Rainer Maria Rilke
Worpswede
Rainer Maria Rilke

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Fritz Overbeck

Landschaftsmaler und Radierer, geboren Bremen 15. September 1869, gest. 7. Juni 1909 Bröcken bei Vegesack. Schüler der Düsseldorfer Akademie 1892. Von 1894 bis 1906 in Worpswede. Mitglied der Kolonie.

Als Modersohn und Mackensen im Herbst 1891 wieder einmal nach Düsseldorf und in den »Tartarus« kamen, da fanden sie lauter neue Leute und wenig bekannte Gesichter. Die Gäste aus Worpswede erregten Neugier und Staunen. Keiner von den jungen Leuten konnte sich denken, daß es möglich sei, auch im Winter in irgendeinem Dorf zu sitzen, einzuschneien und der Welt den Rücken zu drehen. Und einer, der sich besonders wunderte, kam auf Otto Modersohn zu und, da er, obwohl er schweigsam schien, zu reden pflegte, wenn die Zeit zum Reden gekommen war, fragte er ihn, wie es möglich sei. »Worpswede? Das kenne ich wohl«, sagte er, »ich bin Bremer.« Und, einmal im Gange, fragte er weiter, wie es denn da auf dem Dorfe sei. Man konnte merken, er hatte nicht übel Lust, es selbst zu erproben. Modersohn besah sich aufmerksam den breitschultrigen, bartlosen jungen Mann mit der schweren, gedrungenen Gestalt, der damals bei Jernberg arbeitete und dessen liebstes Wort »unbändige Naturkraft« war. Er lud ihn ein zu kommen. Und es dauerte nicht lange, daß er kam und blieb. Es war Fritz Overbeck.

Worpswede war auch für ihn das Ereignis. Anders als für Modersohn. Er hatte hier nicht die Sprache gefunden, in der er seine Seele sagen wollte. Er dachte gar nicht daran, sie zu sagen: er war kein Dichter. Es träumte irgendwo in ihm hinter einer dicken Schale von Schweigsamkeit, und er brauchte ein Gegengewicht dafür in der Welt. Deshalb malte er, malte die Dinge nach seinem Ebenbilde, stark, breitschultrig und voll von einer schweren Schweigsamkeit. Und hier waren sie nun so oder vielleicht sah er sie so, jedenfalls kamen sie seinem Schauen entgegen, gingen auf ihn ein, und ihre klangvollen Farben und die Behäbigkeit ihrer Formen und die Stille, mit der sie dastanden: alles das gab ihm das Gefühl von einer Wirklichkeit, die um ihn war, und eben das brauchte er: Wirklichkeit.

 

Fritz Overbeck malt, wie manche Leute Musik machen: sie spielen, und das Stück, das sie spielen, ist stark oder sanft, gewaltig oder erwartungsvoll; aber, obwohl sie es ganz meisterhaft spielen, sind sie selber nicht drin, sie spielen es, um irgendwo zu Hause zu sein, nicht in dem Liede, irgendwo, wo sie sind. So malt er: nur daß seine Bilder das Gegenteil sind von Musik. Musik löst alles Vorhandene auf in Möglichkeiten und diese Möglichkeiten wachsen und wachsen und vertausendfältigen sich, bis die ganze Welt nichts ist als eine leise schwingende Fülle, ein unabsehbares Meer von Möglichkeiten, von denen man keine einzige zu ergreifen braucht. Auf seinen Bildern aber setzt sich alles zur Wirklichkeit um, füllt sich, verdichtet sich. Sogar seine Himmel sind Tatsachen, an denen man nicht vorüber kann. Wenn er sie wolkenlos malt, dann ist es die kräftige Farbe, die sie stofflich macht, aber viel öfter stehen Wolken in ihnen, greifbar und groß, Wolkendörfer, eine Wolkenstadt. Auch seine Mondnächte sind so, voll eines Himmels, der zur Erde gehört, der schwer geworden ist und sich daran gewöhnt hat, mit den Dingen zu leben. Es ist eine große, rührende, kindliche Bejahung der Welt in dieser herzlichen, handfesten Malerei. Nirgends kann ein Zweifel aufkommen, es gibt nichts, was ungewiß wäre, überall steht es in breiten Lettern: Est, est, est!

