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Die Kleine.


I.

An dem gedeckten Frühstückstisch saß die verwitwete Regierungspräsidentin von Mainau, eine ältere, würdige Dame, und unterhielt sich mit ihrem Sohn, dem Legationssekretär Oswald, einem eleganten, jüngeren Mann, als der Diener in das Zimmer trat und ihr einen eben mit der Post angekommenen Brief auf dem silbernen Präsentierbrett ehrerbietig überreichte. Während der Legationssekretär nach der vor ihm liegenden Zeitung griff und sich in die Kammerverhandlungen vertiefte, erbrach Frau von Mainau das schwarz gesiegelte Kouvert und las aufmerksam das an sie gerichtete Schreiben; worauf sie dasselbe mit einem leichten Seufzer zur Seite schob.

»Du hast doch keine unangenehme Nachricht erhalten, liebe Mama?« fragte Oswald, sie besorgt anblickend.

»Nur einen Brief von Julie. Sie schreibt mir, daß sie heute abend um acht Uhr bestimmt hier mit der Bahn eintreffen wird.«

»Das kann dich doch nicht überraschen, da du ihr ja nach dem Tode ihres Vaters eine Zuflucht in unserem Hause angeboten hast.«

»Fast bereu' ich es,« versetzte die Präsidentin nachdenklich, »daß ich mich wieder einmal von meiner Gutmütigkeit verleiten ließ, mir eine solche Last aufzubürden. Ich fürchte, daß ich mich übereilt habe und zu schwach gewesen bin.«

»Du darfst nicht vergessen, daß Julie deine Nichte, die Tochter deiner verstorbenen Schwester ist, daß das arme Kind außer dir keine näheren Verwandten besitzt, daß du gewissermaßen verpflichtet bist –«

»Wem sagst du das!« unterbrach sie ihn lebhaft. »Ich kenne meine Pflicht. Aber was kann ich dafür, daß meine romantische Schwester sich in den armen kränklichen Gymnasiallehrer verliebte und ihn gegen den Willen unserer stolzen Familie und trotz all meiner Warnungen heiratete? Habe ich sie nicht ermahnt und beschworen, sich nicht unglücklich zu machen? Sie wollte nicht hören und hat sich von uns losgesagt, Nun, sie hat es schwer bereut und hart genug dafür gebüßt.«

»Die Ehe selbst soll jedoch eine höchst glückliche gewesen sein.«

»Nennst du das ein Glück, in einer kleinen Provinzialstadt mit einem Gehalt von sechshundert Thalern jährlich zu verkümmern; eine geborene von Adlersburg, die zu den ersten Familien der Residenz gehörte, in der besten Gesellschaft lebte und die glänzendsten Partien machen konnte? Wie hat sich die arme Klotilde quälen, darben und einschränken müssen! Welche Misere! Ich schaudere, wenn ich daran denke. Um nur durchzukommen, sah sich meine Schwester genötigt, wie eine Magd zu arbeiten, Pensionäre zu halten und fremde Kinder zu bedienen. Kein Wunder, daß sie den ungewohnten Anstrengungen erlag und starb. Und nun,« fügte die Präsidentin, ihre Thränen mit dem feilten Spitzentuch trocknend, unmutig hinzu, »legt sich kaum nach einem Jahre auch der unglückselige Mensch hin und läßt das Mädchen unversorgt, ohne einen Groschen zurück.«

»Die Kleine dauert mich von ganzem Herzen. Wie rührend war ihr Brief, worin sie dir den Tod ihres Vaters anzeigte und dich um deinen Beistand bat! Du wirst ihr ihn sicher nicht versagen und sie freundlich bei dir aufnehmen.«

»Gewiß! Du kennst mich und weißt ja, daß ich nur für andere lebe, daß mein Herz nur zu empfindsam für fremde Leiden ist, daß mein ganzes Leben nur ein großes Opfer war –«

»Niemand und ich am wenigsten wird daran zweifeln.«

»Trotzdem,« fuhr Frau von Mainau fort, »kann ich mir nicht die großen Inkonvenienzen, die vielen Unannehmlichkeiten eines solchen Zusammenlebens verhehlen. Ich hätte vielleicht besser und klüger gethan, meiner Nichte eine Unterstützung auszusetzen und sie in der kleinen Stadt unter ihren bisherigen Verhältnissen zu lassen.«

»Du weißt, daß das nicht möglich war. Auch hofftest du, daß Julie mit der Zeit dir eine Gesellschafterin ersetzen und sich in unserem Hause nützlich machen würde. Bei deinen vielfachen Beschäftigungen und häufigen Leiden bedarfst du in der That der Pflege und Hilfe einer zuverlässigen Person, die dir die Last der Wirtschaft und die Sorge um die alltäglichen Bedürfnisse des Lebens abnimmt. Du wirst gewiß an deiner Nichte eine Stütze finden, die du, seitdem auch Pauline sich verheiratet hat, so schmerzlich in deinem Hauswesen entbehrst.«

»Ich wünsche es von ganzem Herzen; doch wer steht mir dafür, daß die Kleine gerade die nötigen Eigenschaften besitzt und für eine solche Stellung paßt? Ich kenne sie nicht und sie ist für mich so gut wie eine Fremde, da ich bis kurz vor dem Tode meiner Schwester in keiner Verbindung mit ihr stand. Ich habe sie nur einmal flüchtig bei dem Begräbnis ihrer Mutter gesehen und wenige Worte mit ihr gesprochen. Damals war sie noch ein halbes Kind, nicht uninteressant, aber scheu und linkisch, mager wie eine Hopfenstange und braun wie eine Zigeunerin. Nach ihren Briefen zu urteilen, scheint sie mir die Schwärmerei meiner armen Schwester und den demokratischen Stolz ihres Vaters geerbt zu haben. Dazu kommen noch die Einflüsse ihrer bisherigen Umgebung, die kleinstädtischen Manieren und Gewohnheiten –«

»Allerdings spricht aus ihren Briefen eine poetische Ueberschwänglichkeit, aber auch ein origineller, ungewöhnlicher Geist. Ich gestehe dir, daß ich davon frappiert war und daß ich wenig junge Damen in unserem Kreise kenne, die so logisch und,« setzte der Legationsrat ironisch lächelnd hinzu, »so orthographisch schreiben. Jedenfalls muß die Kleine vielen Verstand besitzen und eine ausgezeichnete Erziehung genossen haben. Die kleinstädtischen Manieren wird sie bald ablegen, da sie hier in eine gute Schule kommt und an dir ein unerreichbares Muster und Vorbild findet.«

»Nun, wir werden ja sehen,« entgegnete die Präsidentin geschmeichelt, »und wir wollen das beste von der Zukunft hoffen. Ich werde sogleich das Zimmer für Julie in Bereitschaft setzen lassen und den Diener beauftragen, sie vom Bahnhof abzuholen.«

»Willst du nicht lieber selbst –«

»Wo denkst du hin? Ich darf mich nicht der Abendluft auf dem zugigen Perron und dein Gedränge aussetzen. Das Pfeifen der Lokomotive genügt, um mir einen Anfall der Migräne zuzuziehen.«

»Dann werden wohl Pauline oder Laura die Kousine empfangen müssen.«

»Deinen Schwestern kann ich nicht ein solches Opfer zumuten. Sie sind ohnehin mit mir nicht einverstanden und werfen mir meine allzugroße Schwäche vor.«

»Aber man kann doch Julie nicht wie eine Fremde dem ihr gänzlich unbekannten Diener überlassen. Das sieht gleich so kalt und unfreundlich aus, daß es sie verletzen muß. Sollte kein anderer da sein, so werd' ich sie auf dem Bahnhof erwarten.«

»Du bist sehr liebenswürdig,« versetzte die Präsidentin, »allzu liebenswürdig. Doch hast du wirklich nicht nötig, dich der Kleinen wegen zu bemühen. Man muß sie nicht verwöhnen. Indes, wenn es dir keine Umstände macht –«

»Nicht im geringsten. Ich habe heute den Abend frei.«

»Aber du wirst die Kousine nicht erkennen und unter den Passagieren schwerlich herausfinden.«

»Deshalb kannst du ganz unbesorgt sein. Dein Signalement genügt vollkommen: mager wie eine Hopfenstange und braun wie eine Zigeunerin,« scherzte Oswald, indem er sich erhob und von seiner Mutter verabschiedete.

Frau von Mainau lächelte und sah freundlich ihrem Sohne nach, bis er in der Thüre verschwand, ganz entzückt von seiner Liebenswürdigkeit und seiner Herzensgüte. In der That war der junge Diplomat wie wenige von der Natur und dem Schicksal begünstigt: schon, geistreich und talentvoll, dazu noch vermögend und einer angesehenen Familie angehörig, äußerlich eine elegante, glänzende Erscheinung, ein feiner Kopf, so vielseitig begabt, daß er zu den größten Hoffnungen berechtigt schien.

Von seiner eitlen und nachsichtigen Mutter verzogen, von der Gesellschaft verwöhnt, von den Frauen angebetet, genoß Oswald das Leben in so vollen und so raschen Zügen, daß er schon nach kurzer Zeit von den frivolen Vergnügungen und dem Treiben seiner Umgebung übersättigt und angeekelt war. Mit achtundzwanzig Jahren kannte und beurteilte er die Welt wie ein lebensmüder Greis, gab es für ihn keine Illusionen mehr. Wie so viele junge und begabte Männer unserer Zeit, verfiel auch er der Modekrankheit des Materialismus und der damit nicht selten verbundenen Selbstvergötterung, ohne deshalb seine angeborene Liebenswürdigkeit und Gutmütigkeit einzubüßen.

Obgleich ihm die verwaiste Julie persönlich unbekannt und völlig gleichgültig war, empfand er für sie ein inniges Mitleid, in das sich jedoch unbewußt ein egoistisches Gefühl mischte. Ihr trauriges Schicksal erregte seine Teilnahme, zugleich gefiel er sich in der Rolle des Beschützers. Außerdem versprach er sich von ihrer Anwesenheit einen günstigen Einfluß auf seine nervöse Mutter, eine kleine Zerstreuung und Unterhaltung für sich selbst, da er in ihren Briefen eine gewisse Originalität zu finden glaubte, die ihn unwillkürlich interessierte. Im übrigen hielt er seine Kousine für ein unschuldiges Kind, für einen ungefährlichen Backfisch, worin er noch durch die keineswegs schmeichelhaften Schilderungen der Präsidentin von dem Aussehen der Kleinen bestärkt wurde.

Mit diesem vorgefaßten Bilde begab sich Oswald zur bestimmten Stande nach dem Bahnhof, um die Ankunft seiner Kousine zu erwarten. Sobald der Zug unter der hell erleuchteten Halle hielt, suchte der Legationssekretär in dem Gedränge der angekommenen Reisenden die ihm unbekannte Julie, welche er, mit dem Signalement seiner Mutter bewaffnet, leicht und ohne Aufenthalt zu finden hoffte. Aber trotzdem er von einem Wagen zum andern ging, in alle Koupees aufmerksam hineinblickte, die aussteigenden weiblichen Passagiere genau musterte und besonders sämtliche Backfische von fünfzehn bis siebzehn Jahren scharf beachtete, konnte er die Vermißte nirgends entdecken. Ebensowenig vermochten die von ihm befragten Schaffner ungeachtet der gegebenen Personalbeschreibung ihm die gewünschte Auskunft zu erteilen.

Schon gab Oswald jede Hoffnung auf und wollte zugleich mit den letzten Reisenden den Bahnhof verdrießlich verlassen, als er in der Nähe der Ausgangstreppe unter einer Gaslaterne eine junge Dame in tiefer Trauer bemerkte, welche sich verlegen nach allen Seiten umzublicken schien. In ihren Händen hielt sie eine kleine, gestickte Reisetasche und den Gepäckschein, den sie einem angestellten Träger mit der Weisung übergab, den ihr gehörigen Koffer und eine kleine Kiste nach der Wohnung der Frau Regierungspräsidentin von Mainau in der Potsdamerstraße zu besorgen.

Angenehm überrascht, aber noch immer zweifelnd, näherte sich Oswald der jungen Dame, um sie anzureden.

»Irre ich mich nicht, so sind Sie Julie, Julie Brede.«

»So heiße ich,« erwiderte sie befremdet, fast erschrocken ihn anblickend. »Doch wer sind Sie?«

»Oswald von Mainau, Kousin Oswald.«

»Sie, du!« rief sie freudig, ihm die kleine, kräftige Hand reichend. »Wie lieb, wie gut von dir, von Ihnen, mich auf dem Bahnhof zu erwarten!«

»Sage mir nur immer du! wir sind ja nahe Verwandte.«

Wieder sah sie ihn mit den großen, wunderbar glänzenden Augen an, doch nicht mißtrauisch, sondern freundlich lächelnd, nicht wie einen Fremden, sondern wie einen alten, längst bekannten Freund. Oswald aber konnte sich nicht eines angenehmen Erstaunens erwehren, da sie ihm so ganz anders erschien, als er sie sich nach der Beschreibung seiner Mutter vorgestellt hatte. So weit es das Licht der Gaslaterne und ihr dunkler, weiter Reisemantel zuließ, glaubte er zu bemerken, daß sie weder so dünn wie eine Hopfenstange, noch so braun wie eine Zigeunerin war. Auch konnte Julie nicht mehr für ein Kind, sondern für eine angehende Jungfrau gelten, obgleich ihre Züge noch nicht ganz ausgebildet waren und noch den ganzen Reiz kindlicher Unschuld und Offenheit zeigten.

Vor Oswalds Blicken stand jetzt eine hochaufgeschossene, schlanke Gestalt mit seinem, bleichem Gesicht, goldig angehaucht wie eine Statue von parischem Marmor; die klassische Stirn von schwarzen, glattgestrichenen Haaren wie von einem Ebenholzrahmen eingefaßt, darunter die dunkelblauen, überirdisch leuchtenden Augen, die einen unermeßlichen Schatz von Liebe und Güte, von Geist und Gemüt ahnen ließen; die ganze Erscheinung einer verschlossenem, duftenden Frühlingsknospe gleich, die nur eines warmen Sonnenstrahls bedurfte, um sich zur herrlichsten Blüte zu entfalten.

Auch Julie sah sich angenehm getäuscht, da sie keineswegs einen so freundlichen, fast herzlichen Empfang von seiten ihrer vornehmen, ihr als hochmütig und egoistisch bekannten Angehörigen hoffte, die sich jahrelang nicht um sie gekümmert und gegen die ihr armer, verstorbener Vater ein nicht unbegründetes Vorurteil ihr eingeflößt hatte. Statt eines kalten, steifen und zugeknöpften Diplomaten fand sie nun einen liebenswürdigen, zuvorkommendere Kousin, dessen verwandtschaftliche Teilnahme dem verwaisten Mädchen unbeschreiblich wohl that und ihr das größte Vertrauen einflößte, während sie gleichzeitig sein elegantes Aeußere, die geschmackvolle Toilette, die seinen Manieren und vor allem das interessante, geistvolle, nur etwas verlebte Gesicht unwillkürlich bewunderte.

Mit sichtlicher Befriedigung bemerkte Oswald den günstigen Eindruck, den seine Persönlichkeit auf Julie machte, was sie auch in ihrer unschuldigen Naivetät ihm nicht zu verbergen suchte. Wie gewöhnlich in einem solchen Fall, schmeichelte diese ihm offen dargebrachte Huldigung seiner Eitelkeit und erhöhte nur noch sein Wohlwollen und sein Interesse für die reizende Kousine. Als ob sie eine kleine Prinzessin oder eine vornehme Salondame wäre, reichte er ihr seinen Arm, um sie die Treppe hinabzuführen und sie mit der ganzen Galanterie eines vollendeten Kavaliers in die vor dem Portal bereit stehende Equipage der Präsidentin zu heben, obgleich sie das durchaus nicht zugeben wollte.

Wie sie jetzt in dem zurückgeschlagenen, eleganten Landau auf den weichen Atlaskissen an seiner Seite saß und auf den geräuschlosen Gummirädern dahinrollte, kam sie sich selbst wie eine wirkliche Prinzessin, wie die Heldin eines reizenden Feenmärchens vor. Die breiten Straßen, die großen Plätze mit den im Mondlicht schimmernden Monumenten, die hohen, palastähnlichen Häuser, die hell erleuchteten Läden mit den glänzenden Schaufenstern, an denen sie vorüberflog, das ungewohnte Leben und Treiben der Weltstadt, das bunte Menschengewühl erschien ihr wie ein schöner, verlockender Traum. Sie wußte nicht, wohin sie ihre Augen wenden, was sie zuerst sehen und bewundern sollte, ganz verwirrt und geblendet von der ungeahnten Pracht und Herrlichkeit.

Oswald dagegen fand das größte Vergnügen an dem kindlichen Staunen, an den lauten Ausbrüchen freudiger Ueberraschung, an den klugen Fragen und originellen Bemerkungen der kleinen Kousine. Die kurze Fahrt vom Bahnhof bis zum Potsdamer Thor reichte hin, um beide mit einander so bekannt zu machen, als ob sie seit Jahren mit einander gelebt und innig verkehrt hätten. Julie plauderte so unbefangen und offen mit ihm wie mit einem Bruder, zwanglos und harmlos wie ein wahres Kind, entzückend in ihrer frischen Natürlichkeit und Unschuld. Ihre Worte erfreuten ihn wie das liebliche Zwitschern eines muntern Waldvogels, wie das melodische Rauschen einer Silberquelle, auf deren kristallreinem Grund man jeden Kiesel, jedes blinkende Sandkorn sehen und erkennen kann.

Aufmerksam, fast andächtig hörte der verwöhnte junge Mann ihr zu, als sie ihm von ihrem bisherigen Leben in der kleinen, abgelegenen Provinzialstadt erzählte und von ihren Freuden und Leiden sprach, von der beschränkten und hoch so gemütlichen Gesellschaft dieser ihm sonst gleichgültigen Gymnasiallehrer und Primaner, von ihrem Gärtchen und ihrem Kanarienvogel, der, wie sie ihm anvertraute, so zahm war, daß er ein Stückchen Zucker von ihren roten Lippen pickte; von ihren Bekannten und Freundinnen, die sie schmerzlich vermisse; vor allem aber von der guten Mutter und dem armen Vater, um die sie trauerte.

Bei diesen trüben Erinnerungen zitterte unwillkürlich ihre klangvolle Stimme, umflorten sich die schönen Augen und wurden feucht. Ein düsterer Schatten flog gleich einer Wolke über die klare Stirn und schmerzlich zuckte der kleine Mund, als sie der toten Eltern gedachte. Zugleich überfiel sie wie ein kalter Schauer das Gefühl ihrer jetzigen Verlassenheit, eine plötzliche Ahnung der ungewissen Zukunft und eine bange Angst vor den ihr fremden, ihrem Vater feindlichen Verwandten mit solcher Gewalt, daß sie trotz aller Selbstbeherrschung ein leises Schluchzen nicht unterdrücken konnte.

Ueberrascht von diesem jähen Wechsel der Gefühle, wie er oft bei jugendlichen Gemütern vorzukommen pflegt, verlegen, da er sich einem Mädchen gegenüber noch nie in einer ähnlichen Lage befunden hatte, und gerührt von ihrem Leid, suchte Oswald die Aufgeregte zu beruhigen und ihre Besorgnisse zu zerstreuen.

»Verzeih',« sagte sie, unter Thränen lächelnd, »daß ich dir mit meinem Schmerz lästig falle. Aber mein Verlust ist noch zu neu, zu groß –«

»Hoffentlich,« versetzte er gutmütig, »wirst du bei uns Ersatz für deine Eltern und in unserem Hause eine neue Heimat finden.«

»Das gebe Gott! Ich fühle mich so einsam und verwaist. Ach!« seufzte sie, »du kannst dir gar nicht denken, wie traurig es ist, so allein und verlassen dazustehen.«

»Armes Kind! Doch der Schmerz macht dich ungerecht und läßt dich vergessen, daß du noch Verwandte und Freunde hast.«

»Das ist wahr, aber mein guter Vater –«

»Wenn du,« unterbrach er sie mit freundlichem Ernst, »meinem Rat folgen willst, so denke nicht mehr an die traurige Vergangenheit und den alten Familienzwist, der mit den Toten begraben ist. Trotz ihrer kleinen Schwächen und Vorurteile ist meine Mutter herzensgut. Sie liebte ihre Schwester und wird auch dich wie eine Tochter lieben, wenn du dich nur in ihre Laune schicken lernst.«

Ich will mir gewiß die größte Mühe geben, sie zufrieden zu stellen. »Aber die Kousinen, deine Schwestern –«

»Nun,« erwiderte er ausweichend, »du wirst ja Pauline und Laura kennen lernen und selbst urteilen. Es läßt sich mit ihnen leben und mit einiger Klugheit, die ich dir zutraue, auch leichter auskommen, als du zu glauben scheinst. Ich selbst –«

»O du!« rief sie bewegt, fast begeistert. »Von dir bin ich überzeugt, daß du es gut mit mir meinst, daß du mein wahrer Freund bist.«

»Gewiß!« bekräftigte er, ihr seine Hand reichend. »Du sollst an mir einen treuen Freund haben und darfst aus mich sicher rechnen, wenn du Rat und Hilfe brauchst.«

Während dieses Gesprächs war die Equipage viel zu früh für beide vor dem Hause der Präsidentin angekommen. Vollkommen durch die Worte des liebenswürdigen Kousins beruhigt, schwang sich Julie so leicht wie ein Schmetterling aus dem Wagen und flog die breite, prächtige Marmortreppe hinauf zur ersten Etage, ungeduldig, mit vor Erwartung laut klopfendem Herzen, so schnell, daß Oswald ihr kaum zu folgen vermochte.

»Nicht so stürmisch, Kleine!« mahnte er freundlich. »Willst du nicht vorher deinen Mantel ablegen und ein wenig Toilette machen?«

»Wozu? Wenn man trauert, braucht man keine Toilette.«

»Aber meine Mutter gibt viel auf Aeußeres und der erste Eindruck ist bei ihr entscheidend. Deshalb glaube ich, daß du gut thun würdest –«

»Sehr gern, aber ich trage ja schon mein bestes Kleid.«

»Ich will die Kammerjungfer rufen. Luise muß Rat schaffen und wird dir behilflich sein –«

»Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Wozu die Umstände? In meiner Tasche habe ich alles, was nötig ist, Kämmchen und Bürste, eine schwarze Schleife und sogar ein neues Paar Handschuhe. Da hängt auch ein Spiegel im Entree. Gott, wie prächtig! Du sollst nicht lange auf mich warten. Eins, zwei, drei – bin ich fix und fertig.«

Unbekümmert um die Gegenwart ihres über ihre Naivetät lächelnden Kousins, stellte sie sich vor den Spiegel, um ihre von der weiten Reise derangierte Toilette in Ordnung zu bringen. Mit einer raschen, anmutigen Bewegung legte sie ihren Reisemantel ab, strich sie das aufgelöste, dunkelschwarze Haar mit dem Kämmchen glatt, zog sie ungeniert das zerknitterte Kleid um die schlanken Schultern und die feine Taille fest, daß es ihr wieder wie angegossen saß. Nur die kleinen Handschuhe waren ein wenig zu eng und wollten sich nicht so leicht und so rasch knöpfen lassen, als die Ungeduldige wünschte.

»Bitte!« sagte sie unbefangen, ihm ihre Hand reichend. »Ich kann ohne dich mit den verwünschten Handschuhen nicht fertig werden. Willst du so freundlich sein und mir helfen?«

»Mit vielem Vergnügen!«

Merkwürdigerweise stellte sich der sonst in allen solchen Künsten bewanderte Diplomat diesmal so ungeschickt an, daß er kein Ende finden konnte und den schlanken Arm seiner Kousine weit länger festhielt und stärker drückte, als dies unumgänglich nötig war, was diese jedoch kaum zu bemerken schien. Nur mit ihrer Toilette und dem Gedanken an die gefürchtete Tante beschäftigt, warf sie noch einen flüchtigen Blick in den hohen Wandspiegel, aus dem ihr ein lieblich holdes Bild entgegenlächelte.

»Nun, wie gefall' ich dir jetzt?« fragte die unschuldige Kokette.

»Charmant!« scherzte Oswald. »Du siehst wirklich wie eine kleine Prinzessin aus.«

»Daß Gott erbarm! Eine Prinzessin von Habenichts und Hungerleider, schwarz wie die Königin von Saba und arm wie eine Kirchenmaus!«

Schnell jedoch wie ein Blitz verschwand diese Anwandlung jugendlichen Mutwillens aus dem lachenden Gesicht und machte einem tiefen Ernst Platz, als in diesem Augenblick der vorangeeilte Diener die Thür zu dem Empfangssalon öffnete, worin die Präsidentin mit ihren beiden Töchtern saß und die arme Julie neugierig erwartete.

II.

Wider alle Vermutung fand die verwaiste Nichte Gnade vor den scharfen Augen der strengen und etwas launenhaften Tante, wozu allerdings die Gegenwart und die günstige Meinung des liebenswürdigen, von seiner Mutter verzogenen Kousins wohl das meiste beitragen mochte. Außerdem war Frau von Mainau von der vorteilhaften Veränderung der »Kleinen« angenehm überrascht, da sie bekanntlich viel auf äußere Schönheit und auf gute Manieren gab.

