirrt durch den Blick des Unbekannten, eilte er der Thüre zu, aber noch einmal fühlte er sich aufgehalten.

Hier stand ein junges Mädchen, mit den Spuren des Leidens in dem schönen Gesicht, und schien durch Scham und Schüchternheit abgehalten zu werden, sich in das ungewohnte Treiben zu wagen. Ihr Hut und leichtes Umschlagetuch waren vom Schnee durchnäßt, sie schien in der bedrängtesten Lage. Als sie sich von Ulrich beobachtet sah, wendete sie sich schnell, und war mit wenigen Schritten unter der Menge. Ulrich aber, in hohem Grade angezogen durch die Schönheit, sowie zum tiefsten Antheil bewogen durch die kümmerliche Erscheinung des Kindes, schlich ihr von der Seite nach, um sie näher zu betrachten. Ein paar mitleidige Weiber, die soeben einige Silbermünzen empfangen hatten, machten dem Mädchen Platz. Jetzt stand sie am Tische, wickelte aus einem Papier einen Ring, und reichte ihn dem Beamten. Dieser betrachtete ihn, rief den Taxator, und nachdem er sich mit demselben besprochen hatte, gab er ihr den Ring zurück mit den Worten: »Wir könnten Ihnen so wenig darauf geben, daß Sie besser thun, ihn zu behalten.« Sie stand wie vernichtet, ohne sich von der Stelle rühren zu können. Gestoßen und gezerrt, gelangte sie wieder zur Thüre, sie wußte selbst nicht wie, und brach in die heißesten Thränen aus.

Als sie nach einigen Minuten das Büreau verließ, ging ihr Ulrich wiederum nach, und, hingerissen von Mitleid, faßte er einen schnellen Entschluß. Sie blieb in der Hausthüre stehen, als zögere sie, in das stürmische Schneetreiben hinaus zu gehen, oder die Schwelle zu verlassen, an welche sie ihre Hoffnungen geknüpft hatte. Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf ihre Züge. Rasch trat Ulrich auf sie zu und sagte: »Verzeihen Sie, daß ich es wage, Sie anzureden! Ich habe gesehen, wie Sie unverrichteter Sache das Büreau verlassen mußten, während ich selbst eine bei Weitem größere Summe erhalten habe, als ich erwartete. Darf ich Ihnen daher dies Wenige anbieten?« Mit diesen Worten hielt er ihr die Summe entgegen, welche er auf seine Uhr erhalten hatte.

Das Mädchen erholte sich von dem Schreck, welchen ihr die Anrede eines Unbekannten verursachte, und sagte mit ruhiger Stimme: »Nein, mein Herr, ich danke! Sie täuschen sich in mir.« Sie machte eine Bewegung, davon zu eilen, Ulrich aber entgegnete rasch: »Auch Sie verkennen mich! Die Begegnung an diesem Orte zeigt Ihnen in mir einen Schicksalsgenossen, und gleiche Schicksale sollten gleiches Vertrauen erwecken. Ich bitte Sie, nehmen Sie dies an, da ich es übrig habe.«

Das Mädchen vernahm den offenen, ehrlichen Ton seiner Stimme, und stand regungslos auf der Schwelle. Endlich sagte sie: »Ach, mein Herr, Sie wissen nicht, was Sie thun! Wiederholen Sie Ihr gütiges Anerbieten nicht, – ich weiß nicht, ob wir Ihnen die Summe sobald würden wieder erstatten können. Verlassen Sie mich, ich bitte darum!« Ulrich hörte aber nicht auf, in sie zu dringen. In einer Lage, wie die seinige war, und wie die des Mädchens sein mußte, schienen ihm alle Vorurtheile der Zurückhaltung, alle Bedenklichkeiten über Geben und Annehmen aufzuhören. Er war voll von einem schönen, reinen Gefühl, und wollte ihm allein folgen. Nicht so entgegenkommend war das Mädchen. Sie empfand tief das Peinigende ihrer Situation, und doch mochte das Anerbieten der so plötzlich gefundenen Freundeshand viel Verlockendes für sie haben. O meine gute arme Mutter! seufzte sie leise. »Nun gut, mein Herr,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »es muß wohl so sein, ich denke, Gott hat Ihnen diese Milde gegen uns eingegeben, da er nicht will, daß ich mit leeren Händen zu meiner Mutter zurückkehre. Ich nehme ihr gütiges Darlehen an. Gott möge es Ihnen lohnen, denn ich selbst kann es nicht. Jetzt bitte ich Sie aber, mit mir zu gehen, damit Sie wenigstens wissen, wo Ihre Schuldnerinnen wohnen.«

So wanderte Ulrich mit ihr durch lange entfernte Straßen in eine Vorstadt, wo er, vor einer Hausthür angelangt, ihr das Versprechen geben mußte, so bald als möglich zu ihrer Mutter zu kommen, damit er ihr seinen Namen, und sie ihm ihren Dank sagen könne.

Ulrich befand sich in der glücklichsten Stimmung, und obgleich seine Taschen leer waren, und er die Aussicht hatte, heut, wie schon öfter, hungrig zu Bett zu gehen, sang er fröhlich durch das Schneegestöber vor sich hin, und vergaß alle Drangsale seines Lebens. Am andern Morgen saß er, der erste, im Atelier. Eine halbe Stunde hatte er gemalt, als ein ihm fremder Herr herein trat, und mit ihm zu sprechen wünschte. Der Fremde gab sich als einen einheimischen Kaufmann zu erkennen. Er sei von einem auswärtigen Geschäftsfreunde beauftragt, sagte er, sich mit Ulrich über den Ankauf seines Gemäldes aus dem Leben der Ruth zu verständigen, welches dem Genannten bei seinem letzten Hiersein auf der Kunstausstellung ganz besonders gefallen habe. Der Kaufmann betrachtete das Bild mit großer Bewunderung, fand den Preis überaus gering, und erklärte sich ferner beauftragt, dem Künstler zweihundert Thaler auf der Stelle auszuzahlen, den Rest nach Ablieferung des Bildes. Er bat Ulrich, die Verpackung des Gemäldes selbst zu übernehmen, und ihm dasselbe in sein Haus zu schicken. Darauf empfahl er sich, indem er seine Freude aussprach, die Bekanntschaft eines so vortrefflichen Künstlers gemacht zu haben.

Wer war glücklicher, als Ulrich? Er eilte jubelnd seinen Studiengenossen entgegen, welche nun auch zur Arbeit in das Atelier kamen, und allgemein war die Freude, da Jeder dem Freunde sein Glück gönnte. Sodann ging er zu seinem Hauswirth, brachte seine Rechnungen in Ordnung, und lenkte eine Stunde darauf die Schritte nach der Vorstadt, um seine Schuldnerinnen aufzusuchen.

