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Fünfter Teil

 

They also serve who only
stand and wait.

Milton

 

Noch einmal fand er sich in der Einsamkeit wieder. Nun aber schien ihm die Einsamkeit, so wie er sie nie gesehen, schön und still, mit einem gütigen Antlitz, zärtlichen Augen und sanften Händen, die ihre beruhigende Kühle auf seine Stirn legten. Und diesmal wußte er, daß die göttliche Gefährtin ihn erwählt hatte.

Es ist nicht jedermanns Sache, allein zu sein. Viele klagen mit einem geheimen Stolz darüber, es zu sein, und durch Jahrhunderte klingt diese Klage, aber sie beweist, den Klagenden unbewußt, daß sie nicht Erwählte der Einsamkeit waren, nicht ihre Vertrauten. Sie haben nur die erste Tür aufgetan und warten gelangweilt im Vorraum. Doch sie haben nicht die Geduld gehabt zu warten, bis sie an die Reihe kamen, einzutreten, oder ihr Aufbegehren hat sie wieder ausgestoßen. Man dringt nicht in das Herz der Einsamkeit ohne die Gabe der Gnade oder ohne fromm erduldete Prüfung. Es tut not, vor der Tür den Staub des Weges zurückzulassen, die lärmenden Stimmen der Außenwelt, die kleinen eigensüchtigen, eitlen Gedanken, den klagenden Aufruhr enttäuschter Liebe und verwundeten Strebens. Gleich den reinen orphischen Schatten, deren sterbende Stimme uns auf goldenen Täfelchen erhalten blieb, muß man nackt und allein die »dem Kreis der Schmerzen entflohene Seele der eisigen Quelle darbieten, die dem See des Erinnerns entspringt«.

Es ist das Wunder der Auferstehung. Wer seinen sterblichen Leib verläßt und meint, alles verloren zu haben, entdeckt, daß er erst jetzt in sein wahres Wesen tritt. Und nicht nur er selbst, auch die anderen sind ihm nun zurückgegeben, und er sieht, daß er sie bis jetzt noch nie besessen. Draußen im Getümmel konnte er nie über die Köpfe der Nächsten hinwegsehen und selbst dem Nächsten, der, gegen seine Brust gepreßt, ihn fortschob, konnte er nicht lange in die Augen schauen. Es fehlt an Zeit und fehlt an Abstand. Man spürt nur das Zusammenstoßen von Körpern, die sich in ihren gemeinsam enggedrängten Schicksalen zerpressen und die der dichte Strom des Massenschicksals weiterdrängt. Seinen Sohn hatte Clérambault erst erkannt, als er schon tot war. Und die flüchtige Stunde, da er und seine Tochter sich erfühlten, war jene, wo schon alle Bande des verhängnisvollen Wahns vom Übermaß des Schmerzes gelöst waren.

Nun da er auf dem Weg allmählichen Ausschaltens und Auslesens in die Einsamkeit gelangt und, wie man meinen sollte, von der Leidenschaft der Lebendigen abgeschieden war, nun fand er sie alle wieder in einer leuchtenden Vertrautheit. Alle, nicht nur die Seinen, seine Frau, seine Kinder, sondern alle die Wesen, die er bisher irrig mit seiner schönrednerischen Liebe zu umfassen gemeint hatte – alle malten sich auf dem Grund seiner inneren Dunkelkammer ab. Am nächtigen Strom des Schicksals, der die Menschheit hinreißt, des Schicksals, das er mit ihr selbst verwechselt hatte, schienen ihm die Millionen Kämpfender wie ringende Balken in der Flut, und jeder Mensch war für sich eine Welt von Freude und Leiden, Traum und Bemühung. Und jeder Mensch war auch das Ich. Ich neige mich über ihn und sehe mich selbst. »Ich«, sagen mir seine Augen, »Ich«, sagt mir sein Herz. Ach, wie ich euch jetzt verstehe, wie doch eure Irrtümer die meinen sind. Selbst in der Erbitterung jener, die mich bekämpfen, erkenne ich dich, mein Bruder, ich lasse mich nicht täuschen: ich bin es selbst.

 

Von nun ab begann Clérambault die Menschen nicht mehr mit seinen Augen zu sehen, mit den Augen unter seiner Stirn, sondern mit seinem Herzen. Er sah sie nicht mehr mit seiner Idee als Pazifist, als Tolstoianer (was ja nur wiederum ein anderer Wahn ist), sondern aus dem Denken jedes einzelnen heraus, indem er sich in ihn verwandelte. Und er entdeckte, er durchschaute die Menschen seiner Umgebung, gerade diejenigen, die ihm die feindlichsten waren, die Intellektuellen und die Politiker, er sah ihre Falten, ihre weiß gewordenen Haare, den bitteren Zug um den Mund, ihren gekrümmten Rücken und ihre gebrechlichen Beine, sah, wie sie angespannt, angekrampft waren und jeden Augenblick in Gefahr zusammenzubrechen ... Wie waren sie doch gealtert in den letzten sechs Monaten! Im Anfang hatte die Kampfbegeisterung sie noch aufgestrafft, aber je länger der Krieg fortdauerte, je mehr seine ungeheuren Verheerungen zur Gewißheit wurden, desto mehr lastete auf jedem die Trauer um Gefallene und die Furcht, das wenige, was ihm geblieben war und das für ihn ein Unendliches bedeutete, zu verlieren. Sie taten alles, um ihre Angst nicht zu verraten, mit der äußersten Qual preßten sie die Zähne zusammen, aber selbst bei den Gläubigsten unter ihnen war die Wunde des Zweifels offen ... Freilich, man mußte schweigen! Darüber durfte man nicht sprechen; es aussprechen, hieß sich selbst vernichten ... Clérambault, der sich an Madame Mairet erinnerte, gelobte sich, von Mitleid durchdrungen, zu schweigen. Aber es war schon zu spät, man kannte seine Anschauungen, er war gewissermaßen die lebendige Verneinung, das wandelnde Gewissen. Man haßte und verabscheute ihn, aber Clérambault war ihnen darum nicht mehr böse. Am liebsten hätte er ihnen geholfen, ihre Illusionen wieder neu aufzubauen.

Von welch tragischer Größe, wie bemitleidenswert wird doch diese Leidenschaft einer Überzeugung im Innern einer Seele gerade dann, wenn sie sich selbst ihrer nicht mehr sicher fühlt. Bei den Politikern bedient sich diese Leidenschaft des lächerlichen Apparats der scharlatanhaften Deklamation, bei den Intellektuellen des tollen Trotzes krankhaft überreizter Gehirne. Aber des ungeachtet sah man überall die unheilbare Wunde, hörte den Angstschrei nach Gläubigkeit, den Schrei nach dem heroischen Wahn. Bei den jungen und schlichteren Menschen nahm diese Gläubigkeit einen rührenden Charakter an, bei ihnen gab es nicht dieses Pathos, dieses vorgetäuschte Allwissen. Nur den Schwur ekstatischer Liebe kannte sie, die alles hingegeben hat und dafür nur ein Wort erwartet, die Antwort: »Ja, es ist wahr, du lebst, meine Geliebte, mein Vaterland, du göttliche Macht, die mir das Leben und alles, was ich liebte, genommen hat ...« Und man fühlte ein Verlangen, sich hinzuknien vor diesen armen, kleinen Trauerkleidern, diesen Müttern, Bräuten und Schwestern, ihre abgemagerten Hände zu küssen, die vor Hoffnung und Furcht eines Jenseits zitterten, und zu sagen: »Weint nicht! Ihr werdet getröstet sein!«

Aber wie sie trösten, wenn man nicht an jenes Ideal glaubt, das sie leben läßt und das sie tötet? Ohne daß er sie kommen gefühlt, war die lange gesuchte Antwort endlich ihm nahe geworden, die Antwort: »Man muß die Menschen mehr als den Wahn und mehr als die Wahrheit lieben.«

 

Die Liebe Clérambaults fand keine Gegenliebe. Niemals war er mehr attackiert worden, obwohl er schon seit Monaten keine Zeile mehr veröffentlicht hatte, und im Herbst 1917 erreichten die Angriffe gegen ihn ein ganz unerhörtes Maß von Gewalttätigkeit. Lächerlich war dieses Mißverhältnis zwischen der schwachen Stimme dieses einzelnen Mannes und jenen Wutausbrüchen, doch dieses Mißverhältnis ergab sich gleicherweise in allen Ländern der Welt. Ein Dutzend armseliger, isolierter, engumschlossener Pazifisten, die keine Möglichkeit besaßen, in irgendeiner großen Zeitung zu Worte zu kommen, und die ihre gewiß rechtliche, aber doch nicht weitklingende Stimme kaum erheben konnten, entfesselte eine wahre Frenesie von Beschimpfungen und Drohungen gegen sich. Beim kleinsten Widerspruch verfiel das vielköpfige Ungeheuer, die öffentliche Meinung, sofort in Epilepsie. – Der weise Perrotin, der sich sonst über nichts wunderte, der klug abseits geblieben war und Clérambault in sein Verderben rennen ließ, erschrak im stillen vor diesem aufschäumenden Übermaß tyrannischer Dummheit. Ist man einmal in der Geschichte um Jahre über solche Zeiten hinaus, so wird man darüber lächeln, aber von nahe gesehen, merkte man, daß die menschliche Vernunft damals dicht vor dem Zusammenbruch stand. Man mußte sich fragen, warum gerade in diesem Krieg die Menschen viel allgemeiner ihre Ruhe verloren hatten als in jedem anderen der Vergangenheit. Ist er denn wirklich gewalttätiger gewesen? Kinderei! Und bewußtes Vergessen alles dessen, was zu unserer Zeit vor unseren Augen geschehen ist in Armenien, auf dem Balkan, bei der Niederdrückung der Kommune, in Kolonialkriegen und bei den neuen Konquistadoren Chinas und des Kongos ... Von allen Wesen der Erde ist, wir wissen es ja, der Mensch das grausamste Tier. – Oder kam es davon, daß sich die Menschen besonders auf diesen Krieg vorbereitet hatten? Im Gegenteil! Die Völker des Abendlandes waren an einem Punkt der Entwicklung angelangt, wo der Krieg dermaßen absurd wird, daß es unmöglich ist, ihn bei voller, bewußt bewahrter Vernunft durchzuführen. Deshalb war es nötig, die Vernunft zu betäuben, zu delirieren, wollte man nicht den Tod erleiden, den Tod durch Verzweiflung oder durch den schwärzesten Pessimismus. Deshalb regte auch die Stimme eines einzelnen, der seine Vernunft behalten hatte, die anderen, die alle gewaltsam vergessen wollten, so zum Zorn auf, denn sie hatten Angst, diese Stimme könne sie selbst erwecken und sie würden ernüchtert, nackt sich selbst und ihrer ganzen Schmach ins Auge sehen müssen.

Überdies war damals die Situation für den Krieg ungünstig. Die große neuangefachte Hoffnung auf den Sieg und den Ruhm verflüchtigte sich, denn immer klarer wurde es, von welcher Seite man auch das Problem betrachtete, daß der Krieg für alle Beteiligten ein sehr schlechtes Geschäft sein würde. Weder die materiellen Interessen, noch der Ehrgeiz, noch der Idealismus schienen auf ihre Rechnung zu kommen, und diese bittere, bald bevorstehende Enttäuschung, daß Millionen Menschen ohne Resultat aufgeopfert sein sollten, ließ die Menschen, die sich moralisch verantwortlich fühlten, vor Wut schäumen. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten, entweder sich selbst anzuklagen oder sich an anderen zu rächen. Und da fiel ihnen die Wahl natürlich nicht schwer. Wer diesen Mißerfolg vorausgesehen und alles daran gesetzt hatte, ihn zu verhindern, den machten sie nun verantwortlich für das Mißlingen. Jeder Rückzug in der Armee, jede Dummheit der Diplomaten suchte sich sofort mit einer pazifistischen Machination zu entschuldigen. Diesen Menschen, die niemand kannte, die bei niemand beliebt waren und auf die niemand hörte, schrieben ihre Gegner eine ungeheure Macht zu, eine ganze Organisation der Niederlage. Und damit niemand sich darüber täusche, daß sie nicht den starken Sieg wollten, hing man ihnen das Wort »Flaumacher« um den Hals. Es fehlte nur noch, daß man, so wie einst in der guten alten Zeit die Ketzer und Hexen, sie auch verbrannte. Der Henker war noch nicht zur Stelle, wohl aber die Henkersknechte.

Um in Schwung zu kommen, hielt man sich zunächst an ungefährliche Leute, an Frauen, Lehrer, die niemand kannte und die sich schlecht zu verteidigen wußten. Dann erst suchte man sich die saftigeren Bissen aus. Für gerissene Politiker war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich gefährlicher Rivalen zu entledigen, die einige unangenehme Geheimnisse ihrer Herren von gestern wußten. Und nach dem alten Rezept vermischte man dann in geschickter Weise die Anklagen, nähte gemeine Schwindler und jene Menschen, deren Charakter oder Geist beunruhigte, in denselben Sack, damit bei diesem Mischmasch das verdutzte Publikum nicht einmal mehr versuchen konnte, einen anständigen Menschen von einem Lumpen zu unterscheiden. Wer noch nicht genügend durch seine Tätigkeit kompromittiert war, galt dann als kompromittiert durch seine Bekanntschaften und seine Beziehungen. Und fehlten auch diese, so konnte man sie ja herbeischaffen, sie wurden ganz nach Maß des Anklageaktes jederzeit rasch zurechtgeschnitten.

War es festzustellen, ob Xavier Thouron im bestellten Auftrag Clérambault aufsuchte? Es wäre wohl möglich gewesen, daß er aus eigenem Antrieb kam, freilich, wer konnte sagen, zu welchem Zweck. Wußte er es selbst? Im Sumpf der Großstadt gibt es immer skrupellose, fieberhaft tätige arbeitsscheue Abenteurer, die überall wie die Wölfe herumschnüffeln und suchen, » quem devorent«. Ihr Hunger und ihre Neugier sind ungeheuer, und alles dient ihnen dazu, dieses bodenlose Faß zu füllen. Schwarz oder Weiß, sie tun alles ohne Gewissensbedenken, sie sind ebenso bereit, einen ins Wasser zu werfen wie hineinzuspringen, um ihn herauszuziehen. Um ihr Leben haben sie keine Angst, sie wollen nur das Tier in sich füttern und amüsieren. Wenn solche Menschen nur für einen Augenblick aufhörten, ihre Grimassen zu schneiden und zu schlingen, würden sie an Langeweile und Selbstabscheu zugrunde gehen. Aber damit hat es keine Not, dazu sind sie zu klug; sie verlieren keine Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie »in Schönheit sterben« könnten.

Niemand hätte recht sagen können, was Thouron eigentlich wollte, als er Clérambault aufsuchte. Wie immer war er ausgehungert, herumgehetzt, ziellos und nach einem Braten schnuppernd. Er gehörte zu den Seltenen seiner Klasse (und damit zum Typ der großen Journalisten), die, ohne sich die Mühe zu nehmen, das, worüber sie sprechen, zuvor zu lesen, sich doch rasch eine lebendige, blendende und oft wie durch ein Wunder sogar ziemlich richtige Vorstellung machen können. Ohne zuviel Irrtümer entwickelte er Clérambaults »Evangelium« und tat so, als ob er daran glaube. Vielleicht glaubte er wirklich daran, solange er sprach. Warum auch nicht? Er war ja auch zu gewissen Stunden Pazifist. Das hing vom Wind ab, der gerade wehte, von der Haltung gewisser Kollegen, denen er gerade nachbetete oder denen er widersprach. Clérambault war von seinen Worten berührt. Nie hatte er sich ganz das kindliche Vertrauen in den ersten besten, der ihn um Hilfe bat, abgewöhnen können, und dann war er von den gegnerischen Zeitungen nicht allzu verwöhnt. In der Überfülle des Herzens ließ er sich also seine geheimsten Gedanken entlocken. Der andere nahm sie in scheinbarer Ergebenheit auf.