Diesem Umstand hatte auch die verlassene, verlegen errötende Julie einen kaum gehofften freundlichen Empfang von seiten der stolzen Präsidentin zu verdanken, die wie die meisten nervösen Damen sich leicht ihren Gefühlen überließ und nicht frei von einer gewissen Sentimentalität bei solchen Gelegenheiten war, besonders wenn sie Zeugen ihres guten Herzens und ihrer Großmut fand.

Mit augenscheinlicher und keineswegs geheuchelter Rührung, die nur einen leichten theatralischen Anstrich zeigte, umarmte und küßte sie ihre vor Aufregung zitternde Nichte, wobei sie selbst sogar einige ihr stets zu Gebot stehende Thränen vergoß. Tief erschüttert von diesem unerwartet herzlichen Empfang und noch mehr von der Aehnlichkeit der Präsidentin mit ihrer verstorbenen Mutter ergriffen, sank Julie heftig weinend an die Brust ihrer so überaus gütigen Tante, zu bewegt, um ein Wort zu sprechen.

»Beruhige dich, mein Kind!« tröstete Frau von Mainau sanft die Aufgeregte. »Ich werde dich nicht verlassen.«

»Meine gute, meine geliebte Tante!«

»Ich will wie eine Mutter für dich sorgen.«

»Mutter!« schluchzte Julie, überwältigt von den auf sie einstürmenden Gefühlen, die Präsidentin fester umschlingend und sich an ihren Hals anklammernd. »O! du weißt nicht, wie wohl es mir thut –«

»Erweise mir den einzigen Gefallen,« unterbrach sie Frau von Mainau etwas ungeduldig, »und rege dich und mich nicht auf! Du machst mich ganz nervös durch deine Heftigkeit, und wenn du nicht aufhörst, bekomme ich noch einen Anfall meiner Migräne. Man muß auch seinen Schmerz beherrschen lernen und Maß in seiner Trauer halten können.«

Beschämt und gehorsam wie ein Kind, trocknete Julie ihre Thränen und unterdrückte mit der ihr eigenen Festigkeit den Ausbruch ihrer stürmischen Gefühle, so schwer es ihr auch fiel, das allzuwarme, von Schmerz und Liebe überströmende kleine Herz zu bändigen. Erst jetzt, nachdem sie mühsam sich gefaßt hatte, bemerkte sie auch ihre sie beobachtenden Kousinen, die sie zwar innig aber ruhiger begrüßte, sichtlich bestrebt, jede neue Aufregung zu vermeiden, wozu ihr auch die gemessene und kühle Freundlichkeit der beiden Damen keine besondere Veranlassung bot.

Unterdessen benutzte die Präsidentin die eingetretene Pause, um ihre Nichte einer kleinen Prüfung zu unterwerfen, indem sie verschiedene Fragen nach ihrer Gesundheit, nach ihren bisherigen Verhältnissen und ihrem Umgang in der kleinen Stadt, besonders aber nach ihrer Erziehung, ihren Kenntnissen und Beschäftigungen an sie richtete, die Julie mit ihrer gewohnten Offenheit zur Zufriedenheit ihrer lebensklugen Tante beantwortete.

Nur als sie im Lauf dieser vertraulichen Unterhaltung so unvorsichtig war, mit Begeisterung und inniger Liebe ihren verstorbenen Vater, den armen Gymnasiallehrer, zu erwähnen, verfinsterte sich das stets so sanfte und freundliche Gesicht der Präsidentin und nahm einen unheimlich harten und gehässigen Ausdruck an, der nur um so schärfer mit ihrer gewöhnlichen Milde und Güte kontrastierte, so daß Julie sie erschrocken anblickte.

Zum Glück stand der liebenswürdige Kousin in ihrer Nähe und mischte sich rechtzeitig und so geschickt in das verfängliche Gespräch, daß dasselbe eine andere Wendung nahm und das bereits drohende Ungewitter sich ohne weitere Folgen verzog, wofür ihm Julie, die erst jetzt die Gefahr erkannte, im stillen dankbar war. Instinktmäßig fühlte sie, daß er allein ihr wahrer Freund, ihr treuer Beschützer sei, was natürlich nur ihre vorteilhafte Meinung von seiner Herzensgüte und ihr Vertrauen zu seinem edlen Charakter noch erhöhte.

Die Ankunft der beiden zum Thee erwarteten Schwiegersöhne, des Kammerherrn von Randau und des Hauptmanns von Blanken, unterbrach das nicht ganz unbedenkliche Examen und gab den Gedanken der beweglichen Präsidentin einen neuen Impuls, da die Herren aus dem adeligen Kasino kamen und wie gewöhnlich eine Menge interessanter Neuigkeiten mitbrachten, über die Frau von Mainau und ihre Töchter fast die Gegenwart der armen Julie vergaßen.

Nach erfolgter Begrüßung und flüchtiger Vorstellung entwickelte sich eine mehr allgemeine Unterhaltung, die sich hauptsächlich um fremde Personen und Verhältnisse, um bevorstehende Hoffeste, Bälle und Theatervorstellungen, um verschiedene Avancements und Beförderungen in der Armee und der höheren Beamtenwelt, besonders aber um die jüngsten Verlobungen und Heiraten in den vornehmen aristokratischen Kreisen drehte, weshalb auch Julie weder daran teilnahm, noch besonders darauf achtete, noch dazu, da auch Oswald sich auffallend still verhielt und nur selten ein kurzes Wort dazwischen warf, gelangweilt von dem ihm uninteressanten Gespräch.

»Wißt ihr schon,« sagte der Hauptmann von Blanken, ein junger, Lebemann, mit wichtiger Miene, »daß Fritz Wehlen, der tolle Fritz sich endlich bekehrt hat und eine glänzende Partie macht; Rosa Bernstädt –«

»Nicht möglich!« rief die Präsidentin überrascht. »Du hast dir eine Ente aufbinden lassen.«

»Pardon, liebe Mama! Ich weiß es aus bester Quelle. Sein eigener Bruder hat es im Kasino öffentlich erzählt. Morgen wird die Anzeige in der Zeitung stehen.«

»Wie ich höre,« bemerkte der Kammerherr von Randau, »bekommt Fräulein von Bernstädt wenigstens ihre zweimalhunderttausend Thaler mit.«

»Man spricht sogar von einer halben Million,« fügte der Hauptmann hinzu. »Dieser Wehlen hat ein fabelhaftes Glück.«

»Eine halbe Million!« wiederholte die Präsidentin mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Sohn. »Was sagst du denn dazu, lieber Oswald?«

»Meinetwegen,« entgegnete er gleichgültig, »auch eine ganze Million. Ich beneide Wehlen nicht um sein mehr als zweifelhaftes Glück.«

»Und ich,« erwiderte Frau von Mainau in gereiztem Ton, »habe nur den einzigen Wunsch, daß du so bald als möglich seinem Beispiel folgst. Du weißt, wie sehr es mich betrübt und bekümmert –«

»Daß ich noch immer nicht verheiratet bin,« unterbrach sie Oswald lachend. »Das thut mir leid, aber was kann ich dafür, daß der Himmel mir das Talent versagt hat, mich wie Wehlen in den ersten besten Geldsack zu verlieben? Ich bin gewiß nicht romantisch und viel zu praktisch, um die Vorteile einer Million zu verachten, auch ziehe ich einen komfortablen Salon mit eleganten Polsterstühlen einer niedern Hütte mit der bewußten Bank von Moos und ein gutes Diner mit frappiertem Champagner bloßem Schwarzbrot und klarem Wasser vor; aber lieber wollte ich doch wie ein urweltlicher Pfahlmensch wohnen und wie ein Eskimo von gedörrten Fischen leben und dazu Thran trinken, was keineswegs sehr angenehm schmecken soll, als mit einer solchen Zierpuppe wie diese Rosa Bernstädt mich zu Tode langweilen, wenn sie auch bis zu ihrem langen Hals in Geld stünde und vom Kopf bis zu ihren großen Füßen mit Demanten und Perlen bedeckt wäre.«

»Nun, es gibt noch andere ebenso vermögende Damen, die auch schön, geistreich und liebenswürdig sind, wie zum Beispiel Agathe –«

»Ich erlasse dir die Namen und zweifle auch keinen Augenblick an ihrer Trefflichkeit. Ich selbst kenne eine ganze Schar dieser holden Wesen, welche eine reizende Toilette machen, gottvoll tanzen, französisch wie eine geborene Pariserin sprechen, wahrhaft brillant ein Notturno von Chopin spielen oder ein Lied von Schubert und Schumann singen, Schopenhauer und Hartmanns Philosophie des Unbewußten ohne Erröten lesen und studieren, nach der nackten Natur malen und modellieren, wie ein Jockei reiten und sogar Zigarren ohne Beschwerden rauchen – trotzdem habe ich noch niemals das sehnsüchtige Bedürfnis empfunden, mein ganzes lebenlang zu den Füßen einer solchen Göttin zu sitzen, ihre blauen oder braunen Augen zu besingen, ihr die Mantille umzugeben, oder ihren Sonnenschirm zu tragen, sie ins Theater und zu Bällen zu führen, mit einem Wort die süßen, nur etwas kostspieligen und zuweilen höchst problematischen Freuden der Ehe an der Seite eines solchen Engels zu genießen.«

»Das ist einzig und allein deine Schuld –«

»Oder vielmehr die deinige, liebe Mama, da du mich verwöhnt hast, in dir ein weibliches Ideal zu erblicken, das ich bisher vergebens gesucht und nirgends gefunden habe,« versetzte Oswald mit liebenswürdiger Galanterie, die schmale weiße Hand seiner halb lächelnden, halb zürnenden Mutter küssend.

Ungeachtet des schmeichelhaften und versöhnlichen Schlusses hatte das Gespräch bei den Beteiligten und besonders bei der Präsidentin eine leichte Verstimmung zurückgelassen, da es ihr einziger und höchster Wunsch war, ihren Sohn so glänzend als möglich verheiratet zu sehen. Deshalb suchte sie auch nach einer reichen Partie für ihn und bemühte sie sich bei jeder Gelegenheit, seinen ausgesprochenen Widerwillen gegen die Ehe zu bekämpfen, wobei sie besonders von ihrer jüngeren Tochter, der Frau Hauptmann von Blanken, eifrig unterstützt wurde.

Um so mehr sympathisierte die still zuhörende Julie mit den Worten und Ansichten ihres Kousins, voll Bewunderung für die edle Uneigennützigkeit, womit er eine Million so leicht verschmähte. Wie ihr verstorbener Vater, verachtete auch sie »das schnöde Gold« und es freute sie daher doppelt, dieselben idealen Gesinnungen aus seinem Munde zu vernehmen, obgleich es Oswald damit keineswegs so ernsthaft meinte, als sie in ihrer Unschuld glaubte, indem er selbst weniger eine Ehe ohne Liebe als den damit verbundenen Zwang und den Verlust seiner bisherigen Freiheit scheute.

Getäuscht durch seine ebenso geistreich als edel klingenden Phrasen, hinter denen sich nur der Egoismus des blasierten und verwöhnten Lebemanns, wo nicht Schlimmeres verbarg, erblickte die schwärmerische Julie in ihrem Kousin die Verwirklichung jenes Ideals, das bewußt oder unbewußt in jedem jungen Mädchenherzen schlummert und selten oder nie im Leben gefunden wird.

Nur zu gern hätte sie ihm noch länger zugehört und noch lieber ihm ihre begeisterte Zustimmung zu erkennen gegeben, doch der vorgerückte Abend machte der für sie jetzt so interessanten Unterhaltung ein zu zeitiges Ende und mahnte auch die übrige Gesellschaft zum Aufbruch. Die verheirateten Mitglieder der Familie, welche außerhalb des Hauses wohnten, erhoben sich, um sich zu verabschieden. Nachdem sie gegangen waren, klingelte die Präsidentin der Kammerjungfer und erteilte dieser die Weisung, ihre Nichte nach dem für sie bestimmten Zimmer zu führen, das nach dem Hof zu lag und die Aussicht auf den zum Haus gehörigen Garten hatte. Julie küßte die ihr hingehaltene Hand der Präsidentin und dankte ihr und auch Oswald noch einmal mit tief bewegtem Herzen für die ihr erwiesene Güte und Freundlichkeit, worauf sie sich in Begleitung der Kammerjungfer auf ihr Zimmer zur Ruhe begab.

Obgleich ermüdet von der weiten Reise, konnte sie vor innerer Aufregung nicht schlafen. Wie in einem Bienenstock schwirrten und schwärmten die Gedanken in dem kleinen Kopf und ihr Herz wogte und flutete wie die leicht bewegte See. Es war zu viel, was sie alles heute erlebt und erfahren hatte und wie in einem Kaleidoskop drängten sich all die schönen und schmerzlichen Bilder des Tages und zogen in der stillen Einsamkeit noch einmal an ihrem Geist vorüber. Am frühen Morgen stand sie noch einsam und unglücklich in der kleinen Stadt, auf dem Kirchhof an dem Grabe ihrer Eltern weinend, und jetzt saß sie getröstet in dem Hause ihrer Tante, ihrer zweiten Mutter. Dazwischen lag der Abschied von den alten Freunden und Bekannten, die lange Fahrt auf der Eisenbahn, ihre Ankunft in der Residenz, der freundliche Empfang von seiten ihrer Verwandten, eine Fülle von neuen Eindrücken und Erlebnissen, die sie kaum zu bewältigen vermochte.

Mit der Erinnerung an die Toten vermischte sich der Gedanke an die Lebenden, mit der Trauer um die geliebten Eltern die Dankbarkeit für die gütige Beschützerin, mit den von ihr bisher geteilten Vorurteilen ihres freisinnigen Vaters gegen die hochmütige Familie Mainau ihre Begeisterung für den liebenswürdigen Oswald und ihre Bewunderung seiner edlen Gesinnung. In ihrem liebevollen und der Liebe bedürftigen Herzen verschmolzen all die Gegensätze zur reinsten Harmonie, versöhnten sich die feindlichen Elemente, reichten sich die Getrennten über dem Grab die Hände.

Nach und nach schwand auch ihre Aufregung; Julie wurde ruhiger und bald überließ sie sich von neuem ihrer kindlichen Sorglosigkeit und naiven Vertrauensseligkeit. Sie sah in der stolzen, launenhaften Präsidentin eine Heilige, gleich ihrer verstorbenen Mutter, und in ihrem Kousin Oswald den besten und edelsten der Menschen, ihren wahren Schutzgeist. Selbst das kleine, bescheidene Zimmer, worin sie verweilte, erschien ihr, trotz der nichts weniger als glänzenden Einrichtung wie ein reizendes Paradies. Sie war entzückt von dem alten Sopha und dem unmodernen Schreibtisch, den Pauline bei ihrer Verheiratung zurückgelassen hatte, von den ausrangierten Stühlen und Schränken, von den verbleichten Tapeten und verschossenen Gardinen, den gewöhnlichen Kupferstichen und dem etwas erblindeten Spiegel in geschmacklosem Rokokorahmen, vor allem aber von der sie umgebenden Stille und der wirklich freundlichen Aussicht auf den benachbarten Garten.

Draußen schien der Mond so hell und traulich und lockte sie, an das Fenster zu treten und einen Blick auf ihre neue Umgebung zu werfen. Bald aber richteten sich ihre Augen zu dem gestirnten Himmel empor, wo die Geister ihrer Lieben wohnten; unwillkürlich faltete sie ihre Hände und ihre Gedanken wurden zum Gebet. In diesem Augenblick wurde die Stille der Nacht durch die bezaubernden Klänge einer Beethovenschen Sonate unterbrochen, die eine Meisterhand mit seltener Vollendung und innigem Gefühl spielte.

Tief ergriffen lauschte Julie den himmlischen Tönen, die mit ihrer eigenen Stimmung so wunderbar harmonierten und in ihrem bewegten Herzen widerhallten. Dabei mußte sie wiederum an Oswald denken, dem sie allein ein so großes musikalisches Talent und eine solch innige Empfindung zutraute, um so mehr, da außer ihm und seiner Mutter, wie sie dachte und glaubte, niemand sonst im ganzen Hause wohnte.

Wie gebannt stand Julie an dem von ihr halb geöffneten Fenster, bis die letzten Akkorde melodisch verhallt waren. Noch umschwebt von diesen Tönen, suchte sie ihr Lager auf, aber selbst im Schlaf hörte sie noch die überirdischen Klänge der Beethovenschen Sonate, sah sie träumend neben den Bildern ihrer Eltern das interessante Gesicht ihres freundlichen Schutzgeistes.

Später als sie gewohnt war, erwachte Julie am nächsten Morgen aus ihrem tiefen, gesunden Schlummer. Erquickt und gestärkt stand sie rasch auf und zog sich schnell an, obgleich sie unbewußt mehr Sorgfalt als sonst auf ihre einfache Toilette verwendete. Um die Tante nicht warten zu lassen, eilte sie so hastig, daß sie in Gedanken versunken, mit einem von der entgegengesetzten Seite des Flurs ihr entgegenkommenden Herrn leicht zusammenstieß.

»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« stotterte der kurzsichtige Fremde, sich nach der ihm entfallenen Brille bückend.

»Verzeihen Sie meine Unvorsichtigkeit,« erwiderte sie, sich gleichfalls bückend, wobei ihre Köpfe von neuem mit einander in unsanfte Berührung kamen.

»Mein Gott!« rief der unbekannte Herr verzweiflungsvoll. »Ich bin ganz außer mir –«

»Beruhigen Sie sich! Ich will Ihnen nur Ihre Brille suchen helfen.«

»Sie sind zu gütig! Nein! Das kann ich nicht zugeben, daß Sie sich noch meinetwegen bemühen.«

Die ganze Situation, besonders die übertriebene Verlegenheit und übergroße Höflichkeit des noch dazu durch seine Magerkeit und Länge auffallenden Fremden kam ihr so komisch vor, daß Julie sich trotz aller Anstrengung nicht des Lachens enthalten konnte. Doch schon im nächsten Augenblick bereute sie ihre mutwillige Heiterkeit, als sie ein halb stehender, halb schmerzlicher Blick aus seinen kurzsichtigen, traurigen Augen traf und sie bemerken konnte, wie sein bleiches, seines Gesicht leicht errötete und er kaum merklich zusammenzuckte. Verwirrt suchte sie nach einer passenden Entschuldigung für ihre kleine Ungezogenheit, als zu ihrer Freude und Beruhigung Oswald aus der nächsten Thür trat und sie durch seine Dazwischenkunft aus der ihr peinlichen Lage befreite.

»Sieh da, Timotheus,« rief er lachend, »die Kraniche des Ibikus! Es freut mich, daß ihr bereits euch kennen gelernt habt. Schöne Seelen finden sich –«

»Ich habe noch nicht die Ehre,« murmelte der Fremde.

»So erlaubt mir, daß ich das Amt des Hofzeremonienmeisters übernehme und euch gegenseitig vorstelle: meine kleine Kousine, Fräulein Julie Brede, und hier mein bester Freund und liebster Hausgenosse, der berühmte Doktor der Philosophie und Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften, Herr Gottfried Seiler –«

»Herr Doktor Seiler!« rief Julie sichtlich überrascht und errötete.

»Der größte Sprachforscher seines Jahrhunderts und die erste Autorität im Arabischen, Chaldäischen, Syrischen, Koptischen, Armenischen und besonders im Sanskrit. Wie es scheint, ist bereits sein Ruhm bis zu deinen zarten Ohren gedrungen.«

»In der That,« versetzte sie bewegt, »ist mir der Name Gottfried Seiler nicht ganz unbekannt.«

»Um des Himmelswillen!« scherzte Oswald mit komischem Entsetzen. »Du wirst doch nicht ein gelehrter Blaustrumpf sein und Koptisch oder gar Sanskrit studieren?«

»Das zwar nicht,« erwiderte sie ernst, »obgleich ich oft gar gewünscht habe, etwas mehr davon zu verstehen, da mein guter Vater sich so sehr dafür interessierte. Noch auf seinem Krankenlager beschäftigte er sich eifrig mit dem System der vergleichenden Sprachforschung von Herrn Doktor Seiler und ich mußte ihm wegen seiner zunehmenden Augenschwäche daraus vorlesen. Wie glücklich fühlte er sich, wenn seine Ansichten mit den Ihrigen übereinstimmten, oder wenn er in dem Buch eine neue anregende Idee fand. Dann vergaß er seine Leiden und fühlte keinen Schmerz. Wie lebhaft wünschte er, Sie noch vor seinem Ende kennen zu lernen, mit Ihnen seine Gedanken auszutauschen, was ihm leider nicht mehr vergönnt war! Darum freut es mich doppelt, Sie hier zu sehen und Ihnen für die Freude zu danken, die Sie meinem verstorbenen Vater durch Ihr Werk bereitet haben.«

»Sie beschämen mich, mein Fräulein!«

»Zugleich muß ich Sie noch wegen meiner Unart um Verzeihung bitten,« fügte sie errötend hinzu. »Hätte ich geahnt –«

»Das hat nichts zu sagen,« versetzte er gutmütig. »Sie können nicht dafür, daß Sie über meine Ungeschicktheit lachen mußten. Ich bin das schon gewohnt.«

»Aber ich kann es mir nicht vergeben –«

»Beruhige dich, liebe Kleine!« unterbrach sie Oswald heiter. »Freund Gottfried ist eine zu gute Seele, um einem Menschen zu zürnen. Die Natur hat ihn ohne Galle geschaffen und ihm ein wahres Taubenherz gegeben. Ich weiß wirklich nicht, was ich mehr an ihm bewundern soll, seine immense Gelehrsamkeit oder seine wahrhaft himmlische Güte. Und nun genug der Komplimente und Entschuldigungen! Gebt euch die Hände, versöhnt euch, schwört euch ewige Liebe und Freundschaft und laßt mich in eurem Bunde der Dritte sein.«

Zugleich ergriff und vereinigte er die Hände des Doktors und seiner Kousine, sich an ihrer gegenseitigen Verlegenheit weidend und von ganzem Herzen lachend, so daß sie ihm nicht zürnen konnten. Während Julie so zwischen beiden stand, drängte sich ihr ganz unwillkürlich die nahe Vergleichung zwischen den so eng befreundeten und doch so verschiedenen Männern auf; hier der schlanke, elastische Diplomat im eleganten Herbstanzug, mit dem aristokratischen, regelmäßig schönen und interessanten Gesicht, mit den feinen, gewandten Formen und dem sichern, selbstbewußten, fast übermütigen Wesen – und dort der lange, steife Gelehrte mit der hohen, kahlen Stirn, den blöden, nach innen gekehrten Augen und dem melancholischen Ausdruck der geistreichen, aber kränklich bleichen Züge; die magere Gestalt von dem grauen, nur zu weiten und langen Paletot nicht allzu malerisch umflattert.

Trotz seines nichts weniger als blendenden Aeußern fühlte sich Julie zu dem schüchternen Gelehrten hingezogen, dessen wissenschaftliche Berühmtheit ihr ebensosehr imponierte, als ihr seine rührende Bescheidenheit und Herzensgüte sympathisch war. Aber auch der gute Doktor war nicht ganz unempfänglich für die Liebenswürdigkeit seiner anmutigen Nachbarin, die so freundlich und anerkennend von seinen Verdiensten sprach und sich für sein Werk interessierte.

Mit zarter, wohlthuender Teilnahme erkundigte er sich angelegentlich nach ihrem Vater, nach dessen Stellung, Studien und Krankheit, worüber sie ihm die gewünschte Auskunft mit kindlicher Pietät und liebevollem Verständnis für den Geist des Verstorbenen gab, bis Oswald die für beide interessante Unterhaltung unterbrach, indem er Julie daran erinnerte, daß die Präsidentin mit dem Frühstück wartete.

»Ich will nicht länger aufhalten,« sagte der Doktor, sich empfehlend. »Deine Mutter wird sonst ungeduldig.«

»Du kannst uns ja begleiten,« versetzte Oswald, »und mit mir eine Friedenszigarre rauchen.«

»Das thut mir leid. Ich muß in die Vorlesung und darf meine Zuhörer nicht länger warten lassen.«

»Dafür erwarten wir dich des Abends ganz bestimmt zum Thee.«

»Wir wollen sehen –«

»Keine Ausrede, alter Junge! Meine Kousine wird sich freuen –«

»Gewiß!« bekräftigte Julie unbefangen.

»Um so gelehrt mit Euch zu sprechen,« citierte Oswald lachend aus Goethes Faust.

»Ich werde kommen,« erwiderte der lange Doktor, Oswald die magere Hand reichend und sich von Julie mit einem freundlichen Blick und einer steifen Verbeugung verabschiedend.

III.

Je länger Julie in dem Hause ihrer Tante lebte, desto angenehmer gestalteten sich ihre Verhältnisse, desto besser gefiel sie sich in ihrer neuen Heimat und, wie dies gewöhnlich der Fall zu sein pflegt, desto besser gefiel sie auch ihrer Umgebung. Die sonst so launenhafte und reizbare Präsidentin zeigte diesmal gegen ihre bisherige Gewohnheit eine wirklich bewunderungswerte Beharrlichkeit in ihrer Neigung und ihrem Wohlwollen gegen ihre arme Nichte.

Allerdings war auch Julie vom frühen Morgen bis zum späten Abend bemüht, die Liebe ihrer Tante zu erwerben und zu verdienen, indem sie ihr die Last und Sorge um den großen Hausstand abnahm und ihr zugleich die Dienste einer erfahrenen Wirtschafterin und einer aufmerksamen Gesellschafterin leistete, wobei ihr die langjährige Uebung und Erfahrung im elterlichen Hause jetzt zu statten kam.