Er trat in ein ärmliches Stübchen, wurde von dem jungen Mädchen mit verlegner Freude empfangen, und an das Bett der kranken Mutter geführt. Sie reichte ihm dankend ihre blasse, magere Hand, und sagte: »Wir sind leider aus besseren Verhältnissen in diesen unglücklichen Zustand gekommen, in welchem wir uns nicht scheuen dürfen, Wohlthaten zu empfangen. Der Ring, welchen meine Tochter gestern angeben wollte, war das Letzte, was ich für werthvoll hielt, und was ich mich zu verkaufen scheute – ach, er ist mir nun noch mehr werth, da er mir einen solchen Freund zugeführt hat. Sie sind aber zu großmüthig, junger Mann! Die dreißig Thaler, welche Sie mir heut in der Frühe geschickt haben –«

Ulrich war verwundert. »Ich – dreißig Thaler?« rief er. »Fides!« sagte die Mutter, »zeige dem Herrn die Summe, daß sie noch vollzählig ist. Wir werden sie nicht annehmen dürfen.« –

Fides öffnete eine Lade und brachte das Geld, welches sie Ulrich aufdringen wollte. Dieser aber mußte, der Wahrheit gemäß, jede Betheiligung an dieser Sendung hartnäckig leugnen, und so nahm die Mutter das Wort: »Sie beschämen uns tief, mein Herr! Wohlan, wir wollen das Geld behalten, aber, wenn ich wieder aufkomme – und das hoffe ich jetzt – arbeiten, und es Ihnen wieder zu erstatten suchen.«

Nach einigem Hin- und Wiederreden gab sich Ulrich als Maler zu erkennen, und bat um die Erlaubniß, ein Portrait von Fides zu machen.

»Wenn es auf diesem Zimmer geschehen kann,« sagte die Kranke, »so mag es sein.« –

Als Ulrich am folgenden Tage, versehen mit allen Gerätschaften zum Malen, in das Zimmer der Wittwe trat, sank Fides schluchzend vor ihm zusammen, und wies nach dem Bette der Mutter. Er näherte sich demselben und fand die Wittwe todt. –

Da Fides unfähig schien, irgend etwas zu thun, ging er zum Hauswirth, holte ihn und dessen Frau herbei, welche das Begräbniß über sich zu nehmen versprachen, und mit großer Genugthuung das Vorhandensein von dreißig Thalern vernahmen. Fides reichte unter Thränen dem jungen Mann die Hand, er versprach wiederzukommen, und verließ erschüttert die ärmliche Wohnung.

Um dieselbe Zeit saßen Ulrichs Kunstgenossen im Atelier bei ihrer Arbeit. Da trat Asmus herein, blickte forschend nach Reilings Platze, und als er diesen leer fand, rief er triumphirend: »Wißt Ihr auch das Neueste? Reiling, der geldstolze, hochmüthige Mensch, scheint denn doch nicht in so glänzenden Verhältnissen zu leben, als er uns weis machen möchte. Kurz und gut, er ist neulich in einer Verkleidung auf dem Leihhause gewesen und hat seine Uhr versetzt!«

Die Uebrigen wollten dieser Nachricht keinen Glauben schenken, Asmus aber versicherte, die Sache für ganz gewiß erfahren zu haben, und versprach, den Uebermüthigen zu entlarven.

»Wie Du ihn entlarven willst,« entgegnete Eberhard, »weiß ich nicht. Jedenfalls aber ist es besser, eine so delicate Sache auf sich beruhen zu lassen.«

Bald darauf erschien Reiling, begrüßte mit einigen Sarkasmen, wie er pflegte, die Anwesenden und setzte sich schweigend zu seinem Reißbrette. Asmus aber schlich sich in seine Nähe. Reiling bemerkte ihn, sah ihn mit lachenden Mienen an, und sagte: »Ei, ei, verehrter Kunstgenosse, warum umschnüffeln Sie mich denn so? Wollen Sie meiner Arbeit einige Schwachheiten ablauern?«

»Ich wollte Sie nur fragen, wie spät es ist?« entgegnete Asmus.

Reiling zog seine schöne goldne Uhr. »Es ist fünf Minuten über zehn,« sagte er. »Gut, daß Sie mich erinnern, ich habe vergessen, die Uhr aufzuziehen.« Damit nahm er den Uhrschlüssel, welcher an einer venetianischen Kette hing, und holte das Versäumte nach.

Asmus ging etwas verblüfft hinter seinen Carton, keiner der Uebrigen konnte sich des Lachens erwehren.

»Warum lacht Ihr?« fragte Reiling.

Niemand wollte mit der Sprache heraus. Endlich sagte Eberhard: »Asmus hatte erfahren, daß Sie auf dem Leihhause Ihre Uhr versetzt hätten, und wollte Sie über diese Schmach entlarven

»So, so!« lachte Reiling. »O, Sie lieber, würdiger Gold-Asmus! Ueber die große Schmach, auf dem Leihhause gewesen zu sein! Uebrigens hat Ehren-Asmus nicht so Unrecht. Hatte ich Euch nicht gesagt, daß ich ausginge, um Studien zu machen? Mir war eingefallen, daß es höchst interessant sein möchte, die Gruppen und Gesichter auf dem Leihhause zu studiren. Es war mir nicht bequem, etwas von meinen Sachen, die ich in Gebrauch habe, zu versetzen, und so kaufte ich unterwegs eine ziemlich gewöhnliche Taschenuhr, um etwas unersetzbares bei mir zu haben, wenn ich durch mein Erscheinen gezwungen werden sollte, zu thun wie Alle an dem betreffenden Orte. Ich hatte mich übrigens durch einen falschen Bart einigermaßen entstellt – ich thue das oftmals, lieber Asmus, wenn ich in dunklen Stunden nicht erkannt zu sein wünsche – und glaubte nicht, daß man mich entlarven würde. Nun, es thut nichts. Ich habe viel dort gelernt, und kann Euch sagen, daß das Leihhaus ein zwar ungemüthlicher, aber ausgezeichnet interessanter Aufenthaltsort ist. Nämlich – muß ich hinzufügen, wenn man weiter nichts dort sucht, als malerische Studien.«

*

Einige Wochen waren vergangen. Reiling war in dieser Zeit sehr fleißig gewesen, er bereitete, wie es schien, geheimnißvoll eine neue Ueberraschung vor. Keiner aus seiner Umgebung hatte, wie gewöhnlich, einen Blick in seine Thätigkeit werfen dürfen.

Da trat eines Tages Ulrich in das Atelier mit den Worten: »Heut bitte ich Euch, Eure Laune in Schranken zu halten, da wir einen anständigen Besuch zu erwarten haben. Ein junges Mädchen hat mir versprochen, zu einem Portrait zu sitzen, und wir haben keinen andern Ort dafür als das Atelier.«

»Wer ist es? Ist sie hübsch?« So und noch anders wurde von mehreren Seiten gefragt.