Man betrachte seine Radierungen. Eine der ältesten gleich mit der Brücke und der Mühle und dem Berg in der Ferne bestätigt, was hier zu sagen versucht worden ist. Ja sie weist sogar noch darüber hinaus. Sie spricht von der Kunst, die Massen im Raume zu verteilen; hier ist mit ihnen hantiert worden wie mit Dingen. Die einen sind gleichsam hineingestellt, andere hineingeschoben, und die Balken der Brücke scheinen vom Berge her an ihren Platz geschleudert worden zu sein. Das alles sitzt, und man mag daran rütteln, es rührt sich nicht. Und die andere Brücke, genannt: Stürmischer Tag. Hier scheint es gelungen, den Sturm selbst zu einem Dinge zu machen. Er füllt das ganze Blatt aus, und Gräser, Büsche und Bäume scheinen nur seine Konturen zu sein. Die Birken aber, denen man ansieht, daß sie im Wehen gewachsen sind, zeugen von hundert Sturmtagen und Sturmnächten. Immer wieder findet man sie bei ihm, diese viel zu langen Birken mit den Bewegungen des Windes, dem sie nachgegeben haben und über den sie schließlich doch wieder hinausgewachsen sind in lautlos stehenden Sommertagen. Auch in ruhigen Morgen- und Mittaglandschaften, wenn die Wassergräben einen fröhlichen oder trägen Himmel wiederholen, winden sie sich manchmal hinauf, diese aufgeregten Birkenstämme, wie beunruhigt von ihrer Vergangenheit. Und sie scheinen dann durch ihren bizarren und eigensinnigen Kontrast die Stille ihrer versöhnten Umgebung noch zu vertiefen.

Es sind fast dieselben Motive, die Overbeck auf Radierungen und Bildern verwendet, und durch seine Malerei wie durch seine Schwarzweißkunst geht dasselbe Streben wie ein breiter Strom: Einzelheiten in ihrer ganzen Pracht hinzustellen, ohne dadurch den Gesamtwert aufzuheben. So oder ähnlich hat er selbst früher einmal ausgesprochen, was er will. Und er setzt seinen Willen durch. Er hat seine Kunst damit ganz charakterisiert, und man tut gut, jenen Satz als Maßstab zu gebrauchen vor seinen Bildern. Man wird gegen sie am gerechtesten sein, wenn man untersucht, inwieweit in ihnen die Absicht des Malers erreicht worden ist. Es ist zu sagen, daß er in vielen Radierungen und in einigen Bildern der Erfüllung sehr nahe gekommen ist. In den Bildern kommt die Farbe hinzu, welche fähig ist, dem Bestreben, Einzelheiten in ihrer ganzen Pracht zu erfassen, sehr zu helfen; aber durch sie wird zugleich die Aufgabe erschwert, über die Einheitlichkeit des Ganzen an keiner Stelle hinauszugehen. Es ist nicht leicht, erhobene Stimmen in gleicher Stärke zu erhalten, und die Freude am einzelnen ist immer eine Gefahr für den Zusammenhang.

Seltsamerweise sind die Bilder Overbecks, obwohl ihre Farben mit erhobenen Stimmen verglichen werden konnten, von einer eigentümlichen Schweigsamkeit durchdrungen, die kein Laut unterbricht. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Farbenstimmen sich gegenseitig aufheben, wie es manchmal mit den Geräuschen des Meeres der Fall ist, die man nicht mehr hört und als die Fülle eines unermeßlichen Schweigens zu empfinden geneigt ist, oder ob dieses Gefühl irgendwie inhaltlich begründet ist und durch den Umstand hervorgerufen wird, daß auf Overbecks Bildern fast nie eine Figur erscheint. Wo eine einmal vorkommt, ist sie so unwichtig, auch räumlich meistens so wenig dringend bedingt, daß man sie ruhig zudecken kann, ohne dem Wesen des Bildes auch nur im entferntesten Zwang anzutun. Aber seine Landschaften, wenn sie auch ohne Gestalten sind, machen doch nicht den Eindruck der Einsamkeit. Die Mondnächte und Sonnenuntergänge liegen vor einem offen da, als wäre man eben aus der Stube, wo liebe, nahe Menschen um ein Feuer beisammen sitzen, herausgetreten. Wohl rührt sich draußen nicht ein Blatt am Baum und es ist, soweit man sieht, niemand zu sehen, nicht einmal ein Hund schlägt an in der Nachbarschaft, aber man ist doch, während man da hinausblickt, ganz erfüllt und gleichsam durchwärmt von dem Bewußtsein jener nahen stillen Stube, in die man jeden Augenblick zurückkehren kann. Und die großen leuchtenden Tage, die er malt, sind lauter Sonntage, und die Leute sind dann alle zu Hause oder in der Kirche und ruhen aus vom langen Wochenwerk. Die Blicke feiernder Menschen scheinen auf dieser weiten, kräftigen Natur zu ruhen und aus ihr herauszustrahlen.