Ihre Geduld und echt weibliche Nachgiebigkeit wurde durch keine noch so harte Probe erschüttert und entwaffnete die Strenge und den Hochmut der Präsidentin. Durch ihre angeborene Heiterkeit und Anmut gewann sie die Herzen sämtlicher Hausgenossen und aller Bekannten. In kurzer Zeit wurde die »Kleine«, wie sie allgemein genannt wurde, der Liebling der ganzen Gesellschaft, besonders aber ihres liebenswürdigen Kousins und des sonst so zurückhaltenden und mit seiner Anerkennung kargenden Doktor Seiler.

Sie selbst fühlte sich in ihrer jetzigen Stellung ganz glücklich, und wenn auch zuweilen die unberechenbare Launenhaftigkeit der Tante oder der kalte Stolz ihrer Kousinen ihr weh that und sie an ihre Abhängigkeit erinnerte, so genügte ein freundliches Wort, ein teilnehmender Blick von Oswald, sie mit ihrem Schicksal zu versöhnen und die trüben Wolken zu verscheuchen.

Unter diesen günstigen und angenehmen Verhältnissen entfaltete sich Julie wie eine in dem ihr zusagenden Boden versetzte Pflanze im hellen Sonnenschein. Gleichsam über Nacht war die verschlossene Knospe aufgeblüht, das Kind eine holde Jungfrau geworden. Die noch unentwickelten Formen der schlanken Gestalt rundeten sich zu lieblicher Fülle und die eckigen Bewegungen wichen einer natürlichen Grazie. Mit der Zeit gewannen ihre kindlich weichen Züge einen festen, charakteristischen Ausdruck und die schönen, schwärmerischen Augen einen fast überirdischen Glanz.

Auch ihr Geist schien zugleich mit ihrer körperlichen Ausbildung zu wachsen und zu reisen. Ihr Horizont erweiterte sich mehr und mehr, ihr Wissen wurde reicher, ihr Verständnis klarer und tiefer, ihr ganzes Denken und Empfinden ernster und gesammelter. Mit der dem weiblichen Geschlecht von der Natur verliehenen Leichtigkeit eignete sich Julie die höhere Bildung ihrer Umgebung und die feineren Formen der Gesellschaft an, ohne darum ihre Naivetät und Originalität aufzugeben.

Julie hatte Augenblicke, wo sie Oswald und auch den Doktor ebensosehr durch ihren Geist wie durch ihre Schönheit überraschte, daß beide verwundert und erstaunt die »Kleine« anblickten. Auch der lebensklugen Präsidentin entging nicht die vorteilhafte Verwandlung ihrer Nichte, die sie jedoch ganz allein ihren Lehren, Ermahnungen und ihrem Einfluß zuschrieb, da sie sich selbst für ein Muster aller weiblichen Tugenden hielt. Zugleich schmeichelte der allgemeine Beifall, den Julie fand, und die Komplimente, die ihr selbst wegen ihrer Güte und Freundlichkeit für die arme Waise gemacht wurden, ihrer Eitelkeit und erhöhten nur noch ihre gute Stimmung und das günstige Vorurteil für ihren Schützling.

»Findest du nicht auch,« fragte eines Abends die Präsidentin ihren Sohn während Juliens Abwesenheit, »daß die Kleine sich in letzter Zeit sehr zu ihrem Vorteil verändert hat?«

»In der That, erwiderte er lebhaft, »Julie hat entschieden gewonnen und sich überraschend schön und gut entwickelt.«

»Vor allem ist sie viel vernünftiger und gesetzter geworden, nicht mehr so überschwänglich und hyperromantisch. Auch muß ich anerkennen, daß sie so viel als möglich ihre kleinstädtischen Manieren und schlechten Gewohnheiten abgelegt hat und sich meine guten Lehren und Ermahnungen zu Herzen nimmt. Wenn sie so fortfährt, kann sie noch einmal ihr Glück machen.«

»Ich glaube, daß sich Julie ganz Wohl und glücklich bei uns fühlt.«

»Daran zweifle ich nicht,« versetzte die Präsidentin selbstgefällig. »Sie kann es nirgends besser haben als bei mir; auch würde sie das undankbarste Geschöpf von der Welt sein, wenn sie sich über mich beklagen sollte. Ich behandle sie wie eine Tochter und deine Schwestern machen mir fortwährend Vorwürfe, daß ich die Kleine verziehe und ihr eine keineswegs zukommende Stellung in meinem Hause gebe.«

»Das sieht den zärtlichen Verwandten ähnlich,« entgegnete Oswald spöttisch.

»Trotzdem kann ich ihnen nicht ganz Unrecht geben. Wenn ein Mädchen nichts weiter besitzt als ihr hübsches Lärvchen, so muß sie froh sein, wenn sie einmal eine nur einigermaßen anständige Partie machen kann.«

»Mein Gott!« rief er lachend. »Du scheinst wirklich von der Ehestiftungsmanie befallen zu sein. Die Kleine ist ja noch ein Kind.«

»Julie wird im nächsten Monat achtzehn Jahr. Ich selbst war nicht einmal so alt, als ich mich mit deinem Vater verlobte. Ihre Jugend wäre kein Hinderniß; im Gegenteil. Nach meiner Erfahrung sind die Mädchen um so wählerischer und kritischer, je älter sie werden. Aus diesem Grunde wünsche ich mich, daß Julie sich sobald als möglich verheiratet; je früher, desto besser.«

»Du sprichst ja, ob du bereits den Freier für sie in der Tasche hättest.«

»Vielleicht!« erwiderte die Präsidentin, geheimnisvoll lächelnd.

»Und darf man wissen, wer der Glückliche ist?«

»Das sollst du raten.«

»Ich gestehe,« versetzte Oswald ungeduldig, »daß ich keine Ahnung habe. Wahrscheinlich einer der zahlreichen Heiratskandidaten auf deiner Liste, ein hoffnungsvoller Kreisrichter, ein zukünftiger Hofprediger oder einer unserer würdigen Vettern aus Hinterpommern, ein edler Schafzüchter und Branntweinbrenner, der den Spiritus nur aus seinen Kartoffeln bezieht. Die arme Kleine kann mir leid thun.«

»Spare dein Mitleid und strenge deinen Witz nicht unnötig an! Du brauchst nicht so weit zu suchen. Sieh! das Gute liegt nah'.«

»Also ein Bekannter! Ich bin wirklich neugierig.«

»Dein nächster und dein bester Freund!«

»Doch nicht Gottfried, der Doktor!« rief Oswald überrascht. »Das ist ja nicht möglich! Diesmal hast du die Rechnung ohne den Wirt gemacht.«

»Wer weiß! Stille Wasser sind tief. In solchen Dingen sehen wir Franen klarer und schärfer als Männer. Du wirst mir zugeben, daß der Doktor sich für die Kleine lebhaft interessiert. So oft er uns besucht, was jetzt ziemlich häufig geschieht, unterhält er sich vorzugsweise mit ihr und das so eifrig, daß ich deinen stillen und sonst so menschenscheuen Freund kaum wieder erkenne. Er ist höchst aufmerksam gegen sie und bringt ihr die neuesten, von ihm empfohlenen Bücher zum Lesen mit. Neulich hat er sich sogar in meiner Gegenwart erboten, mit ihr vierhändig Klavier zu spielen und sie im Generalbaß zu unterrichten.«

»Das will nichts sagen. Gottfried ist selbst ein bedeutender Musiker und findet, daß die Kleine ein entschiedenes Talent und eine ganz nette Stimme besitzt. Außerdem war ihr Vater ein Kollege von ihm, der sich ebenfalls mit Sprachforschung beschäftigte. Das genügt, seine Teilnahme für sie zu erklären. Diesmal irrst du dich gewiß.«

»Und ich bin fest überzeugt, daß der Doktor auf dem besten Wege ist, sich in die Kleine zu verlieben. Wenn ein Mann, wie dein Freund, der bisher nur für seine Bücher und Studien lebte und sich von jeder Gesellschaft zurückzog, plötzlich seine einsiedlerischen Gewohnheiten aufgibt, seine bisherige Schüchternheit ablegt, sich stundenlang mit einem jungen Mädchen unterhält und ihr seine kostbare Zeit opfert, um mit ihr Musik zu treiben, so weiß ich für mein Teil, was ich davon zu denken habe.«

»Wenn du recht hättest,« entgegnete Oswald, noch immer zweifelnd, »so würde Gottfried schon längst mit mir über seine Neigung gesprochen haben. So lang ich ihn kenne, hat er kein Geheimnis vor mir gehabt und mir seine innersten Gedanken anvertraut.«

»Wie ich glaube, ist er sich selbst noch nicht klar und seiner Liebe nicht bewußt. Er war ja immer ein Träumer und geht wie ein Nachtwandler mit geschlossenen Augen durch das Leben. Es bedarf jedoch nur eines leisen Anstoßes, um ihn aus seinem Schlummer zu wecken. Du würdest deinem Freunde und auch mir den größten Gefallen erweisen, wenn du einmal vorsichtig bei ihm anklopfst und ihn geschickt sondierst –«

»Aber Julie?« fragte Oswald gespannt. »Hast du denn bemerkt, daß sie für Gottfried auch nur eine Spur von Liebe zeigt?«

»Darauf,« versetzte die lebenskluge Präsidentin, »kommt es in diesem Fall nicht an. Es ist hinreichend, daß sie die größte Achtung für ihn empfindet und ihn, wie es scheint, ganz gern sieht. Der gute Doktor ist allerdings nicht besonders geeignet, einem jungen Mädchen eine leidenschaftliche Neigung einzuflößen. Er ist, unter uns gesagt, gerade kein Adonis und nichts weniger als verführerisch. Aber er besitzt, wie du weißt, einen bedeutenden Ruf in der gelehrten Welt, einen berühmten Namen und ein ansehnliches Vermögen, das ihm seine Unabhängigkeit sichert. Julie selbst ist trotz ihrer Jugend zu verständig, um nicht diese Vorzüge des Doktors anzuerkennen, zu gehorsam und nachgiebig, um sich ernstlich meinen Wünschen zu widersetzen.«

»Du wirst sie doch nicht zwingen wollen, Gottfried zu heiraten, wenn sie ihn nicht liebt?«

»Mein Gott!« sagte Frau von Mainau verwundert, »du sprichst ja heute wie ein sentimentaler Primaner, nicht wie ein Diplomat, der das Leben und die Gesellschaft kennt. Die Liebe findet sich, wenn man erst verlobt und verheiratet ist, und ein Mädchen, das, wie Julie, keine Ansprüche machen kann, fühlt sich mehr als glücklich, wenn sie mir einen ehrenwerten Mann bekommt und durch ihn anständig versorgt wird.«

Obgleich Oswald durchaus nicht mit den Ansichten seiner klugen Mutter einverstanden schien, unterdrückte er seine Bedenken, da die von einer häuslichen Besorgnis in Anspruch genommene Julie zurückkehrte und das sie so nahe angehende Gespräch unterbrach. Noch nie hatte er sie so aufmerksam angesehen als in diesem Augenblick, wo sie wie gewöhnlich mit der ihr eigenen Anmut den Thee in der vor ihr stehenden silbernen Maschine bereitete und die für ihn bestimmte Tasse ihm hinreichte.

Wie dies meist bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, wurde auch Oswald erst durch die Aeußerungen seiner Mutter aufmerksam gemacht, so daß er jetzt seine Kousine mit ganz anderen Augen betrachtete als sonst. Bisher war ihm Julie nur immer als »die Kleine« erschienen, die er gegen die Launen und Angriffe seiner Angehörigen in Schutz nahm und von der er sich dafür verdientermaßen bewundern und anbeten ließ, geschmeichelt und amüsiert von ihrer naiven Dankbarkeit und ihrer offenen Verehrung, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.

Er Fand es nur natürlich und auch ganz in der Ordnung, daß sie zu ihm wie zu einem höheren Wesen emporblickte und jeden seiner Wünsche zu erfüllen suchte, bevor derselbe noch ausgesprochen war, was wesentlich zu seinem Komfort und seiner häuslichen Behaglichkeit beitrug. Eben so gefiel ihm ihre sich stets gleich bleibende Heiterkeit und Anmut, die dem etwas einförmigen Leben mit seiner Mutter einen frischen Reiz verlieh und ihm eine angenehme, früher entbehrte Zerstreuung bot. Dafür fühlte Oswald ein durch die Verhältnisse gerechtfertigtes, nur etwas egoistisches Wohlwollen für seine Kousine, das sich zuweilen zu einer wärmeren und selbst herzlichen Teilnahme steigerte.

Jetzt aber nahm mit einemmal sein Interesse für Julie einen lebhaften, fast leidenschaftlichen Charakter an. Plötzlich gewann sie in seinen auf ihr ruhenden Augen eine nicht zuvor geahnte Bedeutung. Je länger er sie ansah, desto weniger konnte er seine bisherige Blindheit begreifen. Die Kleine war in der That kein Kind mehr, sondern eine auffallende Schönheit, eine wahrhaft entzückende Erscheinung, die sich nicht nur mit den ihm bekannten Damen der Gesellschaft messen konnte, sondern diese noch durch den ihr eigentümlichen Liebreiz, durch ihre jugendliche Frische und den Zauber der Unschuld übertraf.

Die unerwartete Entdeckung beschäftigte Oswald so sehr, daß er gegen seine Gewohnheit in ein ernstes Nachdenken versank und sich wenig oder gar nicht an der Unterhaltung beteiligte, die er sonst durch seine Gegenwart und seinen liebenswürdigen Humor belebte. Um so willkommener war daher der Präsidentin der unerwartete Besuch des Doktors, der heute ganz besonders aufgelegt und gesprächig war, so daß die Freunde ihre Natur und Rollen mit einander vertauscht zu haben schienen.

Während der schüchterne Gelehrte sich mit Julie äußerst lebhaft über eine vor kurzem in der Singakademie stattgefundene musikalische Aufführung unterhielt und dabei in einen ihm sonst fremden Eifer geriet, saß Oswald schweigend und in Gedanken versunken neben seiner Mutter, von Zeit zu Zeit einen forschenden Blick auf das seltsame Paar werfend.

Trotz seiner langjährigen und aufrichtigen Freundschaft konnte er sich nicht einer leichten Anwandlung von Eifersucht erwehren, die ihm jedoch schon im nächsten Augenblick lächerlich vorkam. Jeder Vergleich zwischen ihm und dem stillen, unbeholfenen Gelehrten erschien ihm wie eine Satire auf den letzteren, so sehr er selbst auch geneigt war, den ausgezeichneten Charakter und die wissenschaftlichen Verdienste seines Freundes anzuerkennen. Er zweifelte auch nicht daran, daß Julie ihn bei weitem dem Doktor vorziehen würde, wenn er sich nur ernstlich um sie bewerben wollte, woran jedoch nicht zu denken war.

Diese schmeichelhafte Ueberzeugung gab ihm seine gute Laune wieder und erfüllte ihn mit seiner früheren übermütigen Sicherheit und Siegesgewißheit. Liebenswürdiger als je mischte er sich in das Gespräch, durch seinen sprudelnden Witz und seinen blendenden Geist alle fortreißend und am meisten die unschuldige Julie bezaubernd, was auch vielleicht seine Absicht war.

Im Triumph, wie ein geschickter Schauspieler, der einen glänzenden Abgang nimmt, verabschiedete er sich in Begleitung des Doktors, den er wieder vollkommen verdunkelt hatte. Dieser ging stillschweigend neben Oswald her, bis ihm der Freund aus die Schultern klopfte und ihn aus seinen Träumen weckte.

»Du willst doch nicht,« sagte er heiter angeregt, »wie ein echter Philister schon zu Bett gehen und dir die Schlafmütze über die Ohren ziehen?«

»Es ist spät geworden und ich bin kein solcher Nachtschwärmer wie du. Auch muß ich morgen früh eine Korrektur beenden, auf die der Drucker wartet.«

»Sei doch kein Kamel, alter Sohn! Was fängt man mit dem angebrochenen Abend an? – Wir wollen noch eine gute Zigarre rauchen, ein Glas Wein trinken und wieder einmal so gemütlich mit einander plaudern wie in Heidelberg, als wir noch flotte Burschen waren.«

Einer solchen Versuchung vermochte der gute Doktor um so weniger zu widerstehen, da er von jeher gewohnt war, sich von seinem jüngeren Freunde beherrschen zu lassen. Beide waren trotz oder vielmehr wegen der Unähnlichkeit ihrer Charaktere und der Verschiedenheit ihrer Lebensanschauungen auf das innigste mit einander verbunden, wozu wohl hauptsächlich der Umstand beitragen mochte, daß sie von Jugend auf mitsammen aufgewachsen waren und in denselben Hause wohnten.

Schon als Knabe liebte der ältere und ernstere Gottfried den glänzend begabten aber leichtsinnigen und flatterhaften Oswald wie einen Bruder, voll neidloser Bewunderung für die feinen Manieren und die angeborene Liebenswürdigkeit seines Spielgefährten. Er half ihm bei seinen Schularbeiten, verteidigte ihn, wenn jener angegriffen wurde und stand ihm tapfer in allen Händeln und Streitigkeiten bei, die sich der übermütige Junge durch sein keckes, herausforderndes Wesen und seine Neckereien zuzog.

Mehr als einmal erhielt Gottfried die dem Freunde zugedachten Schläge, und nicht selten duldete er wie ein Märtyrer die Oswald zukommenden Strafen, indem er die Schuld desselben auf sich nahm und für die von ihm begangenen Sünden büßen mußte. Auch auf der Universität in Heidelberg, wo beide natürlich wieder zusammenwohnten, waren die Freunde unzertrennlich.

Nur aus Liebe für Oswald trat Gottfried in eine Studentenverbindung, besuchte er den Fechtboden und die Kneipe, was ihm kein besonderes Vergnügen machte, ließ er sich zu manchen ihm sonst fremden Extravaganzen verführen. Er teilte mit ihm sein Geld, da Oswald niemals mit seinem Wechsel auskam und bezahlte dessen Schulden, stets bereit, ihm jedes gewünschte Opfer zu bringen und ihm in allen Lagen des Lebens beizustehen.

Auch in den folgenden Jahren hielten beide treu und fest zusammen, wenn auch Gottfried nicht so ganz mit dem Leben und den Ansichten seines Freundes einverstanden war und ihm öfters ernste Vorstellungen machte. Nur seinem Einfluß war es zuzuschreiben, daß Oswald nicht gänzlich in dem frivolen Treiben unterging und nicht völlig dem ihn beherrschenden Materialismus verfiel.

Oswald war keineswegs unempfindlich für die unzähligen Beweise der uneigennützigsten Liebe von seiten des guten Doktors und vergalt dieselbe mit der innigsten Anhänglichkeit, soweit dies sein Egoismus und seine Selbstüberhebung zuließ. Bei aller Anerkennung für die großen Verdienste und für die Bedeutung seines gelehrten Freundes fand er es ganz selbstverständlich, daß dieser sich ihm bei allen Gelegenheiten unterordnete und ihm den ersten Rang in der Gesellschaft einräumte, was auch Gottfried stets mit Vergnügen that.

Auch jetzt folgte er wieder wie in der Studentenzeit dem jüngeren Freund in den benachbarten Weinkeller, wo sie in einem besonderen freundlichen Kabinet ungestört mit einander sprechen konnten. Bald saßen sie bei einer Flasche edlen Rauenthalers und gedachten, mit einander anstoßend, der alten schönen Tage in dem herrlichen Heidelberg. Beim Glase Wein erwärmte sich Gottfried leicht, seine bleichen Wangen röteten sich, seine Augen strahlten von jugendlicher Begeisterung und sein Herz öffnete sich dein Freunde, so daß dieser keiner besonderen diplomatischen Künste bedurfte, um sein Geheimnis zu erfahren. Voll poetischer Bewunderung schwärmte der ehrliche Doktor für Juliens Schönheit und holdseligen Liebreiz.

»Ihre ganze Erscheinung,« sagte er bewegt, »und ihr innerliches Wesen erinnert mich lebhaft an jene Madonnenbilder der alten, frommen Meister, deren kindliche Unschuld und hohe Reinheit uns zugleich entzückt und mit Verehrung erfüllt, daß man nicht weiß, ob man sie anbeten oder lieben soll.«

»Du bist wie eine Blume,« citierte Oswald in seiner scherzhaft frivolen Weise. »Mir ist, als ob ich die Hände Aufs Haupt dir legen sollt', Betend, daß Gott dich erhalte, So rein und schön und hold. Und so weiter –«

»Thu' mir den einzigen Gefallen,« unterbrach ihn der Doktor verstimmt, »und verschone mich mit deinen schlechten Witzen. Du weißt, wie widrig mir dieser Ton an dir ist. Ich kann es nicht leiden, wenn man über alles spottet, was den Menschen teuer und heilig ist.«

»Ereifre dich nicht, verehrter Doktor! Du kennst mich ja und weißt, wie ich es meine und daß ich auf unsre Kleine große Stücke halte. Darum freut es mich auch, daß sie dir so gut gefällt. Sie ist wirklich ein reizendes Geschöpf und hat in ihren Zügen etwas Madonnenhaftes. Aber auch eine Madonna bleibt immer ein Weib und wünscht, mehr geliebt als angebetet zu werden.«

»Fängst du schon wieder an! Du wirst mich noch ernstlich böse machen.«

»Ist denn Liebe ein Verbrechen, darf man denn nicht zärtlich sein? Warum willst du nicht gestehen, daß die Kleine es dir angethan hat?«

»Was fällt dir ein?« versetzte Gottfried errötend. »Es wäre Thorheit, so etwas zu denken.«

»Mut, mein alter Junge! Mir scheint Julie keineswegs unempfindlich für deine Verdienste; sie achtet dich und von der Liebe zur Achtung ist nur ein kleiner Schritt. Ich möchte jede Wette eingehen, daß sie dir keinen Korb gibt, wenn du dich ernstlich um sie bewirbst.«

»Das kann doch nur dein Scherz sein. Ich habe kein Glück bei den Frauen; mir fehlt die nötige Kühnheit, die Gabe, ihnen zu gefallen. Niemals würde ich es wagen –«

»Das hast du auch nicht nötig. Sind wir nicht Freunde und verpflichtet, einander zu helfen? Wie oft hast du mich aus der Patsche gezogen und für mich die Zeche gezahlt. Es ist nur billig, daß ich mich jetzt revanchiere. Wenn du willst, werde ich mit Vergnügen den Weg dir ebnen, mit meiner Kousine sprechen, ihr Herz erforschen und als Freiwerber für dich auftreten.«

»Du!« rief Gottfried überrascht. »Ich dachte, daß du selbst Julie liebst –«

»Nur wie man eine so nahe Verwandte liebt,« erwiderte Oswald mit angenommener Gleichgültigkeit. »Meinetwegen kannst du ganz unbesorgt sein. Vorläufig denke ich noch nicht daran, mich zu verheiraten und meine Freiheit für ein Weib aufzugeben. Aber du scheinst mir für die Ehe wie geschaffen und wirst mit Julie so glücklich leben, wie ich es auch von ganzem Herzen wünsche.«

»Nein, nein!« rief Gottfried, mit sich kämpfend. »Die Sterne, die begehrt man nicht. Man freut sich ihrer Pracht. Nie wird Julie die meinige werden. Ich fühle, daß sie mich nicht lieben kann, daß sie mich nie lieben wird. Darum ist es besser, daß wir nicht mehr darüber sprechen, so sehr ich dir auch für dein freundschaftliches Anerbieten verpflichtet bin.«

Zugleich stand der Doktor auf und trank sein Glas aus, allen Aufforderungen des Freundes zum längeren Bleiben diesmal widerstehend, so daß sich Oswald gezwungen sah, ihm zu folgen und das ihm peinliche Gespräch fallen zu lassen, um nicht Gottfried zu verletzen und ernstlich zu erzürnen.

IV.

Unterdessen beschäftigte sich die kluge Präsidentin eifriger als je mit ihren Heiratsprojekten, unablässig bemüht, eine möglichst glänzende Partie für ihren Sohn zu finden, was ihr auch bei seiner Liebenswürdigkeit und Beliebtheit nicht schwer fallen konnte. Unter all den von ihr in Aussicht genommenen jungen Damen schien ihr nach reiflicher Ueberlegung und Prüfung der geforderten Vorzüge keine so beachtungswert als Fräulein Agathe von Binder, die einzige Tochter des hochangesehenen und einflußreichen Ministerialdirektors und ersten vortragenden Rats im auswärtigen Amt.

Abgesehen von der hohen Stellung ihres Vaters, besaß Fräulein Agathe all die Eigenschaften, welche Frau von Mainau von ihrer künftigen Schwiegertochter forderte. Sie war eine von der Gesellschaft gefeierte Schönheit, beliebt in den höchsten Kreisen und selbst vom Hofe ausgezeichnet, interessant, geistvoll und hochgebildet, besonders eine vorzügliche Sängerin, deren schöne Stimme und musterhafte Schule in der vornehmen Welt allgemein bewundert wurde. Dazu kam noch die elegante äußere Erscheinung, ihre vollendete Tournüre und die wirklich bewundernswürdige Feinheit der gesellschaftlichen Formen. Es gab kaum eine zweite junge Dame in der Residenz, die so gut zu repräsentieren verstand und sich mit einer solchen Leichtigkeit und Sicherheit im Salon zu bewegen wußte.