»Das kann unterhaltend werden,« meinte Reiling, »wir sind Ihnen Dank schuldig, daß Sie in dies ewige Einerlei etwas für's Herz bringen.«

»Reiling!« entgegnete Ulrich, »ich sagte schon, es sei ein anständiges Mädchen. Nach dem Tode ihrer Mutter sah sie sich genöthigt, sich durch Handarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und trat in das Geschäft einer Putzmacherin. Nur mit Widerstreben ist sie auf die Erfüllung ihres früheren Versprechens, sich von mir malen zu lassen, eingegangen. Ich wünschte um Alles nicht, daß sie hier durch ein Wort verletzt würde. Wenn Sie,« – fuhr Ulrich im Tone gutmüthiger Bitte zu Reiling gewendet fort – »wenn Sie daher sich Ihrer Zunge nicht ganz sicher glauben, so wäre es wünschenswerther, Sie arbeiteten heut in Ihrer Wohnung.«

»Um keinen Preis!« rief Reiling, ohne aufzusehen. »Ich freue mich, hier, wo man meist mit unanständigen Modellen zu thun hat, auch ein anständiges zu begrüßen. Also eine kleine Putzmacherin! Ich bin gespannt, Ihren Geschmack kennen zu lernen.«

Während Ulrich noch in einiger Besorgniß seine Geräthschaften ordnete, wurde an die Thüre gepocht, und Fides trat herein, Sie war in Trauer, geschmackvoll, fast elegant gekleidet. Ihre Erscheinung und ihr Wesen wirkte gleich im ersten Augenblicke mehr auf die jungen Männer, als die vorausgeschickten Einschärfungen Ulrichs. Alle erhoben sich bei ihrem Eintreten, die Sitzung ging vor sich, die Unterhaltungen beider Parteien wurden halblaut geführt. Einmal nur trat Reiling zu Ulrich, wechselte mit Fides in gewandter Art ein paar Worte, und zog sich wieder an seinen Platz zurück. So kam die Mittagstunde heran. Die Genossen verließen das Atelier, und Ulrich sah mit Sehnsucht dem Augenblick entgegen, wo er sich mit Fides allein befinden würde. Aber Reiling saß fest bei der Arbeit, und wich nicht von der Stelle, als gelte es, das Allernothwendigste zu vollenden. Immer unwilliger blickte Ulrich zu ihm hinüber, jeden Augenblick hoffte er, der Lästige werde sich entfernen. Dem jungen Mädchen schien die Sitzung zu lang zu werden. Das Neue einer solchen Situation beängstigte sie, und schüchtern fragte sie, ob sie sich entfernen dürfe? Sie gab Ulrichs Bitte nach, noch eine Viertelstunde zu bleiben, dann aber erhob sie sich schnell. »Meine Zeit ist um,« sagte sie, »ich darf nicht länger bleiben.« Sie nahm Hut und Mantel, versprach wiederzukommen, sobald es ihre Principalin erlauben würde, und empfahl sich.

Kaum hatte sie sich entfernt, als auch Reiling seine Arbeit einstellte. Er legte ein Blatt in die Mappe, und schickte sich an, wegzugehen.

»Nun?« sagte er, »habe ich Sie gründlich gelangweilt?«

Ulrich schwieg verstimmt.

»Es war mir eine Freude,« fuhr Reiling fort, indem er eine Cigarre anzündete, »den Anstand bis auf die Neige durchzukosten!« Mit diesen Worten verließ er den Saal.

In Ulrichs Herzen loderte der heftigste Unwille gegen den Störer. Er sah sich in seinen Erwartungen getäuscht, denn eine Stunde mit Fides allein sein zu dürfen, erschien ihm bereits als das höchste Glück, ein Glück, welches er bis dahin vergeblich ersehnt hatte.

Fides hatte sich schon am Tage nach dem Begräbnisse ihrer Mutter in einen Putzladen begeben, über dessen Thür in goldnen Buchstaben zu lesen stand: »Amalia Seidenflock, Hoflieferanten.« Schon früher hatte Fides häufig für die Inhaberin dieses Namens gearbeitet, und gerne erklärte diese sich bereit, das Mädchen, von dessen sittlicher Reinheit sie überzeugt war, bei sich aufzunehmen. Amalia Seidenflock war Wittwe, und eine sehr stattliche Frau, die in ihrer Erscheinung alle Künste ihres Geschäftes zur Schau trug. Sie hatte eine Schaar von zehn jungen Mädchen in ihren Diensten, über deren Sittlichkeit sie mit Argusaugen wachte. Zwar wohnten diese ihre Lehrlinge nicht in ihrem Hause, aber sie hatte geheime Verbindungen nach allen Seiten hin, und wo nur das Geringste gegen eine ihrer Untergebenen verlautete, wußte sie dieselbe im Augenblick aus ihrem Geschäft zu entfernen. Bei dieser Dame wohnte Fides, und beide Theile schienen sich recht wohl in einander zu finden. Da war eines Tages Ulrich erschienen, um Fides an ihr Versprechen zu ermahnen, sich von ihm malen zu lassen. Dame Seidenflock, welche durchaus mit zu Rathe gezogen werden mußte, wies einen solchen Vorschlag mit Entrüstung von sich, und begann sogleich geheime Nachforschungen über Fides und Ulrich anzustellen. Diese schienen jedoch kein übles Resultat zu haben, und als Ulrich eines Sonntags in ihrer Privatwohnung erschien, um ihr eine förmliche Visite zu machen, empfing sie ihn schon freundlicher. Sie fand den jungen Mann ganz angenehm, nahm die Artigkeiten, welche er ihr sagte, mit Wohlwollen auf, und fühlte sich überaus geschmeichelt, als er behauptete, sie selbst sei wie zum Malen geschaffen, so daß es ihm eine Ehre und Freude sein würde, ihr Portrait entwerfen zu dürfen. Bald darauf wurde er von ihr zum Thee eingeladen, bei welchem sich ihr Bruder nebst seiner Frau befand, und es ward beschlossen, daß Ulrich zuerst Fides, und darauf Dame Seidenflock malen solle. Da nun Fides überaus zurückhaltend und dabei von ihrer Gebieterin stets beobachtet war, so verlegte Ulrich alle Hoffnung auf diese Sitzung, welche Reiling ihm nun so verdorben hatte.