Eine so eng eingegangene Bekanntschaft konnte nicht auf diesem Punkt stehen bleiben. Ein Briefwechsel begann zwischen den beiden, in dem der eine sprach und der andere ihn zum Sprechen verlockte. Thouron wollte durchaus Clérambault bereden, seine Gedanken in kleinen populären Traktaten auszusprechen, und bot sich an, sie in den Arbeiterkreisen zu verbreiten. Clérambault zögerte und sagte schließlich nein, und zwar nicht deshalb, weil er aus Prinzip (wie es heuchlerisch die Anhänger der bestehenden Ordnung und Ungerechtigkeit tun) die geheime Propaganda einer neuen Wahrheit mißbilligte, wenn keine öffentliche möglich war – jede unterdrückte Wahrheit flüchtet sich ins Unterirdische, in die Katakomben –, sondern er sagte nein, weil er sich seinerseits für eine solche Form der Wirksamkeit nicht bestimmt fühlte. Seine Aufgabe war, ganz offen zu sagen, was er dachte, und die Folgen seiner Worte auf sich zu nehmen. Das Wort mußte sich dann durch sich selbst verbreiten – seine Aufgabe konnte nicht sein, es den Menschen ins Haus zu tragen. Überdies warnte ihn ein geheimer Instinkt – er wäre errötet, hätte er sich erlaubt, ihn wach werden zu lassen –, eine Art von Mißtrauen gegen die dienstfertig angebotene Hilfe seines neuen Commis voyageur. Freilich konnte er dessen Eifer nicht immer im Zaume halten. Thouron veröffentlichte in seiner Zeitung eine Verteidigung Clérambaults, erzählte darin über seine Gespräche und Besuche, entwickelte die Gedanken seines Meisters und kommentierte sie. Clérambault war sehr erstaunt, als er seine eigenen Gedanken dort las, denn er kannte sie in dieser Form nicht wieder. Dennoch konnte er aber seine Vaterschaft nicht verleugnen, denn in die Kommentare Thourons waren Zitate aus seinen Briefen eingefügt, deren Text vollkommen korrekt war. Freilich erkannte er sich in diesen noch weniger, denn dieselben Sätze nahmen in den Zusätzen, in die sie eingepropft waren, einen Akzent und eine Farbe an, die er ihnen nie gegeben hatte. Dazu kam, daß die Zensur, besorgt um das Heil des Staates, hie und da aus den Zitaten eine halbe Zeile oder ganze Zeilen und ganz unschuldige Absätze herausgeschnitten hatte, deren Unterdrückung natürlich dem überreizten Gefühl des Lesers die ungeheuerlichsten Dinge suggerierte. Die Wirkung dieser Veröffentlichung ließ selbstverständlich nicht auf sich warten; es war Öl ins Feuer, und Clérambault wußte nicht, welche Heiligen er anrufen sollte, um seinen Verteidiger zum Schweigen zu bringen. Böse konnte er ihm freilich nicht sein, denn Thouron bekam auch sein gutes Teil an Drohungen und Beschimpfungen ab, nahm sie aber entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Fell war schon von früher reichlich gegerbt.

Daß sie beide gemeinsam beschimpft worden waren, schien Thouron ein Verfügungsrecht über Clérambault zu geben. Zuerst versuchte er ihm Aktien seiner Zeitung anzuhängen und nahm ihn dann, ohne ihn vorher zu verständigen, öffentlich in das Ehrenkomitee seines Blattes auf. Er war sehr ungehalten darüber, daß Clérambault, der erst einige Wochen später davon erfuhr, damit nicht zufrieden war, und von nun ab erkalteten ihre Beziehungen, obwohl Thouron nicht aufhörte, deshalb doch von Zeit zu Zeit in seinen Artikeln den Namen seines »berühmten Freundes« wie eine Fahne zu hissen ... Clérambault ließ es ruhig geschehen, überglücklich, ihn um diesen Preis los zu sein. Und er hatte ihn schon ganz aus den Augen verloren, als er eines Tages hörte, Thouron sei verhaftet. Man beschuldigte ihn irgendeiner schmutzigen Geldangelegenheit, in der die öffentliche Erregtheit natürlich die Hand des Feindes sehen wollte. Die dem von höherer Stelle gegebenen Wink immer gehorsame Justiz fand natürlich zwischen diesen Mogeleien und der sozusagen pazifistischen Tätigkeit, die Thouron in seinem Blatt abwechselnd mit plötzlichen Anfällen von Kriegswut ab und zu, aber nie regelmäßig und bewußt, entwickelt hatte, Zusammenhänge. Selbstverständlich machte man ihn zum Teilhaber an dem Defaitistenkomplott. Und die Beschlagnahme seiner Korrespondenz gab nun gute Gelegenheit, alle diejenigen zu kompromittieren, die man gerade kompromittieren wollte. Thouron hatte sich sorgfältig alle an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt, es waren darunter solche von allen Parteien, und nun konnte man nach Belieben auswählen. Und man wählte.

Clérambault erfuhr durch die Zeitungen, daß auch er zu den Erwählten zählte. Nun jubelten sie! Endlich hatte man ihn erwischt! Jetzt erklärte sich ja alles. Denn nicht wahr, dafür, daß irgendein Mensch anders denkt als die ganze Welt, dafür muß doch irgendein unterirdischer niedriger Beweggrund vorhanden sein! Man muß ihn nur suchen, dann wird man ihn schon finden ... Nun hatte man ihn gefunden. Ohne weiteres abzuwarten, kündigte ein Pariser Blatt öffentlich den »Verrat« Clérambaults an. In den Akten der Justiz war dafür natürlich kein Beleg, aber die Justiz ließ es ruhig sagen und berichtigte nicht, es ging sie ja nichts an. Vergebens bat Clérambault den Untersuchungsrichter, zu dem er berufen ward, man möchte ihm doch sagen, was für ein Delikt er begangen habe. Der Richter war höflich, zeigte alles Entgegenkommen, das einem Mann seines Namens gebührte, schien aber keine Eile zu haben, zu einem Ende zu kommen. Es war, als ob er noch auf irgend etwas wartete ... Worauf? ... Auf das Delikt.

 

Frau Clérambault hatte nichts von einer antiken Römerin oder von dem Geist der stolzen Jüdin in der berühmten Affäre, die Frankreich um die Jahrhundertwende in einen leidenschaftlichen Widerspruch zerriß – von jenen Frauen, die gerade durch die öffentliche Ungerechtigkeit gegen ihren Mann nur noch enger mit ihm verbunden werden. Ihr wohnte jener Instinkt ängstlichen Respekts der französischen Bourgeoisie vor der staatlichen Justiz inne, und obwohl sie guten Grund hatte zu wissen, daß die Beschuldigungen gegen Clérambault nicht stichhaltig waren, so schien ihr die Tatsache selbst, daß er überhaupt unter Anklage stand, schon eine Unehre, von der sie sich beschmutzt fühlte. Sie konnte nicht schweigend darüber hinwegkommen. Clérambault fand als Antwort auf ihre Vorwürfe, ohne es selbst zu wollen, gerade die Form, die sie am meisten außer sich brachte. Statt ihr zu entgegnen oder zum mindesten sich zu verteidigen, sagte er nur:

»Du Arme ... Jaja, ich verstehe dich ja ... Es ist ein Unglück für dich ... Jaja, du hast ja recht ...«

Und er wartete, bis das Unwetter vorüber war. Diese ruhige Hinnahme brachte Frau Clérambault, die wütend war, ihm nicht beikommen zu können, gänzlich aus der Fassung. Denn sie fühlte vollkommen, daß er nichts an seiner Handlungsweise ändern würde, obwohl er ihr recht gab. Aus Verzweiflung ließ sie ihm das letzte Wort und schüttete ihre ganze Erbitterung vor ihrem Bruder aus. Leo Camus war der letzte, ihr zur Nachsicht zu raten, er schlug ihr vielmehr vor, sich scheiden zu lassen, ja, er stellte ihr dies sogar als ihre Pflicht hin. Aber das war zuviel verlangt. Der traditionelle Abscheu vor der Ehescheidung ließ in dieser braven Bürgersfrau erst so recht das Bewußtsein ihrer tiefen Treue erwachen. Das Heilmittel schien ihr schlimmer als das Übel. So blieben die beiden Eheleute beisammen, aber die Innigkeit ihrer Gemeinschaft war dahin.

Rosine war fast immer abwesend. Um ihre Qual zu vergessen, bereitete sie sich für eine Krankenpflegerinprüfung vor und verbrachte den größten Teil des Tages außerhalb des Hauses. Aber auch wenn sie daheim war, weilten ihre Gedanken anderwärts. Clérambault hatte die einstige Stellung im Herzen seiner Tochter verloren, ein anderer hatte sie inne: Daniel. Sie blieb kühl gegenüber den zärtlichen Annäherungen ihres Vaters: es war dies für sie eine Art, ihn dafür zu bestrafen, daß er absichtslos den Bruch mit dem Freund verursacht hatte. Sie war sich vollkommen dieser Abwehr bewußt und zu gerecht, um sich daraus nicht einen Vorwurf zu machen. Aber das änderte nichts an ihrem Verhalten: ungerecht sein erleichtert das Herz.

Auch Daniel vergaß nicht, daß er unvergessen war. Er mochte seine Handlungsweise nicht sehr rühmenswert finden und schob, um allen Gewissensbissen auszuweichen, die Verantwortung dafür seiner Umgebung zu, deren tyrannischer Meinungszwang ihn gebunden hätte. Aber im Innersten war er nicht recht befriedigt.

Der Zufall kam den beiden schmollenden Verliebten zu Hilfe. Ernstlich, wenn auch nicht gefährlich verletzt, wurde Daniel nach Paris zurückgebracht. Während seiner Rekonvaleszenz begegnete er Rosine vor dem Bon Marché. Er zögerte einen Augenblick, doch sie tat nicht desgleichen, sondern kam auf ihn zu; sie gingen zusammen über den Platz und begannen eine lange Unterhaltung, die nach anfänglichem Zögern und einem Hin und Her von Vorwürfen und Geständnissen schließlich zu einer völligen Einigung führte. Und so sehr waren die beiden in ihre zärtliche Auseinandersetzung vertieft, daß sie Frau Clérambault nicht vorüberkommen sahen. Die gute Frau, wütend über diese für sie unerwartete Begegnung, lief schleunigst nach Hause, die Neuigkeit Clérambault zu übermitteln, denn trotz ihrer Unstimmigkeiten konnte sie vor ihm nicht schweigen. Auf ihre aufgeregte Erzählung – denn die Intimität ihrer Tochter mit einem Mann, dessen Familie sie beleidigt hatte, schien ihr unerhört unstatthaft – erwiderte Clérambault nach seiner neuen Gewohnheit zunächst nichts. Dann lächelte er, hob den Kopf und sagte schließlich:

»Das ist ja ausgezeichnet.«

Frau Clérambault unterbrach sich, zuckte mit den Achseln und machte Miene, aus dem Zimmer zu gehen. Bei der Tür aber wandte sie sich noch einmal um und sagte empört:

»Diese Leute haben dich und deine Tochter beleidigt, und ihr wäret beide einer Meinung, man solle nicht mehr mit ihnen verkehren. Jetzt macht deine Tochter, die sich von ihnen hat zurückweisen lassen, ihnen wieder Avancen, und du findest das ausgezeichnet! Das soll der Teufel verstehen ... Ihr seid ja Narren.«

Clérambault versuchte ihr zu erklären, daß das Glück seiner Tochter nicht darin bestünde, seiner Meinung zu sein, und daß Rosine nur recht hatte, für ihren Teil die Dummheiten ihres Vaters gutzumachen.«

»Deine Dummheiten ... nun«, sagte Frau Clérambault, »das ist das erste vernünftige Wort, das du in deinem ganzen Leben ausgesprochen hast.«

»Siehst du«, antwortete Clérambault.

Er ließ sich von ihr versprechen, Rosine nichts zu sagen, damit sie ganz frei ihren kleinen Liebesroman durchführen könne.

Als Rosine heimkehrte, strahlte ihr Gesicht, aber sie erzählte nichts. Für Frau Clérambault war es eine große Anstrengung, zu schweigen, Clérambault dagegen beobachtete mit zärtlichem Behagen, wie das Glück wieder im Gesicht seiner Tochter strahlte. Er wußte nicht genau, was vorgefallen war, aber er konnte es sich wohl denken – nämlich daß Rosine ihn ganz einfach über Bord geworfen hatte. Zweifellos hatten die beiden Verliebten sich auf Kosten ihrer Eltern geeinigt und mit wundervoller Gleichmütigkeit die gegenseitigen Übertreibungen ihrer alten Leute einander preisgegeben. Daniel war in den Leidensjahren des Schützengrabens, ohne in seinem Patriotismus erschüttert zu sein, doch vom engherzigen Fanatismus seiner Familie frei geworden, Rosine wiederum – sie handelten Zug um Zug – hatte sanft zugegeben, daß ihr Vater im Irrtum war. Ihr frommes und ein wenig gleichgültiges Herz fand sich leicht mit der stoischen Unterwerfung Daniels unter die herrschende Ordnung zusammen, und sie hatten beschlossen, gemeinsam ihren Weg zu gehen, ohne sich weiterhin zu kümmern um die Zänkereien der Alten, die vor ihnen waren und die sie nun hinter sich zurückließen. Über die Zukunft machten sie sich weiter keine Sorgen. So wie all die Millionen Wesen verlangten sie von der großen Welt nichts als ihr Teil an augenblicklichem Glück und schlossen die Augen vor dem Rest.

Frau Clérambault war aus dem Zimmer gegangen, verärgert darüber, daß ihre Tochter nichts von der Begegnung erzählt hatte. Clérambault und Rosine träumten vor sich hin, er vor dem Fenster, seine Zigarre rauchend, Rosine eine Zeitung in der Hand, in der sie nicht las. Vor ihren inneren Augen versuchte sie, sich noch einmal die Einzelheiten ihrer eben erlebten Augenblicke wieder vorzumalen, da begegneten sie dem müden Gesicht ihres Vaters. Es war ein Ausdruck von Melancholie darin, der sie erschütterte. Sie stand auf, stellte sich hinter ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit einem kleinen Seufzer von Mitleid, der aber doch ihre innere Zufriedenheit nicht ganz verbergen konnte:

»Armer Papa!«

Clérambault hob die Augen, sah Rosine an, deren Züge gegen ihren eigenen Willen noch ganz hell und strahlend waren.

»Das kleine Mädchen aber«, sagte er, »ist also nicht mehr arm?«

Rosine errötete.

»Warum sagst du das?« fragte sie.

Clérambault drohte mit dem Finger. Rosine neigte sich von rückwärts über ihn, lehnte ihre Wange an die Wange ihres Vaters.

»Es ist also nicht mehr arm?« wiederholte er.

»Nein«, sagte Rosine, »im Gegenteil, sie ist jetzt sehr reich.«

»So sag doch ein wenig, was hat sie alles?«

»Sie hat ... natürlich zunächst ihren lieben Papa ...«

»Oh, die kleine Lügnerin«, sagte Clérambault, während er versuchte, sich von ihr loszumachen und ihr in die Augen zu sehen.

Aber Rosine bedeckte ihm die Augen und den Mund mit der Hand.

»Nein, ich will nicht, daß du mich anschaust, ich will nicht, daß du noch weiterredest.« Und sie umarmte ihn und sagte dann nochmals, während ihre Hand ihn umschmeichelte:

»Armer Papa!«

 

Den Sorgen des Hauses war sie nun glücklich entkommen, und bald flog sie ganz aus dem Nest. Nach erfolgreicher Absolvierung ihrer Pflegerinprüfung wurde sie in ein Provinzspital gesandt: Nun fühlten die Clérambaults noch schmerzlicher die Leere ihres Heims.