Unter diesen Verhältnissen konnte es nicht fehlen, daß Fräulein Agathe von zahlreichen Verehrern und annehmbaren Bewerbern um ihre begehrenswerte Hand umschwärmt und förmlich belagert wurde. Trotzdem war es bisher noch keinem von allen gelungen, das Herz der stolzen, anspruchsvollen Schönen zu rühren und ihre Gegenliebe zu gewinnen. Seit einiger Zeit jedoch schien die spröde Dame, die bereits ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, vielleicht in anbetracht dieses ihr nicht ganz gleichgültigen Umstandes geneigt, einen Mann mit ihrer schwer zu erringenden Neigung zu beglücken.

Bei dem letzten Subskriptionsball im Opernhause zeichnete Agathe den liebenswürdigen Legationssekretär, dessen Vorgesetzter ihr Vater war, in einer ungewöhnlichen Weise aus. Sie tanzte mit ihm nicht nur mehrere Quadrillen, sondern holte ihn auch zweimal im Kotillon, was natürlich sogleich bemerkt wurde und den Bekannten Veranlassung zu naheliegenden Vermutungen gab. In den betreffenden Kreisen sprach man mit der üblichen Diskretion von einer bevorstehenden Verlobung und fand wie gewöhnlich die Partie äußerst passend, wenn man auch hier und da, wie dies bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt, allerlei daran auszusetzen fand.

Obgleich die beiden zunächst Beteiligten jedes derartige Gerücht vorläufig noch in Abrede stellten und von ihrer Seite nichts zur Verwirklichung desselben geschah, schöpfte die Präsidentin daraus neue Hoffnungen für das endliche Gelingen ihrer Heiratspläne. Sie zweifelte nicht mehr daran, den bisherigen Widerstand ihres Sohnes zu besiegen und in kürzester Zeit ihre Bemühungen von dem schönsten Erfolg gekrönt zu sehen, um so mehr, da auch Oswald sich von der ihm zu teilgewordenen Auszeichnung geschmeichelt fühlte und die vorteilhafte Meinung seiner Mutter von den Vorzügen der jungen Dame zu teilen schien.

Unter diesen Umständen konnte es nicht auffallen, daß Frau von Mainau die ihr bereits bekannte Familie des Ministerialdirektors zu einer ihrer Gesellschaften einlud, die wegen der interessanten Vereinigung bedeutender Männer und liebenswürdiger Frauen, besonders aber wegen der künstlerischen Genüsse in der Residenz einen verdienten Ruf genossen. Mit Recht galt die Präsidentin für eine ausgezeichnete Wirtin und ihr Haus für den Mittelpunkt der feinsten exklusiven Welt.

Zur bestimmten Stunde versammelte sich in dem hell erleuchteten Salon die Elite der Gesellschaft, alles, was auf Rang, Schönheit und Bildung Anspruch machen konnte, hohe Staatsbeamte und Generäle, meist intime Bekannte oder Verwandte der angesehenen Familie, jüngere Diplomaten und Offiziere, die mit Oswald befreundet waren, die Berühmtheiten des Tages, gefeierte Reichstagsabgeordnete und Kammerredner, namhafte Künstler, Maler und Musiker, Schriftsteller und Gelehrte, unter denen sich auch der bescheidene Doktor Seiler befand.

Auch das weibliche Element war in einer wahrhaft glänzenden Weise durch eine Anzahl älterer und jüngerer Damen vertreten, die sich durch Geist oder Schönheit ausgezeichneten und zu den hervorragendsten Erscheinungen der großstädtischen Frauenwelt zählten. Vor allen aber entzückte Fräulein Agathe von Binder die ganze Gesellschaft durch ihre alles verdunkelnden Reize.

Mit einer imposanten junonischen Figur, wie man sie nicht selten in den aristokratischen Kreisen des norddeutschen Adels findet, verband sie eines jener edlen klassischen Gesichter, dessen blendende aber kalte Schönheit eine vorwiegende Verstandesnatur verriet und deshalb geeignet war, mehr Bewunderung als tiefe, leidenschaftliche Neigung einzuflößen. Bei dem Anblick der hohen, fürstlichen Gestalt, des bedeutenden, von einer Fülle blonder Locken umgebenen Kopfes mit der gewölbten Marmorstirn, den klaren, stahlblauen Augen, der fein gebogenen Adlernase und dem energischen Mund mußte man unwillkürlich an eine jener königlichen Frauen denken, die wie Elisabeth von England oder Katharina von Rußland zum Herrschen geboren scheinen.

Ruhig und gemessen in ihren Bewegungen, nahm sie die ihr von allen Seiten dargebrachten Huldigungen der anwesenden Herren wie einen ihr schuldigen Tribut auf, ohne darauf zu achten. Nur als Oswald sie begrüßte und mit einer geistreichen Wendung seine Freude über ihre Gegenwart ausdrückte, flog ein kaum merkliches Lächeln über das schöne stolze Gesicht wie ein flüchtiger Sonnenstrahl.

»Sie verzeihen,« sagte er im Lauf der Unterhaltung, »daß ich mir die Freiheit nehme, Sie, gnädiges Fräulein, an Ihr gütiges Versprechen zu erinnern.«

»Ich kann mich nicht darauf besinnen. Was war es denn?«

»Daß Sie mich bei nächster Gelegenheit durch ein Lied von Schubert erfreuen und beglücken wollten.«

»Sie, aber nicht die ganze Gesellschaft,« erwiderte Agathe, mit dem kostbaren Fächer in ihrer Hand spielend.

»Ich bin nicht so egoistisch, einen so hohen Genuß für mich allein zu beanspruchen, so sehr ich auch einen solchen Vorzug zu schätzen weiß. Das wäre ein Raub an der Welt. Lassen Sie mich mein Entzücken und meine Bewunderung mit ihr teilen.«

»Ihre Uneigennützigkeit verdient belohnt zu werden; nur muß ich es bedauern, daß ich mich nicht selbst begleiten kann, wenn ich singen soll.«

»Dafür werde ich schon Sorge tragen. Mein Freund, Doktor Seiler, oder die Kleine wird sich das Vergnügen machen –«

»Die Kleine?« fragte Agathe verwundert. »Wer ist das?«

»Eine verwaiste Verwandte meiner Mutter, die seit einiger Zeit in unserem Hause lebt, ein gutes und talentvolles Kind, das eine niedliche Stimme besitzt und genügend musikalisch ist, um ein Lied von Schubert zu begleiten. Wenn Sie wünschen, will ich sie rufen und sie Ihnen vorstellen, damit Sie ihr die nötigen Anweisungen erteilen können.«

»Sie werden mir damit einen Gefallen erweisen.«

Im nächsten Augenblick stand Julie, welche den Diener beim Herumreichen des Thees unterstützte, in ihrem einfachen Kleide errötend vor der stolzen, aristokratischen Agathe, die sie mit scharfen Blicken musterte, sichtlich überrascht von der auffallenden Schönheit und Anmut der sogenannten Kleinen. Mit der ihr eigenen Selbstbeherrschung richtete die junge Dame einige freundlich herablassende Worte an die arme Julie, worauf sie Oswalds Arm nahm und sich von ihm zu dem Klavier führen ließ, an dem die erstere bereits Platz genommen hatte.

»Sie kennen doch den Wanderer von Schubert?« fragte Agathe dieselbe.

»O ja! Ich habe selbst das Lied zu singen versucht, aber gefunden, daß meine Stimme dafür nicht ausreicht,« erwiderte sie bescheiden.

»Sie sind auch noch zu jung. Aber wollen Sie nicht anfangen? Ich möchte Sie nur ersuchen, nicht zu eilen und das Tempo nicht zu rasch zu nehmen.«

Sobald Julie die ersten Akkorde anschlug, verstummte die lebhafte Unterhaltung der Gesellschaft. Die Herren traten näher, um besser zu hören, und die Damen lauschten erwartungsvoll. Alle Gesichter suchten mehr oder minder ihre Freude über den hohen und seltenen Genuß auszudrücken, da Fräulein Agathe sich nur ausnahmsweise erbitten ließ, eine Probe ihres bewunderten Talents zu geben, weshalb auch die Bekannten in diesem Zustand eine neue Bestätigung ihrer Vermutungen erblickten.

Mit der Sicherheit einer vollendeten Virtuosin ließ die Sängerin ihre prächtige, sonore Stimme erschallen, die sich mehr durch Kraft und Glanz als durch jenen sympathischen Wohllaut auszeichnete, welcher unwillkürlich das Herz des Hörers rührt und in seiner Tiefe erbeben läßt. Auch der Vortrag des bekannten Liedes war brillant, vollkommen tadellos, und verriet eine musterhafte Schule und musikalische Bildung, wenn auch ein strenger Kritiker wie Doktor Seiler daran die eigentliche Seele und das innere Gefühl vermißte, was ihm gerade für dieses Lied von Schubert unentbehrlich schien.

Gottfried stand jedoch mit seinem Urteil gänzlich vereinzelt da, indem die übrigen Zuhörer, darunter einige musikalische Autoritäten der Residenz, ihre Begeisterung kaum zurückzuhalten vermochten und am Schluß des Liedes in einen lauten Beifallssturm ausbrachen. Die umstehenden Herren, besonders die jüngeren Offiziere und Diplomaten verglichen die Stimme der Sängerin mit der der Lucca und Patti und versicherten auf Ehre, nie etwas Vollkommneres gehört zu haben. Oswald aber dankte ihr im Namen der ganzen Gesellschaft und küßte ihre weiße Marmorhand mit zärtlicher Bewunderung.

In der Freude über ihren großen Triumph ließ sich Fräulein Agathe herab, der unbeachteten Julie einige anerkennende Worte über die gelungene Begleitung zu sagen und sich bei dieser Gelegenheit huldvoll nach ihren musikalischen Studien zu erkundigen, in jenem vornehmen, wohlwollenden Tone, wie ein berühmter Meister mit einem unbekannten, hoffnungsvollen Schüler zu sprechen Pflegt.

»Wie ich höre,« sagte sie stolz lächelnd, »sollen Sie eine angenehme Stimme besitzen und recht fleißig üben.«

»Mir fehlt all und jede Schule. Ich bin nur eine sogenannte Natursängerin, eine schwache Anfängerin, die mehr Lust und Liebe als Talent hat.«

»Haben Sie denn keinen ordentlichen Gesangunterricht bisher erhalten?«

»Meine verstorbene Mutter, die selbst sehr musikalisch war, und der Organist in meiner Vaterstadt unterrichteten mich. Hier ist Herr Doktor Seiler zuweilen so gütig, sich mit meiner Ausbildung zu beschäftigen.«

»Das scheint mir jedenfalls für Ihre Begabung zu sprechen, da Herr Doktor Seiler für einen bedeutenden Musikkenner gilt. Ich bin wirklich begierig, Ihre Stimme zu hören und zu prüfen.«

»Nein, nein!« rief Julie erschrocken. »Das darf ich nicht wagen. Nachdem das gnädige Fräulein so herrlich gesungen, fürchte ich mich, mit meinem dünnen Stimmchen mich lächerlich zu machen.«

»Versuchen Sie es nur! Ich bitte Sie darum.«

Je mehr aber die bescheidene Julie sich weigerte, desto mehr bestand die stolze Agathe auf ihrem Wunsch mit einer ihr fast fremden Heftigkeit und leidenschaftlichen Hartnäckigkeit, als ob ihr nur darum zu thun gewesen wäre, eine gefährliche Rivalin zu besiegen und öffentlich zu demütigen, was auch vielleicht ihre Absicht war, obgleich sie zu stolz war, sich dies zu gestehen.

Ohne die Gründe und Entschuldigungen der armen, verlegenen Julie zu beachten, bestürmte sie dieselbe von neuem, indem sie sich zugleich an den in ihrer Nähe befindlichen Oswald mit dem Gesuch wendete, ihr beizustehen, um seine eigensinnige Kousine zur Ablegung der von ihr gewünschten Gesangrobe zu bewegen. Erst als dieser sich mit Agathe verband und ihr freundlich zuredete, überwand auch Julie ihre natürliche Schüchternheit, obgleich eine innere Stimme sie vor dem immerhin gewagten und gefährlichen Versuch zu warnen schien.

Nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht, um aus ihrem kleinen Vorrat ein passendes Lied zu wählen, berührte sie mit vor Aufregung zitternden Händen die Tasten des Klaviers, worauf eine tiefe Stille eintrat. Befremdet und verwundert blickte die Gesellschaft und besonders die Präsidentin auf die bis zu den Haarwurzeln errötende Kleine, fast entrüstet über ihre unerhörte Kühnheit.

Die Empörung verwandelte sich jedoch in die angenehmste Ueberraschung, als Julie, nachdem sie ihre natürliche Verlegenheit glücklich überwunden hatte, mit einer unbeschreiblich süßen und reinen Stimme die bekannte Komposition des Goetheschen »Veilchen« von Mozart fang. Mit jedem Ton stieg die Teilnahme und unwillkürliche Bewunderung der erstaunten Zuhörer. Das klang so ergreifend und seelenvoll wie der bezaubernde Gesang der unscheinbaren Nachtigall in einer milden, duftigen Frühlingsnacht.

Die einfache, liebliche Melodie harmonierte so wunderbar mit der holden, kindlichen Erscheinung, ihre schwache aber reizende Stimme mit dem unschuldsvollen Ausdruck der anmutigen Züge, die schlichte Poesie des Dichters mit ihrer demütigen Bescheidenheit und unbewußten Schönheit, daß Julie wie der verkörperte Geist des Liedes allen erschien und selbst einem »herzigen Veilchen« glich. So sang sie mit tiefer Empfindung, die aus dem Herzen kam und zum Herzen ging, die bekannten, reizenden Strophen:

»Ach! denkt das Veilchen, wär' ich nur
Die schönste Blume der Natur,
Ach nur ein kleines Veilchen,
Bis mich das Liebchen abgepflückt
Und an dem Busen matt gedrückt!
Ach nur, ach nur
Ein Viertelstündchen lang!

Ach, aber ach! Das Mädchen kam
Und nicht in acht das Veilchen nahm,
Zertrat das arme Veilchen.
Es sank und starb und freut' sich noch:
Und sterb' ich denn, so sterb' ich doch
Durch sie, durch sie,
Zu ihren Füßen doch. –«

Diesmal erfolgte kein donnernder Applaus, als der Gesang endete; an Stelle desselben ertönte jedoch jenes freudig staunende Gemurmel, das dem wahren Künstler weit angenehmer und schmeichelhafter klingt als der laute Beifall der banalen Menge. Es war, als ob die Zuhörer sich erst besinnen und von ihrer Ueberraschung erholen müßten, bevor sie die genügenden Worte finden konnten, ihr Entzücken über die bisher unbekannte und völlig unbeachtete Sängerin aussprechen. Man überhäufte sie und auch die Präsidentin mit ungeheuchelten Lobsprüchen und Komplimenten wegen ihres von allen Seiten anerkannten Talents.

Ohne es zu wollen und zu wünschen, feierte Julie einen vollständigen Triumph, der wie jeder bedeutende Erfolg ihr auch Neider und Feinde weckte. Obgleich Fräulein Agathe zu fein und zu klug war, um sich eine Blöße zu geben und ihren Verdruß zu verraten, konnte sie der Kleinen und noch weniger Oswald die gewiß nicht beabsichtigte Täuschung nicht verzeihen, wenn sie auch mit ihrer gewöhnlichen kalten Ruhe und Selbstbeherrschung die große Begabung der Sängerin rühmte.

Je größer aber der Zwang war, den sie sich anthat, und je mehr sie sich genötigt sah, dem beifälligen Urteil der Gesellschaft beizustimmen, desto tiefer und schmerzlicher empfand sie ihre Niederlage und den Sieg einer so untergeordneten Nebenbuhlerin. Auch ihre Mutter, die Frau Ministerialdirektor, konnte ihre Verstimmung kaum verbergen und hielt es für ihre Pflicht, der neben ihr sitzenden Präsidentin in der Hülle eines bittersüßen Kompliments ihr Mißfallen über eine solche Unschicklichkeit anzudeuten.

»Ich fürchte,« sagte die würdige Dame in etwas pikiertem Ton, »daß Sie sich durch Ihre bekannte Güte verleiten lassen, Ihrer Nichte eine falsche Stellung in Ihrem Hause zu geben. Ohne Ihnen meinen Rat aufzudrängen, glaube ich, daß Sie besser thun würden, Ihre Verwandte nicht zu verwöhnen. Der Salon scheint mir nicht der geeignete Platz für ein junges Mädchen zu sein, das unter so bescheidenen Verhältnissen in Ihrem Hause lebt. An Ihrer Stelle würde ich mich hüten, die Kleine in ihrer Eitelkeit zu bestärken und Hoffnungen und Ansprüche zu erwecken, die Ihnen mit der Zeit lästig fallen dürften.«

»Exzellenz,« versetzte Frau von Mainau bestürzt, »haben vollkommen recht. Ich sehe ein, daß ich wie gewöhnlich zu schwach, zu gut gewesen bin. Ich bin ganz außer mir, daß Julie gewagt hat –«

»Beruhigen sie sich, liebe Freundin! Meine Tochter kennt keinen Neid und gönnt der Kleinen von ganzem Herzen den leichten Erfolg, den sie nur der reizenden Komposition verdankt. Von einem Vergleich zwischen beiden kann wohl keine Rede sein. Das wäre wirklich lächerlich.«

Trotzdem die beiden Damen sich in Versicherungen ihrer gegenseitigen Hochachtung und Freundschaft überboten, ließ das kurze Gespräch eine leichte Erkältung zurück, die sich unwillkürlich der übrigen Gesellschaft mitteilte. Oswald strengte sich vergebens an, die stockende Unterhaltung wieder zu beleben, indem er für die Jugend einen Tanz arrangierte und Fräulein Agathe zu der ersten Quadrille aufforderte.

»Ich bin nicht disponiert,« erwiderte sie trocken. »Das Tanzen macht mir heute kein Vergnügen.«

»Sie zürnen mir doch nicht?«

»Ich wüßte nicht, wie ich dazu kommen sollte.«

»Wenn Sie mir meine Bitte abschlagen, machen Sie mich unglücklich.«

»Sie werden sich zu trösten wissen,« entgegnete sie mit einem Blick auf die arme Julie, welche bereits wieder am Klavier saß, um das gewünschte Tanzstück zu spielen.

»Ich bin wirklich in der größten Verzweiflung –«

»Bemühen Sie sich nicht, Herr von Mainau! Ich erlasse Ihnen alle übrigen Phrasen –«

»Wie können Sie glauben –«

»Ohnehin,« versetzte Fräulein Agathe, »ist es spät geworden. Ich bedarf der Ruhe nach dem heutigen mir unvergeßlichen Abend, für den ich Ihnen besonders dankbar bin.«

Ungeachtet seiner dringenden Bitten, verließ die beleidigte Dame die Gesellschaft in Begleitung ihrer Eltern, nachdem sie sich der bestürzten Wirtin, welche sie zurückzuhalten suchte, mit den gebräuchlichen Redensarten empfohlen hatte. Die zeitige Entfernung des angesehenen Ministerialdirektors erregte eine peinliche Sensation und gab zugleich das Zeichen zu einem allgemeinen Aufbruch. Der Salon leerte sich mit auffallender Schnelligkeit in kurzer Zeit; selbst die intimeren Freunde der Familie zogen sich früher als gewöhnlich zurück. Die Präsidentin war in Verzweiflung und fühlte einen Anfall ihrer Migräne, weshalb sie sich sogleich zu Bett begab, ohne ihren Sohn und die unschuldige Julie noch eines Wortes zu würdigen.

V.

Am nächsten Morgen erwachte Frau von Mainau in einer wahrhaft entsetzlichen Stimmung und in der furchtbarsten Laune, an der sie zuweilen litt. Sie fand den von Julie wie gewöhnlich mit der größten Sorgfalt bereiteten Kaffee ungenießbar, die Sahne wässrig, die Butter und das Gebäck unschmackhaft, worüber sie ihr die empfindlichsten Vorwürfe machte und ihre Unzufriedenheit in bitteren Worten zu erkennen gab.

In solchen Augenblicken entwickelte die allgemein wegen ihrer Güte und Humanität gerühmte und verehrte Dame eine an Grausamkeit grenzende Härte und Strenge. Sie konnte bei solchen Gelegenheiten ihre Opfer bis aufs Blut quälen und peinigen, mit sanften Worten und Blicken tötlich verwunden, mit höflichen Redensarten und freundlichen Bemerkungen auf das schmerzlichste kränken und beleidigen.

»Ich muß dich dringend ersuchen,« sagte sie in ihrem spitzen Tone, »dich ein wenig mehr mit die Wirtschaft zu kümmern und auf meine Wünsche zu achten. Du wirst daher die Güte haben, deine musikalischen Studien vorläufig einzustellen und dich vorzugsweise auf die Küche und Speisekammer zu beschränken, statt tut Salon glänzen zu wollen.«

»Sie selbst, liebe Tante, haben gewünscht –«

»Daß du meine Gäste bedienst und den Domestiken hilfst. Du erlaubst mir wohl die Bemerkung, daß dein Platz nicht am Klavier, sondern am Buffet ist, daß ich keine Sängerin, sondern eine pflichttreue Haushälterin in meiner Umgebung wünsche, daß es im höchsten Grade unschicklich war, dich der Gesellschaft mit deinem Gesang aufzudrängen.«

»Verzeih', liebe Mama!« versetzte Oswald, die Präsidentin unterbrechend. »Du thust Julien Unrecht. Sie hat nicht die geringste Schuld. Fräulein Agathe selbst forderte sie zum Singen so dringend auf, daß sie sich nicht weigern konnte, ohne unhöflich zu sein. Ich selbst habe ihr auf Wunsch des Fräuleins zugeredet –«

»Ich hätte dich für taktvoller gehalten, als du bei dieser Gelegenheit dich gezeigt hast. Wenn Fräulein von Binder aus allzugroßer Höflichkeit so liebenswürdig war, Julie aufzufordern, so durfte diese nicht eine solche Güte mißbrauchen und am wenigsten die Rücksichten vergessen, welche sie einer so hoch gestellten Dame, einem Gast ihrer Tante, schuldet. An Juliens Stelle würde ich ein anderes, minder auffallendes Lied gewühlt oder mich mit einigen Tönen der Skala begnügt haben. Das wäre fein und artig gewesen.«

»Ich habe mir wirklich nichts Böses dabei gedacht,« versicherte die Arme mit Thränen in den Augen.

»Eine derartige Gedankenlosigkeit ist unverzeihlich. Gerade in deiner Lage bist du doppelt verpflichtet, die äußeren Dehors streng zu beobachten, um nicht deine Angehörigen zu kompromittieren. Allerdings gehört dazu ein sicherer Takt und ein feineres Gefühl, als man sich in einer kleinen Provinzialstadt und im Umgange mit bekannten Demokraten erwerben kann. Ich bedauere, dir sagen zu müssen, daß du mich durch dein herausforderndes Betragen tief betrübt und mir einen heftigen Migräneanfall zugezogen hast.«

In dieser sanften, tief verletzenden Weise marterte die würdige Tante ihre unglückliche Nichte vom frühen Morgen bis zum spätem Abend mit einem wahrhaft dämonischen Raffinement. Es gehörte wirklich eine mehr als himmlische Geduld dazu, diese fortwährenden Quälereien und zahllosen Nadelstiche der reizbaren Präsidentin zu ertragen. Obgleich die arme Julie sich so sehr als möglich zu beherrschen suchte, drohte sie doch zuweilen ihren fast unerträglichen Leiden zu erliegen.

In ihrer traurigen Lage, wo sie jetzt mehr als je ihre Verlassenheit fühlte, fand sie an dem liebenswürdigen Oswald einen willkommenen Beschützer und eine erwünschte Stütze. Er verdoppelte jetzt seine Freundlichkeit für sie und suchte die Betrübte zu trösten, die Unglückliche aufzurichten und die Schutzlose selbst gegen die ungerechten Anklagen seiner nervösen Mutter zu verteidigen.

Selbstverständlich war Julie dafür ihrem großmütigen Kousin mit schwärmerischer Dankbarkeit ergeben und fühlte sich noch mehr als sonst zu ihm hingezogen, woraus sie in der Unschuld ihres Herzens ihm auch kein Hehl machte. Ein freundliches Wort, ein teilnehmender Blick von ihm reichte hin, sie für alle Qualen zu entschädigen, ihre Thränen zu trocknen und ihren gesunkenen Mut zu beleben. Wie die verschmachtende Blume empfing sie von ihm Sonnenschein und Regen, Kraft und Gedeihen.

Sie verehrte ihn darum wie einen Gott und erblickte in ihm den Inbegriff aller männlichen Vollkommenheit, ein Ideal, das ihre lebhafte Phantasie mit den glänzendsten Farben sich ausmalte. Ihre offene Begeisterung und Anbetung, die sie weder verbergen wollte noch konnte, schmeichelte ihm ebensosehr, wie ihre unverdienten Leiden ihn rührten und sein Interesse für sie erhöhten.

