Wilhelm Heinrich Riehl
Der Stadtpfeifer
Wilhelm Heinrich Riehl

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4.

Es kam zu jener Zeit an jedem Sonntage ein Kapuziner von Wetzlar nach Weilburg, um den wenigen Katholiken des streng protestantischen Städtchens privatim die Messe zu lesen. Es war eine ehrliche Haut; auch die Protestanten hatten den gemütlichen Kuttenmann gern; vor allem aber liefen ihm die Kinder scharenweise nach, War er bei Laune, dann konnte er stundenlang Anekdoten und Schnurren an einer Schnur erzählen, die in seiner niederrheinischen Mundart vorgetragen, den Weilburgern doppelt possierlich klangen. So ward er zuletzt fast in allen Häusern bekannt und suchte sein Mahl bei Gastfreunden aller Art, bei Ketzern wie bei Rechtgläubigen. Selbst auf den Schloßturm verirrte er sich mitunter; denn er kannte den Stadtpfeifer von den Jahren her, wo derselbe den Weg nach Wetzlar zweimal in der Woche nicht gescheut hatte, um das gefundene Kind großziehen zu können.

Am späten Nachmittage nach dem mit Neubauer so heiter verschwatzten Abend, trat der Kapuziner wieder einmal in die Turmstube, grüßte freundlich und schaute sich neugierig nach dem Stadtpfeifer um, der in Hemdärmeln am Fenster saß, im Gesangbuch lesend.

»Man hat Euch heute gar nicht in der Stadt gesehen, Kullmann«, sprach der Kapuziner lächelnd. »Ich dachte schon, Ihr seiet krank. Da hörte ich, daß wenigstens Euer ziegelroter Rock in der Stadt umherspaziere und großes Aufsehen mache, und schloß nun, es möge Euch wohl gehen wie Epaminondas, der auch zu Hause bleiben mußte, wenn er seinen Sonntagsrock einem fahrenden Musikanten gepumpt hatte; denn er besaß nur einen einzigen, wie Ihr und ich.«

Der Stadtpfeifer erschrak über die mögliche Entweihung seines Rockes, und der Kapuziner war sogleich bereit zu erzählen, was er gehört.

»Einen schönen Lärm gab's vor einer Stunde im ›Goldenen Löwen‹, als Neubauer in Eurem stadtbekannten ziegelroten Rock den Wein spürte. Zuletzt fing er gar Händel an mit einem seltsam kleinen fremden Schneider, der ruhig seinen Schoppen trank, und da der Beleidigte ihm seine Grobheiten zurückgab, faßte der berühmte Maestro den Schneider beim Kragen, hängte ihn mit der Schlinge des Rockes an einen großen Haken neben der Tür und drosch dann mit einem Selterser-Wasserkruge auf das Schneiderlein los, bis der Henkel abbrach und der Krug in Scherben auf den Boden fiel. Die Zuschauer lachten über dieses Bild, daß sie hätten bersten mögen. Ich hörte im Vorbeiziehen den Jubel, da wagte ich mich auf den Flur des Wirtshauses, um zu hören, was es gäbe und« –

»Und solch einen Gesellen hast du deinen ziegelroten Sonntagsrock anziehen lassen, Heinrich!« fiel Frau Christine ein.

»Der Rock macht's allein nicht aus, obgleich der ziegelrote, mein Hochzeitsrock, seit achtzehn Jahren immer ein wahrer Ehrenrock gewesen ist«, erwiderte gelassen der Stadtpfeifer. »Aber nun will ich auch nicht mehr glauben, daß dieser Patron meinem Friedrich den Weg nach Wien auftun kann. Was war ich für ein Tor, daß ich eine Weile den Lügen und Prahlereien des liederlichen Buben traute!«

»Wovon redet Ihr?« fragte der Kapuziner neugierig, und der Stadtpfeifer erzählte ihm, wie Neubauer versprochen habe, seinem Friedrich zu einer Gönnerschaft zu verhelfen, daß derselbe nach Wien gehen und dort Schule machen könne.