Der Einsamere von ihnen war aber nicht Clérambault. Er wußte es und beklagte aufrichtig seine Frau, die weder stark genug war, ihm zu folgen, noch sich von ihm loszulösen. Er für seinen Teil konnte, was immer auch geschah, auf gewisse Sympathien zählen, ja, es war sogar gewiß, daß gerade eine Verfolgung neue erwecken und die bisher zurückgehaltenen ans Tageslicht bringen würde. Und eben in diesem Augenblick war eine sehr teure Zuneigung zu ihm gekommen. Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer saß, läutete es, er ging hinaus und öffnete die Tür. Eine Dame, die er nicht kannte, überreichte ihm einen Brief und sagte, er sei für ihn bestimmt. Im Dunkel des Vorraumes glaubte sie anfangs, es mit einem Diener zu tun zu haben, und merkte erst später ihren Irrtum. Er wollte sie bitten, einzutreten, aber sie sagte:

»Nein, ich bin nur die Überbringerin.«

Sie ging wieder fort, aber kaum daß sie gegangen war, bemerkte er ein kleines Veilchensträußchen, das sie auf den Schrank bei der Tür hingelegt hatte.

Im Brief aber stand:

» Tu ne cede malis, sed contra audentior ito

»Sie kämpfen für uns, und Ihr Herz ist in uns. Geben Sie uns Ihre Leiden, ich gebe Ihnen meine Hoffnung, meine Kraft, meine Liebe – ich, der ich nicht mehr tätig sein kann, der nur durch Sie tätig zu sein vermag.«

Die jugendliche Inbrunst und die letzten, ein wenig mysteriösen Worte bewegten und erregten Clérambault. Er versuchte sich das Bildnis seiner Besucherin zu erwecken. Sie war nicht mehr ganz jung gewesen: ziemlich scharfe Züge, dunkle und ernste Augen, die leise aus dem matten Antlitz lächelten. Wo hatte er sie nur schon gesehen? Aber trotz aller inneren Mühe verschwand das Bild immer mehr.

Schon einige Tage später fand er die Fremde in einer Allee des Luxembourggartens einige Schritte vor sich wieder. Sie ging an ihm vorbei, aber er überquerte die Allee, um ihr zu begegnen. Sie blieb stehen, als sie ihn kommen sah. Er dankte ihr und fragte sie, warum sie so rasch fortgegangen sei, ohne sich ihm bekannt zu machen? In diesem Augenblick bemerkte er, daß er sie seit langem kannte. Schon oft war er ihr früher im Luxembourggarten oder den umliegenden Straßen mit einem großen Jungen, offenbar ihrem Sohn, begegnet, und immer, wenn er an ihnen vorbeikam, hatten ihn ihre Blicke mit einem leisen Lächeln vertrauter Ehrfurcht begrüßt und, ohne daß er ihren Namen wußte, ohne daß er jemals mit ihnen ein Wort gewechselt hatte, gehörten sie für ihn zu jenen lieben und vertrauten Schatten, die unser tägliches Leben begleiten, und die wir nicht immer bemerken, solange sie neben uns sind, die uns aber sofort eine Leere fühlen lassen, sobald sie verschwinden. Deshalb übertrug sich unbewußt auch sein Gedanke von der Frau vor ihm auf den jungen Begleiter, der ihm an ihrer Seite fehlte, und er sagte mit einer plötzlichen unvorsichtigen Eingebung (unvorsichtig, denn wer weiß in diesen Zeiten der Trauer, wer noch in der Welt der Lebendigen ist?):

»War es Ihr Sohn, der an mich geschrieben hat?«

»Ja«, sagte sie, »er liebt Sie sehr. Wir lieben Sie seit langem.«

»Er soll doch zu mir kommen!«

Ein Schatten von Traurigkeit verhüllte das Antlitz der Mutter.

»Er kann ja nicht.«

»Wo ist er denn? An der Front?«

»Nein, hier.«

Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Clérambault:

»Ist er verwundet?«

»Wollen Sie ihn sehen?« antwortete die Mutter.

Clérambault begleitete sie. Sie schwieg, und er wagte nicht zu fragen. Er sagte nur:

»Zum mindesten haben Sie ihn um sich.«

Sie verstand und reichte ihm die Hand.

»Wir stehen einander sehr nahe.«

Er wiederholte:

»Aber Sie haben ihn wenigstens noch.«

»Ich habe seine Seele«, sagte sie.

Sie waren zu dem Haus gelangt, einem jener alten Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert, in einer der engen und noch historisch erhaltenen Straßen zwischen dem Luxembourg und Saint-Sulpice, in denen noch die zusammengehaltene Schönheit des alten Paris sichtbar geblieben ist. Die große Tür selbst war tagsüber geschlossen, Frau Froment ging Clérambault voraus, stieg am Ende des steingepflasterten Hofes ein paar Schwellen empor und schloß die Tür der ebenerdig gelegenen Wohnung auf.

»Mein kleiner Edme«, sagte sie, während sie die Zimmertür auftat, »eine Überraschung für dich! ... Rate einmal ...«

 

Clérambault sah im Bett einen jungen Mann ausgestreckt, der ihn ansah. Das blonde Antlitz des Fünfundzwanzigjährigen, dem die Abendsonne einen rötlichen Schein gab, war von klugen Augen erhellt und schien so gesund und ruhevoll, daß man gar nicht auf den Gedanken einer Krankheit kam, wenn man ihn sah.

»Sie! ...« sagte er, »Sie hier!«

Eine freudige Überraschung verjüngte noch mehr seine knabenhaften Züge, aber weder sein Leib noch seine Arme machten eine Bewegung unter der Decke. Und Clérambault merkte, daß nur sein Kopf wirklich lebendig war.

»Mama hat mich verraten«, sagte Edme Froment.

»Sie wollten mich also nicht sehen?« fragte Clérambault und neigte sich über sein Kissen.

»Das will ich nicht sagen«, antwortete Edme, »ich möchte nur nicht gern gesehen werden.«

»Und warum denn?« fragte Clérambault gutmütig, mit einer leichten Anstrengung, heiter zu scheinen.

»Weil man niemand einlädt, wenn man nicht mehr zu Hause ist.«

»Wo sind Sie denn?«

»Mein Gott, ich möchte fast darauf schwören ... in einer ägyptischen Mumie ...«

Und er deutete mit einem Blick auf das Bett, in dem sein Körper unbeweglich lag.

»Es ist kein Leben mehr darin«, sagte er.

»Du bist der Lebendigste von uns allen«, protestierte eine Stimme neben ihm.

Clérambault bemerkte auf der anderen Seite des Bettes einen jungen Mann etwa im Alter Edme Froments, der voll Gesundheit und Kraft schien. Edme Froment lächelte und sagte zu Clérambault:

»Mein Freund Chastenay hat so viel Leben in sich, daß er mir davon leiht.«

»Ach, wenn ich es dir geben könnte«, sagte der andere.

Die beiden Freunde wechselten einen zärtlichen Blick.

Chastenay fuhr fort:

»Ich würde dir dann doch nur einen Teil dessen geben, was ich dir verdanke ...«

Und indem er sich an Clérambault wandte:

»Er ist es, der uns alle aufrecht hält, nicht wahr, Frau Fanny?«

Die Mutter sagte zärtlich:

»Mein guter Sohn, das ist wohl wahr.«

»Ihr macht euch den Umstand zunutze«, sagte Edme, »daß ich mich nicht verteidigen kann ...« Und zu Clérambault sprechend: »Sie sehen, ich bin gefangen und kann mich nicht rühren.«

»Sie sind verwundet?«

»Gelähmt.«

Clérambault wagte nicht, nach Einzelheiten zu fragen.

»Sie haben aber keine Schmerzen?«

»Ach, ich wünschte es mir vielleicht, denn der Schmerz ist immerhin noch ein Band, das uns mit dieser Welt verknüpft. Aber ich gebe es zu, daß ich mich an das schwere Schweigen dieses Körpers, in den ich eingetan bin, langsam gewöhne ... übrigens, sprechen wir nicht mehr davon, jedenfalls der Geist ist frei. Wenn es auch nicht wahr ist, daß er » agitat molem«, so schlüpft er doch gern heraus.«

»Jüngst«, sagte Clérambault, »war er bei mir zu Gaste.«

»Das war nicht zum erstenmal, er ist oft zu Ihnen gekommen.«

»Und ich glaubte mich so allein ...«

»Erinnern Sie sich«, sagte Edme, »an das Wort Randolphs zu Cecil: Die Stimme eines einzigen Menschen ist imstande, in einer Stunde mehr Leben in uns zu bringen, als der Lärm von 500 Trompeten, die unaufhörlich blasen.«

»Das gilt aber auch von dir«, sagte Chastenay.

Froment schien seine Worte nicht gehört zu haben und sagte wieder zu Clérambault:

»Sie haben uns erweckt!«

Clérambault betrachtete die schönen, tapferen und ruhigen Augen des vor ihm Liegenden und sagte:

»Diese Augen bedurften dessen nicht!«

»Jetzt bedürfen sie dessen nicht mehr«, antwortete Edme. »Man sieht besser aus der Entfernung, wenn man aus den Dingen heraus ist. Aber solange ich nahe, ganz nahe war, konnte ich nichts unterscheiden.«

»So sagen Sie mir, was Sie jetzt sehen?«

»Es ist spät«, antwortete Edme, »und ich bin ein wenig müde. Wollen Sie vielleicht ein andermal kommen?«

»Ich komme morgen wieder.«

Clérambault trat aus dem Zimmer, Chastenay ging ihm nach. Er fühlte das Bedürfnis, die Geschichte der Tragödie, deren Held und Opfer sein Freund geworden war, jemandem anzuvertrauen, der die Qual und die Größe eines solchen Aktes würdigen konnte.

Edme Froment, den ein Granatsplitter an der Wirbelsäule getroffen und in seiner Vollkraft gelähmt hatte, war einer der jungen geistigen Führer seiner Generation, schön, leidenschaftlich, beredt, übervoll von Leben und Träumen, liebend und geliebt, ehrgeizig im schönsten Sinne, und nun ein lebendig Toter. Seine Mutter, die ihren ganzen Stolz und ihre ganze Liebe in ihn gesetzt hatte, sah ihn auf Lebenszeit verurteilt, und ihre Qual mußte ungeheuer sein. Aber beide verbargen sie voreinander. Diese gegenseitige Spannung hielt sie aufrecht. Beide waren sie aufeinander stolz. Sie pflegte ihn, wusch ihn, reichte ihm das Essen wie einem kleinen Kind, er wiederum zwang sich zur Ruhe, um sie zu beruhigen, und trug sie auf den Schwingen des Geistes empor.

»Ach«, sagte Chastenay, »man muß sich schämen, zu leben und gesund zu sein, noch Arme zu haben, um das Leben zu umfassen, und Gelenke, um zu gehen und zu springen, und mit vollem Bewußtsein die Frische der Luft zu trinken.« Er breitete beim Sprechen die Arme aus, hob den Kopf und atmete tief ein.

»Und das Traurigste«, fuhr er fort, indem er Kopf und Stimme beschämt senkte, »das Traurigste ist, daß ich diese Scham gar nicht wirklich fühle.«

Clérambault mußte unwillkürlich lächeln.

»Ja, es ist nicht sehr heroisch von mir«, fuhr Chastenay fort, »und doch liebe ich Froment wie niemand anderen auf der Welt. Sein Schicksal quält mich unablässig ... und doch, es ist stärker als ich. Wenn ich daran denke, daß ich unter so vielen Hingeschlachteten das Glück habe, jetzt hier zu sein, zu fühlen mit allen meinen lebendigen Sinnen, so ist es mir schwer, meine Freude zu verbergen ... Ach, es ist ja so schön, so ganz leben zu dürfen! ... Der arme Froment ... Aber Sie werden mich furchtbar egoistisch finden?«

»Nein, durchaus nicht«, sagte Clérambault. »Sie sprechen, wie die gesunde Natur spricht. Wären alle so aufrichtig wie Sie, so wäre die Menschheit nicht eine Beute jener gefährlichen Lust der Vergötterung des Leidens; Sie haben übrigens alles Recht, das Leben zu genießen, nachdem sie seine härtesten Proben bestanden haben.«

Er deutete auf das Kriegskreuz des jungen Mannes.

»Ich bin hingegangen und gehe wieder zurück«, sagte Chastenay, »aber glauben Sie mir, es ist meinerseits kein Verdienst dabei. Ich täte es ja nicht, wenn ich dem Zwang ausweichen könnte. Es hat keinen Sinn, sich Staub in die Augen zu streuen: Wenn man in das dritte Jahr des Krieges kommt, so hat man nicht mehr jene Liebe zum Wagnis und jene Gleichgültigkeit wie im Anfang. Damals, das muß ich zugestehen, hatte ich sie noch, damals war ich eine reine Unschuld an Heldentum. Aber es ist schon lange her, daß ich diese Jungfernschaft verloren habe, die aus Unbildung und Schönrederei zusammengeflickt war. Ist die einmal weg, so wird der Irrsinn des Krieges, die Idiotie der Massaker, die Häßlichkeit und Schauerlichkeit dieser Opfer auch dem Beschränktesten klar. Wenn es auch gar zu unmännlich wäre, vor dem Unvermeidlichen die Flucht zu ergreifen, so drängt man sich wenigstens nicht dazu, irgend etwas Unnötiges zu tun. Der große Corneille war eben auch ein Held des Hinterlandes. Die an der Front, die ich gekannt habe, die waren fast alle Helden gegen ihren Willen.«

»Aber das ist ja der wahre Heroismus«, sagte Clérambault.

»Und das ist jener Froments«, antwortete Chastenay, »er ist Held, weil er nicht anders kann, weil er nicht mehr bloß Mensch sein kann. Aber was ihn uns so teuer macht, ist, daß er trotzdem ein Mensch geblieben ist.«

 

Die ganze Richtigkeit dieser Worte wurde Clérambault in der langen Unterhaltung klar, die er am nächsten Nachmittag mit Froment hatte. Es war um so mehr Verdienst darin, wenn sich der Stolz Froments im Zusammenbruch seines Lebens nicht verleugnete, als er vordem niemals den Kult des Verzichts betrieben hatte. Im Gegenteil, er hatte immer große Hoffnungen und einen starken Ehrgeiz gehabt, den seine geistigen Gaben und seine glückliche Jugend durchaus rechtfertigten. Nicht einen einzigen Tag hatte er sich wie Chastenay einer Illusion über den Krieg hingegeben, sondern sofort seine gefährliche Torheit durchschaut. Diese Erkenntnis verdankte er nicht nur seinem starken Intellekt, sondern vor allem der geistigen Führerin, die von Kindheit an die Seele ihres Sohnes aus dem Reinsten ihres Wesens geformt hatte.

Frau Froment, die Clérambault fast täglich bei seinen Besuchen antraf, hielt sich abseits beim Fenster und warf von Zeit zu Zeit von ihrer Arbeit einen Blick voll Zärtlichkeit auf ihren Sohn. Sie war eine jener Frauen, die zwar nicht eine außerordentliche Intelligenz, aber doch ein Genie des Herzens besitzen. Als Witwe eines Arztes, der viel älter war als sie, und dessen weitreichender Geist den ihren befruchtet hatte, waren ihr in ihrem Leben nur zwei sehr tiefe, untereinander sehr verschiedene Neigungen bewußt geworden: die fast kindliche Neigung für ihren Gatten und die fast zärtliche für ihren Sohn.