Mit der Zeit nahm jedoch das unschuldige Verhältnis einen leidenschaftlicheren Charakter an, ohne daß die Beteiligten die damit verbundene Gefahr ahnten. Unter der trügerischen Maske dankbarer Verehrung schlich sich heimlich die glühendste Liebe in das reine Herz der unerfahrenen Julie ein und erfüllte ihre Seele mit einem Glück, das sie alle ihre bisherigen Leiden vergessen ließ. Auch Oswald täuschte sich selbst über seine wahren Empfindungen, obgleich er in der Liebe kein Neuling war. In seiner Ueberhebung und Blasiertheit hielt er sich vor jeder ernsthaften Neigung sicher; am wenigsten aber fürchtete er seine Kousine, die in seinen Augen noch ein Kind war, so reizend und anmutig sie ihm auch erschien. Der Gedanke an eine Verbindung mit ihr konnte ihm nicht im Traum einfallen. Welche Lächerlichkeit! Er, der hoffnungsvolle Diplomat, der verzogene Liebling der vornehmen Damenwelt, der verwöhnte Held der aristokratischen Salons und die arme, verlassene Kleine. Das sollte ihm fehlen!

Wie gewöhnlich trug gerade seine übermütige Sicherheit dazu bei, die ihn selbst überraschende Katastrophe herbeizuführen, als er eines Abends seine unglückliche Kousine nach einer heftigen Szene mit der Präsidentin in der höchsten Aufregung und Verzweiflung über die wieder erlittenen Kränkungen fand. Der Anblick der weinenden Julie erfüllte ihn mit inniger Teilnahme und Mitleid für sie. Nie war sie ihm schöner und begehrenswerter vorgekommen als in diesem Augenblick, wo der bittere Schmerz ihren Zügen einen neuen ergreifenden Reiz verlieh und ihre bezaubernden Augen in Thränen schwammen.

»Um des Himmels willen!« rief er bestürzt. »Was ist denn wieder vorgefallen?

»Die Tante!« murmelte die Unglückliche. »Ich kann es nicht länger ertragen. Wäre ich doch lieber tot und läge im Grabe bei meinen Eltern.«

»Beruhige dich, mein Kind! Ich werde morgen mit meiner Mutter deinetwegen ernstlich reden. Das kann ich nicht mehr dulden –«

»O!« schluchzte sie. »Du bist gut. Wenn du nicht wärst, müßte ich erliegen. Außer dir habe ich ja keinen Menschen auf der ganzen Welt, der sich meiner annimmt. Wie soll ich dir für deine Güte danken!«

Mit überströmendem Gefühl ergriff sie seine Hand, um sie zu küssen, was er jedoch nicht zugeben wollte. Statt dessen schloß er sie in seine Arme, drückte er sie mit mehr als verwandtschaftlicher Zärtlichkeit an sein Herz, überhäufte er sie mit leidenschaftlichen Liebesworten und feurigen Küssen, hingerissen von ihrer demütigen Liebe und gerührt von ihrem tiefen Schmerz, ohne selbst zu wissen, was er sprach und that.

Mit geschlossenen Augen lag die Weinende wie ein Kind an seine Brust geschmiegt, seinen tröstlichen Versicherungen und Beteuerungen wie einer himmlischen Offenbarung lauschend, das kleine Herz von unnennbarer Wonne durchschauert, von unaussprechlicher Seligkeit erbebend.

»Du Guter, Lieber, Einziger!« stammelte sie, ihn fest umschlingend.

»Meine Süße, meine Kleine! Weine nicht! Ich werde dich nicht verlassen.«

»Ich vertraue dir und liebe dich mehr als mein Leben, als die ganze Welt.«

Bei diesem keuschen Geständnis empfand Oswald ein nie zuvor gekanntes Glück, wie es ihm selbst seine glänzendsten Eroberungen nicht zu gewähren vermochten. Juliens reine und doch so leidenschaftliche Liebe, diese berauschende und zugleich unschuldige Zärtlichkeit, eine so selbstlose und von jeder Sinnlichkeit freie Hingebung, eine so tiefe, uneigennützige Neigung hatte er weder gefunden noch bisher für möglich gehalten. Dagegen kamen ihm alle seine früheren Verhältnisse schal, nüchtern, gemein und prosaisch vor.

Dazu kam der Reiz des Geheimnisses, das er aus Rücksicht aus seine Mutter bewahren mußte, das der Welt verborgene Einverständnis ihrer Herzen, der verstohlene Austausch ihrer Gedanken und Empfindungen, ihrer Blicke und Worte in Gegenwart der sie beobachtenden Angehörigen, um seine Lust noch zu erhöhen.

Uebersättigt von seinen leichten Erfolgen, angeekelt von der Unnatur und der Frivolität seiner Hingebung, unbefriedigt von den zweideutigen Liaisons, überließ sich Oswald seiner neuen Leidenschaft mit der gewöhnlichen egoistischen Sorglosigkeit, ohne sich um die möglichen Folgen zu kümmern und an die unausbleiblichen Konflikte ernstlich zu denken. Wenn auch zuweilen sein ihn nur selten belästigendes Gewissen erwachte, so suchte er diese Regungen seiner bessern Natur durch trügerische Ausflüchte und Scheingründe zu beschwichtigen, an die er selbst nicht glauben konnte.

Um so weniger zweifelte die unschuldige Julie an der Reinheit und Festigkeit seiner Liebe. Der Verdacht, daß Oswald sich täuschen könnte, wäre ihr wie ein unverzeihliches Verbrechen vorgekommen und, wenn es sie auch schmerzte, daß sie auf seinen Wunsch ihr Verhältnis geheim halten mußte, so war sie doch weit entfernt, ihm deshalb eine sträfliche Absicht unterzuschieben. Geduldig und mit kindlichem Vertrauen gehorchte sie ihm, ohne zu fragen und ohne ihn zu drängen, ruhig den Augenblick erwartend, wo er mit seiner Mutter sprechen und dieser seine Liebe gestehen wollte.

Diese Hoffnung und der Gedanke an seine Liebe halfen ihr die Launen ihrer reizbaren Tante ertragen und verliehen ihr zugleich eine stille Freudigkeit und Kraft, das Aergste ruhig zu dulden. Bald kehrte ihre frühere Heiterkeit und Frische in erhöhtem Maße zurück. Ihr Gang war noch elastischer als sonst geworden, ihre schönen Augen glänzten und leuchteten heller als je und ihr ganzes Wesen schien durch ihre Liebe gehoben und verklärt. Um ihr Glück vollkommen zu machen, hatte auch die Präsidentin in den letztere Tagen sie durch die Vorstellungen ihres Sohnes bewegen lassen, wieder milder und freundlicher gegen Julie zu sein und dieser ihre Taktlosigkeit zu verzeihen.

Natürlich hatte Frau von Mainau nicht die geringste Ahnung von einem Verhältnis zwischen Oswald und ihrer Nichte. Trotz ihrer Lebensklugheit und ihres gefürchteten Scharfblicks lag ihr ein solcher Verdacht fern, da sie hinlänglich seine Ansichten zu kennen glaubte, um ihm eine so romantische und unpraktische Neigung zuzutrauen. Eine solche Verirrung war der hochmütigen Dame so undenkbar, daß sie eher den Einsturz des Himmels erwartet hätte. Auch war Oswald zu vorsichtig, um durch ein unbesonnenes Wort oder durch eine unbedachte Handlung seine Leidenschaft zu verraten, weshalb sich auch seine Mutter ohne besondere Mühe von ihm täuschen ließ und mit doppeltem Eifer an die Verwirklichung ihrer Heiratspläne von neuem dachte.

Um jeden Verdacht zu vermeiden, versprach ihr Oswald, in den nächsten Tagen der Familie des Ministerialdirektors einen Besuch abzustatten und alles zu thun, was in seinen Kräften stände, um die junge Dame wieder zu versöhnen. Außerdem beauftragte die Präsidentin ihre jüngere Tochter Pauline, welche eine Schulfreundin von Fräulein Agathe war, die junge Dame zu sondieren und die abgebrochenen Verhandlungen wieder anzuknüpfen. Bei diesen vertraulichen Konferenzen, an denen sich auch die Frau Ministerialdirektor beteiligte, bekam die Frau Hauptmann von Blanken, die ohnehin gegen ihre arme Kousine eingenommen war, allerlei unangenehme Andeutungen und Enthüllungen zu hören, welche sie mit den üblichen Zusätzen und Bemerkungen ihrer nicht wenig dadurch überraschten Mutter hinterbrachte.

»Die Ministerialdirektor,« sagte Pauline, »läßt sich nicht ausreden, daß Oswald mit der Kleinen ein ganz ernstes Verhältnis hat.«

»Welche Thorheit!« entgegnete Frau von Mainau. »Ich kenne ihn zu gut und bin deshalb fest überzeugt, daß er nicht daran denkt, sich so tief zu erniedrigen und mich zu täuschen. Dazu ist er viel zu stolz.«

»Ich traue ihm nicht. Du erinnerst dich noch an seine Liaison mit der Soubrette am Vaudeville-Theater und mit der französischen Tänzerin.«

»Mein Gott!« versetzte die in dieser Beziehung äußerst tolerante Dame. »Das sind längst vergessene Geschichten, die man einem jungen Manne verzeiht. Seitdem ist Oswald vernünftig geworden und hat sich, wie ich sicher weiß, von allen derartigen Extravaganzen fern gehalten. Er lebt jetzt wie ein Einsiedler und bringt seine Abende fast ausschließlich in meiner Gesellschaft zu.«

»Weil er sich mit der Kleinen besser zu Hause amüsiert und sie nicht allein lassen will. Ich begreife nicht, wo du deine sonst so scharfen Augen hast. Er weicht ja nicht von ihrer Seite und wendet keinen Blick von ihr. Wenn du ihr den leisesten Vorwurf machst, verteidigt er sie, und wenn ich oder Laura nur ein Wort gegen sie sage, ereifert er sich, als ob wir ein Verbrechen begangen hätten.«

»Das ist allerdings wahr,« bemerkte die Präsidentin nachdenklich.

»Und das heimliche Flüstern,« fuhr Frau von Blanken boshaft fort, »das fortwährende Liebäugeln und Schönthun mit ihr. Es ist wirklich skandalös, wie er sich an dem Abend mit ihr betragen hat. Während sie das Liedchen sang, verschlang er sie förmlich mit seinen Augen; es fehlte nicht viel, so wäre er ihr öffentlich um den Hals gefallen. Wie mir Agathe sagte, die ihn scharf beobachtet hat, konnte sie es nicht länger mit ansehen.«

»Abscheulich!« murmelte die Präsidentin empört. »Fräulein von Binder muß sich geirrt haben. So weit kann sich Oswald nicht vergessen.«

»Agathe ist zu stolz, um eine Unwahrheit zu reden. Auch die Frau Ministerialdirektor hat dieselben Beobachtungen gemacht und dir, wie sie mir mitteilte, in diskreter Weise ihre Befürchtungen angedeutet, was du jedoch nicht beachtet zu haben scheinst.«

»Ich erinnere mich allerdings, daß sie mir wegen der Kleinen Vorstellungen machte, aber von einem Verhältnis war damals keine Rede.«

»Dazu ist sie viel zu taktvoll und zu zartfühlend, um über eine so delikate Angelegenheit sich offen auszusprechen. Aber sie hält die Kleine für eine ausgemachte raffinierte Kokette, die mit ihrer unschuldigen Miene und ihrer geheuchelten Naivetät dich und uns alle hintergeht. So lange Julie in deinem Hause bleibt, ist natürlich an eine Verbindung mit Oswald nicht zu denken.«

»Ich werde mit ihm noch heute ernstlich sprechen.«

»An deiner Stelle würde ich mich nicht lange besinnen und Julie fortschicken.«

»Das geht nicht so leicht, wie du denkst, und würde den Skandal nur noch größer machen. Derartige Angelegenheiten müssen mit der größten Zartheit und Feinheit behandelt werden. Jede gewaltsame Einmischung wäre ein unverzeihlicher Fehler und würde nur Oel ins Feuer gießen und Oswald in seiner Leidenschaft bestärken. Mit Juliens Entfernung wird das Uebel nicht beseitigt, sondern im Gegenteil verschlimmert. Ein Mann liebt ein Mädchen um so mehr, je mehr es seinetwillen leidet und alle Hindernisse reizen statt zurückzuschrecken. Wenn man einen Wahnsinnigen heilen will, darf man nicht seinen Wünschen offen widersprechen. Am besten thut man, wenn man zum Schein auf seine Ideen eingeht und sie lächerlich macht. Das kann niemand und am wenigsten mein Herr Sohn vertragen, der nichts so sehr fürchtet, als lächerlich zu werden.«

Demgemäß verfuhr auch die kluge Präsidentin, indem sie sorgfältig in ihrem Gespräch mit Oswald alles vermied, was seine ihr bekannte Eigenliebe reizen, seine Eitelkeit verletzen konnte. Aus demselben Grunde behandelte sie auch ihre Nichte mit einer wegwerfenden Schonung. Sie sprach von seinem Verhältnis so sanft und mild, so mütterlich, liebevoll und zärtlich, daß er von ihrer Güte ganz beschämt und überrascht war. Sie begnügte sich nur mit leichten Bemerkungen und Hindeutungen auf seine Stellung und auf die Gefahr für seine glänzende Zukunft. Statt ihn anzuklagen, entschuldigte sie ihn, und statt ihn zur Rede zu stellen, übernahm sie seine Verteidigung.

»Ich halte,« sagte sie mit ihrer gewöhnlichen Freundlichkeit, »die ganze Geschichte für eine bloße Kinderei, für ein Geklätsch deiner Schwestern oder für ein Mißverständnis von seiten der Ministerialdirektor. Ein Mann, der, wie du, die Welt und das Leben kennt, schwärmt nicht für eine Hütte und ihr Herz. Ich traue dir nicht eine solche Thorheit zu, aus Liebe für ein hübsches Lärvchen deine Karriere zu opfern und auf jede Beförderung 31t verfehlen. Man verzeiht einen: Diplomaten eher eine Liaison als eine Mesalliance, eher eine Unmoralität als eine Dummheit. Wenn du ein bürgerliches Mädchen ohne Vermögen heiratest, so bleibt dir nichts übrig, als deinen Abschied zu nehmen und auf alle deine Aussichten zu resignieren. Du machst dich am Hof und in der Gesellschaft lächerlich und für immer unmöglich.«

»Wie kannst tut nur glauben,« versetzte Oswald verlegen, »daß ich daran denke –«

»Das habe ich auch Pauline gesagt, daß sie sich geirrt haben muß. Du mit deinem klaren Verstand, deiner großen Begabung und deinem berechtigten Ehrgeiz wirst dich nie dazu verstehen, eine so traurige Rolle in der Welt zu spielen und dich in den Netzen einer kleinen Kokette fangen lassen. Das wäre deiner unwürdig, ein unverzeihlicher faux pas. Habe ich nicht recht?«

»Allerdings!« stotterte er, mit sich kämpfend. »Ich kann nur nicht zugeben, daß Julie –«

»Mein Gott!« unterbrach ihn die Präsidentin lächelnd. »Ich verdenke es ihr nicht, daß sie sich in dich verliebt hat und nach dir angelt. Die Kleine hat Geschmack und ist schlauer, als wir alle gedacht haben. Es gehört wirklich eine mehr als gewöhnliche Kunst dazu, einen so erfahrenen Mann wie dich zu fesseln und mich zu täuschen –«

»Ich versichere dich, liebe Mama, daß du ihr das schwerste Unrecht thust. Wenn jemand schuldig ist, so bin ich es nur allein.«

»Das Geständnis macht deinem Herzen alle Ehre und freut mich. Ich finde es ganz in der Ordnung, daß du ritterlich für deine Dame kämpfst und ihre Partei nimmst. Ich selbst bin weit entfernt, Julie zu verdammen und sie so streng zu behandeln, wie sie es eigentlich verdient, obgleich Pauline darauf dringt, daß ich sie nicht länger in meinen: Hause dulden soll.«

»Das wirst du gewiß nicht thun,« entgegnete Oswald auffahrend. »Ich werde nicht dulden –«

»Ereifere dich nicht!« versetzte Frau von Mainau kalt. »Ich bin keine Freundin von Szenen und denke in dieser Beziehung wie Fürst Bismarck, daß man gewisse Dinge nicht allzu tragisch nehmen muß. Auch liebe ich nicht den öffentlichen Skandal; ich ziehe es vor, die schmutzige Wäsche en famille zu waschen. Deshalb werde ich auch gegen Julie feine weiteren Schritte thun, wenn du mir dein Wort gibst, von heute ab das Verhältnis mit ihr abzubrechen und dich von ihr fern zu halten.«

»Unmöglich!« rief Oswald bestürzt. »Du kannst nicht von mir verlangen –«

»Wenn du dich weigerst,« erwiderte die Präsidentin sich erhebend und ihn mit ihren funkelnden Augen scharf anblickend, »dann werde ich auch keine Rücksicht, keine Schonung kennen und Julie wie eine Dirne aus meinem Hanse jagen.«

VI.

Ans Furcht vor den Drohungen seiner sanften und zugleich so energischen Mutter entschloß sich Oswald nach einem harten Kampf, das von ihm verlangte Versprechen zu geben, um, wie er sich einbildete, die Geliebte vor dem Schimpf des Ausgewiesenwerdens zu bewahren. Er selbst glaubte, ihr das größte Opfer gebracht zu haben und feine Schwäche erschien ihm im Licht ritterlicher Großmut und männlicher Resignation. Im Grund seines Herzens wußte er seiner klugen Mutter Dank, daß sie die ihn schon lange quälende Entscheidung gewaltsam herbeigeführt und ihn vor einer voraussichtlichen Thorheit beschützt hatte, so schwer es ihm auch fiel, der Kleinen zu entsagen.

Dagegen war die Präsidentin nach erlangtem Sieg gern bereit, dem Feinde goldene Brücken zu bauen und auch die Gefühle ihres Sohnes zu schonen. Sie erklärte, daß sie ihrer Nichte verzeihen und nach wie vor wie eine Mutter für sie sorgen wollte. Um ihm aber die Beschämung zu ersparen und jeden Vorwand zu rauben, riet sie ihm, auf einige Wochen Urlaub zu nehmen und in ein Seebad zu gehen, das ihm der stets gefällige Hausarzt zur Stärkung seiner keineswegs leidenden Gesundheit verordnen mußte.

Oswald ergriff mit Freuden diesen Ausweg, um sich seiner peinlichen Lage und allen unangenehmen Auseinandersetzungen zu entziehen. Der unerwartet schnelle und kühle Abschied konnte Julie nicht befremden, da sie den wahren Grund seiner Abreise nicht ahnte und die vorangegangenen Ereignisse ihr verborgen blieben. Sie entschuldigte daher sein zurückhaltendes Benehmen mit seinem Unwohlsein und tröstete sich mit seiner baldigen Genesung und glücklichen Rückkehr.

Einen Ersatz für die schmerzliche Trennung gewährte ihr in Oswalds Abwesenheit die Gesellschaft des guten Doktor Seiler, der wie gewöhnlich das Haus der Präsidentin besuchte und gegen Julie immer gleich freundlich und aufmerksam war. Je länger sie den stillen, bescheidenen Gelehrten kannte, desto mehr mußte sie ihn wegen der Gediegenheit seines Charakters achten und die Tiefe seines Wissens bewundern. Unwillkürlich erinnerte sie sein ganzes Wesen, sein Denken und Empfinden, selbst seine Haltung und Ausdrucksweise an ihren verstorbenen Vater, weshalb ihr Gottfried dasselbe unbedingte Vertrauen einflößte. Außerdem war er Oswalds intimster Freund, was ihm in ihren Augen auch ein Anrecht auf ihre Freundschaft gab. Sie war daher stets erfreut, wenn er kam, und empfing ihn mit dem ihr eigenen herzlichen Wohlwollen, so oft er sich in ihrer Nähe sehen ließ.

Auch der klugen Präsidentin schienen die Besuche des Doktors äußerst angenehm zu sein. Sie forderte ihn wiederholt und dringend auf, des Abends seinen Thee bei ihr einzunehmen, indem sie hinzufügte, daß er gewissermaßen verpflichtet wäre, jetzt häufiger zu kommen, um ihr den fehlenden Sohn zu ersetzen. Ebenso ergriff sie jede geeignete Gelegenheit, um mit ihrer Nichte von Gottfried mit der höchsten Anerkennung zu sprechen, seine großen Verdienste hervorzuheben und seine trefflichen Eigenschaften zu rühmen.

Lediglich aus Rücksicht für den verehrten Hausfreund erlaubte auch die Präsidentin von freien Stücken der dadurch angenehm überraschten Julie, die verbotenen musikalischen Studien mit dem Doktor wieder aufzunehmen, was beiden ein frohes Vergnügen bereitete. Alan kannte in der That nicht liebenswürdiger sein, als Frau van Mainau in diesen Tagen war. Die launenhafte Dame schien mit einemmal gänzlich verwandelt, so nachsichtig und gütig, daß Julie förmlich wieder auflebte, so sehr auch sie den abwesenden Geliebten vermißte.

In so ruhiger und friedlicher Weise verflossen die Stunden und Tage den Beteiligten, während Oswald in Ostende verweilte und den Trennungsschmerz zu vergessen suchte. Wie er seiner Mutter schrieb, fehlte es ihm nicht an Gesellschaft und Zerstreuung, nicht an alten und neuen Bekannten. Seine anfänglich etwas melancholisch gefärbten Briefe lauteten immer heiterer und ließen bald die kluge Mutter, welche ihren Sohn zu kennen glaubte, nicht mehr an seiner vollständigen Heilung zweifeln.

Indes war die Präsidentin eine zu vorsichtige und herzenskundige Dame, um nicht die Möglichkeit eines Rückfalls in Erwägung zu ziehen und an ein Radikalmittel zu denken, um Oswald vor allen neuen Versuchungen zu bewahren. Nach reiflicher Erwägung der Verhältnisse entschied sie sich für eine möglichst schnelle Verlobung ihrer Richte mit dem Doktor, wodurch sie mit einem Schlage alle Verlegenheiten zu beseitigen und ihre sehnlichsten Wünsche und Pläne zu verwirklichen hoffte.

Mit ihrer gewohnten Energie und Entschlossenheit schritt Frau von Mainau zur Ausführung ihres kühnen Unternehmens, ohne sich von den voraussichtlichen Schwierigkeiten und Hindernissen zurückschrecken zu lassen. Vor allem suchte sie zunächst den schüchternen Doktor zu einer Erklärung zu bewegen und ihn zu einer förmlichen Bewerbung um Juliens Hand aufzumuntern.

Der ihr zu Gebote stehenden Feinheit gelang es auch leicht, ihm das Geheimnis seiner Liebe zu entlocken und seine bescheidenen Zweifel an der Möglichkeit eines von ihm nie gehofften Glückes durch die Versicherung, daß sich ihre Nichte für ihn interessierte und durch seinen Antrag sich höchst geehrt finden würde, zu beschwichtigen, indem sie sich zugleich erbot, mit Julie zu sprechen und sie von seinen Absichten in Kenntnis zu setzen.

»Ich fürchte nur,« sagte der ängstliche Gelehrte, »daß Fräulein Brede sich nicht entschließen wird, einen Mann zu lieben und mit ihrer Hand zu beglücken, der ihr außer seinem Namen nichts zu bieten vermag, was sonst ein junges Mädchen reizen kann.«

»Sie sind zu bescheiden, mein lieber Freund, und kennen noch zu wenig das weibliche Herz. Wenn ich auch zugeben will, daß äußere Schönheit und elegante Formen uns nicht ganz gleichgültig lassen, so kann ich doch aus eigener Erfahrung bestätigen, daß Geist und Gemüt auf uns einen tieferen und dauernderen Eindruck machen. Frauen werden durch das Ohr, Männer durch das Auge gewonnen. Vollends in der Ehe, wenn man erst verheiratet ist und sich täglich sieht, achtet man weniger auf solche Aeußerlichkeiten, als auf den innern Kern des Gatten.«

»Aber um zu heiraten, muß man zuvor lieben und geliebt werden, worauf ich nicht hoffen darf.«

»Sie thun sich selbst das größte Unrecht und haben eine viel zu geringe Meinung von sich und auch von unserem Geschlecht. Wir sind weit idealer als Sie denken; alles Große und Bedeutende zieht uns an und erregt unsere Bewunderung. Wir sind geborene Enthusiasten und wollen deshalb zu dem Manne unserer Wahl wie zu einem höheren Wesen emporblicken und ihn anbeten. Wir sind stolz auf seinen Ruhm und sonnen uns in seinem Licht. – Julie achtet und verehrt in Ihnen den berühmten, von ihrem Vater anerkannten Gelehrten. Darum wird sie sich geehrt fühlen und glücklich schätzen, Ihren Namen und Ihren Ruf mit Ihnen zu teilen.«

»Sie machen mir Mut. Trotzdem wage ich es nicht, mit ihr zu sprechen und mich einer mehr als wahrscheinlichen Zurückweisung auszusetzen. Der Gedanke ist mir schrecklich, lieber will ich ihr und mir eine so schmerzliche Enttäuschung ersparen.«

»Ueberlassen Sie es mir, das Herz und die Neigung meiner Nichte zu erforschen und sie auf Ihren Antrag vorzubereiten. Sie vergeben sich nicht das geringste, wenn Sie sich mir anvertrauen, und dürfen auf meine Diskretion in einer so delikaten Angelegenheit rechnen.«

Ein so liebenswürdiges und verführerisches Anerbieten der gütigen Tante vermochte der ehrliche Gottfried trotz seiner vielfachen Bedenken und Zweifel an Juliens Neigung um so weniger zurückweisen, als er sie mit der ganzen Tiefe und Innigkeit seines treuen Herzens liebte und die freundlichen, schmeichelhaften Worte der Präsidentin seine schwachen Hoffnungen belebten.