Als Ulrich kurz darauf nach irgend einem verlegten Studienblatte umhersuchte, gerieth er an Reilings Tisch, und sah die Mappe dort liegen, von deren Inhalt ihm die Genossen schon so viel des Lobenden gesagt hatten. Er öffnete sie und betrachtete mit Bewunderung die einzelnen Blätter. Als er jedoch an das letzte Blatt kam, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Er sah sich selbst, er erkannte Fides, und zwar in jener ganzen Umgebung des Leihhauses, wo er des Mädchens Bekanntschaft gemacht hatte. In dem Dunkel eines braunen Farbentons lagen die ausdruckvollsten Gruppen. In der Mitte aber, und unter dem vollen Lichte einer Lampe, stand Fides in ihrer ärmlichen Kleidung, mit schmerzlichen Zügen vor dem Beamten, welcher ihr jenen Ring zurückgab. Ulrich selbst war auf dem Bilde nicht weit entfernt zu sehen, seine Gestalt stand im Schatten, nur der Kopf von einem Lichtstrahle erhellt, und betrachtete mit Antheil den traurigen Vorgang.

Seine Augen hafteten, wie gebannt, auf dem wunderbaren Blatte. Reiling mußte ihn beobachtet haben, so viel stand fest. Was aber führte ihn an den verhängnißvollen Ort? Plötzlich kam ihm der Gedanke an jene, fälschlich ihm selbst zugeschriebene Unterstützung der Wittwe. Reiling mußte seinen Spuren gefolgt sein, nur von ihm konnte jene Unterstützung herrühren. Aber wie, hatte Reiling vielleicht ein dem seinigen ähnliches Interesse an Fides? Ein Gedanke der Eifersucht durchflog seine Seele.

Hatte Reiling ohne sein Wissen die Bekanntschaft des Mädchens gemacht? Sein Ausharren heute Morgen bei der Sitzung war verdächtig.

Ulrich und Reiling hatten bis dahin auf einem eigenthümlichen Fuße gestanden. Sie empfanden ein lebhaftes Interesse für einander, ohne daß sich ein Anknüpfungspunkt für sie geboten hatte. Ulrich war zu stolz, denselben zu suchen, Reiling schien kalt, und behandelte ihn vielleicht noch rücksichtsloser und ironischer als alle Uebrigen. Jetzt aber fühlte sich Ulrich, diesem Bilde gegenüber, welches zu betrachten er gar nicht müde wurde, mit Einemmale gegen Reiling in die wunderbarste Stimmung versetzt. Er hätte ihn wie einen Freund lieben können, und dennoch regten sich Stimmen der Befürchtung und Eifersucht in ihm. Endlich schloß er die Mappe, und da Reiling nicht kam, ging er fort, um ihn aufzusuchen. Er fand ihn nicht; gegen Abend aber begegnete ihm Eberhard, der ihm sagte, Reiling habe vor zwei Stunden die Nachricht erhalten, daß sein Vater schwer erkrankt wäre, und sei schleunigst nach Hause gereist.

Die folgenden Besuche des jungen Mädchens waren für die Neigung Ulrichs begünstigender. Die Genossen hatten gemerkt, daß hier die Liebe ihr Spiel treibe, drückten die Augen zu, und verließen zu bestimmten Stunden das Atelier. Ulrich suchte bald das Gespräch mit Fides auf Reiling zu bringen, schien sich aber zu überzeugen, daß Fides durchaus nichts Näheres über ihn wisse. So stand Reiling ihm von jeder Schuld gereinigt da, und bald harrte er seiner Rückkehr wie der eines Freundes entgegen. Und Fides? Sie war ganz Dankbarkeit gegen Ulrich, ein elternloses, alleinstehendes Kind, hatte nie ein ähnliches Verhältniß zu einem jungen Manne gekannt; sie bedurfte eines theilnehmenden Herzens seit dem Tode ihrer Mutter. Er war voll von Schwärmerei, von edler Gesinnung, ehrlich und offen – was Wunder, daß im Verlauf von wenigen Wochen das zärtlichste Verhältniß zwischen den beiden jungen Personen im Gange war. Sie waren glücklich, dachten nicht an die Zukunft, und hatten doch die Ueberzeugung, daß sie nie von einander lassen könnten.

Reilings Rückkehr verzögerte sich sehr lange. Der Schnee schmolz, die Stachelbeerhecken wurden grün, die Sonne goß wärmende Frühlingsstrahlen über die Felder, und grüne Saatenstreifen erquickten das Auge. Ulrich malte nun auch Dame Seidenflock, und in dieser Zeit geschah das Unerhörte, daß die letztere eines Nachmittags mit Fides und ihm einen Spaziergang unternahm, und in einem öffentlichen Gewächshause Kaffee geben ließ, zu welchem sie ein Päckchen Zwieback aus der Tasche zog.

Es war in der Mitte des Mai, als Reiling eines Tages in das Atelier trat. Ulrich, der gerade allein anwesend war, eilte ihm entgegen, und reichte ihm freudig die Hand. Reiling schlug ein.

»Sie sind lange geblieben!« sagte Ulrich.

»Und werde auch bald wieder abreisen müssen,« erwiederte Reiling. »Mein Schicksal hat eine entscheidende Wendung genommen, mein Vater ist vor einem Monat gestorben. Es gibt viel zu ordnen und zu thun. Das Leben, welches ich bisher geführt habe, muß leider aufhören. Nun, davon reden wir später. Lassen Sie mich auch hier meine Siebensachen zusammenpacken, das Zeug darf hier nicht länger bleiben.«

Ulrich öffnete die Mappe und zog das bezügliche Aquarellbild hervor.

»Oho!« rief Reiling, »da hab' ich wohl nichts Gutes angerichtet? Als ich davon fuhr, hatte ich keine Zeit mehr, die Mappe zu verschließen. Nun? Was sagen Sie zu dem Dinge?«

»Sie wissen meine Geheimnisse!« sagte Ulrich, indem er Reilings Hand ergriff.

»Sie sollen auch die meinigen kennen lernen, lieber Junge!« erwiederte Reiling mit Wärme. »Lassen Sie uns den Abend unter vier Augen beisammen sein. Den ganzen Tag habe ich zu laufen und Geschäfte zu betreiben, und die letztvergangene Zeit macht es mir wünschenswerth, einmal mit einem Menschen frisch von der Leber weg zu reden. Kommen Sie heute Abend um acht Uhr zu einer Tasse Thee in meine Wohnung. Adieu, auf Wiedersehen!« Reiling rief einen Bedienten, welcher draußen wartete, ließ ihn die verschiedenen Mappen unter den Arm nehmen, und eilte mit ihm davon.

Als Ulrich Abends in Reilings Wohnung trat, fand er diesen am Arbeitstische mit Briefschreiben beschäftigt, aber auf dem Tische vor dem Sofa erhellte die Lampe den Raum, und brodelte der Theekessel bereits. Zwei elegante Zimmer, ausgestattet mit Allem, was zu einem luxuriösen Junggesellencomfort gehört, stießen an einander.

»Nur zwei Minuten gestatten Sie mir noch!« rief Reiling vom Schreibtische, »die verwünschten Briefe finden kein Ende!«

Ulrich betrachtete inzwischen einige gute alte Gemälde an den Wänden.