Doktor Froment, ein Mann von großer Bildung und eigenartiger Denkweise, die er unter einer aufmerksamen Höflichkeit verbarg, um die anderen, von denen er sich unterschied, nicht zu verletzen, war lange Zeit seines Lebens auf Reisen gewesen. Er hatte fast ganz Europa, Ägypten, Persien und Indien bereist, und zwar nicht nur aus wissenschaftlichem, sondern auch aus religiösem Interesse; ihn beschäftigten ganz besonders die neue Glaubensbewegung in der Welt, der Babismus, die Christian Science und die theosophischen Lehren. In inniger Beziehung zu der pazifistischen Bewegung, ein Freund der Baronin Suttner, der er in Wien begegnet war, sah er seit langem die große Katastrophe voraus, der Europa und diejenigen, die er liebte, entgegengingen. Aber als Mann von Mut und innerlich längst gewohnt, dem ewig Ungerechten der Natur ins Auge zu schauen, versuchte er weder sich noch die Seinigen über das Drohende hinwegzutäuschen, sondern einzig ihre Seele gegen die kommenden Anstürme dieser Wogen zu stärken. Noch mehr aber als durch seine Worte war er für seine Frau – der Sohn war noch ein Kind zur Zeit seines Todes – durch sein Beispiel eine heilige Erinnerung geworden, denn im langsamen und grausamen Leiden, das ihn gefangen gehalten hatte – ein Darmkrebs –, hatte er bis zum letzten Tag ruhig seine Aufgabe erfüllt und überdies noch die Nächsten seiner Umgebung durch seine Ruhe getröstet

Frau Froment bewahrte in ihrem Herzen dieses edle Bild wie einen inneren Gott. Die ehrfürchtige Erinnerung für den toten Gefährten wurde in ihrem Leben das, was bei anderen der religiöse Glaube ist. Da sie an kein anderes Leben in der Zukunft glaubte, wandte sich ihr Gebet, insbesondere in den Stunden der Sorge, an ihn, wie an einen immer gegenwärtigen Freund, der bei einem wacht und einen berät. Durch das eigenartige Phänomen der Wiedererneuerung, das oft nach dem Tod eines geliebten Wesens eintritt, schien das Innerste der Seele ihres Mannes in sie übergegangen zu sein. So erwuchs ihr Sohn in einer von ruhigen Ausblicken umhüllten Gedankenatmosphäre, die ganz verschieden war von jener tropisch fiebrigen Landschaft, in der die junge Generation vor 1914, unruhig, glühend, aggressiv und vom Warten ungeduldig gemacht, mannbar wurde ... Als dann der Krieg ausbrach, mußte Frau Froment weder sich noch ihren Sohn gegen die Verführung der nationalen Leidenschaft schützen: Sie war beiden von vornherein fremd. Sie versuchten auch nicht, dem Unvermeidlichen zu widerstehen, wußten sie doch schon lange, daß dieses Unglück unterwegs war. Für sie handelte es sich einzig darum, alles zu ertragen, ohne sich ihm zu beugen, um das zu retten, was gerettet sein mußte: die Treue der Seele zu ihrem Glauben. Frau Froment glaubte nicht, daß es nötig sei, »über dem Getümmel« zu bleiben, um es zu beherrschen, und was zwei oder drei französische, englische, deutsche Schriftsteller durch ihre Artikel für die internationale Versöhnung versuchten, das erfüllte sie von sich aus in ihrem beschränkten Kreis viel einfacher und viel wirksamer.

Sie hatte ihre alten Beziehungen aufrechterhalten, und ohne sich in dem vom Kriegswahn verseuchten Milieu gehemmt zu fühlen, ohne jemals leere Demonstrationen gegen den Krieg zu versuchen, schuf sie durch ihre bloße Gegenwart, durch ihr ruhiges Wort, ihren klaren Blick, ihr beherrschtes Urteil, durch den Respekt, den ihre Güte einflößte, eine Art Hemmung gegen die sinnlosen Übertreibungen des Hasses. Sie war es auch, die in den Kreisen, die sie dafür empfänglich hielt, die Botschaft der freien Europäer und die Artikel Clérambaults verbreitete, der davon niemals erfuhr, und sie hatte die Genugtuung, daß sie in den Herzen Widerklang fanden. Aber ihre größte Freude war, daß ihr Sohn selbst daran geformt wurde.

Edme Froment hatte nichts von einem Tolstoianer in seinem Pazifismus. Zu Anfang betrachtete er den Krieg noch viel mehr als Dummheit wie als Verbrechen. Wäre ihm Freiheit gelassen worden, so hätte er sich, wie Perrotin, aus der Welt der Tat in den erhabenen Dilettantismus der Kunst und der Ideen zurückgezogen und niemals versucht, die öffentliche Meinung zu bekämpfen, weil er diesen Kampf für aussichtslos hielt. Ihm flößte damals die Narrheit der Welt eher Verachtung als Mitleid ein. Zur Teilnahme am Krieg gewaltsam gezwungen, sah er erst ein, daß diese Narrheit durch das Leiden längst überzahlt war und es überflüssig sei, auf die Verurteilung des Krieges noch die Verachtung zu häufen. Der Mensch schuf sich selbst seine Hölle auf Erden, es war nicht notwendig, ihn noch einmal dafür zu richten. Zu gleicher Zeit hatten ihm die Worte Clérambaults, die er während seiner Urlaubszeit in Paris kennenlernte, gezeigt, daß er Besseres zu tun habe, als sich als Richter seiner gefesselten Kameraden aufzuspielen: nämlich zu versuchen, deren Last zu teilen und sie davon zu befreien.

Nur ging der junge Schüler darin weiter als sein Lehrer, dessen liebebedürftige, ein wenig schwächliche Natur glücklich war in einer Gemeinschaft mit den Menschen, der daran litt, sich von ihnen zu trennen, selbst wenn sie im Irrtum waren. Clérambault zweifelte stets an sich. Er sah nach rechts und links, suchte in den Augen der menschlichen Masse nach einer Zustimmung zu seinen Ideen und erschöpfte sich im unfruchtbaren Bemühen, sein inneres Gesetz mit den sozialen Bestrebungen und Kämpfen seiner Zeit in Einklang zu bringen. Für Froment, den Hingestreckten, der in seinem unterjochten Körper die Seele eines Führers hatte, bestand kein Zweifel an der absoluten Pflicht für jeden, dem die Flamme eines großen Ideals anvertraut ist, sie über die Häupter seiner Gefährten zu erheben. Warum versuchen, das Licht ängstlich zuzudecken oder es im Schein der andern Leuchten aufgehen zu lassen? Der Gemeinplatz der Demokratien: »Die ganze Welt ist klüger als der eine Voltaire«, war für ihn ein Irrtum ... Demokritos sagt: » Unus mihi pro populo est.« »Ein einziger zählt für mich soviel wie tausend.« Nach der Meinung unserer Zeit stellt die staatliche Gesellschaft den Gipfel der menschlichen Entwicklung dar. Wer kann die Wahrheit dieser Hypothese beweisen? »Für mich«, sagte Froment, »ist der höchste Gipfelpunkt einzig im überlegenen Individuum. Millionen Menschen haben gelebt und sind gestorben, um eine einzige höchste Gedankenblüte zu entfalten. In verschwenderischer Art geht die Natur zu diesem Ziel, sie opfert ganze Völker, um einen Jesus, einen Buddha, einen Äschylos, einen Leonardo, einen Newton, einen Beethoven zu schaffen. Was wären denn die Völker, was wäre die Menschheit ohne diese Menschen? ... Wir wollen damit nicht das egoistische Ideal des Übermenschen aufnehmen. Ein großer Mann ist groß für, ist groß statt aller anderen Menschen. Seine Persönlichkeit drückt Millionen Menschen aus und führt sie empor, denn sie ist die Verkörperlichung ihrer geheimsten Kräfte, ihrer höchsten Wünsche. Sie drängt sie alle in ihrem Wesen zusammen – und schon sind sie verwirklicht. Die einzige Tatsache, daß ein Mensch Christus gewesen ist, hat Jahrhunderte der Menschheit erhoben und über die Erde hinweggetragen und sie mit göttlichen Kräften erfüllt. Und obwohl neunzehn Jahrhunderte seitdem vergangen sind, haben doch die Millionen Menschen niemals die Höhe des Vorbildes erreicht und mühen sich noch immer, ihm nachzukommen. – Wird das individualistische Ideal in dieser Weise verstanden, so ist es fruchtbarer für die menschliche Gesellschaft als das kommunistische, das nur zu der mechanisch-technischen Vollendung eines Ameisenhaufens führt. Zum mindesten ist es aber unentbehrlich als Korrektiv und als Ergänzung des anderen.«

Dieser stolze Individualismus, den Froment in heißen Worten ausdrückte, richtete den immer ein wenig schwankenden Geist Clérambaults auf, der leicht unentschieden blieb, teils aus Güte, teils aus Zweifel an sich selbst, teils durch die Bemühung, immer auch die anderen zu verstehen.

Noch einen anderen Dienst erwies ihm Froment dadurch, daß er mehr als Clérambault über die internationalen Gedanken informiert war. Da er durch seine Familie unter den Intellektuellen aller Länder Beziehungen hatte und vier oder fünf fremde Sprachen beherrschte, konnte Froment dem älteren Freund Kenntnis geben von den anderen großen Einsamen, die in jeder Nation für das Recht des freien Gewissens kämpften. Er zeigte ihm die ganze unterirdische Arbeit des niedergehaltenen Gedankens, der sich bemühte, die Wahrheit zu finden. Und es war dies ein tröstliches Schauspiel, daß selbst das Zeitalter der furchtbarsten moralischen Tyrannei, die seit der Inquisition auf der Seele der Menschheit lastete, es doch nicht zuwege brachte, in der Elite jedes Volkes den unbändigen Lebenswillen nach Freiheit und Wahrheit zu ersticken.

Freilich, diese unabhängigen Persönlichkeiten waren selten, aber darum war ihre moralische Macht eine um so größere. Ergreifend zeichnete sich ihre Silhouette gegen den leeren Horizont ab, und im Sturz der Völker in die Tiefe des Abgrundes, wo Millionen Seelen zu einem formlosen Brei sich vermengten, erklang ihre Stimme als das einzige menschliche Wort. Daß sie tätig waren, wurde vor allem sichtbar durch die Wut derjenigen, die ihr Tun zu leugnen suchten. Schon vor einem Jahrhundert schrieb Chateaubriand:

»Kämpfe haben keinen Sinn mehr. Man muß sein, das ist die einzige Sache, die notwendig ist.«

Doch er sah nicht voraus, daß in unserer Zeit »sein«, das heißt »man selbst sein«, »frei sein«, gerade den allergrößten Kampf erforderte. Aber die Menschen, die ganz ihr wahres Ich sind, dominieren schon durch diese einzige Tatsache der Gleichförmigkeit der anderen.

 

Clérambault war nicht der einzige, der die Energie Froments als so wohltuend empfand und empfing. Bei jedem seiner Besuche begegnete er am Krankenlager des jungen Mannes irgendeinem Freund, der gekommen war, um ihn aufzurichten und – ohne daß er es sich eingestand – von ihm aufgerichtet zu werden. Zwei oder drei waren junge Leute im Alter Froments, die anderen ältere Männer, meist schon über fünfzig hinaus, entweder alte Freunde der Familie oder solche, die Froment schon vor dem Krieg gekannt hatten. Einer von ihnen, ein alter Hellenist mit feinem und zerstreutem Lächeln, war sein Lehrer gewesen. Unter den anderen war noch ein Bildhauer mit grauem Haar, schlaffen und von tragischen Falten durchzogenem Gesicht, ein Landjunker mit kurzgeschorenen Haaren, roter Gesichtsfarbe, dem viereckigen Kopf eines Bauern, schließlich noch ein weißbärtiger Arzt mit einem Ausdruck von Sanftmut in seinem müden Gesicht, dessen Blick durch den verschiedenen Ausdruck der beiden Augen überraschte: das eine schien scharf mit einem Zwinkern von Zweifel zu beobachten, das andere melancholisch vor sich hinzuträumen.

Diese Menschen, die sich manchmal bei dem Kranken vereint fanden, glichen einander in keiner Weise. Man konnte in dieser kleinen Gruppe alle Gedankenformen vertreten finden vom Katholiken zum Freigeist und selbst zum Bolschewisten, als welcher sich einer der jungen Kameraden Froments bekannte. In ihnen war der Einfluß der verschiedensten geistigen Ahnen sichtbar wirksam: im alten Hellenisten derjenige des ironischen Lucian, bei dem Grafen de Coulanges derjenige der alten französischen Chronisten der Collection Michaud. Der Bildhauer zermürbte seine Stirn, um eine Metaphysik in Beethoven und Rodin herauszufinden, der Doktor Verrier, der für Religion das mitleidige Lächeln des Wissenschaftlers hatte, versetzte die Wunderwelt, deren er bedurfte, in das Reich der biologischen Hypothesen und der blendenden Gleichungen der modernen Physik und Chemie. So schmerzlich ihm auch das Leiden der Zeit war, so entschwand die Ära des Krieges mit all ihrem blutnassen Ruhm in die Ferne gegenüber den heroischen geistigen Entdeckungen, die der freie Deutsche Einstein inmitten der menschlichen Verirrung, ein neuer Newton, vollbrachte.

So schien alles zwischen diesen Menschen widersprechend zu sein, sowohl ihre geistige Form als auch ihr Temperament. Aber in einem waren sie alle einig, daß sie keiner Partei zugehörten, nur aus sich selbst heraus dachten und Ehrfurcht und Liebe für die Freiheit hatten, für die ihre und für die der anderen! Und das ist doch das Wesentliche! In unserer gegenwärtigen Epoche zerbrechen die alten Formen, stürzen die politischen, religiösen oder sozialen Parteien zusammen. Es bedeutet ja nur einen kleinen Fortschritt, sich statt einen Monarchisten einen Sozialisten oder Republikaner zu nennen, insolange diese Gruppen sich noch dem Nationalismus ihres Staates, dem Glauben oder der Klasse unterwerfen. In Wahrheit gibt es heute nur noch zwei Formen des Geistes: die einen, die sich in ihre Grenze einschließen, und die anderen, die allem Lebendigen aufgetan sind, die in sich die ganze Menschheit fühlen, sogar ihre Feinde. So wenig zahlreich diese Männer auch sein mögen, sie formen, ohne es zu wissen, die wahre Internationale, jene, die auf dem Kultus der Wahrheit und des umfassenden und allen gleich zugehörigen Lebens ruht. Einzeln zu schwach, ihr unermeßliches Ideal zu umfassen, umfaßt doch das Ideal sie alle. Und alle in ihm geeint, wandern sie, jeder auf einem verschiedenen Weg, dem unbekannten Gott entgegen.

Was nun in diesem Augenblick diese so verschiedenen freien Seelen um Edme Froment versammelte, war das dunkle Gefühl, er sei der Punkt, wo sich ihre Zielrichtungen begegneten, der Kreuzweg, von dem man alle Wege ausstrahlen sieht. Froment war nicht immer ein solcher Mittelpunkt gewesen; solange er noch Herrschaft über seinen Körper und seine Gesundheit hatte, ging auch er seinen Weg abseits von den anderen. Aber seit sein Lauf unterbrochen war, hatte er sich nach einer Periode kurzer Verzweiflung – die er aber sorgsam den Blicken seiner Umgebung verbarg – gleichsam als Wegkreuz aufgestellt: gerade weil er selbst nicht mehr tätig sein konnte, vermochte er die Tat der anderen besser zu überblicken und im Geist daran teilzunehmen. Er sah in den verschiedenen Strömungen – Vaterland, Revolution, Staats- und Klassenkampf, Wissenschaft und Glauben – nur die vermengten Kräfte eines Wildbaches mit seinen Stromschnellen, Wirbeln und sandigen Stellen; manchmal scheint er zurückgeworfen zu werden oder zu schlafen. Aber die Strömungen gehen unwiderstehlich nach vorwärts: selbst die Reaktion wird immer weiter gerissen. Und er, der junge Gekreuzigte am Kreuzweg, vermählte sich allen Strömungen, dem ganzen Strom.