Hocherfreut über die Leichtigkeit ihres ersten Sieges, zögerte sie nicht, den weit schwierigeren Angriff auf ihre Nichte zu unternehmen, fest entschlossen, mit all ihr zu Gebot stehenden Mitteln ihren Willen durchzusetzen, und im guten Glauben, damit kein Unrecht zu begehen, sondern allen Beteiligten und besonders der armen Julie die größte Wohlthat zu erweisen, wenn sie dieselbe durch eine in jeder Beziehung vorteilhafte und anständige Partie versorgte und ihre Zukunft sicherte.

Julie selbst hatte nicht die geringste Ahnung von den Plänen und Absichten der klugen Tante und beeilte sich daher, der an sie ergangenen Aufforderung zu einer vertraulichen Unterredung unbefangen zu folgen, wenn sie auch die feierliche Miene der Präsidentin und die ungewöhnliche Stunde einigermaßen befremdete. Ihre Unruhe stieg noch, als Frau von Mainau ihr eröffnete, daß es sich um eine höchst wichtige Angelegenheit, um ihr künftiges Lebensglück handelte, und sie mit gütigen Worten aufforderte, an ihrer Seite auf dem Sofa Platz zu nehmen, was nur etwas ganz Ungewöhnliches bedeuten konnte.

Unwillkürlich mußte Julie an ihren Kousin denken und ihr Herz pochte laut vor banger Aufregung, zwischen Furcht und Hoffnung schwankend. Was konnte ihre Tante von ihr anders wollen, als mit ihr über Oswald sprechen? – Gewiß hatte er seiner Mutter geschrieben, daß er sie liebte. Und die gute Tante zürnte ihr nicht und war gegen sie so freundlich wie noch nie. Welch ein Glück!

»Mein liebes Kind!« sagte Frau von Mainau, diese schonen Träume unterbrechend. »Du weißt, daß ich dich wie meine Tochter liebe und nichts sehnlicher wünsche als dein Glück.«

»O!« rief Julie bewegt, die schmale, etwas knöcherne Hand der Präsidentin küssend. »Du bist stets so gütig gegen mich gewesen, daß ich dir nicht genug dafür danken kann.«

»Ich fordere keinen Dank von dir, nur Gehorsam und Vertrauen.«

»Daran werd' ich es gewiß nie fehlen lassen. Sage mir nur, was du verlangst. Ich will mit Freuden alles thun, um deine Liebe zu verdienen.«

»Das wird dir nicht schwer fallen, wenn du stets meinen Rat befolgst und dich bemühst, meine Wünsche zu erfüllen, die einzig und allein dein Wohl bezwecken. Du darfst nicht vergessen, daß ich Mutterstelle an dir vertrete und die Pflicht übernommen habe, für deine Zukunft zu sorgen. Ich kann wohl sagen, daß ich es weder an guten Lehren noch an Ermahnungen bei dir fehlen ließ und nicht versäumt habe, deinen Geist und dein Herz zu bilden.«

»Gewiß nicht, liebe Tante!«

»Meine Bemühungen,« fuhr die Präsidentin fort, »sind auch nicht ohne Erfolg gewesen und ich muß dir das Zeugnis geben, daß du dich zu meiner Zufriedenheit entwickelt hast und unter meiner Aufsicht zu einer anmutigen, blühenden Jungfrau herangewachsen bist. Ohne dich eitel machen zu wollen, kann ich dir nicht verschweigen, was dir gewiß auch dein Spiegel bereits gesagt haben wird, daß du gefällst und die Männer interessierst.«

Mit niedergeschlagenen Augen und lieblich geröteten Wangen saß Julie an der Seite ihrer Tante in holder Verwirrung, von den widersprechendsten Empfindungen und Gedanken, von schmerzlichen Zweifeln und unbeschreiblicher Wonne bestürmt. Sie wagte nicht aufzublicken, nicht zu sprechen und zu fragen, aus Furcht, ihr wild bewegtes Herz, das Geheimnis ihrer Liebe zu verraten. Die kurze Pause, welche ihre Tante machte, dünkte ihr eine Ewigkeit und mit der höchsten Spannung erwartete sie den Ausgang des Gesprächs, als ob davon Leben oder Tod abhinge.

»Unter diesen Umständen,« sagte die Präsidentin langsam mit feierlicher Stimme, »wird es dich nicht überraschen, wenn ich dir mitteile, daß ich einen Antrag für dich von einem dir nahe stehenden und auch mir teuren Mann erhalten habe, der dich liebt und deine Hand von mir begehrt.«

Einer Ohnmacht nahe, vermochte Julie nur mit der größten Mühe sich aufrecht zu erhalten. Die Aufregung drohte sie zu ersticken; ihre Pulse jagten wie im Fieber, siedende Glut und eisiger Frost, flammende Röte und Leichenblässe wechselten mit Blitzesschnelle. Jetzt oder nie mußte sich ihr Schicksal entscheiden, der nächste Augenblick sie unaussprechlich glücklich oder elend machen.

»Du wirst gewiß,« sagte Frau von Mainau lächelnd, »erraten haben, von wem die Rede ist.«

»Ich weiß in der That nicht,« murmelte sie verlegen.

»Doktor Seiler, unser langjähriger Hausfreund –«

Julie stieß einen leisen Schrei aus und starrte ihre Tante sprachlos an, keines Wortes mächtig.

»Nun,« sagte diese ungeduldig, »was sagst du zu einem solchen Glück?«

»Ich,« stöhnte die Aermste, »ich kann, ich darf nicht –«

»Wie,« rief die Präsidentin in gereiztem Ton, »du weigerst dich, einen so brillanten Antrag anzunehmen! Du schlägst die Hand eines ehrenwerten, berühmten und vermögenden Mannes aus, der dir eine sorglose Zukunft bietet? Das muß doch seine ganz besonderen Gründe haben. Willst du nicht so freundlich sein und mir sagen –«

»Ich versichere dich, daß ich Doktor Seiler hochachte und mich sehr geehrt durch seinen Antrag fühle, daß es mir aber unmöglich ist –«

»Unerhört! In deinen Verhältnissen hat man nicht das Recht, so wählerisch zu sein. Du müßtest Gott auf deinen Knieen für einen solchen Mann danken. Was hast du an ihm auszusehen?«

»Nicht das Geringste. Ich schätze und verehre ihn fast wie meinen Vater, aber trotzdem kann ich ihn nicht lieben.«

»Vermutlich, weil du bereits einen andern liebst,« entgegnete die Präsidentin höhnisch. »O! ich kenne dich und weiß alles. Kannst du leugnen, daß du mich hintergangen, daß du mit Oswald ein strafbares Verhältnis hast?«

Einige Augenblicke herrschte eine tiefe, unheimliche Stille, die nur durch das leise Schluchzen der Unglücklichen unterbrochen wurde, welche überwältigt von Scham und Schmerz zu den Füßen der empörten Tante niedersank.

»Steh' auf!« sagte die Präsidentin nach einer Pause mit eisiger Strenge. »Ich bin keine Freundin von derartigen komödienhaften Szenen und lasse mich ebensowenig von falschen Thränen rühren, wie von deiner geheuchelten Unschuld länger täuschen.«

»Habe Erbarmen mit einer Unglücklichen,« flehte Julie, die Hände ringend, »und verzeih' mir, wenn ich dich gekränkt habe! Ich bin nicht schuldig wie du glaubst.«

»Du hättest verdient, daß ich dich mit Schimpf und Schande aus meinem Hause jage und meine Hand von dir abziehe, aber ich kann und darf nicht vergessen, daß du die Tochter meiner verstorbenen Schwester bist und einer respektabeln Familie angehörst. Darum will ich dir noch einmal vergeben, jedoch nur unter der Bedingung, daß du den Antrag des Doktors annimmst und dich morgen mit ihm verlobst.«

»Lieber will ich das Aergste dulden. Ich darf nicht den edlen Mann betrügen. Es wäre eine Schändlichkeit, mit einer Lüge vor den Altar zu treten. Auch wird Oswald nicht zugeben –«

»Oswald!« rief die Präsidentin verächtlich. »Seinetwegen darfst du ganz unbesorgt sein. Wie kannst du nur so thöricht sein und glauben, daß er auch nur einen Augenblick ernstlich an dich gedacht hat! Er hat mit dir nur gescherzt und über deine Einfalt gelacht. Bildest du dir denn wirklich ein, daß er dich liebt, oder gar, daß er dich heiraten will? Du bist eine Närrin, wenn du ihm eine solche Thorheit zutraust. Ich kenne ihn besser. Ein Mann wie Oswald, der jeden Tag die ersten Damen der Residenz haben kann, läßt sich nicht von einer kleinen Kokette, von der Tochter eines armen Gymnasiallehrers wie der erste beste Gimpel fangen. Dazu ist er viel zu stolz und auch zu klug. Er mag sich wohl einmal einen kleinen Spaß erlauben, aber er wird nie vergessen, was er sich, seiner Stellung und seiner Familie schuldig ist.«

Jedes Wort der hochmütigen Dame traf die arme Julie wie ein vergifteter Dolchstich und verwundete ihr Herz auf das schmerzlichste. Noch nie war ihr der Gedanke gekommen, daß Oswald sie getäuscht haben könnte, wie jetzt seine eigene Mutter behauptete. Die bloße Möglichkeit eines solchen Verdachts erfüllte sie mit unbeschreiblichem Entsetzen und erschien ihr ärger als der Tod. Doch nur einen Augenblick zweifelte sie an seiner Treue; bald kehrte ihr erschüttertes Vertrauen zurück und verlieh ihr die Kraft, den Drohungen ihrer Tante mutig zu widerstehen.

Obgleich auf das höchste erbittert und empört über den Ungehorsam ihrer Nichte, gab die Präsidentin noch immer nicht die Hoffnung auf, ihr Ziel auch ohne Anwendung gewaltsamer Mittel zu erreichen, da sie ebensosehr den öffentlichen Skandal wie die unberechenbare Leidenschaft ihres Sohnes fürchtete, wenn sie Julie aus ihrem Hause stieß.

»Ich will,« sagte sie mit erheuchelter Ruhe und Milde, »nicht weiter in dich dringen und dir einige Tage Zeit geben, dir die Sache zu überlegen. Bei reiflicher Prüfung wirst du dich überzeugen, daß ich nur dein Bestes beabsichtige. Du wirst mir zugestehen, daß ich bis zur Schwäche nachsichtig bin, um mir und dir einen unangenehmen Eklat zu ersparen.«

Ohne die Antwort ihrer Nichte abzuwarten, erhob sich Frau von Mainau. Tief erschüttert schwankte Julie aus ihr Zimmer, wo sie sich ungestört ihrem Schmerz überlassen durfte. In düsterer Verzweiflung warf sie sich auf ihr Lager, unfähig, einen Gedanken oder einen Entschluß zu fassen. Was konnte sie thun, um den drohenden Schlag von sich abzuwehren? Sie war eine Vater- und mutterlose Waise, einsam, verlassen und abhängig von ihren hartherzigen Verwandten, ohne einen Menschen, dem sie sich anvertrauen, von dem sie Rat und Hilfe erwarten durfte.

Einen Augenblick dachte sie daran, sich an den guten Doktor zu wenden und ihm ihre Liebe für Oswald zu gestehen, aber eine erklärliche Scheu und die Furcht, den edlen, von ihr so hoch verehrten Mann zu kränken, hielt sie von einem so gewagten Schritt zurück, vor dem sich ihr jungfräuliches Zartgefühl sträubte. Wenn sie auch Gottfried nicht liebte, so empfand sie für ihn eine unbegrenzte Achtung, die innigste Freundschaft. Der Gedanke, ihn zu betrüben, durch ihre Schuld den würdigen Mann zu verletzen und auf den ihr lieb gewordenen Umgang mit ihm verzichten zu müssen, war ihr unerträglich.

Von ihrer Tante hatte sie keine Schonung, von ihren Kousinen keine Teilnahme zu erwarten. Wohin sie blickte, sah sie sich zurückgestoßen und aufgegeben. Nur Oswald allein konnte sie retten und vor der unvermeidlichen Gefahr beschützen. War er nicht ihr Geliebter, hatte er ihr nicht geschworen, sie nie zu verlassen, ihr in allen Lagen des Lebens treulich beizustehen und jedes von ihr geforderte Opfer mit Freuden zu bringen?

Aber er war fern und leidend. Seine eigene Mutter beschuldigte ihn, daß er sie getäuscht und nur ein frivoles Spiel mit ihr getrieben habe. Von neuem regte sich der Zweifel an seiner Treue und Zuverlässigkeit in ihrer gequälten Brust, so sehr sie auch dagegen ankämpfte. Wenn er wirklich nur mit ihr gescherzt und sie hintergangen hätte! Der Gedanke drohte, ihr den Verstand zu rauben.

Wie ein Ertrinkender klammerte sie sich an ihren Glauben an, der ihre einzige und letzte Stütze war. Nein, nein! Es war nicht möglich, daß Oswald sie täuschte, daß er sie vergessen konnte. Er liebte sie trotz der Verdächtigungen seiner Mutter. Wie konnte sie so schlecht und thöricht sein, den Verleumdungen ihrer Tante Gehör zu schenken und an seiner unerschütterlichen Neigung auch nur einen Augenblick zweifeln!

Mit ihrem Glauben an Oswald kehrte auch ihr Blut und ihre Entschlossenheit zurück. Ohnehin drängte die Zeit und sie durfte nicht länger zögern, wenn sie ihn benachrichtigen wollte. Schnell sprang sie von ihrem Lager auf und eilte an ihren Schreibtisch. Mit zitternder Hand und laut pochendem Herzen teilte sie ihm ihre peinliche Lage, den Antrag des Doktors und die Absichten seiner Mutter mit, indem sie ihn anflehte, sie vor dem drohenden Geschick zu bewahren. In den rührendsten Ausdrücken schilderte sie ihm ihre Not, ihre furchtbare Verlegenheit, all die Qual, die sie nur seinetwegen litt. Zugleich erklärte sie ihm, daß sie lieber das Aergste dulden als ihm untreu werden wollte, daß keine Macht der Erde sie zwingen würde, seiner Liebe zu entsagen. Voll Vertrauen legte sie wie ein hilfloses demütiges Kind ihre Zukunft, ihr Wohl und Wehe ganz in seine Hand, versprach sie ihm, alles zu thun, was er von ihr forderte, und ihrer Liebe jedes noch so schwere Opfer zu bringen.

Jedes Wort, jeder Satz, jede Wendung in ihrem Briefe atmete die reinste, selbstlose Liebe, die keuscheste Zärtlichkeit, gleichsam den Blütenduft der unschuldigen Seele. Während sie ihm so schrieb, flossen ihre Thränen reichlich und fielen auf das weiße Papier langsam nieder wie Regentropfen nach einem schweren Gewitter.

Nachdem sie den Brief geschlossen, trug sie ihn selbst heimlich aus die Post, aus Angst, daß ihre Tante die Korrespondenz entdecken könnte. Nur die Hoffnung auf eine baldige Antwort und auf den von ihr erwarteten Beistand des Geliebten belebte ihren gesunkenen Mut und gab ihr die verlorene Ruhe wieder. So lange Oswald sie liebte, fürchtete sie weder den Zorn seiner Mutter noch den Widerstand der ganzen Welt.

VII.

Die Saison in Ostende hatte ihren Höhepunkt erreicht und bot den daselbst verweilenden Kurgästen ein ebenso interessantes wie unterhaltendes Schauspiel. Auch Oswald konnte sich dem angenehmen Eindruck nicht entziehen, den der Anblick des bewegten Meeres, die stärkenden Seebäder, das bunte Menschengewühl am Strande, die Promenade auf dem von der feinen Badewelt belebten »Digue« auf ihn machten.

Gerade in seiner augenblicklichen Stimmung fühlte er stärker als je das Bedürfnis, sich zu zerstreuen, um den sich ihm aufdrängenden Gedanken zu entfliehen. Es gab Augenblicke und Stunden, wo er mit wahrhaft inniger Liebe und Sehnsucht an die verlassene Julie zurückdachte und sich die bittersten Vorwürfe wegen seiner unverzeihlichen Schwäche machte. Doch diese Anwandlungen seiner Reue dauerten nur kurze Zeit und gingen schnell vorüber, als er einen ihm zusagenden Kreis von amüsanten Herren und liebenswürdigen Damen fand, mit denen er fast täglich zusammenkam.

Gemeinschaftliche Diners und Soupers im Pavillon Royal, Bälle mit Reunionen in dem prächtigen Kursaal, wo sich die Blüte aller Nationen versammelte, trugen dazu bei, seinen Schmerz zu mildern. Es fehlte auch nicht an reizenden Mädchen und Frauen, welche den jungen eleganten Diplomaten wegen seines Verlustes zu trösten suchten. Die Tochter eines Frankfurter Millionärs, eine emanzipierte russische Gräfin und eine schöne, etwas exzentrische Engländerin interessierten sich für ihn und machten sich sein Herz streitig.

Wenn Oswald auch keine besondere Neigung empfand, ein neues Verhältnis anzuknüpfen, so schmeichelten doch diese Eroberungen seiner Eitelkeit und gewährten ihm eine angenehme Unterhaltung. Je länger sich sein Aufenthalt in Ostende ausdehnte, desto seltener quälten ihn die peinlichen Erinnerungen, obgleich er Julie nicht ganz vergessen konnte mit sie noch immer allen Damen seiner Bekanntschaft vorzog.

Da er von seiner Mutter stets die besten Nachrichten empfing und ihm die letzten Ereignisse von ihr aus naheliegenden Gründen verschwiegen wurden, so überließ er sich ungestört den ihm gebotenen Vergnügungen, die ihm zur Gewohnheit geworden waren. Wie sonst machte er den Damen den Hof auf der Promenade, tanzte er des Abends mit ihnen oder unternahm in ihrer Gesellschaft kleine Partien am Strand, ohne alle weiteren Konsequenzen und Gewissensbisse.

Mitten in diesen Zerstreuungen, als er eben im Begriff stand, seine Toilette zu machen, um sich auf den Digue zu begeben, empfing er den unerwarteten Brief der armen Julie. Bei dem Anblick der ihm wohlbekannten Schrift ergriff ihn unwillkürlich ein schmerzliches Gefühl, eine bange Ahnung, so daß er sich einer leisen Furcht nicht erwehren konnte.

Schnell durchflog er die verhängnisvollen Zeilen, deren trauriger Inhalt ihn auf das tiefste rührte und erschütterte. Ihre Not und Verzweiflung, die er hauptsächlich verschuldet hatte, erregten sein Mitleid; ihre Klagen und Bitten um seine Hilfe weckten seinen ritterlichen Sinn; ihre Liebe und Hingebung entzündeten in seinem leicht bewegten Herzen die keineswegs erloschene Neigung zu neuer Glut.

»Das arme Kind!« seufzte er. »Was muß sie gelitten haben und noch leiden. Und das alles nur mit meinetwillen, weil sie mich liebt. Ich kenne meine Mutter, sie ist unbarmherzig und selbst einer Grausamkeit fähig, wenn man ihre Pläne zu durchkreuzen wagt. Aber ich werde nicht dulden, daß sie Julie so quält, sollte es auch zum Aeußersten kommen. Es ist empörend, die liebe Kleine zu einer solchen Verbindung zwingen zu wollen. Julie und Gottfried! Welche Lächerlichkeit! Ich kann es ihr nicht verdenken, daß sie dem guten Peter Schlemihl einen Korb gegeben hat, so leid mir auch der alte Junge thut. Ich hätte ihm gar nicht eine solche Kühnheit zugetraut. Gewiß wird ihm die teure Mama so lange zugesetzt haben, bis er sich zu seinem Antrag entschlossen hat. Die Kleine ist wirklich bewunderungswert. In ihrer Lage eine so vorteilhafte Partie auszuschlagen und den Drohungen meiner Mutter zu trotzen: dazu gehört ein außerordentlicher Mut und ein fester Charakter. Und wie sie mich liebt! Sie hat um mich geweint, den Brief mit ihren Thränen benetzt. Sie dauert mich von ganzem Herzen. Ich werde sie nicht verlassen, mag auch meine Mutter thun und sagen, was sie will.«

Mit dem Entschlusse, noch heute Ostende zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren, um der Geliebten beizustehen, erhob sich Oswald und klingelte dem Diener, um ihm die nötigen Befehle zur Abreise zu geben. Da dieser nicht sogleich kam, kühlte sich sein Eifer unmerklich etwas ab. Während er noch immer auf den abwesenden Diener wartete, fand er hinlänglich Zeit, sein Vorhaben noch einmal reiflich zu überlegen.

Je länger er aber nachdachte, desto weniger konnte er sich die Schwierigkeiten seiner Lage verschweigen. Er kannte seine Mutter zu genau, um von ihr etwas Anderes zu erwarten, als den hartnäckigsten Widerstand gegen seine Liebe, als einen erbitterten Kampf, wobei er jedenfalls den kürzeren ziehen mußte, da er bei seinem geringen Gehalt als Legationssekretär zum Teil noch von ihr abhängig und auf ihre Güte angewiesen war.

Bei seiner Verwöhnung und seiner Stellung, die einen standesgemäßen Aufwand erforderte, konnte er ohne ihren Zuschuß nicht auskommen und deshalb auch nicht daran denken, ohne ihre Einwilligung zu heiraten. Ebensowenig war er geneigt und im stande, sich Entbehrungen aufzuerlegen und auf die ihm bereits zum Bedürfnis gewordenen Genüsse des Lebens zu verzichten. Der Gedanke, sich einschränken zu müssen, war ihm unerträglich und nichts so schrecklich als Armut und Misere.

Zugleich fürchtete Oswald, sich durch eine derartige Mesalliance lächerlich zu machen. Er, der bewunderte und beneidete Liebling der Damenwelt, der Held der aristokratischen Salons, das Vorbild der jeunesse dorée durfte sich nicht eine solche Blöße geben und wie ein grüner, unreifer Schüler sieh in der tragikomischen Rolle eines sentimentalen Liebhabers blamieren. Im Geist sah er bereits die spöttischen Gesichter seiner Nebenbuhler, das mitleidige Lächeln seiner sogenannten Freunde, die verächtlichen Mienen des Hofes, die zürnenden Blicke seiner Mutter, das Wüten seiner Schwestern und ihrer Männer.

»Das kann,« dachte er jetzt im stillen, »Julie unmöglich von mir verlangen. Ich will ihr gewiß jedes Opfer bringen, aber nur wenn ich mir einen Ersatz davon versprechen darf. Soll ich mich ohne allen Nutzen mit meiner Mutter verfeinden, mich vor der ganzen Welt lächerlich und uns beide durch einen übereilten Geniestreich unglücklich machen? Das wäre eine unverzeihliche Thorheit, der größte Wahnsinn. Es ist wahr, ich liebe die Kleine, wie ich es nicht für möglich gehalten habe, und wenn ich unabhängig wäre oder sie das nötige Vermögen hätte, würde ich mich schwerlich besinnen. Aber unter den Verhältnissen darf ich nicht daran denken, sie und mich einer solchen Gefahr auszusetzen. Es ist meine Pflicht, sie und auch mich vor den unausbleiblichen Enttäuschungen zu bewahren und uns beiden die fürchterliche Misere eines freudenlosen Daseins zu ersparen. Besser, daß wir jetzt kurze Zeit leiden, als später das ganze Lebenlang uns elend fühlen. Wir können nicht gegen die Macht des Schicksals kämpfen und müssen uns in das unabänderliche Verhängnis fügen. Wenn Julie den guten Gottfried heiratet, so wird sie wenigstens versorgt sein und an ihm eine Stütze und vielleicht einen besseren Mann haben, als sie an mir gefunden hätte. Er wird sie gewiß auf Händen tragen und es ihr an nichts fehlen lassen.«

Mit diesen selbstsüchtigen und sophistischen Gründen suchte Oswald die Mahnungen seines Gewissens zu beschwichtigen und sich selbst zu täuschen. Zuletzt glaubte er, ihr nur einen neuen Beweis seines Edelmuts und seiner männlichen Besonnenheit zu geben, wenn er die arme Julie ihrem Schicksal überließ und in Ostende blieb.

Wenn auch nicht vollkommen beruhigt und keineswegs so sicher wie sonst, setzte sich Oswald an den Schreibtisch, um an seine Kousine in diesem Sinn zu schreiben, indem er sich bemühte, mit den ihm zu Gebote stehenden Redensarten seine Schwäche und seinen Egoismus zu beschönigen. Obgleich es nicht das erste Mal war, daß er sich in einer ähnlichen Lage befand, so war ihm doch seine Aufgabe nie so schwer geworden. Bald fand er die gewählten Ausdrücke zu kalt und gefühllos, bald zu glühend und leidenschaftlich.

Er zerriß den angefangenen Bogen und fing einen neuen Brief an. Während er weiter schrieb, empfand er einen eigentümlich schmerzhaften Druck in der Gegend seines Herzens; er mußte einigemal tief aufseufzen und die Feder aus der Hand legen. Wenn der Diener jetzt eingetreten wäre, so hätte Oswald vielleicht seinen Entschluß noch geändert und die Reise nach der Heimat angetreten. Es war ihm wirklich peinlich, den Brief fortzusetzen und er mußte alle seine Gedanken dabei zusammennehmen, so leicht es ihm sonst fiel, die für eine solche Gelegenheit passenden Phrasen zu finden.