»So!« rief Reiling aufspringend, »nun lassen Sie uns einer guten Stunde leben.« Er bereitete den Thee, und ermahnte seinen Gast, sich selbst zu bedienen. Ulrich konnte nicht umhin, noch einmal auf das besprochene Aquarell zu kommen.

»Unbegreiflich ist mir's,« sagte er, »wie Sie an jenen Ort kamen!«

»Lieber Mann,« entgegnete Reiling, »Zufall und freier Wille haben mich schon an viel schlechtere Orte geführt. Kurz und gut, ich wollte Studien machen.«

»Und haben dort mehr gefunden, als Sie suchten, so muß ich glauben.«

»Gelegenheit zur Thätigkeit findet sich überall, sie sei nun, welche sie wolle. Wenn Ihnen das Blatt behagt, so behalten Sie es, ich werde die übrigen auch vertheilen, denn für mich ist ihr Interesse vorüber. Langen Sie nicht mehr zu? Dann geben Sie mir Ihre Tasse noch einmal her, und nehmen Sie eine Cigarre. So, jetzt machen Sie sich's so bequem als möglich, und hören Sie mir zu, denn ich will Ihnen eine Geschichte erzählen.«

*

»Daß mein Vater gestorben ist,« begann Reiling, »habe ich Ihnen schon gesagt. Er besaß zehn Meilen von hier große Fabriken und Maschinenbauereien, welche nun auf mich, des Alten alleinigen Erben, übergehen. Mein Vater war ein geschickter Mann, ein großer Speculant, und ein Günstling des Speculationsglückes. Aus niederm Stande, sogar aus dürftigen Verhältnissen hervorgegangen, wurde er zum reichen Manne, und hat ein Vermögen hinterlassen, dessen Größe mir, der ich mich wenig um seine Verhältnisse gekümmert, überraschend war. Was er aber an Gütern gewann, verlor er am Menschen. Er hatte viele arme Verwandte, um die er sich nicht im Geringsten kümmerte, die er sogar verachtete. Wenn ich gelegentlich nach ihnen fragte, hieß es, das sei schlechtes, lüderliches Volk. Zum schlechten Volke gehörte für ihn Jeder, der kein Vermögen besitzt. Dergleichen hörte ich als Knabe, gewöhnte mich daran, und da ich kaum die Namen der Verwandten erfahren hatte, vergaß ich sie und betrachtete mich als allein stehend in der Welt. Und allein stand ich in der That. Meine Mutter hab' ich kaum gekannt, der Vater ließ mich in der Ferne von Fremden erziehen, ich sah ihn selten, und dann meist kalt und geschäftlich. Eine innere Beziehung hatte ich nicht zu ihm. Er bekümmerte sich wenig um mich. Ich sollte selbstständig werden, das war seine stete Ermahnung, und wenn die Uebung im Geldausgeben mit in die Erziehung zur Selbstständigkeit gehört, so hatte ich eine vortreffliche Erziehung, denn ich bekam von frühauf soviel Geld in die Hände, als ich wollte. Als ich herangewachsen war, verlangte er, ich solle in sein Geschäft eintreten. Ich aber hatte ein wenig zeichnen gelernt, und beschloß, Maler zu werden. Es gab einen Sturm mit dem Alten. Ich machte ihn jedoch aufmerksam, daß ich nur seinen Wunsch erfüllt hätte, und selbstständig geworden sei, ich würde auf meinen Willen bestehen, und wenn es sein müßte, mich ohne seine Hülfe durch die Welt schlagen. Es folgten mancherlei Auseinandersetzungen fataler Art, aber – ich war am Ende sein einziger Sohn, den zu verstoßen er nicht rechte Lust hatte. Ich durfte meiner Neigung folgen, erhielt alle Mittel, die ich brauchte, leider noch viel mehr, aber das Verhältniß zu meinem Vater wurde stets kühler. Er hatte mir zwar nie den Vater gezeigt, jetzt schien er nur noch mein Cassierer und Vermögensverwalter. Ich hatte eine Zeit, wo ich etwas zu Verstande kam, und manchmal etwas, wie einen Stich durch's Herz, fühlte über eine derartige Vaterschaft, indessen es half mir nichts, und ich schaffte dergleichen Empfindungen ab. Ich reiste nach Italien, da ich gehört hatte, dies sei für den Maler nöthig. Unvorbereitet kam ich hin, ich hatte noch kein Auge dafür, und Talent erst gar nicht.«

»Welche Selbstverkennung!« unterbrach Ulrich den Erzähler. »Sie hätten kein Talent? Sie haben bewiesen, daß Sie Genie haben, daß –«

Reiling lachte laut auf. »Genie! Potz Element! Hahaha! Dilettantenwirthschaft! Lassen wir das gut sein. Zwei Jahre in Italien halfen mir wenig, auch gefiel es mir nicht sonderlich dort.«

»Italien hat Ihnen mißfallen?« rief Ulrich gedehnt. »Aber wie ist das möglich?«

»Ganz natürlich!« entgegnete Reiling. »Eine Künstlernatur bin ich nicht, Romantik liebe ich nicht, Kunstverständniß hatte ich nicht, ein dummer Junge war ich damals noch. Ich ging nach Paris, da gefiel es mir schon besser, ich war ja auch zwei Jahre älter geworden. Mit zwanzig Jahren und hinlänglichen Wechseln findet man in Paris sehr seine Rechnung. Nach abermals zwei Jahren ging ich nach England – offen gestanden, da hat es mir am besten gefallen. Ich beschäftigte mich mehr mit Pferden, als mit dem Pinsel, doch lernte ich hier nebenbei das Aquarelliren. Es ist nicht viel damit gethan. Jede Engländerin macht das besser, sie lernen's da mit dem Abc. Darauf trieb ich mich noch sechs Jahre in Deutschland umher, von denen zwei auf meinen hiesigen Aufenthalt kommen. Gelernt habe ich dabei wenig, ein Künstler kann nicht aus mir werden, da ich es bis jetzt nicht geworden bin, und so ist es mir denn kein Opfer, diese Lebensart aufzugeben. Sehen Sie, bester Mann, da bin ich auf dem Punkte angelangt, den ich Ihnen als Hauptsache mittheilen wollte. Ich trete nämlich aus meinem bisherigen Verbande heraus, und werde Maschinenbauer und Fabrikmensch.«

Ulrich hatte dergleichen aus dem Verlauf der Erzählung schon geahnt, und doch, nachdem es ausgesprochen war, machte es ihm einen höchst betrübenden Eindruck. Er war ein Maler, voll von Künstlerstolz, und jenen Vorwürfen sehr geneigt, welche in dem realistischen Treiben der Zeit, dem Maschinen- und Fabrikwesen, der steigenden Macht des Geldes, eine tödtliche Gefahr für die Kunst erblicken. Ihm war es unbegreiflich, wie ein Mensch, der auch nur einmal in die Vorhalle des Kunsttempels geschaut habe, denselben verlassen könne, ohne die schwersten Opfer zu bringen. Er äußerte diese Gedanken unumwunden.