Clérambault fand in ihm einige Züge Perrotins wieder. Aber Welten trennten Froment von Perrotin. Wenn auch er so wie jener nichts Vorhandenes leugnete und alles zu verstehen suchte, so tat er es doch mit einer begeisterten Seele. Alles wurde in seinem Herzen Bewegung und beherrschte Leidenschaft. Alles, Tod und Leben, war bei ihm Gang und Aufstieg – unbeweglich nur er selbst, sein eigener Leib.

Inzwischen war eine dunkle Stunde gekommen. Man hatte die Wende der Jahre 1917/18 überschritten. Die nebligen Winternächte waren schwer von der Erwartung des letzten Ansturms der deutschen Armeen. Seit Monaten war er durch drohende Gerüchte angekündigt, die Streifzüge der Flieger über Paris schienen schon seine Vorboten zu sein. Die Verfechter des Krieges »bis zum endgültigen Sieg« spiegelten vollkommene Sicherheit vor, die Zeitungen fuhren fort zu prahlen, und Clemenceau behauptete, nie besser geschlafen zu haben. Aber die geistige Spannung verriet sich in der wachsenden Schärfe des Hasses zwischen den Nichtkämpfern. Man lenkte die öffentliche Beunruhigung auf die Verdächtigen des Hinterlandes, auf die Flaumacher ab. Hochverratsprozesse erhitzten und beschäftigten die Moral des Hinterlandes, die Angeber mit der Heldengeste Corneilles, die patriotischen Denunzianten, die fanatischen Zeugen vervielfältigten sich, und das Gebell der öffentlichen Ankläger kläffte durch Tage zornig hinter den armen, gehetzten Opfern her. Als dann zu Ende März die über Paris hängende deutsche Offensive losbrach, erreichte der überhitzte Bürgerhaß seinen Zenith, und es war gewiß, daß, wenn ein Durchbruch gelungen wäre, noch ehe die feindliche Armee Paris erreicht hätte, der Galgen von Vincennes, dieser Altar des rächenden und bedrohten Vaterlandes, seine Opfer empfangen hätte, gleichgültig, ob sie schuldig oder unschuldig, ob sie nur angeklagt oder abgeurteilt waren.

Clérambault wurde öfters in den Straßen beschimpft. Er regte sich darüber nicht auf, vielleicht, weil er sich des Gefährlichen der Situation nicht ganz bewußt war. Eines Tages traf Moreau ihn inmitten einer Gruppe von Passanten in einer Diskussion mit einem wutschäumenden jungen Menschen, der ihn in verletzender Weise angegangen hatte. Während er noch sprach, hörte man ganz in der Nähe die Explosionen der »dicken Berta«. Clérambault schien es nicht zu merken, er fuhr ruhig fort, vor dem Zornigen seine Ideen zu entwickeln. In dieser Beharrlichkeit war eine gewisse Komik, und die Zuhörer, die als gute Franzosen das gleich merkten, tauschten darüber allerhand, zwar nicht sehr höfliche, aber doch auch nicht böswillige Witze aus. Moreau faßte Clérambault am Arm, um ihn wegzuziehen. Clérambault schaute auf, sah die lachenden Leute, erfaßte nun seinerseits das Komische der Situation und lachte mit den anderen.

»Was für ein alter Narr ... Nicht wahr?« sagte er zu Moreau, der ihn wegzog.

»Es gibt aber auch andere Narren. Man muß sich in acht nehmen«, antwortete Moreau in recht energischer Weise. Aber Clérambault wollte ihn nicht verstehen.

Inzwischen war das Untersuchungsverfahren seines Prozesses in eine neue Phase getreten. Clérambault war des Vergehens gegen das Gesetz vom 5. August 1914, das »staatsgefährliche Äußerungen während des Krieges« verhindern sollte, beschuldigt; man klagte ihn der pazifistischen Propaganda in den Arbeiterkreisen an, in denen Thouron die Schriften Clérambaults mit seinem Einverständnis verbreitet hätte. Nichts konnte unrichtiger sein, denn weder wußte Clérambault von einer Propaganda dieser Art, noch hatte er sie autorisiert, was Thouron auch bezeugen konnte. Aber nun ergab sich das Seltsame, daß Thouron dies nicht bezeugte. Sein Verhalten erwies sich als äußerst merkwürdig; statt die Dinge richtigzustellen, machte er allerhand Winkelzüge, tat so, als ob er etwas zu verbergen hätte, ja, er tat es sogar in einer gewissen absichtlichen Weise und hätte sich gar nicht gefährlicher benehmen können, wenn es seine innerste Absicht gewesen wäre, solch einen Verdacht zu erwecken. Verhängnisvollerweise lenkte sich dieser Verdacht nun gegen Clérambault. Zwar sagte Thouron nichts gegen ihn oder gegen irgend jemanden aus, er weigerte sich, irgend etwas zu sagen, aber er ließ immer durchblicken, daß, wenn er reden wollte ... Aber er wollte nicht. Man konfrontierte ihn mit Clérambault. Er benahm sich tadellos, geradezu ritterlich, legte die Hand auf das Herz und versicherte den »Meister«, den »Freund« seiner kindlichen Verehrung. Clérambault versuchte ihn voll Ungeduld endlich zu einer klaren Darstellung dessen zu bringen, was zwischen ihnen vorgegangen war, der andere aber fuhr immer nur fort, seine »unerschütterliche Ergebenheit« zu bezeugen. Mehr könne er nicht sagen, nichts seinen Aussagen hinzufügen, er nehme alles auf sich.

Dieses Benehmen ließ ihn nach außen sympathisch erscheinen, Clérambault aber in den Verdacht kommen, als wolle er sich durch Aufopferung seines Vasallen aus der Affäre ziehen. Die Zeitungen zögerten nicht lange und beschuldigten ihn der Feigheit. Inzwischen folgte eine Vorladung der anderen, seit zwei Monaten mußte sich Clérambault zu ganz nichtigen Verhören begeben, zu denen ihn die Richter zitierten, ohne daß sich irgendeine Entscheidung anzeigte. Nun sollte man glauben, daß ein Mann, der so lange ohne die geringsten Beweise angeklagt und unter dem schimpflichen Verdacht gehalten wurde, bei der Öffentlichkeit Sympathien gefunden hätte. Aber im Gegenteil: Sie wurde noch gereizter gegen ihn, man verzieh es ihm nicht, daß er nicht schon verurteilt war. Die tollsten Erfindungen zirkulierten in der Presse, man behauptete, die Sachverständigen hätten an der Form gewisser Buchstaben und an einzelnen besonderen Schriftzeichen entdeckt, daß eine der Flugschriften Clérambaults von Deutschen gedruckt und verbreitet worden war. So dumm diese Erfindungen waren, sie fanden doch Zugang bei der Leichtgläubigkeit der Leute, die, man behauptete es wenigstens, vor dem Krieg vernünftig gewesen waren. Es waren erst vier Jahre seitdem vergangen, aber es schienen schon Jahrhunderte zu sein.

Kurz, die braven Leute verurteilten einen der Ihren ohne weitere Nachfrage; es war nicht das erstemal und wird nicht das letztemal sein. Die gut abgerichtete öffentliche Meinung empörte sich darüber, daß Clérambault noch frei herumging, und die reaktionären Blätter, die fürchteten, ihre Beute könne ihnen entgehen, klagten die Justiz an, versuchten sie einzuschüchtern und verlangten, die Affäre müsse dem Zivilgericht entzogen und dem Militärgericht übergeben werden. Rasch erreichte die Erregung einen jener Paroxysmen, die in Paris im allgemeinen kurz, aber furchtbar zügellos sind. Denn dieses sonst so vernünftige Volk deliriert von Zeit zu Zeit. Man muß sich fragen, wie die Leute, die zum großen Teil gar nicht böse sind und von Natur aus zu gegenseitiger Nachsicht, ja Gleichgültigkeit geneigt, plötzlich zu solchen Explosionen von zornigem Fanatismus kommen, bei denen sie gleichzeitig ihren Kopf und ihr Herz verlieren. Manche sagen, dieses Volk hätte eine Frauennatur, sowohl in seinen Tugenden wie in seinen Lastern, und daß die Feinheit seiner Nerven und die Sensibilität, der ja seine Kunst und sein Geschmack den Vorrang verdanken, es plötzlich in hysterische Krisen verfallen lassen. Ich glaube vielmehr, daß jedes Volk nur durch Zufall einmal menschlich ist – wenn man unter Mensch ein vernünftiges Tier versteht. Die Menschen machen von ihrer Vernunft nur selten Gebrauch. Im allgemeinen sind sie von der Anstrengung, zu denken, gleich ermattet, und man tut ihnen wohl, wenn man ihnen das Wollen abnimmt und für sie nur das will, was die wenigste Anstrengung erfordert. Die Anstrengung nun, irgendeine neue Idee zu hassen, ist wirklich keine allzu große. Aber brechen wir nicht den Stab über sie! Der Freund aller Verfolgten hat mit seinem nachsichtigen Heroismus gesagt: »Sie wissen nicht, was sie tun.«

Eine nationalistische Zeitung fand sich bereit, die bösartigen Instinkte, die in diesen armen Menschen schlummerten, aufzuwecken. Sie lebte ja einzig nur von der Ausbeutung der Verdächtigung und des Hasses, was sie »für die Erneuerung Frankreichs arbeiten« nannte. Für sie bestand eben Frankreich einzig aus ihr selbst und ihren Gesinnungsgenossen. Sie veröffentlichte gegen »Cléramboche« eine Reihe mörderischer Artikel, ähnlich jenen, die so gut ihr Ziel gegen Jaurès erreicht hatten, sie hetzte die öffentliche Meinung auf, indem sie schrie: Geheimnisvolle Einflüsse seien am Werk, den Verräter zu schützen, und man müsse darüber wachen, daß er nicht entkomme. Und schließlich appellierte sie an die Justiz des Volkes.

Viktor Vaucoux haßte Clérambault.

Er kannte ihn nicht. Der Haß braucht ja seinen Gegner nicht zu kennen. Aber hätte Vaucoux Clérambault gekannt, so hätte er ihn noch mehr gehaßt. Ehe er wußte, daß es einen Clérambault gebe, war er schon sein geborener Feind. Es gibt in jedem Land geistige Rassen, die sich feindlicher sind als die des Blutes oder die der Uniformen.

Er stammte aus begüterter Bürgerschaft im Westen Frankreichs, aus einer Beamtenfamilie des Kaiserreiches und des Systems von Zucht und Ordnung, die sich seit vierzig Jahren in den Schmollwinkel einer sterilen Opposition zurückgezogen hatte. Er besaß Güter in der Charente, dort verbrachte er den Sommer, die übrige Zeit war er in Paris. Es war eine dekadente Familie, wie es die jener Gesellschaftsklasse ja gewöhnlich sind, und sowohl gegen seine Klasse als gegen die eigene Familie wandte sich sein Herrschinstinkt, für den er im Leben keine andere Verwendung fand. Die Unterdrückung seiner Herrschbegierde gab ihm einen tyrannischen Charakter, er despotierte, ohne es zu wissen, die Seinen, gleichsam aus einem Recht und einer unbestreitbaren Pflicht heraus. Das Wort Toleranz hatte keinen Sinn für ihn. Für ihn war es gewiß: Er konnte sich nicht irren. Dabei war er intelligent, hatte eine gewisse sittliche Gesundheit – ja sogar ein Herz, aber das alles unter einer dicken Rinde wie bei einem alten überwucherten Stamm zusammengepreßt und gebunden. Seine Kräfte, die sich nicht auswirken konnten, stauten sich und stockten. Von außen nahm er nichts auf. Wenn er las, wenn er reiste, tat er es mit feindlichen Augen und dem Verlangen, sich wieder zu finden. Nichts schnitt durch die Rinde in sein innerstes Wesen hinein. Was er an Leben hatte, kam von unten, von der Wurzel, von der Erde – von den Toten.

Er war der Typus jener Rassenschicht, die, zwar stark, aber doch schon gealtert, nicht mehr genug Leben hat, um sich nach außenhin zu entwickeln, und sich im Gefühl einer aggressiven Verteidigung zusammenschließt. Sie beobachtet mit Mißtrauen und Antipathie die neuen jungen Kräfte, die sich rings um sie, innerhalb und außerhalb ihres Volkes, entwickeln, die aufsteigenden Nationen und Klassen, alle die leidenschaftlichen und ungeschickten Versuche sittlicher und sozialer Erneuerung. Solche Leute brauchen, wie der arme Barrès und sein verkrüppelter Held, Mauern, Schranken, Grenzen und Feinde.

In diesem Belagerungszustand lebte auch Vaucoux und ließ die Seinen so leben. Seine sanfte, gleichmütige, verblühte Frau hatte das einzige Mittel gefunden, diesem Zustand zu entkommen: Sie war gestorben. Allein mit seiner Trauer zurückgeblieben, die er eifersüchtig behütete – wie alles, was ihm gehörte –, errichtete er einen Schutzwall um die Jugend seines einzigen, dreizehnjährigen Sohnes und lehrte ihn, mit dem Vater zusammen diesen Schutzwall zu bewachen. Wie seltsam, Söhne zu zeugen, um mit ihnen gegen die Zukunft zu kämpfen! Sich selbst überlassen, hätte der junge Bursche vielleicht das Leben von sich aus entdeckt, aber im Gefängnis des Vaters wurde er eine Beute des Vaters. Sie lebten in einem versperrten Haus mit wenig Beziehungen, wenig Büchern, wenig Zeitungen, mit Ausnahme einer einzigen, deren versteinerte Prinzipien am besten Vaucoux' Bedürfnis nach Erhaltung (im Sinne von Mumifizierung) entsprachen. Sein Opfer, sein Sohn, konnte ihm nicht entkommen. Er impfte ihm seine geistige Abirrung ein, wie Insekten ihre Eier in den lebendigen Körper eines anderen Tieres einpflanzen, und als der Krieg ausbrach, führte er ihn in das Rekrutierungsbüro und ließ ihn einschreiben. Für einen Mann seiner Art war das Vaterland das reinste aller Wesen, das heiligste der heiligen. Er mußte nicht erst, um sich zu begeistern, die heiße Luft und den Rausch der Menge ein trinken; er hielt sich weit weg von der großen Masse. Das Vaterland war in ihm. Das Vaterland: die Vergangenheit, die ewige Vergangenheit.

Und sein Sohn wurde getötet wie derjenige Clérambaults, wie diejenigen von Millionen Vätern für den Glauben jener Väter an ein vergangenes Ideal, an das sie selbst gar nicht glaubten.

Aber Vaucoux kannte nicht die Zweifel Clérambaults. Zweifel? Er wußte gar nicht, was Zweifeln bedeutete, und hätte er es sich erlaubt, er würde sich verachtet haben. Dieser harte Mensch liebte seinen Sohn leidenschaftlich, obwohl er es ihm nie gezeigt hatte, und er wußte keine andere Art, es nun zu beweisen, als durch einen leidenschaftlichen Haß gegen diejenigen, die ihn getötet hatten. Freilich zählte er sich nicht selber zu jenen, die ihn hingeschlachtet hatten.

Für seine Rache waren ihm aber nur begrenzte Möglichkeiten gegeben. Obwohl er Rheumatiker war und einen steifen Arm hatte, wollte er in die Armee eintreten, wurde aber nicht angenommen. Er mußte aber doch etwas tun und vermochte es nur durch Denken. Allein in seinem Haus, als Gefährten nur seine tote Frau und seinen toten Sohn, gab er sich durch Stunden leidenschaftlichen Betrachtungen hin. Wie ein gefangenes Tier, das an den Stäben rüttelt, drehten sie sich rasend im Kreis des Krieges, soweit ihn die Schützengräben zogen, voll Gier auszubrechen und nach einer Öffnung suchend.