Der Diener kam nicht und Oswald konnte ungestört seinen Brief beenden, der ihm wirklich große Mühe machte und ihn in eine ungewöhnliche Aufregung versetzte. Selbstverständlich unterließ er nicht, das unerbittliche Schicksal anzuklagen und sich als ein Opfer der Verhältnisse darzustellen. Von neuem versicherte er, daß er Julie mehr als alles liebte und daß ihn nur die Sorge für ihre Zukunft zurückhielte, in ihre Arme zu eilen, da er ihr nicht das wünschenswerte Glück und eine sichere Existenz zu bieten vermöchte, daß er es unter solchen Umständen für ein Verbrechen halten müßte, sie den unausbleiblichen Folgen eines unbesonnenen Schrittes auszusetzen.

Aus diesem Grunde und nur aus wahrer Liebe für sie verzichtete er auf sein einziges und höchstes Glück, das er nicht leichtsinnig mit ihrer Ruhe und dem Frieden ihres Lebens erkaufen wollte. Zugleich bat und beschwor er sie, keinen verzweifelten Entschluß zu fassen und den unnützen Widerstand aufzugeben. Schließlich riet er ihr, den Antrag des guten Doktors anzunehmen und, wenn ihr dies möglich wäre, ihn selbst zu vergessen.

Als ob er fürchtete, seinem Entschluß wieder untreu zu werden, beeilte sich Oswald, den Brief unter der ihm angegebenen Adresse auf die Post zu tragen, ohne die Rückkehr des Dieners abzuwarten. In dem Augenblick, wo er den Brief in den Kasten warf, erfaßte ihn eine Anwandlung von Reue, die jedoch keine weiteren Folgen hatte und an der Sache selbst nichts mehr ändern konnte.

Verstimmt und mit sich unzufrieden, kehrte Oswald nach seiner Wohnung zurück, statt sich, wie er beabsichtigt hatte, auf die Promenade zu begeben, da es ihm in diesem Augenblick unangenehm war, einem Bekannten zu begegnen. Er fühlte sich bedrückt und nicht in der Laune, seine gewohnte Gesellschaft zu sehen. Deshalb blieb er den ganzen Tag auf seinem Zimmer und speiste auch allein. Um den ihm peinlichen Gedanken zu entfliehen, griff er nach einem französischen Roman, doch warf er das Buch wieder fort, nachdem er wenige Seiten darin gelesen hatte. Er fand die geschilderten Charaktere unwahr, die Sprache outriert und die Situationen langweilig. Auch handelte es sich um ein verlassenes Mädchen, das sich aus Schmerz über die Untreue des Geliebten mit Kohlendunst erstickt hatte.

Von einer inneren, ihm unerklärlichen Unruhe getrieben, verließ Oswald gegen Abend in der Dunkelstunde seine Wohnung, um einen Spaziergang am Strand zu machen. Er vermied jedoch den noch immer belebten und hell erleuchteten Digue, da er ungestört zu bleiben wünschte. Deshalb schlug er auch einen Seitenweg durch eine der von Fremden wenig oder gar nicht besuchten Nebenstraßen ein.

Vor den ärmlichen, aber freundlichen Häusern saßen die Bewohner, Männer und Frauen mit ihren Kindern, junge Burschen und Mädchen in traulichem Gespräch, von der Arbeit des Tages ausruhend. Trotz der augenscheinlichen Dürftigkeit herrschte hier eine ungemeine Heiterkeit. Aus den Thüren schallte lautes Gelächter, muntere Scherze und fröhliches Geplauder. Ein kräftiger Fischer küßte seine kleine, niedliche Frau und ein Liebespärchen hielt sich zärtlich umschlungen. Oswald eilte schnell vorüber, ohne sich umzusehen, die Armen um das ihm versagte Glück beneidend.

Der Gang am Meer verschaffte ihm nicht die gewünschte Erleichterung von dem auf seiner Seele lastenden Druck. Der Anblick der dunkeln, unendlichen Wasserfläche, das eintönig klagende Rauschen der Wellen, die Einsamkeit des öden, jetzt menschenleeren Strandes, die düstere Färbung des bewölkten, sternenlosen Himmels, das unheimliche Stöhnen und Seufzen des Abendwindes erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Bangigkeit.

Im Angesicht dieser großartigen Natur kam er sich selbst so klein und erbärmlich vor, erfaßte ihn ein unabweisbarer Ekel vor seinem eiteln, nichtigen Treiben. Er fürchtete sich vor seinen eigenen Gedanken, vor den Vorwürfen seines Gewissens. Wie von einem bösen Geist verfolgt, eilte er mit schnellen Schritten auf dem nächsten Weg nach der Stadt zurück. Erst als er die hell erleuchteten Etablissements und Hotels am Strand erblickte, atmete er wieder auf.

Im Kursalon spielte das Orchester vor den versammelten Badegästen. So lustig und verführerisch auch die Offenbach'schen Melodien klangen, konnten sie ihn heute nicht reizen. Er wollte rasch vorübergehen, als er bekannte Stimmen in der Nähe hörte. Die Freunde sahen ihn und hielten ihn zurück, obgleich er ein leichtes Unwohlsein vorschützte. Seine Entschuldigungen fanden keinen Glauben; der Frankfurter Millionär ergriff seinen Arm und zog ihn mit sich fort in den Saal, wo er mit der Gesellschaft soupieren mußte.

Trotz der Liebenswürdigkeit der Damen und der Zuvorkommenheit der Herren vermochte Oswald nicht seine Verstimmung zu verbergen. Mitten in der heiteren Unterhaltung, bei den Tönen einer lustigen Quadrille und dem Klingen der Champagnergläser überfiel ihn eine rätselhafte Traurigkeit. Die sonst belachten Scherze seiner Tischgenossen erschienen ihm plump und gemein, das Gesicht der reichen Erbin reizlos, das Benehmen der russischen Gräfin kokett und frivol, die Exzentrizitäten der schonen Engländerin unleidlich, die ganze Gesellschaft widerwärtig, daß er nicht begreifen konnte, wie er sich so lange in ihr gefallen hatte. Er nahm sich ernstlich vor, sich von seinen Bekannten zurückzuziehen und den Verkehr mit ihnen abzubrechen. Gegen seine Gewohnheit forderte er keine der anwesenden Damen zum Tanz auf; unter dem Vorwand, daß er sich angegriffen fühle und der Ruhe bedürfe, entfernte er sich zeitig, ohne sich von den dringenden Bitten seiner bisherigen Freunde zurückhalten zu lassen.

Zu Hause angelangt, griff er sogleich nach dem Brief der verlassenen Julie, um ihn noch einmal zu lesen. Jedes ihrer Worte rührte ihn wie das Weinen eines hilflosen Kindes. Vor seinen Blicken stand das ergreifende Bild der armen Kleinen in ihrer ganzen Anmut und Unschuld; er sah das liebliche Gesicht, die schönen, thränenfeuchten Augen; er hörte ihre süße Stimme, ihre schmerzlichen Klagen, ihr stilles Flehen. Zugleich erkannte er die ganze Größe ihrer reinen Liebe, ihre selbstlose Hingebung, ihre uneigennützige Zärtlichkeit. Und doch hatte er sie verlassen und unbarmherzig aufgeopfert.

In der stillen Nacht klagte er sich seiner unverzeihlichen Schwäche an, machte er sich die bittersten Vorwürfe über seine Herzlosigkeit. Es war ihm zu Mut, als ob er ein schweres Verbrechen, einen schimpflichen Verrat begangen hätte. Er schämte sich seiner eigenen Frivolität und Erbärmlichkeit und fühlte sich namenlos unglücklich.

Mit der Qual der bitteren, zu späten Reue verband sich jedoch eine unerklärliche, fast freudige Aufregung, eine tiefe, schmerzlich süße Bewegung, ein Beben und Zittern, ein Wogen und Wehen in der Tiefe seines Herzens, wie wenn der Frühling unter Stürmen und Regenschauern seinen Einzug hält und die erstorbene Erde zu neuem Leben weckt.

Die Eisrinde schmolz und von seiner Seele löste sich der starre Frost vor dem warmen Hauch der wahren Liebe, die er früher nie gekannt. Sein Egoismus war gebrochen, seine Selbstüberschätzung erschüttert, wenn er auch noch immer mit dem letzten Aufgebot seines Hochmuts, seiner Blasiertheit und seiner weltmännischen Lebensklugheit gegen dies bessere Gefühl ankämpfte und mit der ihn überraschenden Liebe rang.

Nach einer unruhig schlaflosen Nacht erwachte Oswald am nächsten Morgen in ernster, trüber Stimmung. Er fühlte sich wirklich krank und so angegriffen, daß er seinen Arzt kommen ließ. Dieser fühlte ihm den Puls und stellte einige Fragen an ihn, worauf er ein bedenkliches Gesicht machte und ihm vor allem Schonung und Ruhe empfahl.

»Sie sind,« sagte der Arzt, »nervös und wahrscheinlich infolge der Bäder ein wenig überreizt. Ich kann Ihnen nur den Rat geben, sich vor jeder Aufregung in acht zu nehmen.«

»Glauben Sie, daß ich reisen darf?« fragte Oswald ungeduldig.

»Vorläufig ist daran nicht zu denken, wenn Sie sich nicht der Gefahr aussetzen wollen, ein regelmäßiges Nervenfieber zu bekommen. Erst müssen Sie wieder hergestellt sein, dann habe ich nichts dagegen, daß Sie auf einige Zeit zu Ihrer Stärkung nach dem südlichen Frankreich oder nach Italien gehen.«

Unter diesen Verhältnissen sah sich Oswald gezwungen, länger als eine Woche noch in Ostende zu bleiben. Sobald er sich wohler fühlte, wollte er nach seiner Heimat zurückkehren. Schon hatte er alle Vorbereitungen für seine Abreise getroffen, als er von seiner Mutter einen ausführlichen Brief erhielt, worin sie ihm unter allerlei interessanten Nachrichten auch die Verlobung ihrer Nichte mit dem Doktor Seiler anzeigte.

Während der Zeit, wo Oswald in Ostende schwankte und zögerte, unfähig, einen festen Entschluß zu fassen, litt die arme Julie zu Hause alle Qualen schmerzlichster Erwartung. Täglich eilte sie nach der Post und fragte voll banger Ungeduld nach seiner Antwort unter der ihm angegebenen Adresse. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als ihr endlich der Beamte den gewünschten Brief reichte, den sie errötend verbarg, als ob jener den Inhalt erraten könnte.

Mit fieberhafter Hast öffnete sie das Kouvert auf ihrem Zimmer und las den schändlichen Verrat an ihrer Liebe, die selbstsüchtigen Ausflüchte und frivolen Entschuldigungen, die herzlosen Gründe des schwächlichen Egoisten. Die Buchstaben schwankten und verwirrten sich vor ihren Blicken, ein dunkler Schleier legte sich um ihre Augen, ein grauer trostloser Nebel verhüllte ihren Geist und bedeckte wie ein Leichentuch ihre getöteten Hoffnungen.

Sie glaubte sich geirrt zu haben; aber als sie wieder zu sich kam, konnte sie nicht länger an der furchtbaren Wahrheit zweifeln. Die Binde war von ihren Augen gerissen und mit entsetzlicher Klarheit drängte sich ihr die schmerzliche Ueberzeugung auf, daß Oswald sie hintergangen und verraten habe. Seine liebenswürdigen Phrasen, seine sentimentalen Redensarten vermochten nicht, sie länger zu täuschen. Wie eine magnetische Hellseherin durchschaute sie jetzt seine innersten Gedanken, seine geheimsten Empfindungen, die verborgensten Winkel seines unzuverlässigen Herzens. Ihr Glaube war zerstört, ihr Vertrauen vernichtet und ihr Ideal von seiner bewunderten Höhe in den Staub gestürzt.

Mit der ganzen Heftigkeit getäuschter Liebe und der ungestümen Leidenschaftlichkeit der Jugend überließ sich die unglückliche Julie ihrem Schmerz. Sie war jedoch eine zu gesunde und zu tapfere Natur, um trostlos zu verzweifeln oder gar wie eine überspannte Romanheldin mit Selbstmordgedanken zu liebäugeln. Ihr Leid trug nur dazu bei, ihren Blick zu schärfen und ihren Geist zu reifen, wie die strengen Nachtfröste die edlen Trauben zeitigen.

Wenige Tage, nachdem sie Oswalds Brief erhalten hatte, erklärte sie sich noch vor Ablauf der ihr gegönnten Frist bereit, dem Doktor ihre Hand zu reichen. Sie that diesen Schritt mit vollem Bewußtsein und nach reiflicher Prüfung, nicht aus Furcht vor den Drohungen ihrer Tante, noch aus Verzweiflung über die erlittene Täuschung, sondern aus wahrer Achtung für den edlen, würdigen Gelehrten, überzeugt, daß sie Oswald nicht mehr liebte, und fest entschlossen, zwischen sich und ihm eine unübersteigliche Scheidewand zu errichten.

Oswald selbst war empört, als er aus dem Briefe seiner Mutter die Verlobung seiner Kousine erfuhr, obgleich er ihr so dringend geraten hatte, Gottfrieds Antrag anzunehmen. Seine Eitelkeit war empfindlich verletzt, seine Eigenliebe gekränkt. Er konnte ihr nicht verzeihen, daß sie, wie es ihm schien, ihn so leicht vergessen und ohne großen Kampf aufgegeben hatte. Nach seiner Meinung hätte sie den äußersten Widerstand leisten und vor allem seine Rückkehr erwarten müssen.

So sehr er ihr auch deshalb zürnte, war es ihm nicht ganz unangenehm, daß sie ihm den voraussichtlichen Konflikt mit seiner Mutter ersparte. Er hielt sich durch nichts mehr gebunden, in keiner Weise noch verpflichtet und benutzte die ihm wiedergegebene Freiheit zu einer Reise nach Paris, wo er sich zu zerstreuen und die treulose Kleine bald zu vergessen hoffte.

Mit wilder Lust stürzte er sich in den Strudel der erlaubten und auch unerlaubten Vergnügungen der verführerischen Seinestadt. Er besuchte die dem jungen, eleganten Diplomaten geöffneten Salons der aristokratischen Gesellschaft und die zweideutigen Kreise der frivolen Halbwelt. Er lernte die politischen Tageshelden und die Berühmtheiten des Theaters und des Balletts kennen. Er unterhielt sich mit stolzen Herzoginnen und mit gefälligen Loretten. Er flanierte auf den Boulevards, fuhr im Bois de Boulogne und speiste in amüsanter Gesellschaft bei den ersten Restaurants.

Trotzdem langweilte er sich in Paris. Mitten in den berauschendsten Genüssen empfand er eine unbeschreibliche Leere, überfiel ihn eine schmerzliche Sehnsucht nach dem durch seine eigene Schuld verlorenen Glück. Bei Tag und Nacht verfolgte ihn die Erinnerung an die Heimat, das Bild der Kleinen, der Gedanke an ihre Verlobung.

Länger konnte er es in Paris nicht aushalten. Eines Tages eilte er, wie von einer unwiderstehlichen Macht getrieben, auf den Bahnhof, aber statt nach Italien zu reisen, fuhr er mit dem nächsten Zug nach Hause, ohne selbst zu wissen, was er dort bezweckte und thun wollte.

VIII.

Die unerwartete Ankunft Oswalds wirkte auf die Beteiligten wie der zündende Funke in einem Pulverhaufen. Als er plötzlich wieder in den Kreis seiner Angehörigen trat, erschrak die Präsidentin über sein verändertes, leidendes Aussehen. Sein Gesicht war bleich und eingefallen, seine Augen trüb und glanzlos, Haar und Bart verwildert und selbst seine Toilette vernachlässigt.

Auch Julie war auf das höchste überrascht und bestürzt, daß sie nur mit Mühe ihre Erschütterung zu verbergen vermochte. Sie vermied es, seinen forschenden Blicken zu begegnen, und zitterte unwillkürlich, als er ihr seine Hand reichte und ihr mit unheimlichem Lächeln seine Glückwünsche zu ihrer Verlobung abstattete. Obgleich sie sich keiner Schuld bewußt war, fühlte sie sich durch seine Gegenwart bedrückt und beängstigt.

Nur der gute Doktor zeigte seine gewohnte Ruhe und begrüßte Oswald mit der ganzen alten Herzlichkeit. Seine treuen Augen strahlten vor Freude über die unerwartete Rückkehr des Freundes, den er mit brüderlicher Zärtlichkeit umarmte, ohne die Verstimmung seiner Braut und Oswalds Verlegenheit zu bemerken.

»Du allein,« sagte er ahnungslos, »hast mir nur noch zu meinem vollständigen Glück gefehlt. Wie oft haben wir an dich gedacht und dich herbeigewünscht! Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, daß du wieder bei uns bist. Hoffentlich wirst du dir an uns ein Beispiel nehmen und dir wie ich ein holdes Weibchen erkiesen.«

»Das gebe der Himmel!« fügte die Präsidentin hinzu, einen besorgten Blick auf ihren Sohn werfend.

Statt zu antworten, starrte Oswald seine Kousine an, die sich errötend abwendete und sich mit der Bereitung des Thees zu schaffen machte, um ihre Befangenheit zu verbergen. Es trat eine längere Pause ein, die Unterhaltung stockte und wollte trotz aller Bemühungen nicht mehr in Gang kommen. Während des Essens erschien Oswald zerstreut; er beantwortete die an ihn gerichteten Fragen wie im Traum und war gegen seine sonstige Gewohnheit auffallend still und verschlossen, weshalb die Präsidentin das Souper abkürzte.

»Du scheinst,« sagte sie entschuldigend, »von der Reise angegriffen und der Ruhe zu bedürfen. Unser Freund wird es dir nicht übel nehmen –«

»Meinetwegen,« erwiderte Gottfried, »brauchst du dir keinen Zwang anzuthun. Wir sehen uns morgen. Sobald du aufgestanden bist, komme ich zu dir herunter, um zu hören, wie du geschlafen hast.«

»Bemühe dich nicht!« versetzte Oswald mit erheuchelter Ruhe. »Ich bin dir den ersten Besuch schuldig, ohnehin wünsche ich ungestört mit dir mich auszusprechen.«

»Gewiß hast du wieder einmal etwas auf dem Herzen,« scherzte der Doktor. »Ich bin wirklich begierig, deine Beichte anzuhören. Wenn man aus Paris kommt, kann es an Stoff nicht fehlen. Auch ich habe dir vieles mitzuteilen. Ich erwarte dich morgen. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« versetzte Oswald finster, fast drohend.

Nachdem sich der Doktor verabschiedet hatte, zog sich auch Julie früher als sonst zurück, von bangen Ahnungen und düsteren Befürchtungen erfüllt. Oswalds aufgeregtes Wesen, seine leidenschaftlichen Blicke und sein ungewöhnliches Schweigen beunruhigten sie; seine bloße Erscheinung reichte hin, die kaum vernarbten Wunden wieder aufzureißen. Wenn sie ihn auch nicht mehr zu lieben glaubte, war er ihr doch, wie sie fühlte, keineswegs gleichgiltig. Noch immer stand sie unter dem Bann seiner interessanten Persönlichkeit, übte er auf sie eine geheime Anziehung, so sehr sie sich auch dagegen sträuben mochte.

Mehr als je bedauerte und bereute sie, daß sie ihrem Verlobten das Verhältnis mit Oswald bisher verschwiegen hatte. So oft sie auch mit Gottfried darüber sprechen wollte, hielt sie eine natürliche Scheu zurück. Sie fürchtete ihn zu betrüben und es fehlte ihr der Mut, dem guten, arglosen Mann, der sie so innig liebte und den sie so sehr verehrte, durch ein solches Geständnis eine unangenehme Stunde zu bereiten. Aus diesem Grunde verschob sie es von Tag zu Tag, ihm die notwendige Erklärung zu geben.

Jetzt aber machte sie sich ihre bisherige Feigheit zum Vorwurf und sie hielt sich doppelt verpflichtet, ihm die volle Wahrheit zu bekennen, selbst auf die Gefahr, ihn zu verletzen. Dieser Vorsatz gab ihr die verlorene Ruhe wieder, wenn es ihr auch schwer fiel, ihn auszuführen.

Auch die Präsidentin war mehr bekümmert als erfreut über die plötzliche Rückkehr ihres Sohnes. Den scharfen Blicken der klugen Frau und zärtlichen Mutter konnte sein verändertes Aussehen und seine tiefe Verstimmung nicht entgehen. Obgleich sie den wahren Grund derselben nicht kannte und deshalb geneigt war, ein körperliches Leiden anzunehmen, vermochte sie nicht, ihre ernsten Besorgnisse zu unterdrücken, als sie mit ihm wieder allein war.

»Du mußt wirklich,« sagte sie ängstlich, »in Ostende kränker geworden sein, als ich glaubte. Jedenfalls hättest du gut gethan, von Paris nach Italien zu gehen, wie dir der Arzt geraten hat und wie es auch deine Absicht war.«

»Was soll ich in Italien?« entgegnete er verdrießlich. »Das alles kann mir nicht helfen.«

»Mein Gott!« rief die Präsidentin erschrocken. »Du scheinst mir noch zu leiden. Ich will morgen sogleich den Medizinalrat Wolf holen lassen. Sage mir um des Himmels willen, was dir eigentlich fehlt?«

»Wozu? Wenn ich es dir auch sagen wollte, würdest du mir weder helfen können noch wollen, sondern über mich nur lachen, obgleich du allein an meinen Leiden Schuld hast.«

»Wie! Ich sollte Schuld an deinen Leiden haben? Das begreife ich nicht. Willst du nicht so freundlich sein und mir sagen, was ich verbrochen habe; eine so zärtliche Mutter wie ich –«

»Auch die zärtlichste und beste Mutter kann ihre Kinder unglücklich machen, wenn sie dieselben zwingt, den Wünschen ihres Herzens zu entsagen und sich selbst untreu zu werden.«

»Wann hab' ich das gethan, wann dich gezwungen?«

»Du hast mich allerdings nur überredet, meine Kousine zu verlassen und sie deinen unglückseligen Heiratsplänen aufzuopfern, trotzdem ich sie liebte und noch immer liebe.«

»Ich dachte, daß du diese Kinderei längst vergessen hättest. Julie hat den Antrag des Doktors freiwillig angenommen. Sie ist die Braut deines besten Freundes und keineswegs unglücklich.«

»Das sagst du,« versetzte er ironisch. »Ich weiß aber, daß sie ihn nicht liebt, daß sie nur aus Furcht vor deinen Drohungen ihr Jawort gegeben hat. Jetzt bin ich hier und es bedarf nur eines Wortes von mir, um die lächerliche Verlobung wieder aufzuheben.«

»Oswald,« rief die Präsidentin entsetzt, »das wirst, das kannst du nicht thun! Willst du dich, mich, uns alle unglücklich machen? Ich bitte, ich beschwöre dich, sei vernünftig und bedenke, was du mir und unserer Familie schuldig bist.«

Ungerührt von den Mahnungen und selbst von den Thränen seiner Mutter, überließ sich Oswald mit wildem Ungestüm dem Sturm der ihn beherrschenden Leidenschaft. Wie die meisten schwachen Menschen, wenn sie erst einmal aus ihrer Ruhe gerissen sind, kannte er auch kein Maß und keine Rücksicht, gleich dem angeschwollenen Gebirgsbach, der plötzlich die Dämme durchbricht und schäumend alles mit sich fortreißt, aber ebenso schnell wieder in das alte Bett zurückkehrt, wenn die Flut sich verlaufen hat.

Ohne Schonung überhäufte jetzt Oswald seine Mutter mit wahren und falschen Anklagen und Vorwürfen. Er beschuldigte sie, sein Lebensglück zerstört, sein Herz vergiftet zu haben; er machte sie verantwortlich für seine frivole Jugend, für seine thörichte Vergangenheit, seine freudenleere Gegenwart und hoffnungslose Zukunft.

Müde ihrer sanften und doch so drückenden Tyrannei, erklärte er ihr, daß er nicht länger gesonnen sei, sich von ihr beherrschen zu lassen, ihre Launen zu ertragen, ihre Intrigen und Uebergriffe zu dulden, daß er es lieber zum Aeußersten treiben, als auf Julie verzichten wollte, daß er fest entschlossen sei, ihr und der ganzen Welt Trotz zu bieten.

Bestürzt, starr vor Schreck stand die Präsidentin wie gelähmt ihrem Sohn gegenüber. Zum erstenmal in ihrem ganzen Leben fühlte sie ihre Ohnmacht. Wider Willen mußte sie sich vor der Gewalt einer Leidenschaft beugen, an die sie nie geglaubt, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Mit all ihrer Schlauheit und Feinheit vermochte sie nicht den rasenden Sturm zu bändigen, die lodernden Flammen zu löschen. Die Natur spottete all ihrer Künste und machte ihre berechnende Lebensklugheit zu schanden. Sie fühlte sich besiegt und überwunden von einer Macht, die sie in ihrem Hochmut verachtet und belächelt hatte.

Wie eine entthronte Königin wagte die sonst so stolze Frau nicht, ihren Sohn anzublicken und ihn zurückzuhalten, als er wie ein Wahnsinniger fortstürzte und sie allein ließ. Gebrochen und gedemütigt, wälzte sie sich schlaflos auf ihrem Lager, von Kummer und Leid erdrückt, um ihre verlorene Herrschaft weinend.