 

So ungefähr sechzehn Jahre mochte der junge Overbeck gewesen sein, als er anfing draußen vor der Natur zu zeichnen und zu malen. Wie wenig ernst seine Mutter übrigens damals seinen Plan, Maler zu werden, noch nahm, beweist der Umstand, daß sie ihm bei einer Dame Unterricht geben ließ, wo der schweigsame junge Mensch unter lauter ähnlich beschäftigten Backfischen eine äußerst merkwürdige Rolle spielte. Inzwischen absolvierte er langsam das Gymnasium und setzte den aufgeregten Bemühungen, die man machte, ihn von der unseligen Idee mit der Malerei abzubringen, nichts als seinen breiten Rücken entgegen, was ihm auch schließlich nach Düsseldorf verhalf. Die Akademie bildete damals natürlich den Inbegriff alles Heiles für ihn, aber er vergaß, wenn er das später einmal erzählte, niemals hinzuzusetzen: »Jetzt aber nicht mehr.«

Seine Ausdrucksweise hat, wie man sieht, etwas ungemein Überzeugendes und Klares, und diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß er im Jahre 1895, als alle Welt von Worpswede wissen wollte und kein Mensch imstande war, etwas davon zu erzählen, selbst zur Feder gegriffen hat, um in der »Kunst für Alle« von seiner und seiner Freunde Wahlheimat sachgemäß zu berichten. Was er damals geschrieben hat, ist seither oft und oft zitiert worden, aber man wird sich vielleicht trotzdem freuen, einige seiner schlichten Worte, die am besten zeigen können, wie dieser Maler sein Land sieht, hier wiederzuerkennen.

»Ein Hauch leiser Schwermut liegt ausgebreitet über der Landschaft. Ernst und schweigend umgeben weite Moore und sumpfige Wiesenpläne das Dorf, das, als suche es einen Zufluchtsort gegen unbekannte Schrecknisse, sich an dem steilen Hange einer alten Düne, dem Weyerberge, zusammendrängt. Wirr und regellos durcheinander zerstreut liegen Häuser und Hütten, beschirmt von schwerlastenden, moosüberkleideten Strohdächern und knorrigen Eichen, an deren weitausladenden Wipfeln sich machtlos die Stürme brechen, über dem Dorfe wölbt sich der »Berg«, zerklüftet von zahlreichen Rinnsalen, die das abfließende Regenwasser sich ausgewaschen, gekrönt mit einem verkümmerten Eichenbuschwald. In dessen Mitte erhebt sich auf freiem, mit alten Föhren umgebenem Platz ein Obelisk, zum Gedächtnis Findorffs, des Mannes, der im Anfang dieses Jahrhunderts die Gegend urbar gemacht, das Moor entwässert und dem Verkehr erschlossen hat. Aus wuchtigen Granitquadern aufgeschichtet, ragt das Monument in seltsamer Feierlichkeit gen Himmel. Von der einsamen Höhe schweift weithin der Blick ins Land hinaus, über Moor und Heide, Felder und Wiesen. Dunkle Eichenkämpe, die in ihrem Schatten spärliche Gehöfte der Bauern bergen, unterbrechen hin und wieder die Monotonie der großen Ebene. Wasserläufe blitzen auf und der Spiegel der schlangengleich gewundenen Hamme, darauf in stiller geheimnisvoller Fahrt schwarze Segel durchs Land ziehen. Darüber spannt sich der Himmel aus, der Worpsweder Himmel . . .«


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