Die Artikel Clérambaults, die ihm durch das Wutgeheul seiner Zeitung bekannt wurden, brachten ihn außer sich. Was? ... Man versuchte ihm den Knochen des Hasses aus den Zähnen zu reißen? ... Schon aus dem wenigen, was er von Clérambault vor dem Krieg kannte, war dieser ihm unerträglich gewesen. Der Schriftsteller durch seine Bemühung um neue Kunstformen, der Mann durch seine Lebens- und Menschenliebe, seinen demokratischen Idealismus, seinen ein wenig einfältigen Optimismus und seine europäischen Wünsche. Auf den ersten Blick, mit dem Instinkt des Rheumatikers, in den Gelenken und im Geist, hatte Vaucoux Clérambault unter jene eingereiht, die einen Luftzug im Haus mit den verschlossenen Fenstern und Türen, im Vaterland, machen. Im Vaterland, natürlich so, wie er es verstand, denn für ihn gab es kein anderes. So brauchte er nicht die besonderen Aufreizungen der Zeitungen, um in dem Verfasser des »Aufrufes an die Lebendigen« und »Ihr Toten, verzeihet uns!« den Agenten des Feindes – den Feind zu sehen. Und das Rachefieber, das ihn verzehrte, warf sich auf diese Beute.

 

Mein Gott, wie bequem ist es, zu hassen, wenn man diejenigen nicht versteht, die anderer Meinung sind!

Clérambault war diese Leichtigkeit nicht gegeben, denn er verstand vollkommen auch jene, die ihn verabscheuten, verstand sie bis ins letzte! Diese guten Leute litten bis zur Tollwut an der Ungerechtigkeit des Feindes – zweifellos deshalb, weil sie ihnen weh tat, aber auch aus ganz rechtschaffenen Gründen, weil es eben die Ungerechtigkeit war, die Ungerechtigkeit sondergleichen. Denn kurzsichtig, wie sie waren, erschien sie ihnen ganz einzigartig ungeheuerlich und erfüllte verwirrend ihr ganzes Gesichtsfeld. Wie beschränkt ist doch bei einem gewöhnlichen Menschen die Fähigkeit des Gefühls und des Urteils! Versinkend in der ungeheuren Weite, klammert er sich an die erstbesten vorübertreibenden Trümmer, und so wie der Mensch den tausendfältigen Strom des Lichtes sich zu einigen wenigen Farben vereinfacht, so wird ihm das Gute und das Böse in den Adern des Weltalls nur erkenntlich, wenn er es in ein paar selbsterlebte Beispiele wie in Flaschen füllen kann. Für ihn ist dann das ganze Gute, das ganze Böse der Welt in diesen paar etikettierten Beispielen verschlossen, und er konzentriert auf sie seine ganze Kraft der Liebe und des Hasses. Für Tausende sonst vortreffliche Leute ist die Verurteilung Dreyfus' oder die Torpedierung der »Lusitiania« das Verbrechen des Jahrhunderts geblieben. Diese guten Leute sehen eben nicht, daß der ganze Weg der menschlichen Gesellschaft mit Verbrechen gepflastert ist, über die sie ahnungslos hinwegschreiten, denn sie alle haben unbewußt ihren Vorteil von unbekannten Ungerechtigkeiten, die zu verhindern sie niemals die geringste Anstrengung gemacht haben. Und welche Ungerechtigkeiten sind eigentlich die schlimmeren, jene, die ein langdauerndes und tiefes Echo im Gewissen der Welt erwecken, oder die anderen, um die einzig das niedergetretene Opfer weiß? ... Aber diese braven Leute haben nicht genügend lange Arme, um alles Elend der Welt zu umfassen. Wer zuviel umfaßt, eignet sich nur wenig an. Deshalb klammern sie sich gewöhnlich nur an irgendeine einzelne Ungerechtigkeit. Aber die machen sie dann ganz zu ihrer Angelegenheit. Haben sie sich einmal irgendein Verbrechen ausgewählt für ihren Haß, dann verbrauchen sie dabei die ganze Kraft der Erbitterung, die in ihren Eingeweiden lebt. Der Hund hat seinen Knochen gefunden und knabbert daran. Weh dem, der daran rührt!

Clérambault hatte daran gerührt. So hatte er kein Recht, sich zu beklagen, wenn er nun gebissen ward. Und er beklagte sich auch nicht. Die Menschen haben ein Anrecht, die Ungerechtigkeit, die sie sehen, zu bekämpfen, und es ist nicht ihre Schuld, wenn sie davon nur die große Zehe sehen, so wie Gulliver in Brobdignac. Jeder tut, was er kann. – Und so bissen sie zu.

 

Es war am Karfreitag. Die große Sturzflut der Offensive warf sich gegen das Herz Frankreichs. Auch der Tag der heiligen Trauer unterbrach das Massaker nicht, denn der bürgerliche Krieg kennt keinen Gottesfrieden mehr. Christus war in einer seiner Kirchen bombardiert worden, und die Nachricht von der mörderischen Explosion in der Kirche Saint-Gervais gerade um die Vesperstunde verbreitete sich nachts im lichtlosen Paris, das von Trauer, Zorn und Furcht erfüllt war.

Die Freunde hatten sich in ihrer Betrübnis bei Froment versammelt. Ohne Verabredung waren sie hingekommen, weil sie sicher waren, einander dort zu finden. Überall sahen sie Gewalt: in der Vergangenheit, in der Zukunft, bei dem Feind, bei den Ihren, im Lager der Reaktion ebenso wie in dem der Revolution. Ihre Angst und ihre Zweifel vereinigten sich in einem einzigen Gedanken, und der Bildhauer sagte:

»Vergeblich beruhen unsere heiligsten Überzeugungen, unser Glaube an den Frieden und die menschliche Brüderlichkeit auf der Vernunft und der Liebe. Gibt es denn wirklich gar keine Hoffnung, daß sie jemals Macht gewinnen über die Menschen? Wir sind zu schwach!«

Und Clérambault rezitierte, ganz ohne es zu wollen, die Worte des Jesaias, die ihm plötzlich in Erinnerung kamen:

»Dunkel bedecken die Erde, und der Schatten umhüllt die Völker ...«

Er hielt inne. Aber von seinem kaum erhellten Bett fuhr Froment unsichtbar fort:

»Stehet auf, denn von den Gipfeln der Berge erscheinet das Licht ...«

»Ja, es erscheint«, wiederholte aus dem Dämmer die Stimme der Frau Froment, die zu Füßen des Bettes an der Seite Clérambaults saß. Clérambault faßte ihre Hand. Es war wie ein kühler Schauer, der durch das Zimmer lief.

»Warum sagen Sie das?« fragte der Graf Coulanges.

»Weil ich Ihn sehe!«

»Ich sehe Ihn auch«, sagte Clérambault.

Der Doktor Verrier fragte:

»Wen?«

Aber ehe die Antwort noch ausgesprochen war, wußten schon alle das Wort im voraus.

»Der das Licht bringt ... den Gott, der sie besiegt ...«

»Ihr wartet auf einen Gott!« sagte der alte Hellenist. »Ihr glaubt also an das Wunder?«

»Das Wunder sind wir. Ist es denn nicht ein Wunder, daß in dieser Welt unaufhörlicher Gewalttätigkeiten wir den Glauben an die Liebe und die Gemeinschaft der Menschen bewahrt haben?«

Coulanges sagte bitter:

»Seit Jahrhunderten erwartet man den Christus, und immer, wenn er kommt, erkennt man ihn nicht und kreuzigt ihn. Und alle vergessen ihn dann mit Ausnahme einer Handvoll Bettler, die gut und beschränkt sind. Diese Handvoll vermehrt sich, und während eines Menschenalters blüht der Glaube. Dann aber wird er verfälscht, wird durch seinen Erfolg verraten, durch seine ehrgeizigen Diener, die Kirche. Und das geht dann durch Jahrhunderte so dahin ... Adveniat regnum tuum ... Aber wo, wo ist denn das Gottesreich?«

»In uns«, antwortete Clérambault. »Die Kette unserer Prüfungen und Hoffnungen formt den ewigen Christus. Wir sollten glücklich sein, daß uns das Vorrecht zuteil ward, den neuen Gott in unserem Herzen beherbergen zu dürfen wie das Kind in der Krippe.«

»Aber was gibt uns das Zeichen, daß er gekommen ist?« fragte der Arzt.

»Unser Sein«, antwortete Clérambault.

»Unsere Leiden«, antwortete Froment.

»Unser verkannter Glaube«, antwortete der Bildhauer.

»Die einzige Tatsache schon, daß wir sind«, setzte Clérambault hinzu, »dieser Widersinn, den wir der Natur ins Antlitz schleudern, den diese aber bestreitet. Hundertmal entflammt sich die Flamme und verlöscht wieder, ehe sie leuchten bleibt. Jeder Christus, jeder Gott hat sich vorher zu gestalten versucht in einer ganzen Reihe von Vorläufern. Überall sind sie, verloren und vereinsamt im Raum und vereinsamt in den Jahrhunderten. Aber diese Einsamen, die einander nicht kennen, sehen alle am Horizont den gleichen leuchtenden Punkt, den Blick des Erlösers. Und er kommt!«

Froment sagte: »Er ist gekommen!«

 

Als sie voneinander in einem Gefühl gegenseitiger Liebe und fast wortlos geschieden waren, um nicht den gläubigen Zauber, der sie umfaßte, zu zerstören, und jeder sich allein in der Nacht der Straße fand, da bewahrten sie alle die Erinnerung eines Schauers der Erleuchtung, den sie nicht verstehen konnten. Der Vorhang war wieder vor ihnen niedergesunken. Aber sie konnten nicht vergessen, daß er sich für eine Sekunde ihnen aufgetan hatte.

 

Einige Tage später kam Clérambault, der einer Vorladung des Untersuchungsrichters Folge geleistet hatte, über und über mit Kot bedeckt nach Hause. Sein Hut, den er in der Hand hielt, war ganz zerfetzt, und seine Haare naß vom Regen. Das Dienstmädchen stieß bei seinem Anblick einen Schrei aus, er bedeutete ihr zu schweigen und ging in sein Zimmer. Rosine war nicht zu Hause. Sonst sahen sich die beiden Eheleute, die allein in der leeren Wohnung geblieben waren, nur mehr bei den Mahlzeiten und sprachen sich auch dann so selten wie möglich. Aber der Schrei des Dienstmädchens ließ Frau Clérambault ein neues Unglück vorausfühlen, und die Erklärungen des Mädchens bestätigten nur ihren Verdacht. Sie trat in das Zimmer Clérambaults und rief nun ihrerseits aus:

»Mein Gott, was hast du denn schon wieder gemacht?«

Clérambault in seiner Beschämung lächelte schüchtern und entschuldigte sich.

»Ich bin ausgerutscht ...«

Er versuchte die Spuren des Überfalls wegzusäubern.

»Du bist ausgerutscht? ... Drehe dich doch um ... Wie du dich zugerichtet hast ... Mein Gott, man hat doch mit dir keinen ruhigen Augenblick ... Du gibst wirklich gar nicht acht ... Bis zu den Augen hinauf hast du Kotspritzer ... und da auf der Wange ...«

»Ja, ich glaube, ich habe mich angeschlagen.«

»Ach, was man für ein Unglück mit dir hat ... ›du glaubst‹ ... daß du dich angestoßen hast? ... Bist du ausgerutscht? ... Bist du gefallen ...?«

Sie sah ihm ins Gesicht. »Es ist nicht wahr!«

»Aber ich sage dir doch ...«

»Es ist nicht wahr ... sage mir doch die Wahrheit ... Man hat dich geschlagen ...?«

Er antwortete nicht.

»Sie haben dich geschlagen! ... Ah, diese wilden Tiere ... Du armer Mann! Sie haben dich geschlagen! Dich, der du so gut bist, dich, der in seinem ganzen Leben niemandem Böses getan hat ... Ah, das ist doch zuviel Gemeinheit ...« Sie umarmte ihn schluchzend.

»Du gute Frau«, sagte er sehr gerührt, »das ist doch nicht so wichtig. Und dann, ich mache dich ja schmutzig, du darfst mich jetzt nicht anrühren.«

»Das macht nichts«, sagte sie, »ich habe zuviel auf dem Herzen! Verzeihe mir!«

»Was soll ich dir denn verzeihen ... was redest du denn da?«

»Auch ich bin schlecht gegen dich gewesen. Ich habe dich nicht verstanden ... ich werde dich ja nie verstehen, aber ich weiß doch gut, daß, was immer du tust, du nichts als das Rechte willst. Ich hätte dich verteidigen sollen und habe es nicht getan, ich war dir böse über deine Dummheit und bin doch selbst die Dummheit, ich war dir böse, daß du uns mit allen andern auseinandergebracht hast ... Aber jetzt ... nein, das ist wirklich zu gemein ... Menschen, die nicht würdig sind, deine Schuhriemen zu lösen ... und sie haben dich geschlagen! Laß mich doch dein armes, beschmutztes Gesicht küssen!«

Es war so gut, sich wiederzufinden, nachdem man sich so lange verloren hatte. Sie weinte lange am Halse Clérambaults. Dann half sie ihm sich umkleiden, wusch ihm die Wange mit Arnika und trug seine Kleider fort, um sie ausbürsten zu lassen. Bei Tisch behütete sie ihn mit treuen, unruhigen Augen und versuchte, ihn von seinen Sorgen abzulenken, indem sie von altvertrauten Dingen sprach. Und wie sie so beide an diesem Abend allein und ohne Kinder im Hause waren, kam die Erinnerung an lang vergangene Jahre, an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Und dieses geheime Wiedererinnern hatte eine melancholische und verklärte Milde, wie das Vesperläuten über das Dunkel noch ein letztes warmes Leuchten des verlorenen Mittagläutens hinklingen läßt.

Gegen zehn Uhr abends ging noch einmal die Glocke. Es war Julien Moreau mit seinem Freund Gillot. Sie hatten die Abendblätter gelesen, die auf ihre Art über den Vorfall berichteten. Die einen sprachen von einer exemplarischen Züchtigung durch die öffentliche Verachtung und rühmten die »spontane« Entrüstung der Menge. Die anderen, die ernsten Blätter, taten so, als ob sie prinzipiell eine Volksjustiz, die sich auf der Straße Luft machte, für ungehörig erklärten, aber sie schoben die Verantwortung dafür auf die Schwäche der Regierung, die so lange zögerte, Licht in die Affäre zu bringen. Es war gar nicht unwahrscheinlich, daß dieser Tadel der Regierung von der Regierung selbst inspiriert war, denn die geschickten Politiker lassen sich bei manchen Gelegenheiten zu gewissen Dingen zwingen, die sie gern selbst tun möchten, aber auf die sie nicht sehr stolz sind. Die Arretierung Clérambaults schien also unmittelbar bevorzustehen. Moreau und sein Freund waren darüber beunruhigt, aber Clérambault machte ihnen ein Zeichen, sie sollten in Gegenwart seiner Frau schweigen und führte sie, nachdem er einige Zeit über den Vorfall in heiterer Weise gescherzt hatte, in sein Zimmer. Dort fragte er sie, was sie beunruhigte. Sie zeigten ihm einen haßerfüllten Artikel jenes nationalen Blattes, das seit Wochen die Hetze gegen Clérambault aufführte. Die Manifestation von heute hatte jene auf den Geschmack gebracht, und sie forderten ihre Freunde auf, sie morgen zu wiederholen. Moreau und Gillot befürchteten Gewalttätigkeiten, wenn sich Clérambault in den Justizpalast begeben würde, und sie waren gekommen, um ihn zu überreden, nicht auszugehen. Sie kannten seinen ein wenig furchtsamen Charakter und glaubten, ihm nicht besonders zusprechen zu müssen. Aber ebensowenig wie damals, als Moreau ihn mitten in einer Ansammlung diskutierend getroffen hatte, schien Clérambault sie zu verstehen.