Aber auch Oswald war zu aufgeregt, um zu schlafen. Die Unterredung mit seiner Mutter hatte ihn nur in seinen kühnen Entschlüssen bestärkt. Nachdem er ihren Bitten und Thränen mutig widerstanden, fürchtete er kein Hindernis mehr. Er zweifelte nicht an seinem Sieg. Julie liebte ihn und Gottfried war sein bester Freund, von dem er selbst das größte Opfer fordern und erwarten durfte. Wer konnte ihm sein Glück noch streitig machen?

Voll Ungeduld eilte er am nächsten Morgen zu dem guten Doktor, der ihn wie immer mit offenen Armen empfing. Trotz seines Selbstvertrauens und seines durch die Leidenschaft noch verschärften Egoismus schwankte und zögerte Oswald, dem alten Freunde seine wahre Absicht mitzuteilen, die er kaum sich selbst zu gestehen wagte. Als aber dieser arglos in der Freude seines Herzens mit ihm von seiner Verlobung, seiner Liebe und seinem Glück an der Seite seiner Braut sprach, vermochte auch er nicht sich länger zu beherrschen.

»Halt ein!« rief er mit heiserer Stimme, plötzlich aufspringend. »Ich will nichts mehr hören. Julie wird und darf nie die Deine werden.«

»Ich bitte dich,« entgegnete der Doktor zwar befremdet, aber gelassen, »mich mit deinen schlechten Witzen zu verschonen. In diesem Punkt dulde ich selbst von meinem besten Freunde keinen Scherz.«

»Wer sagt dir, daß ich scherze! Ich liebe Julie und niemand, auch du nicht, soll sie mir entreißen.«

Erschrocken starrte Gottfried mit weit aufgerissenen Augen den Freund an, den er wegen seines unerklärlichen Benehmens für einen Wahnsinnigen hielt. Oswald war auf das Sofa zurückgesunken und verbarg sein bleiches Gesicht in die Polster, als ob er sich scheute, den Blicken des beleidigten Doktors zu begegnen. Einige Augenblicke herrschte eine tiefe, unheimliche Stille, daß man die schnellen Atemzüge und das Stöhnen des Unglücklichen hören konnte.

»Du bist krank,« sagte Gottfried nach einer Pause mitleidig, sich zu ihm niederbeugend.

»Es wäre kein Wunder. Du ahnst nicht, was ich gelitten habe und noch leide. Ich fürchte, daß ich noch darüber wahnsinnig werde.«

»Beruhige dich und sage mir nur, was vorgefallen ist. Vielleicht kann ich dir helfen.«

»O! ich wußte, daß du mich nicht verlassen würdest. Dir bist mein einziger und bester Freund. Du wirst, du mußt mir das Opfer bringen, so schmerzlich es auch dir ankommen mag.«

»Welches Opfer? Wovon redest du?« fragte Gottfried verwundert und von neuem an dem Verstand des Freundes zweifelnd.

»Von ihr, von Julie,« entgegnete Oswald aufgeregt. »Wenn du mir einen Funken von Liebe für mich hast und mich retten willst, wirst du auf ihre Hand verzichten und deine Verlobung mit ihr auflösen.«

»Was fällt dir ein!« erwiderte der Doktor noch immer ruhig. »Das steht weder in meiner Macht, noch habe ich ein Recht dazu. Sie hat mein Wort und ich liebe sie –«

»Sie aber liebt dich nicht, sondern mich, mich allein.«

»Du lügst, oder du bist toll geworden,« rief Gottfried auffahrend.

»Ich bin weder toll, noch lüge ich. Frage sie selbst und sie wird nicht leugnen, daß ihr Herz mir gehört, daß sie nur aus Furcht vor den Drohungen meiner Mutter, aus Verzweiflung, weil ich schwach genug war, sie zu verlassen, deinen Antrag angenommen hat, daß sie nur gezwungen dir das Jawort gab, daß sie mich nicht vergessen kann, daß sie kein größeres Glück kennt, als mein zu werden.«

Wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel durchzuckte den armen Doktor der furchtbare Verdacht, daß Oswald die Wahrheit spräche, obgleich er noch immer zweifelte und seinen Ohren nicht trauen wollte. Das war nicht die Rede eines Wahnsinnigen; jedes Wort klar und überlegt, logisch und vernünftig. Der bloße Gedanke an die Möglichkeit einer solchen Täuschung erfüllte sein treues, edles Herz mit unsagbarem Schmerz. Trotzdem wollte er nicht glauben, daß die Geliebte ihn hintergangen, daß der Freund ihn betrogen habe.

»Du irrst dich,« versetzte er, nachdem er sich mühsam gefaßt hatte. »Julie ist zu offen, zu ehrlich, um mich zu belügen, ein zu fester Charakter, um mir ihr Jawort zu geben, wenn sie dich liebte. Du selbst hast mir auch gesagt, als ich dich fragte, daß euer Verhältnis nur rein verwandtschaftlicher Natur wäre.«

»Das war auch damals der Fall, als du mit mir darüber sprachst. Ich selbst dachte nicht anders und spielte mit den Flammen, die mich jetzt verzehren –«

»Und Julie?« fragte der Doktor in höchster Aufregung. »Verschweige mir nichts; denn nur die Wahrheit kann uns retten und diese entsetzliche Verwirrung lösen.«

»Sie ist unschuldig. Die Liebe hat sie überrascht wie ein Dieb in der Nacht. Sie traute meinen Schwüren. Doch meine Mutter überredete mich, sie zu verlassen. Sie drohte, Julie aus dem Haus zu stoßen. Erspare mir das Geständnis meiner Schwäche – ich hatte nicht den Mut, meiner Mutter zu widerstehen. Ich entsagte meiner Liebe und reiste nach Ostende, wo ich zu vergessen hoffte. Erst als ich deine Verlobung erfuhr, wußte ich, daß ich ohne sie nicht leben kann.«

»Und du glaubst, daß sie dich noch immer liebt, daß sie nur durch die Drohungen deiner Mutter sich bewegen ließ, meinen Antrag anzunehmen?«

»Ich kann nicht daran zweifeln,« entgegnete Oswald, die Augen niederschlagend, »obgleich ich seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen und ihr nicht geschrieben habe.«

»Sie wußte aber, daß du kommen würdest.«

»Nein! Sie hatte keine Ahnung, so wenig wie meine Mutter.«

»Kannst du mir darauf dein Wort geben?«

»Mein Ehrenwort!«

»Es ist gut,« sagte Gottfried, tief atmend wie ein schwer belasteter Mann. »Ich sehe, daß euch beide keine Schuld trifft. Wenn sich alles so verhält, wie du mir versicherst, dann kann und will ich sie nicht zwingen. Julie ist frei; ich verzichte auf ihre Hand und werde dich nicht hindern –«

»Du bist der edelste, der beste Mensch, den ich kenne. Um so mehr muß es mich schmerzen, daß du meinetwillen leidest.«

»Beruhige dich – du kannst nicht dafür. Das Schicksal wollte nicht, daß ich wie andere Menschen glücklich werde. Ich habe einen schönen Traum geträumt und bin unsanft erwacht. Jetzt muß ich sehen, wie ich damit fertig werde.«

»Mir blutet das Herz. Was wird Julie sagen?«

»Sie wird sich trösten und mich vergessen. Ich wünsche nur, daß du sie glücklich machst.«

»Und du zürnest mir nicht?«

»Weshalb sollte ich dir zürnen? Du hast mir nur eine gefährliche Täuschung erspart, meinen Wahn benommen. Besser jetzt als später, besser eine offene Wunde als ein heimliches Geschwür. Die Wahrheit schmerzt, aber tötet nicht.«

»Kannst du mir verzeihen?«

»Von ganzem Herzen,« versetzte Gottfried mit traurigem Lächeln, dem Freund die Hand reichend. »Jetzt aber laß mich. Ich bedarf der Ruhe. Es gibt Dinge, die der Mensch mit sich allein durchkämpfen muß, Augenblicke, wo selbst der beste Freund zu viel ist. Leb' wohl!«

»Leb' wohl!«

Traurig und beschämt verließ Oswald den guten Doktor, der ihn bis zur Thür begleitete und dann hinter sich zu riegelte, um ungestört mit seinem Schmerz zu sein.

IX.

Unterdessen verlebte Julie Augenblicke und Stunden der schmerzlichsten Aufregung. Noch hatte sie Oswald nicht allein gesprochen. Sie scheute sich, ihn ohne Zeugen zu sehen; eine innere Stimme schien sie vor der ihr drohenden Gefahr einer solchen Begegnung zu warnen. Wo sie ging und stand, verfolgte sie sein Bild, das bleiche Gesicht, die leidenschaftlichen Blicke, das unheimliche Lächeln. Sie zitterte vor einer unvermeidlichen Erklärung und erwartete mit größter Unruhe diesen mehr gefürchteten als ersehnten Augenblick.

Ihre Qual wurde noch durch den ihr unerklärlichen Umstand erhöht, daß ihr Verlobter sich heute nicht blicken ließ. Sonst unterließ Gottfried nie, bevor er in sein Kollegium ging, sie zu begrüßen und einige Augenblicke in ihrer Gesellschaft zu verweilen. Julie konnte nicht begreifen, was ihn gerade heute zurückhielt, wo sie sich fest vorgenommen hatte, ihm ihr Verhältnis zu Oswald zu gestehen. Der Gedanke, daß dieser ihr zuvorgekommen, erfüllte sie mit einer unbeschreiblichen Angst, obgleich sie ihm eine solche Indiskretion nicht zutraute.

Von solchen peinlichen Gedanken bestürmt, wartete sie noch immer auf den guten Doktor. So oft sie seine Schritte zu hören glaubte, fuhr sie unwillkürlich empor, und als sich endlich die Thür leise öffnete, sprang sie auf, um ihm entgegenzueilen. Sie hatte sich jedoch getäuscht, nicht ihr Verlobter, sondern Oswald stand vor ihr. Ueberrascht stieß sie einen leisen, kaum hörbaren Schrei aus. Sie wollte fliehen, aber sie blieb wie festgebannt, keines Wortes, keiner Bewegung mächtig.

»Julie!« rief er, seine ausgebreiteten Arme ihr entgegenstreckend und sie an sich ziehend. »Wie hab' ich mich nach diesem Augenblick gesehnt!«

»Laß mich,« bat sie, ihn sanft zurückstoßend. »Du thust nicht recht. Hast du vergessen, daß ich verlobt, die Braut deines Freundes bin?«

»Seinetwegen kannst du ganz unbesorgt sein. Ich komme von ihm. Er ist der beste und edelste Mensch.«

»Das ist er,« sagte sie mit voller Ueberzeugung, »und darum darf ich dir nicht gestatten –«

»Ich habe mit ihm gesprochen und Gottfried ist mit allem einverstanden.«

»Ich verstehe dich nicht. Was hat er dir gesagt?«

»Daß er auf deine Hand verzichtet und die Freiheit, dein Wort dir zurückgibt. Er will sich unserem Glück nicht widersetzen.«

»Um des Himmels willen!« rief sie, entsetzt ihn anstarrend. »Was hast du gethan?«

»Weshalb erschrickst du? Ich habe ihm nur die Wahrheit gestanden, daß wir uns lieben, daß du nur gezwungen aus Furcht vor der Mutter seinen Antrag angenommen hast.«

Julie erbleichte; ein kalter Schauer rann durch ihre Glieder. Stürmisch hob und senkte sich der zarte Busen und krampfhaft zog sich ihr Herz zusammen. Ihre schönen Augen füllten sich mit Thränen. Schmerz und Verzweiflung sprach aus ihren Zügen. Einer Ohnmacht nahe war sie in den Stuhl zurückgesunken, mit ihren zitternden Händen das bleiche Gesicht bedeckend. So saß sie da, stumm und starr, ein Bild des größten Jammers.

Ueberrascht von diesem jähen Ausbruch ihrer Gefühle, blickte Oswald die Unglückliche befremdet an, da er ihr tiefes Leid nicht begreifen konnte, ihre Thränen ihm ein Rätsel waren. Als er aber näher trat und ihre Hände ergreifen wollte, um sie zu beruhigen, stieß sie ihn mit sichtlichem Abscheu zurück, wandte sie entsetzt ihr Gesicht ab, als ob sie seinen Anblick nicht ertragen könnte.

»Rühre mich nicht an!« rief sie aufspringend. »Du tötest mich.«

»Julie!« bat er bewegt. »Besinne dich! Ich bin es, Oswald, dein Geliebter. Was fehlt dir? Weshalb fliehst du mich? Liebst du mich nicht mehr?«

»Nein!« erwiderte sie tonlos und kalt. »Ich hasse, ich verachte dich.«

»Du zürnst mir noch, weil ich dich verlassen habe. Ich bereue meine Schwäche und will alles wieder gut machen. Ich bin ja nur deinetwegen zurückgekommen und bereit, dir jedes Opfer zu bringen. Ich fürchte nicht den Zorn meiner Mutter, nicht den Widerstand meiner Familie. Rang, Stellung, Vermögen, die ganze Welt ist mir gleichgültig, wenn ich dich nur habe.«

»Es ist zu spät,« murmelte sie, mit sich kämpfend.

»Weshalb zu spät? Du hörst ja, daß Gottfried dir entsagt und dein Wort dir zurückgibt.«

»Weil er glaubt, daß ich ihn getäuscht habe, weil er zu edel und zu großmütig ist, um mich zu zwingen. Er hat recht gethan und konnte nicht anders handeln. Aber ich habe ihm Treue gelobt und werde ihm mein Wort halten bis in den Tod. Mag er mich aufgeben und verstoßen, ich werde nicht von ihm lassen. Nie werd' ich einem andern Mann gehören, wenn ich auch nicht würdig bin, seine Gattin zu werden und er mich verschmäht.«

»Julie! Ich bitte, ich beschwöre dich. Auf meinen Knieen –«

»Halt' ein!« versetzte sie würdevoll. »Erspare dir und mir eine solche Demütigung. Mein Entschluß steht fest und keine Macht der Erde vermag ihn zu erschüttern.«

»Ich gestehe, daß ich gegen dich gefehlt habe. Dafür biete ich dir jetzt meine Hand.«

»Gott ist mein Zeuge, daß es mich schmerzt, dir weh' zu thun, aber ich kann nicht dein Weib werden. Es gab eine Zeit, wo ich kein größeres Glück kannte, als dir zu gehören, wo ich dich mehr als alles liebte. Das ist vorbei. Du selbst hast das feste Band zerrissen, meinen Glauben an dich zerstört, meine Liebe getötet. In dem Augenblick, als ich deinen Brief empfing, erkannte ich meinen Irrtum, beklagte ich meine Täuschung.«

»Du weißt nicht, wie sehr ich gelitten, wie schwer ich meine unselige Schwäche bereut habe. Ich wollte sogleich zu dir eilen, nur meine Krankheit hielt mich zurück. Und nun bin ich hier, um dich für alle deine Leiden zu entschädigen.«

»Du irrst dich,« erwiderte sie traurig. »Die tote Liebe lebt nicht wieder auf und das verlorene Vertrauen kehrt nie zurück. Mir fehlt der Glaube und alle deine Schwüre können mich nicht überzeugen. Ich fürchte immer wieder eine neue Täuschung, einen Rückfall deiner alten Schwäche. Auch bin ich kein Kind mehr, das mit sich spielen läßt und das man mit Versprechungen beruhigt und in Schlummer wiegt. Ich habe meine Erfahrungen teuer bezahlt und weiß, daß es kein größeres Leid auf Erden gibt, als getäuscht zu werden, wenn man liebt. Den Schmerz wenigstens will ich Gottfried ersparen.«

Je länger Julie in dieser Weise mit ihm sprach, desto mehr mußte Oswald sie bewundern. Sie schien gleichsam vor seinen Augen zu wachsen und größer zu werden. Die kurze Zeit, wo er sie nicht gesehen, hatte auch sie wunderbar verändert. Ihre Züge waren geistiger, ihr ganzes Wesen bedeutender geworden. Der Schmerz hatte sie geweiht und das bleiche Gesicht verklärt. Das kindliche Lächeln war einem sinnigen Ernst gewichen; in ihren Bewegungen und in ihrer Sprache offenbarte sich die reinste, edelste Weiblichkeit.

Um so tiefer und schmerzlicher bedauerte er das durch eigene Schuld verlorene Glück, um so heftiger loderte von neuem die wieder erwachte Leidenschaft in seinem Herzen auf. Er konnte nicht glauben, daß Julie ihm ernstlich zu widerstehen vermöchte, obgleich sie ihm zürnte und ihn zurückwies. Er gab noch immer nicht die Hoffnung auf, sie zu versöhnen und ihre verscherzte Neigung wiederzugewinnen, wobei er im stillen ebensosehr auf die leichte Beweglichkeit des weiblichen Herzens wie auf seine Unwiderstehlichkeit rechnete.

»Bedenke,« sagte er keineswegs entmutigt, »was du thust. Da machst statt eines Menschen drei Unglückliche und opferst dich selbst dem leeren Wahn einer zwecklosen Treue, da du Gottfried unmöglich lieben kannst.«

»Ich habe nicht nötig,« entgegnete Julie errötend, »dir von meinen Gefühlen Rechenschaft zu geben. Auch weiß ich, daß ich seine Achtung verloren habe, daß er mir meinen Mangel an Vertrauen nicht vergeben kann. Trotzdem verehre und schätze ich Gottfried, werde ich nie vergessen, was ich ihm schuldig bin. Ich danke ihm das Höchste und Beste, was ein Mensch dem andern zu bieten vermag. Er hat mir meinen verlorenen Glauben wiedergegeben und mich vor Verzweiflung bewahrt. Er richtete mich auf und war mir eine feste Stütze. An seinem treuen, gütigen Herzen fand ich eine neue Heimat, ein sicheres Asyl, und sein hoher, starker Geist öffnete mir die Pforten einer schöneren und besseren Welt, das Reich der Wahrheit und der Wissenschaft. Vor allem aber lernte ich durch ihn jene wahre, reine, selbstlose Liebe kennen, die nicht erniedrigt, sondern uns erhebt und beglückt, die keinem Wandel unterworfen, unveränderlich und ewig ist. Diese Liebe ist mein höchster Schatz, mein Stolz; ich werde sie bewahren bis zu meinem Tod und keine andere Liebe kann sie mir ersetzen.«

»Julie!« rief er bestürzt. »Habe Mitleid mit mir, mit dir selbst! Was soll aus dir werden, wenn du mich verschmähst und Gottfried zurücktritt?«

»Ich fürchte nicht die Zukunft und traue mir die Kraft zu, für mich selbst zu sorgen. Ich kann arbeiten, Stunden geben oder als Gesellschafterin mir mein Brot verdienen.«

»Nein, nein! Ich werde das nicht zugeben. Du darfst, du kannst mich nicht verlassen.«

»Du hast weder das Recht noch die Macht, mich zurückzuhalten.«

Gereizt durch ihren unerwarteten Widerstand, von sinnloser Leidenschaft ergriffen, umschlang Oswald die Widerstrebende, mit Gewalt sie an sein Herz drückend. Mit dem Aufgebot ihrer letzten Kraft riß sich Julie aus seinen Armen und stürzte nach der Thür, ohne daß er ihr zu folgen wagte. Instinktmäßig floh sie die Treppe hinauf zu Gottfrieds Wohnung empor, vor der sie atemlos wie ein gejagtes Reh stehen blieb.

Vor Ausregung zitternd, ergriff sie den Glockenzug und läutete. Der schrille Ton der Klingel erschreckte sie, aber niemand öffnete ihr. Ihr Herz pochte vor Angst; sie fürchtete, daß Gottfried ein Unglück zugestoßen sei. Stärker zog sie noch einmal an der Glocke und lauschte. Kein Mensch ließ sich blicken. Sie fühlte, wie ihre Sinne schwanden, als sie seinen Schritt vernahm. Der Riegel klirrte und Gottfried stand vor ihr, sie überrascht mit seinen trüben Augen anblickend.

»Du hier?« fragte er verwundert im vorwurfsvollen Ton.

»Rette, schütze mich!« rief sie, bewußtlos in seine Arme sinkend.

Mit einer ihm sonst fremden Kraft führte oder trug er sie vielmehr in seine Wohnung, wo er seine süße Last auf das Sofa legte, in höchster Bestürzung über den Anblick der ohnmächtigen Julie, die er vergebens zu ermuntern suchte. Als sie nach einiger Zeit, die ihm eine Ewigkeit dünkte, endlich die Augen aufschlug, sah sie den guten Doktor über sich gebeugt. Rings umher in dem Zimmer lagen zerstreut Papiere, Bücher, Wäsche und Kleidungsstücke. In einer Ecke stand ein offener, halbgepackter Reisekoffer. Es schien ihr, als ob Gottfried im Begriff stände, eine längere Reise anzutreten, und in seinen Vorbereitungen von ihr gestört worden wäre.

»Um des Himmels willen!« sagte er, nachdem sie sich erholt hatte. »Was hat das alles zu bedeuten? Was führt dich, Sie zu mir? Erkläre mir, was ist vorgefallen?«

»Du sollst alles erfahren,« versetzte sie errötend, »damit du urteilen kannst, ob ich wirklich so schuldig bin, wie du glaubst.«

Tief bewegt erzählte Julie dem stumm zuhörenden Doktor die Geschichte ihrer Liebe vom ersten Tag bis zum letzten Augenblick, ohne eine Thatsache zu verschweigen oder zu beschönigen, ohne Oswald anzuklagen oder sich zu entschuldigen. Sie gab ihm Rechenschaft von ihren Gefühlen und ließ ihn in die Tiefe ihres reinen Herzens blicken. Jedes ihrer Worte trug den Stempel der lauteren Wahrheit und zeugte für ihre Unschuld.

Anfänglich sprach sie leise, mit niedergeschlagenen Augen, aber nach und nach belebte sich ihre Stimme, strahlten ihre Blicke, röteten sich ihre bleichen Wangen von jungfräulicher Scham. Während sie so redete, erhellte sich das düstere Gesicht des Doktors immer mehr und mehr; sein altes, mildes Lächeln kehrte wieder und das frühere Vertrauen erfüllte die gequälte Brust mit neuer Hoffnung und namenloser Freude.

»Und nun,« sagte sie tief bewegt, »weißt du alles und kennst mich wie Gott mich kennt. Ich gestehe, daß ich schwer gefehlt und deiner Liebe nicht mehr würdig bin. Deshalb geb' ich dir dein Wort zurück und –« Sie vermochte nicht weiter zu sprechen, denn ein Thränenstrom erstickte ihre Stimme.

»Nein, nein!« rief Gottfried, ihre Hand ergreifend. »Ich lasse nicht von dir, denn ich liebe dich mehr als je.«

»Kannst du mir verzeihen?« fragte sie noch immer zweifelnd.

»Verzeiht mein der Unschuld, wenn sie sich täuschen läßt; klagt man die reine Sonne an, wenn eine Wolke sie verfinstert? Ich glaube an dich wie an die Wahrheit selbst, tote ich an Gott glaube.«

»O, nun ist alles gut,« flüsterte sie, an seine Brust gelehnt. »Nun will ich geduldig alles tragen, weiß ich doch, daß du mir verziehen und du mich liebst.«

»Und du?«

»Ich glaube, daß ich gestorben wäre, wenn du mich verstoßen hättest, daß ich nicht leben kann ohne dich,« versetzte sie, den Glücklichen fest umschlingend. »Jetzt weiß ich erst, was die wahre Liebe ist.«

Noch an demselben Tage reiste Oswald nach Italien, wo er mehrere Monate verweilte. Bald nach seiner Rückkehr erfüllte er den Herzenswunsch seiner Mutter, indem er sich mit Fräulein Agathe von Binder verlobte. Gleich darauf wurde er zum Legationsrat ernannt und zur Gesandtschaft nach Petersburg versetzt. Er machte eine schnelle glänzende Karriere, da er für einen der fähigsten, jüngeren Diplomaten galt. Mit Titeln, Orden und Auszeichnungen überhäuft, lebte er an der Seite seiner schönen, stolzen Gattin unter den günstigsten Verhältnissen am russischen Hof, wo er sich einer großen Beliebtheit erfreute.

Mitten in seinem viel beneideten Glück überfällt ihn zuweilen eine rätselhafte Traurigkeit, welche die Aerzte für eine Nervenabspannung infolge angestrengter Arbeit erklären. Dann zieht er sich von der ihn ungern entbehrenden Gesellschaft zurück und schließt sich in sein Zimmer ein. In diesen trüben Stunden denkt er mit Wehmut an die Zeit seiner einzigen und wahren Liebe. Auch Agathe ist nicht ganz befriedigt, da ihre Ehe kinderlos ist. Trotzdem gelten beide für ein wahrhaft glückliches Paar, das andern häufig als Muster aufgestellt wird.

Julie und der Doktor verließen gleich nach ihrer Trauung die Residenz und das Haus der Präsidentin, um eine von Gottfried in seiner Verzweiflung beabsichtigte Reise nach dem Orient und Griechenland zu den Ausgrabungen von Olympia anzutreten. Unter dem blauen Himmel Griechenlands verlebten die für immer Verbundenen Tage und Wochen des reinsten Glückes und der höchsten Wonne. Ein neues bedeutendes Werk, das dem Doktor die Professur verschaffte, war das Resultat der in jeder Beziehung interessanten Reise, und ein reizender Knabe, der die Freude seiner Eltern ist, kehrte mit ihnen heim.



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