»Sie haben Recht, lieber Freund,« sagte Reiling. »Sie haben Recht als Künstler, aber ich habe auch Recht als Mensch der Gegenwart, als Mann, an welchen Forderungen aller Art gemacht werden. Sehen Sie meine Lage einmal etwas ernster an. Jene großartigen Unternehmungen meines Vaters haben die größte Berechtigung in unserer Zeit, sie sind ihr Ausdruck, sie gehören zu den Erscheinungsformen des modernen Geistes. Ihre praktische Seite ist noch weit wichtiger. Tausende von Menschen verdanken denselben ihr Dasein, sie sind an sie gebunden, und sind dem Elend preisgegeben, sobald ihnen das Fundament genommen wird, das ihre Existenz begründet. Sie können fragen, warum gerade ich mich dieser Geschäfte annehmen müsse, die mir bisher so fremd gewesen? Die Antwort ist sehr einfach. Ein Anderer findet nicht leicht die Mittel, all diesen Grundbesitz, diese Bauten, kurz, die Geschäftsmasse in ihrer ganzen Ausdehnung an sich zu bringen, während ein Theil meines Vermögens doch einmal darin steckt. Bin ich nicht schnell erbötig, in die Stelle meines Vaters einzutreten, so kann über die bloße Zögerung viel zu Grunde gehen. Und überdies – der Alte hatte kurz vor seinem Tode ein paar Tage, wo der Geschäftsmann vor dem besseren Menschen weichen mußte. Es erschloß sich mir plötzlich die Freude, daß ich einen Vater hatte – wenn auch nur auf kurze Zeit – und ich wollte ihm zeigen, daß er einen Sohn habe. Kurz vor seinem Tode gab ich ihm das Versprechen, daß Alles fortbestehen solle, und ich an die Spitze dessen, was er geschaffen, treten wolle. Und damit abgemacht. Seit vier Wochen bin ich schon so ziemlich eingeübt, und das Weitere wird sich geben.«

Die jungen Männer saßen einige Minuten schweigend neben einander. Die Cigarren glühten hellauf, der Dampf zog sich in großen grauen und blauen Ringen um den leuchtenden Glatzkopf der Lampe.

»Ich sehe wohl ein,« – nahm Ulrich nach einer Pause das Wort – »daß es so kommen mußte, und bin weit entfernt, es Ihnen zu verargen. Sie hatten nicht nur Recht, Sie hatten die Verpflichtung, so zu handeln.«

»Bravo!« rief Reiling, indem er aus seiner fast liegenden Lage schnell aufsprang, und dem Andern die Hand entgegenstreckte. »Daß ich das von Ihnen höre, freut mich ganz besonders! Ich muß immerhin viel aufgeben, ich kenne hier manchen guten Gesellen unter den Künstlern, sie werden mich alle als einen Abtrünnigen tadeln, und bald vergessen. Sie aber, lieber Mann, möchte ich mir gern für's Leben reserviren. Lassen Sie uns – nicht die Alten bleiben, denn wir haben bisher zu wenig Gemeinsames gehabt, lassen Sie uns in Zukunft brav zusammenhalten. Ihnen soll mein praktischer Sinn nicht schaden, mir aber sollen Sie etwas Kunst und Menschenthum in das Geschäftsleben bringen!«

Von dieser Stunde an entwickelte sich schnell und ungehindert Alles, was die jungen Männer im Stillen für einander empfunden hatten, und ein herzlicher Bund für das Leben war geschlossen. Eine Woche blieb Reiling in der Stadt, und wenn er am Tage vollauf zu thun hatte, so sahen sich die Freunde Abends, und das Gespräch war um so angeregter und lebhafter, da ihr persönlicher Verkehr diesmal nur so kurze Tage währen sollte. Natürlich hatte Ulrich das Gespräch auch bald auf Fides gebracht. Reiling schien dabei einen kleinen Hinterhalt zu haben, er war nicht so ausgiebig mit Worten, warnte den Freund sogar öfter, und spottete über sein Verhältniß zu Dame Seidenflock. Ulrich jedoch hatte kein Arg dabei, er bemerkte ein feines Lächeln gar nicht, welches zuweilen um Reilings Mund spielte. Der Tag der Abreise kam. Reiling nahm dem Freunde das Wort ab, im Sommer einige Wochen bei ihm auf dem Lande zuzubringen, und der reiche junge Fabrikherr trennte sich von dem phantastischen Kunstjünger.

*

Während der Anwesenheit Reilings hatte Ulrich die Geliebte nicht zu Gesicht bekommen, und so sehen wir ihn denn am Tage nach der Abreise desselben mit schnellen Schritten zu Dame Seidenflock eilen. Es war Sonntag, Amalia empfing ihn in gewähltester Toilette auf das Freundlichste, und begann sogleich ein ihm willkommenes Gespräch über Fides.

»Sie wissen wohl noch gar nichts von dem enormen Glücke, welches mein liebes Pflegekind gemacht hat?« rief sie. »Denken Sie nur, es hat sich ein reicher Vetter von ihr gemeldet, der ihr das glänzendste Loos in Aussicht stellt. O, die Fides ist jetzt eine außerordentlich gute Partie!«

Ulrich erstaunte, und sah erwartungsvoll nach der Thür, durch welche, wie er hoffte, Fides eintreten würde. »Und wer ist dieser Vetter?« rief er.

»Den Namen weiß ich selber nicht,« entgegnete Dame Seidenflock. »Aber wie gönne ich meinem Liebling dies große, unverhoffte Glück. Sie verdient es, sie ist ein liebes, reines, junges Geschöpf. Ach, freilich ward mir recht weh um's Herz, als nun ihre Habseligkeiten eingepackt, und sie selbst in den Wagen gehoben wurde! Ich werde sie sehr entbehren – aber sie wird ja so glücklich!«

Ulrich erbleichte. »Fides ist fort?« rief er.

»Freilich, vorgestern Abend schon,« sagte die Dame.

Ein furchtbarer Verdacht stieg in Ulrich auf.

»Sie wissen den Namen ihres Vetters nicht?« fragte er hastig. »Aber wohin hat man sie gebracht?«

Die Dame wollte auch das nicht wissen.

»Aber mein Gott,« rief Ulrich, »wer hat sie Ihnen denn entführt?«

Amalia nannte den Namen desselben Kaufmannes, welcher jüngst den Ankauf seines Bildes vermittelt hatte.