»Ich soll nicht ausgehen? Warum denn nicht, mir fehlt doch nichts?«

»Aber es wäre klüger!«

»Im Gegenteil, es wird mir guttun.«

»Aber man weiß nicht, was Ihnen zustoßen kann.«

»Das weiß man niemals, dazu hat man noch Zeit, sobald es einmal geschehen ist.«

»Also, um aufrichtig zu sprechen: Es ist gefährlich. Man reizt schon seit langem die Leute auf. Sie sind heute verhaßt, und Ihr Name genügt, ein paar von den Dummköpfen, die Sie nur durch ihre Zeitungen kennen, bis zum Platzen zu ärgern. Und diese Antreiber suchen ja nur einen Eklat. Gerade durch die Ungeschicklichkeit Ihrer Gegner haben Ihre Worte mehr Echo gefunden, als Sie dachten. Nun fürchten sie, daß diese Ideen sich Bahn brechen, und wollen ein Exempel statuieren, um alle abzuschrecken, die Ihrer Meinung sind.«

»Ja, aber«, sagte Clérambault, »wenn es wirklich solche gibt, die meiner Meinung sind – ich war dessen bisher noch nicht gewiß –, so darf ich mich in einem solchen Augenblick doch nicht zurückziehen. Will man an mir ein Exempel statuieren, so muß ich es über mich ergehen lassen.«

Er schien so guten Mutes, daß die beiden sich fragten, ob er sie wirklich verstanden habe. »Ich wiederhole Ihnen«, sagte Gillot nochmals, »daß Sie viel riskieren.«

»Mein Freund«, sagte Clérambault, »heute riskiert die ganze Welt sehr viel.«

»Aber es muß doch wenigstens ein Nutzen bei so etwas sein; warum wollen Sie ihnen eine Gefälligkeit erweisen und sich in den Rachen des Löwen wagen?«

»Nun, ich glaube wiederum, daß das uns im Gegenteil sehr nützlich sein kann«, sagte Clérambault, »und daß, was immer auch geschieht, der Löwe das Nachsehen haben wird. Ich möchte auch das auseinandersetzen ... Sie verbreiten ja nur unsere Ideen, denn die Gewalttätigkeit heiligt immer die Sache, die sie verfolgt. Sie wollen Schrecken verbreiten, und sie werden auch Schrecken verbreiten ... aber bei den Ihren ... bei denen, die noch zögern und verängstigt sind. Lassen wir sie nur ungerecht sein, es geht auf ihre Kosten ...«

Er schien zu vergessen, daß es auch auf die Kosten der Seinen ging.

Als sie aber sahen, daß er entschlossen war, wuchs mit ihrer Unruhe auch ihr Respekt, und sie erklärten:

»In diesem Fall aber kommen wir mit unseren Freunden, um Sie zu begleiten.«

»Nein, nein, was ist das für ein törichter Einfall! Ihr wollt mich doch nicht lächerlich machen ... und schließlich, ich bin ja doch sicher, daß nichts geschehen wird!«

Ihr Drängen blieb ohne jeden Erfolg.

»Mich werden Sie jedenfalls nicht verhindern können zu kommen«, sagte Moreau, »ich habe einen ebenso harten Kopf wie Sie. Lieber will ich die ganze Nacht auf der Bank gegenüber der Tür verbringen als Sie zu verfehlen und allein zu lassen.«

»Gehen Sie nur heim in Ihr Bett«, sagte Clérambault, »und schlafen Sie ruhig. Wenn Sie unbedingt wollen, so kommen Sie eben morgen früh, aber Sie werden Ihre Zeit verlieren. Es wird nichts geschehen. Auf jeden Fall: umarmen wir uns.«

Sie umarmten ihn zärtlich.

»Sehen Sie«, sagte Gillot schon an der Türschwelle, »man hat irgendwie die Pflicht, Sie zu behüten, wir sind ein wenig Ihre Kinder.«

»Ja, das ist wahr«, sagte Clérambault mit einem guten Lächeln.

Er dachte an seinen Sohn. Als er die Tür schloß, vergingen einige Minuten, bis er bemerkte, daß er wachen Sinnes träumte, mit der Lampe in der Hand unbeweglich im Vorzimmer stehend, in dem er sich eben von seinen Freunden verabschiedet hatte. Es war fast Mitternacht, und Clérambault war müde. Dennoch trat er, statt in das gemeinsame Schlafgemach zu gehen, ganz unbewußt noch einmal in sein Zimmer zurück. Das Zimmer, das Haus, die Straße waren eingeschlafen; er setzte sich hin und fiel wieder in seine Starre zurück. Undeutlich, ohne es eigentlich zu sehen, betrachtete er den Lichtreflex vor sich auf der Glasscheibe einer Rembrandt-Radierung, der »Auferstehung des Lazarus«, die an einer Seitenwand seiner Bibliothek aufgehangen war ... Er lächelte einem teuren Antlitz zu, das lautlos eingetreten und nun bei ihm war.

»Bist du nun zufrieden?« dachte er, »das wolltest du doch? ...«

Und Maxime sagte: »Ja.«

Und er fügte mit leisem Spott bei: »Es war nicht ganz ohne Mühe, bis ich dich soweit gebracht habe, Papa.«

»Ja«, sagte Clérambault, »wir haben viel von unseren Kindern zu lernen.«

 

Clérambault legte sich zu Bett. Seine Frau war schon eingeschlafen. Keine Sorge ließ sie jemals den Frieden jenes tiefen Schlummers verlieren, in den manche Seelen wie in ein Grab hinabstürzen. Die Seele Clérambaults hatte weniger Ungeduld, sich zu versenken. Auf dem Rücken ausgestreckt, blieb er die ganze Nacht unbeweglich mit offenen Augen liegen.

Blasses Licht erhellte die Straße, zarte Halbdämmerung. Stille Sterne standen am dunklen Himmel. Einer von ihnen glitt nieder und beschrieb einen Kreis: Es war ein Flugzeug, das über der schlafenden Stadt wachte. Die Augen Clérambaults folgten seinem Flug und schwebten mit. Sein waches Ohr hörte nun auch das ferne Sausen des menschlichen Planeten, diese Sphärenmusik, die die Weisen Joniens noch nicht geahnt hatten.

Er war glücklich. Sein Körper und sein Geist schienen ihm gleichsam beschwingt, seine Glieder ebenso wie seine Gedanken entspannt, und so ließ er sich hinwegtragen und schwebte ... Die Bilder des fiebrigen und ermattenden Tages zogen noch einmal im Fluge vorbei, doch sie hielten ihn nicht mehr fest ... Ein alter Mann, von einer Bande junger Bürger gestoßen ... zuviel Lärm, zuviel Bewegung! ... Aber schon sind sie wieder weit, so wie Gesichter, die man einen Augenblick an den Fenstern eines vorüberfliegenden Zuges grinsen sieht. Aber der Zug ist vorüber, das Bild stürzt in das Dunkel des donnernden Tunnels ... Aber auf dem nächtlichen Himmel gleiten noch immer geheimnisvolle Sterne, und rings um ihn sind die schweigenden Räume, die dunkle Durchsichtigkeit und eisige Frische der Luft über der nackten Seele. Oh, Unendlichkeit in einem Tropfen des Lebens, im Funken eines Herzens, das erlöschen will, das sich aber frei gemacht hat und weiß, wie bald es in seine große Heimat wiederkehrt!

Und wie der treue Verwalter eines ihm vertrauten Gutes machte Clérambault noch einmal die Bilanz seines Tages. Er überflog alle seine Versuche, seine Anstrengungen, seine Anläufe, seine Irrtümer. Wie wenig blieb übrig von seinem Leben? Fast alles, was er aufgebaut, hatte er nachher mit seinen eigenen Händen zerstört. Er hatte im gleichen Herzen verneint, was er vordem bejaht hatte, und nie aufgehört, im Walde der Zweifel und Widersprüche herumzuirren, müde, blutend, erschöpft und als einzige Wegzeiger die Sterne, die manchmal zwischen dem Gezweig auftauchten und wieder verschwanden. Was für ein Sinn war in diesem langen, stürmischen Lauf, der in Nacht mündete? Ein einziger! Er war frei gewesen.

Frei ...! Was war denn dies, diese Freiheit, die ihn mit ihrer herrischen Trunkenheit übermannte, die Freiheit, deren Herrn und Beute er sich zugleich fühlte, dieser Zwang, frei zu sein? Er gab sich keiner Täuschung hin, er wußte wohl, daß er ebenso wie die anderen der ewigen Gebundenheit nicht entfliehen konnte, aber seine Fron war eine andere; es ist nicht jedem die gleiche bestimmt. Das Wort Freiheit drückt nur eines der hohen und klaren Gesetze der unsichtbaren Herrin der Welt aus – der Notwendigkeit. Sie ist es, die den Aufruhr der Vorkämpfer erweckt und sie in Feindschaft stellt zur ewigen Vergangenheit, die die dunklen Massen mit sich hinschleppt. Sie ist das Schlachtfeld der ewigen Gegenwart, wo ewig die Vergangenheit mit der Zukunft kämpft, und in diesem Kampf zerbrechen unausgesetzt die alten Gesetze, um neuen Gesetzen Raum zu geben, die dann ihrerseits vernichtet werden.

O Freiheit! Immer trägst du Ketten, aber es sind nicht mehr die zu engen der Vergangenheit. Jede deiner Bewegungen macht dein Gefängnis weiter. Wer weiß? Wer weiß? ... Vielleicht später einmal ... wenn man die Mauern deines Gefängnisses zertrümmert ...

Inzwischen aber bemühen sich alle, die du retten willst, leidenschaftlich, dich zu verlieren. Du bist der Staatsfeind, »L'un contre tous«, »der eine gegen alle«. So hatten sie den schwachen, den unsicheren, den mittelmäßigen Clérambault genannt; aber nicht an sich selbst denkt er jetzt, sondern an den, der immer war, seit Menschen sind, an den, der nicht aufhört, ihre Torheit zu bekämpfen, um sie zu befreien, der Eine, gegen den sie alle sind. Wie oft haben sie ihn im Laufe der Jahrhunderte zur Seite gestoßen und niedergeschmettert! Aber im Schoße der Angst überkommt ihn eine übernatürliche Freude und erfüllt ihn rauschend, denn er ist das heilige Korn, das Goldkorn der Freiheit. Im dunklen Schicksal der Welt rollt seit dem Chaos – aus welcher Ähre mag es gefallen sein? – das Samenkorn des Lichtes. Schutzlos hat es sich im Grunde des wilden Menschenherzens eingekapselt. Im Lauf der Jahrhunderte hat es dem Ansturm der Urgesetze widerstanden, die das Leben zerknicken und zerbrechen. Und das goldene Samenkorn wird größer und größer, unaufhaltsam.

Der Mensch, das waffenloseste Tier, hat sich gegen die Natur erhoben und sie bekämpft. Jeder seiner Schritte war mit seinem Blut genetzt, und nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern in sich selbst, mußte er die Natur verfolgen, da er ja selber ihr Teil ist. Und dies ist die schwerste Schlacht, die der zerteilte Mensch gegen sich selbst führt. Wer wird siegen? Einerseits die Natur auf ihren erzenen Wegen, die die Völker und die Welt in den Abgrund reißt, auf der anderen Seite das freie Wort. Verlacht es nur, ihr Sklaven! ... »Lächerlich!« sagen sie, diese Anbeter der Gewalt: »Ein armseliger Köter, der hinter den Rädern eines Schnellzuges herkläfft.« Ja, so stünde es, wäre der Mensch nur ein Stück Materie unter dem Prägehammer des Schicksals, das blutet und vergeblich stöhnt. Aber jener Geist ist in ihm, der Achilles an der Ferse und Goliath an seiner Stirn zu treffen weiß. Er braucht nur eine Schraube auszureißen, und der reißende Zug entgleist und sein Lauf ist zerbrochen ... Rollt hin durch die Jahrhunderte, ihr Planetenkreise, ihr dunklen Menschenmassen, erhellt von den Blitzen des befreienden Geistes, von Buddha, Jesus, den Weisen, den Zerbrechern der Ketten ... Der Blitz naht, ich fühle ihn in meinem Gebein knistern, wie unter dem Hufschlag des Pferdes der Funken im Stein; die Luft bebt, die große Windwelle erhebt sich ... Der Schauer, der dem Geschehnis voranläuft ... Die dicke Wolke des Hasses preßt sich zusammen, häuft und stößt sich ... O Feuer, bald bist du aufgesprungen! ... Ihr, die ihr allein gegen alle seid, worüber klagt ihr? Ihr seid dem Joch, das euch niederdrückt, entronnen, und so wie man im Albdruck sich dem schwarzen Wasser eines Traumes entringt, wieder kämpfend an die Oberfläche kommt, wieder hinabstürzt und fast schon erstickt, um dann plötzlich in einem verzweifelten Ruck aller Glieder sich aus dem Wasser zu reißen und – gerettet! – auf das harte Gestein des Ufers hinstürzt ... Möge es mein Fleisch schmerzend zerfetzen! Um so besser, ich erwache doch wieder in freier Luft.

Nun bin ich, du drohende Welt, deiner Fesseln los, du kannst mich nicht mehr anschmieden. Und ihr, die ihr mich und meinen verabscheuten Willen bekämpft, wißt, daß dieser mein Wille in euch ist! Ihr wollt, wie ich, frei sein, und ihr leidet daran, es nicht zu sein. Dies euer Leiden macht euch zu meinen Feinden. Aber selbst wenn ihr mich tötet, dann ist es nicht mehr an euch, zu sagen, ihr hättet das Licht, das in mir war, nicht gesehen oder, falls ihr es gesehen habt, es zurückzuweisen! Schlagt also zu! Indem ihr mich bekämpft, bekämpft ihr euch selbst. Von vornherein seid ihr die Besiegten. Und ich, indem ich mich verteidige, verteidige euch alle. Der »eine gegen alle« ist der »eine für alle«, und er wird bald der »eine mit allen« sein.

Nein, ich werde nicht allein bleiben, ich bin es nie gewesen. Gruß euch, ihr Weltbrüder! So weit ihr auch sein möget, über die Welt hingestreut wie der Samen aus einer Hand, so seid ihr doch alle hier an meiner Seite: ich weiß es. Denn niemals ist der Gedanke eines einsamen Menschen so wie er selbst allein. Jede Idee, die in einem Menschen ersteht, keimt schon in anderen Menschen, und immer, wenn irgendein Unglücklicher, verkannt, geschmäht, sie in seinem Herzen erwachen fühlt, möge er freudig sein. Denn es ist die ganze Erde, die erwacht ... Der erste Funke, der in einer einsamen Seele erglänzt, ist schon die Spitze jenes Strahls, der die Nacht durchleuchten wird. So komme, Licht, verbrenne die Nacht, die mich umgibt und die mich erfüllt ...!

 

Und es kam. Das klare Licht des Tages war so jung und hell wie nur je. Der Schmutz der Menschen kann es nicht beflecken, die Sonne trinkt ihn auf wie einen Nebel.

Frau Clérambault erwachte und sah ihren Mann mit offenen Augen. Sie meinte, er sei eben erwacht, und sagte:

»Du hast gut geschlafen. Du hast dich nicht ein einzigesmal in der Nacht gerührt.«

Er widersprach nicht, lächelte aber bei dem Gedanken an die lange Fahrt, die er gemacht hatte. Der Geist, der unruhige Vogel, der durch die Nacht hinstreift, nun faßte er wieder Fuß. Clérambault stand vom Bett auf.

Zur gleichen Stunde stand ein anderer auf, der ebensowenig wie er in dieser Nacht geschlafen hatte und der ebenso das Bildnis seines toten Sohnes sich vor den Blick gerufen und der an ihn – an ihn, Clérambault, den er nicht kannte – mit der ganzen Starrheit des Hasses dachte.

Die erste Post brachte einen Brief von Rosine. Sie vertraute ihrem Vater das Geheimnis an, das er seit langem ahnte. Daniel hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie würden sich bei seiner nächsten Heimkehr von der Front vermählen. Der Form halber erbat sie sich die Zustimmung der Eltern, sie wußte wohl, daß ihr Wille auch der ihrige war. Der Brief strahlte von einem Glück, das sich seine jubelnde Gewißheit durch nichts zerstören ließ. Das traurige Rätsel der zerrissenen Welt hatte nun plötzlich einen Sinn bekommen, ihre junge, alles auftrinkende Seele empfand das Leiden einer Welt als nicht zu hohen Preis für die Blüte, die sie von diesem blutigen Rosenstrauch pflücken durfte ... Immerhin verriet sich auch ihr mitfühlendes Herz. Sie vergaß nicht die anderen und ihre Qual, den Vater und seine Sorgen. Aber sie rührte sie mit seligen Armen an, und es war, als wollte sie mit einer naiven und zärtlichen Übermütigkeit sagen:

»Ihr guten Freunde, quält euch doch nicht immer mit euren Gedanken. Ihr seid wirklich unklug, man soll nicht traurig sein. Ihr seht, das Glück kommt schließlich doch.« Clérambault lächelte gerührt, während er den Brief las. »Jaja, ganz gewiß, das Glück kommt, nur hat nicht die ganze Welt Zeit, darauf zu warten ... Grüße es von mir, kleine Rosine, und lasse es nicht mehr von dir.«

 

Gegen elf Uhr kam der Graf Coulanges, sich nach ihm zu erkundigen. Er hatte Moreau und Gillot unten gefunden, sie bewachten die Tür. Getreu ihrem Versprechen, wollten sie Clérambault begleiten, aber sie waren eine Stunde früher gekommen, als es eigentlich notwendig war, und wagten nicht hinaufzugehen. Clérambault ließ sie heraufrufen und verspottete sie wegen ihres übermäßigen Eifers. Sie gaben zu, daß sie aus Mißtrauen gegen ihn gefürchtet hatten, er würde, ohne auf sie zu warten, aus dem Haus entwischen, und Clérambault mußte zugeben, eine ähnliche Absicht gehabt zu haben.

Die letzten Nachrichten von der Front waren gut. Seit kurzer Zeit schien die deutsche Offensive ins Stocken geraten. Seltsame Zeichen der Ermattung wurden sichtbar, und Gerüchte, die nicht unbegründet schienen, deuteten auf einen geheimen Desorganisationsprozeß in dieser gewaltigen Masse. Sie hatte, sagte man, die Grenzen ihrer Kraft erreicht und überschritten: Der Riese wurde matt. Man sprach von einer Ansteckung durch den revolutionären Geist, den die deutschen Truppen von der Ostfront aus Rußland zurückgebracht hatten.

Mit der Beweglichkeit, die für den französischen Geist so charakteristisch ist, verkündeten mit einem Male die Pessimisten von gestern den nahen Sieg. Moreau und Gillot sahen in kurzer Zeit ein Abflauen der Leidenschaft, die Rückkehr zur Vernunft, die Versöhnung der Völker und den Triumph der Ideen Clérambaults voraus. Clérambault warnte sie, sich allzufrüh den Illusionen hinzugeben, und es bereitete ihm Spaß, ihnen zu beschreiben, was geschehen würde, sobald der Frieden unterschrieben sei; denn das mußte doch, wann immer auch, einmal geschehen.

»Mir ist«, sagte er, »als könnte ich, wie der hinkende Teufel nachts über die Stadt schwebend, den ersten Abend nach dem Waffenstillstand sehen. Und ich sehe in den Häusern, deren Vorhänge vor dem Jubelschrei der Straße herabgelassen sind, unendlich viel Herzen in Trauer, Herzen, die sich krampfhaft während all dieser Jahre mit dem Gedanken eines Sieges aufrechtgehalten haben, der ihrem Unglück einen Sinn oder den falschen Schein eines Sinnes gibt. Nun können sie endlich sich entspannen oder zerbrechen, schlafen oder endlich sterben. Die Politiker denken natürlich daran, wie sie auf das schnellste und ausgiebigste die gewonnene Partie ausnützen können oder, wenn sie sich verrechnet haben, an einen neuen Aufschwung auf dem Trapez. Die Fachleute des Krieges werden trachten, den Spaß so lange wie möglich fortdauern oder, wenn ihnen dies nicht gelingt, den Tanz so bald wie möglich wieder beginnen zu lassen. Die Vorkriegspazifisten werden eilig aus ihren Winkeln und Löchern hervorkriechen und sich in rührenden Demonstrationen ergehen. Die alten Bonzen, die durch fünf Jahre die Trommel zum Vormarsch rührten, werden, Palmenzweige in den Händen, lächelnd und das Herz auf den Lippen, auftauchen und von Liebe reden. Und die Kämpfer selbst, die im Schützengraben geschworen haben, niemals zu vergessen, auch sie werden sich bereitwillig mit allen Erklärungen, Glückwünschen und Händedrücken, die man ihnen verabreicht, abfinden. Fünf Jahre aufreibender Strapazen bereiten den Menschen gut zur Nachgiebigkeit vor, durch die Erschöpfung, durch das ewige Einerlei, durch den Wunsch nach einem Ende. Die rauschenden Klänge des Sieges werden die Schmerzensrufe der Besiegten ersticken. Und die meisten Menschen werden an nichts anderes denken als wieder die alten, schläfrigen Gewohnheiten von vor dem Krieg aufzunehmen. Zuerst wird man auf den Gräbern tanzen, dann wird man wieder schlafen. Vom Krieg bleibt nichts als eine Prahlerei am Biertisch. Und wer weiß, vielleicht wird ihnen dies Sich-nicht-Erinnern so gut glücken, daß sie bald wieder dem Tanzmeister, dem Sensenmann, helfen werden, aufs neue anzufangen. Selbstverständlich nicht sofort, aber etwas später, wenn man gut ausgeschlafen hat ... So wird überall der Friede sein – solange, bis überall der neue Krieg da ist, denn Krieg und Friede, meine Freunde, sind im letzten Sinne, wie sie meist verstanden werden, nur zwei verschiedene Etiketten für dieselbe Flasche. Es ist ganz so, wie der König Bomba von seinen tapferen Soldaten sagt: »Zieht sie rot oder zieht sie grün an, sie werden doch Fersengeld geben.« Ihr könnt es Frieden oder Krieg nennen, aber es gibt weder Frieden noch Krieg, es gibt nur die allgemeine Knechtschaft, die Bewegung der wie in Ebbe und Flut hingerissenen Massen, und es wird solange so bleiben, bis sich starke Seelen über den menschlichen Ozean erheben und den scheinbar sinnlosen Kampf gegen das Schicksal beginnen, das diese schweren Massen in Bewegung setzt.«

»Gegen die Natur kämpfen?« fragte Coulanges. »Denken Sie daran, ihre Gesetze vergewaltigen zu wollen?«

»Es gibt«, antwortete Clérambault, »kein einziges unabänderliches Gesetz. Gesetze leben, verwandeln sich und sterben wie alle irdischen Wesen, und es ist Pflicht des Geistes, nicht, wie die Stoiker es wollen, sie einfach hinzunehmen, sondern sie zu verändern, sie auf unser Maß zuzuschneiden. Die Gesetze sind die Form der Seele. Entfaltet sich die Seele, so müssen sie mit ihr wachsen. Ein gerechtes Gesetz ist nur jenes, das auf mich paßt ... Bin ich im Unrecht, wenn ich fordere, daß der Schuh sich dem Fuß anpasse und nicht der Fuß dem Schuh?«

»Ich sage nicht, daß Sie im Unrecht sind«, erwiderte der Graf. »Den Versuch, die Natur zu vergewaltigen, machen wir ja auch in der Züchtung. Wir verändern nicht nur die Form, sondern auch den Instinkt der Tiere, warum sollte das nicht auch beim Menschen gelingen ... Nein, ich widerspreche Ihnen nicht, im Gegenteil, ich bin der Meinung, daß es das Ziel und die Pflicht jedes Menschen, der dieses Namens würdig ist, sein muß, so, wie Sie sagen, die menschliche Natur gewaltsam weiter fortzubringen. Das ist die Quelle des wahren Fortschrittes, und es ist ein wirklicher Wert darin, auch wenn man das Unmögliche will. Freilich, das soll nicht sagen, daß wir mit dem, was wir versuchen, auch Erfolg haben werden.«

»Nein, wir werden keinen Erfolg haben, weder für uns noch für die Unseren. Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß unsere unglückliche Nation, vielleicht unser ganzes Abendland, sich auf einem absteigenden Ast befindet, und ich fürchte, daß der Absturz bald erfolgen wird, infolge ihrer Laster und Tugenden, von denen diese wie jene mörderisch sind durch ihren Stolz und ihren Haß, ihre provinzlerische Eifersucht, durch die endlose Schraube der Revanchen, durch beharrliche Verblendung, durch die erdrückende Treue zur Vergangenheit und jene verjährte Auffassung von Ehre und Pflicht, die sie die Zukunft für Gräber hinopfern läßt. Ich fürchte nur allzusehr, daß auch die letzte Mahnung dieses Krieges ihren lärmenden und zugleich trägen Heroismus in nichts belehrt hat ... In früheren Zeiten hätte dieser Gedanke mich niedergedrückt. Jetzt aber fühle ich mich wie von meinem eigenen Leib von allem Todgeweihten losgelöst, ich bin ihm nicht mehr anders als durch das Mitleid verbunden. Aber dafür ist mein Geist brüderlich mit allem, das – auf welchem Punkt der Erde auch immer – das neue Licht empfängt. Kennt ihr die schönen Worte des Sehers von Saint-Jean d'Acre: ›Die Sonne der Wahrheit ist wie das Himmelsgestirn, mit vielen Orten des Aufstieges. An einem Tag erhebt es sich im Zeichen des Krebses, ein andermal im Zeichen der Waage, aber die Sonne ist eine und eine einzige Sonne. Einmal ging der Strahl der Sonne der Wahrheit vom Wendekreis Abrahams auf und ging unter im Zeichen Moses und entflammte den Horizont. Dann erhob sie sich wieder im Zeichen Christi, glühend und Glanz verbreitend. Diejenigen, die Abraham dienten, wurden blind am Tage, da das Licht über dem Sinai glänzte. Aber meine Augen werden stets – von welchem Punkt immer sie sich erhebt – der aufgehenden Sonne entgegengerichtet sein. Und ginge die Sonne im Westen auf, es wäre doch die Sonne.‹«

»Und heute kommt uns von Norden das Licht«, sagte lächelnd Moreau.

 

Obwohl die Vorladung auf ein Uhr lautete und es kaum Mittag war, hatte es Clérambault doch eilig, fortzugehen. Er fürchtete, zu spät zu kommen.

Er hatte nicht weit zu gehen. Seine Freunde hätten ihn nicht gegen die übrigens sehr spärliche Rotte zu verteidigen brauchen, die ihn beim Eingang des Justizpalastes erwartete, denn die Nachrichten des heutigen Tages lenkten von den gestrigen ab. Höchstens hätten einige feige Köter, die sich mehr lärmend als beunruhigend gebärdeten, versucht, ihm von rückwärts die Zähne zu zeigen.

Sie waren an die Ecke der Rue Vaugirard und Rue d'Assas gekommen, als Clérambault bemerkte, daß er etwas vergessen hatte, und seine Freunde für einen Augenblick stehen ließ, um noch einmal hinaufzugehen und einige Papiere aus seiner Wohnung zu holen. Sie blieben unten, um auf ihn zu warten, und sahen, wie er den Fahrweg überquerte. Auf dem Trottoir gegenüber, bei einem Wagenplatz, trat ihn ein Mann seines Alters an, ein nicht sehr großer und ein wenig schwerfälliger Mann aus dem Bürgerstand. Alles geschah so schnell, daß sie nicht einmal Zeit hatten, einen Schrei auszustoßen: ein Wortwechsel, ein ausgestreckter Arm, ein Knall. Sie sahen Clérambault wanken und liefen hin. Aber es war zu spät.

Sie streckten ihn auf eine Bank hin, die Menge – mehr neugierig als erregt – drängte sich herzu und gaffte.

»Was ist denn?«

»Ein Flaumacher.«

»So, dann ist es schon gut! Die Schurken haben uns genug geschadet.«

»Nun, es gibt schon ein größeres Verbrechen als zu wünschen, daß dieser Krieg einmal zu Ende ist.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, daß er zu einem Ende kommt, und die ist, ihn bis an das Ende zu führen. Nur die Pazifisten verlängern den Krieg.«

»Sie sind sogar schuld daran! Ohne sie wäre nie einer gekommen, der Boche hat mit ihnen gerechnet.«

Und Clérambault dachte im Halbbewußtsein an die alte Frau, die ihr Stück Holz zum Scheiterhaufen des Johann Huß hinschleppte ... Sancta Simplicitas!

Vaucoux hatte nicht die Flucht ergriffen und sich widerstandslos den Revolver aus der Hand nehmen lassen. Man hielt ihn fest bei den Armen. Er blieb unbeweglich und sah nur sein Opfer an, das wiederum ihn betrachtete. Beide dachten an ihre Söhne.

Moreau bedrohte Vaucoux. Aber unerschütterlich und starr in seinem Haßglauben sagte Vaucoux:

»Ich habe den Feind getötet!«

Gillot, der sich über Clérambault neigte, sah, wie er schwach lächelnd Vaucoux betrachtete.

»Mein armer Freund«, dachte er, »in dir selbst ist der Feind.« Er schloß wieder die Augen ... Jahrhunderte gingen vorbei ...

»Es gibt keine Feinde mehr!«

Und Clérambault empfand selig den Frieden kommender Welten.

 

Da ihn das Bewußtsein schon verlassen hatte, trugen ihn die Freunde in das nahe gelegene Haus Froments. Aber ehe sie es betreten hatten, war er verschieden.

Sie legten ihn auf ein Bett in einem Zimmer neben jenem, in dem der junge Gelähmte, umgeben von seinen Freunden, ruhte. Die Tür stand offen, und der Schatten des toten Freundes schien bei ihnen zu weilen.

Moreau ereiferte sich bitter über den Widersinn dieses Mordes, der, statt einen der großen Verbrecher der triumphierenden Reaktion oder einen der bekannten Anführer der revolutionären Minderheiten zu treffen, sich gerade gegen einen ungefährlichen, unabhängigen, allen brüderlich gesinnten und fast zu nachsichtigen Menschen gewendet hatte.

Aber Edme Froment sagte:

»Der Haß täuscht sich nicht. Ihn leitet ein sicherer Instinkt ... Nein, er hat sich sein Ziel gut gesucht. Oft sieht der Feind viel klarer als der Freund. Versuchen wir nicht, uns einer Illusion hinzugeben: der gefährlichste Feind der Gesellschaft und der bestehenden Ordnung ist und war in dieser Welt der Gewalttätigkeit, der Lüge und der anderen Kompromisse von je und immer her der Mann des vollkommenen Friedens und des freien Gewissens. Nicht durch Zufall ist Jesus gekreuzigt worden, es mußte so sein, und er wäre später auch immer wieder zum Schafott geschleppt worden. Der Mann des Evangeliums ist der radikalste Revolutionär von allen, denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der durch den Spalt der harten Erde die Revolutionen aufspringen. Er ist das ewige Prinzip der Nichtunterwerfung des Geistes unter den Cäsar, wer immer es auch sei, der ewige Auflehner gegen die ungerechte Gewalt. So erklärt sich der Haß der Staatsknechte und der hörig gemachten Völker gegen den gemarterten Christ, der auf sie niederschaut und schweigt, und gegen seine Schüler, gegen uns, die ewigen Dienstverweigerer, die › conscientious objectors‹ wider alle Tyranneien, mögen sie nun von oben kommen oder von unten, mögen sie jene von morgen oder jene von heute sein – gegen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir, der der Welt das Wort des Heiles bringt, dessen, den sie ins Grab gelegt, des Meisters, den sie zu Tode martern werden bis ans Ende der Welt und der doch immer wieder auferstehen wird – der freie Geist, unser Herr und Gott!«


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