»Wie hing das zusammen?«

»Ich will Ihnen nur gestehen,« – fuhr Amalia fort, indem sie sich im Sofa zurücklehnte, und lächelnd eine riesige purpurne Schleife an ihrem Busen zurecht strich – »ich will Ihnen nur gestehen, daß dieser Herr schon seit dem Tage, da ich Fides bei mir aufnahm, ein reges Interesse jenes Vetters für das liebe Kind gezeigt hat. Er ließ ihr anständige Unterstützung zukommen – aber freilich, daß ihr Loos ein so glänzendes sein würde, erfuhren wir erst am Tage nach ihrer Abreise. Ja ja – nun, und übrigens sehen Sie nur diesen Rosenstrauß an, er ist für den Mai doch außerordentlich früh, und ich muß gestehen, in meinem Atelier könnte er nicht schöner gemacht werden, als die Natur ihn gebildet!«

Die Dame wollte vom Thema abschweifen, wollte vielleicht auch noch mehr sagen. Ulrich war außer sich vor Spannung. Er ergriff unwillkürlich ihre rundliche Hand, indem er dringend rief: »Ich bitte Sie, um Gotteswillen, lassen Sie mich Alles wissen! Sie haben noch mehr zu sagen!«

Amalie Seidenflock lächelte, halb zögernd, halb verheißend, und sagte, indem sie die Augen niederschlug: »Junger Mann – ich bin selbst dem Geheimniß nicht ganz auf die Spur gekommen, doch – ich will nicht leugnen, daß ich in Betreff Ihrer meine bestimmten Instructionen gehabt habe. Man schien von Ihnen zu wissen, man schien Ihre Annäherung an mein liebes Pflegekind nicht eben zu mißbilligen, doch sollte ich stets auf der Hut sein – und daß ich Fides allein auf Ihr Atelier gehen ließ, ist mir später recht übel genommen worden.«

Jetzt lag es für Ulrich am Tage, Reiling hatte hier die Hand im Spiele, er mußte jener Vetter sein, hatte er ihm doch selbst einst von seinen armen Verwandten gesprochen.

»Und Sie haben,« fragte er nochmals, »in der That diesen Vetter niemals gesehen?«

»Durchaus nicht,« war die Antwort. »Alles ging durch jenen Andern. Ich gestehe, daß ich das selber nicht begreife. Was übrigens die Verwandtschaft anbelangt, so habe ich Einiges in Erfahrung gebracht. Die Mutter meiner lieben Fides war die Schwester eines reich gewordenen Mannes. Dieser wollte ihre Verbindung mit einem ganz mittellosen Manne, einem niederen Beamten, nicht zugeben. Die Verbindung wurde dennoch geschlossen, und der reiche Bruder sagte sich von der Schwester völlig los. Der Vater meines Pflegekindes starb, die Mutter war in hülfloser Lage und suchte sich durch Handarbeiten zu erhalten. Sie muß eine brave Frau gewesen sein. Nun, ihr Ende wissen Sie ja. Da starb der reiche Bruder, und erst dessen Sohn erinnert sich seiner Verwandten wieder.«

Ulrich wußte genug. Er wollte sich empfehlen. Da griff Dame Seidenflock in die Tasche und überreichte ihm ein Briefchen. »Nehmen Sie,« sagte sie schalkhaft, »es ist das Letzte, was Fides mir für Sie übertragen hat. Vergessen Sie mein Haus nicht ganz, wenn gleich das Beste für Sie daraus verschwunden ist!« Ein tiefer, graziöser, seidenrauschender Knix – eine hastige Verbeugung des Malers, und die Scene war zu Ende.

Schon auf dem Hausflur riß Ulrich den Brief auseinander, und las laut athmend die geliebten Worte. »Vertraue auf mich,« schloß der Brief, »ein edler Mann, mein Vetter, den ich nie gesehen, kaum gelegentlich einmal von der guten seligen Mutter habe nennen hören, will sich meiner annehmen. Wohin man mich bringt, was aus mir werden soll, Alles das weiß ich nicht, doch wo ich auch sein werde, Du wirst mir stets theuer, und ich werde stets die Deine bleiben. Man hat meine Abreise so beeilt, daß ich Dir vorher nicht mehr Nachricht geben, Dich nicht mehr sprechen konnte. Sind wir gleich getrennt, wir werden bei einander sein. Leb wohl, Geliebter, und vertraue auf Deine Fides.«

So tröstlich diese Zeilen waren, Ulrich blieb doch in der bedingtesten Stimmung. Er grollte mit dem Freunde, daß er ihm niemals Wahrheit über Fides gegeben. Er hegte die Befürchtung, daß Reiling selbst Fides seine Hand zu reichen hoffte. Und niederdrückend war ihm auch der Gedanke, die Geliebte jetzt als eine »reiche Partie« betrachten zu müssen. Da sie noch das arme, hülflose Mädchen gewesen, wie glücklich erschien ihm jetzt diese Zeit! Nun war er wieder der arme Maler, der nichts besaß als seine Kunst und seinen Stolz, welcher letztere ihm wehrte, länger mit eigennützigen Plänen an Fides zu denken.

Tage, Wochen, Monate vergingen. Weder von Reiling, noch von Fides erfuhr er irgend etwas. Seine Stimmung ward immer resignirender, und nur eine neue Arbeit vermochte ihn darin zu trösten.

*

Es war an einem heißen Augustmorgen, die Besucher des Ateliers saßen in schweigender Arbeit beisammen. Da dröhnten kräftige Schritte auf dem Gange, die Thür wurde aufgerissen, und Reiling trat ein. »Guten Tag, ihr Herrn! Willkommen, Ulrich!« rief er, und eilte mit freudiger Umarmung auf den Freund zu. Ulrich sah ihn vor sich, seine Erscheinung zerriß plötzlich alle Wolken der Verstimmung, und die Freude des Wiedersehens trat auch in seine Züge.

»Was macht Ihr Gutes?« rief Reiling, indem er, schnell zwischen den Bildern hin lief. »Noch immer Moses? Da kniet eine Magdalene, da knien die heiligen drei Könige, und da liegt ein Abel todt – also Alles beim Alten! Ich muß leider gleich wieder fort, ihr Herrn. Ulrich, schnell nimm den Hut, Du sollst mit mir! Adieu, adieu – besucht mich einmal in Reilingsdorf!«

Rasch nahm er Ulrich unter den Arm und schritt mit ihm hinaus. »Da bin ich wieder einmal, lieber Mann,« sagte er; »leider nur auf einen Tag. Ich nehme Dich nun aber mit zu mir hinaus. Keine Einwendungen! Ich habe bei mir draußen bauen lassen. Ein altes Schloß, welches einst von ganz andern Grundsätzen aus gebaut worden war, als wir sie jetzt haben, ließ ich abbrechen, da es mir unbequem war, und nun steht schon ein nettes Wohnhaus an derselben Stelle. Es wird Dir gefallen, es macht sich sehr gut zwischen den Bäumen des alten Parks. Ein hübscher geräumiger Gartensaal wartet darauf, daß Du das Beste daran thun sollst. Ich will da nämlich Fresken haben, über die Entwickelung der Kunst und der Industrie. Die mußt Du mir machen, Du verstehst es. Hernach, wenn die übrigen Räume fertig sind, kannst Du auch da noch an die Wand malen, was Dir beliebt. Zum Frühjahr laß ich den Grundstein zu einer Kirche legen, und ist die im Stande, dann mag die biblische Richtung eures Ateliers auch da über die Wände spazieren. Du kommst doch heut gleich mit? Ich muß mit dem Mittagszuge des Dampfwagens schon wieder fort.«

Ulrich hatte große Freude an diesem Vorschlage. Schon längst war es sein Wunsch gewesen, einen Raum al fresco zu malen. Nur war es ihm unmöglich, schon in wenigen Stunden den Freund zu begleiten, da er noch Mancherlei zu besorgen hatte.

»Nun denn,« sagte Reiling, »so fährst Du morgen früh ab, versprich mir das. Ich muß Dir jetzt nach dem Willkommen gleich Lebewohl sagen, denn jede Minute ist durch ein Geschäft besetzt. Morgen also bei mir in Reilingsdorf!«

Am andern Morgen saß Ulrich im Dampfwagen, der ihn bis zu einem Anhaltspunkte der großen Eisenstraße brachte. Hierher hatte der Freund ihm einen Wagen entgegengeschickt, der ihn in einer halben Stunde an's Ziel führen sollte. Schon von ferne hörte er das Dröhnen schwerer Hammerwerke, sah er Dampfsäulen aufsteigen, welche ihm eine förmliche Industriestadt verkündeten. Fabrikgebäude gleich Palästen; saubere, fast städtische Straßen, die Wohnungen der Arbeiter und Beamten mit ihren Familien; dazwischen weite Höfe, Holzplätze, am Flusse ein Hafenleben im Kleinen, ein reges Menschentreiben – das war Reilingsdorf, das Bereich seines Freundes. Jetzt lenkte der Wagen in einen dicht belaubten alten Park, und aus einem kleinen einstöckigen Häuschen sprang ihm Reiling entgegen und begrüßte ihn mit Freude. Dieser wohnte bis zur Vollendung seines neuen Hauses in einem Verwaltungsgebäude, woselbst er auch für Ulrich eine Wohnung auf das Behaglichste hatte einrichten lassen.

Ulrich trat in das Arbeitszimmer des Fabrikherrn. Sein erster Blick fiel auf einen Gegenstand an der Wand, und mit sprachlosem Erstaunen sah er bald diesen, bald den Freund an. Er erkannte sein Bild, die Ruth, welches er nach Hamburg verkauft zu haben glaubte. Er wußte nicht, was er sagen sollte, und legte nur die Hand auf Reilings Schulter. Dieser aber lachte vergnügt. »Hat mein Commissionär in der Stadt seine Rolle nicht gut gespielt?« rief er. »Jetzt aber komm mit mir, daß ich Dir meinen neuen Bau zeige!«

Das Haus war äußerlich fertig, und stand, im anmuthigsten Landhausstyl äußerst geschmackvoll ausgeführt, inmitten großer Rasenflächen und Baumgruppen. Ueberall köstliche Blumenstücke, springende Wasser und kühle Plätze. Der Gartensaal, welchen Ulrich ausmalen sollte, hatte eine Aussicht über den Fluß mit seinen weißen Segeln, und war durch eine Freitreppe mit dem Garten verbunden.

Ulrich wurde nicht müde, seine Freude auszusprechen, und die beglückende Aussicht, hier selbstständig schaffen zu dürfen. Er machte sich, während Reiling einige Stunden seinen Geschäften nachging, sogleich daran, den Saal auszumessen, und schon bevölkerte seine Phantasie die noch weißen Wände mit allerlei Gruppen.

Reiling kam, um ihn abzuholen. »Das nenne ich Eifer!« rief er. »Aber nun hör' auf, es ist sechs Uhr, und nach der Arbeit ist gut ruhen. Die Suppe wartet.«

Nach dem Essen reichte Reiling seinem Gaste die Cigarrenkiste, faßte ihn dann unter den Arm und führte ihn hinaus. Die Abendsonne spielte golden in den Bäumen des Parks, durch dessen Gänge die Freunde schritten.

»Jetzt, mein Junge,« begann Reiling, »ist es Zeit zu Geständnissen. Und so gestehe ich Dir denn, daß ich seit drei Wochen Bräutigam bin. Du erschrickst? Stellst Du Dir darunter etwas so Entsetzliches vor?«

»Wer ist Deine Braut?« fragte Ulrich, dessen Brust sich krampfhaft hob.

»Ein ganz einfaches Mädchen,« sagte Reiling. »Ohne alles Vermögen, aber ein lieber, prächtiger Schatz, der, wie ich hoffe, eine gute, brave Hausfrau werden wird. Sie ist die Tochter des Pfarrers aus dem benachbarten Dorfe, wir sind auf dem Wege zu ihr.«

Von Ulrichs Herzen fiel eine schwere Last. Er hätte zum Danke Reiling umarmen mögen, reichte ihm aber nur die Hand mit einem kräftigen Glückwunsche. In einer Viertelstunde war das Dorf erreicht. Aus dem Pfarrhause flog eine leichte, reizende Mädchengestalt, alle Seligkeit einer Braut in den Zügen, auf Reiling zu, und dieser hob sie jauchzend auf den Arm und tanzte mit ihr in's Haus.

»Das sind mir wilde Vögel!« sagte lachend der Pfarrer, indem er Ulrich begrüßte. Die Pfarrerin und mehrere jüngere Kinder kamen herbei und reichten ihm die Hand wie einem alten Bekannten. Die Brautleute aber waren verschwunden. Der Pfarrer, ein gebildeter Mann, ließ sich mit dem Gaste in ein Gespräch ein, da aber erschienen die Verlobten Hand in Hand aus einer Nebenthür, verbeugten sich mit der größten Feierlichkeit vor Ulrich, und Reiling begann: »Hochzuverehrender Herr Kunstrath von Reilingsdorf! Sintemalen Er uns die Wände unsres neuen Hauses zu malen genehmiget, so stehen wir nicht an, Ihm das beste Modell unserer Verwandtschaft zur Verfügung zu stellen, welches Modell sogleich auf unser Commandowort vor Seinen Augen erscheinen wird. Eins, zwei, drei!« In diesem Augenblicke öffnete die junge Braut die Thür, und über die Schwelle trat eine bekannte Gestalt.

»Fides!« rief Ulrich in lautem Jubel, und umschlang das Mädchen, welches selig an seinem Halse hing.

Der Pfarrer nickte lächelnd, die Pfarrerin weinte, die Kinder tanzten und jauchzten, Reiling aber umschlang seine Braut und rief: »Laßt uns eilen mit dem neuen Hause, damit zwei glückliche Paare in seine Mauern einziehen können!«

*


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