Der Kapuziner zog ein ernsthaftes Gesicht, strich sich den langen Bart und sprach mit Gravität: »Herr Stadtpfeifer, Leute, denen man's nicht zutraut, können uns auch wohl empfehlen, daß es durchgreift, und es ist schon mancher bei Hofe weiter gekommen durch die Protektion der Kammerjungfer als durch die Protektion der Fürstin. Ich will Euch etwas erzählen. Vor ungefähr zehn Jahren war ein junger Maler in Köln, der hatte viel gelernt und wollte nach Paris gehen, um sich dort ein großes Stück Geld zu verdienen. Vier Wochen lang läuft er bei allen Baronen und Prälaten umher und bettelt sich ein ganzes Ledersäcklein voll Empfehlungsbriefe zusammen, und die zeigt er jedermann und spricht: ›Seht, wer fortkommen will, der muß hohe Empfehlungen haben.‹ – Wie er nun eines Tages an der Martinskirche vorübergeht, da ruft ihm der Fuhrmann Müller aus seinem Häuschen zu: ›Herr Gevatter, Ihr wollt nach Paris gehen?‹ – ›Ei freilich, soll ich Ihm etwas ausrichten?‹ – ›Nein! Aber Ihr werdet Empfehlungen brauchen; ich will Euch einen Brief mitgeben. Sprecht morgen bei mir vor, bis dahin soll er fertig sein.‹ – Der Maler versprach's und lachte. Ein Frachtfuhrmann wird auch die rechten Verbindungen in Paris haben! – Nach drei Wochen führte ihn ein Zufall wieder an der Martinskirche vorbei; der Fuhrmann stand vor der Haustür und schirrte sein Pferd an. – ›Herr Gevatter! Ihr habt ja Euren Empfehlungsbrief nicht abgeholt! Wartet ein Weilchen, ich bringe ihn gleich herunter.‹ – Und ob der Maler wollte oder nicht, er mußte das Schreiben nehmen und steckte es unbesehen in die Tasche.

In Paris erging's ihm wunderlich. Für sein Ledersäcklein voll Briefe sagten ihm die vornehmen Pariser mehr Artigkeiten in einer Woche, als die Kölner in fünf Jahren, aber Arbeit wollte ihm kein Mensch verschaffen. Als ein Monat um war, hatte er all sein Geld verzehrt, und er durchsuchte eben den Koffer, ob nicht ein paar Heller unter die schwarze Wäsche geraten seien: da sieht er ganz unten den Brief des Fuhrmanns Müller aus einem zerrissenen Strumpf hervorgucken. Zum ersten Male kommt ihm die Neugierde, die Adresse zu lesen. Der Brief war gerichtet an den ersten Kammerdiener des Königs. Gleich läuft der Maler ins Schloß; der Kammerdiener ist nicht zu sprechen, er liest eben Sr. Majestät die Zeitung vor. Aber seine Frau ist zu Hause. Statt auf französisch begrüßt sie den Überbringer des Briefes auf kölnisch. Sie ist ja die Tochter des Fuhrmanns Müller. Sie schilt den Maler, daß er den Brief so spät abgebe. Heiliger Antonius, wie hätte der es ahnen sollen, daß eines Kölner Frachtfuhrmanns Kind auch einmal einen königlichen Kammerdiener in Paris heiraten kann! Als der Kammerdiener heimkommt, freut er sich mit seiner Frau über den kölnischen Landsmann, und nun geht's Schlag auf Schlag. Binnen acht Tagen sitzt die Majestät dem deutschen Maler; das Bild gelingt, Prinzen und Herzoge wollen von ihm gemalt sein, der Mann wird Mode in Paris, und als er nach drei Jahren wieder gegen den Rhein zog, da war das Ledersäcklein, worin die Empfehlungsbriefe gewesen, mit Louisdors gefüllt – alles durch die Protektion des Frachtfuhrmanns hinter der Martinskirche.«

Der Kapuziner hatte kaum das letzte Wort gesprochen, so klopfte es an die Türe. »Herein!«

Der Stadtpfeifer stand wie vom Schlage gerührt: der Fürst selber war es, der eintrat, und hinter ihm Neubauer, so nüchtern wie möglich, im ziegelroten Sonntagsrock.

»Ich muß unsern Schützenkönig einmal in seiner hohen Residenz besuchen«, rief der Fürst, dem Stadtpfeifer herzlich die Hand schüttelnd. »Daß Er im Schießen ein Wundertäter, habe ich ehvorgestern gesehen; nun erzählt mir mein neuer Hofkapellmeister Neubauer« – Frau Christine machte gewaltig große Augen bei diesem Wort –, »daß Er und sein Friedrich auch in der Musik wahre Wundermenschen seiet, daß ihr, gleichsam als musikalisches Zwillingspaar Duette geigtet, wie man sie in Wien nicht hören könne. Er nannte euch beide die größte Merkwürdigkeit, die gegenwärtig in Weilburg existiere. So bin ich denn alsbald auf Euren Turm gestiegen, damit man mir nicht nachsage, ich suche das Schönste in der Ferne, während ich es doch in meinem eigenen Schlosse habe.«

Der Stadtpfeifer stand regungslos wie ein Türpfosten während dieser Anrede – er war ja in Hemdärmeln! Außer dem Staatsrock, worin der neue Hofkapellmeister prangte, besaß er nur noch ein ganzes und ein zerrissenes Kamisol, beide für die Werktage bestimmt, und ein Kamisol konnte er doch nicht eigens zu Ehren des fürstlichen Besuches anziehen!

Christine hatte schon zweimal Neubauer am Ärmel gezupft, ihn bittend und beschwörend, daß er in die Seitenkammer gehen und ihrem Mann den roten Rock ausliefern möge. Vergebens! Er blieb taub!

Der Fürst ließ Friedrich herbeirufen und unterhielt sich eine Weile freundlich mit dem Jungen. »Nun zu den Geigen!« rief er dann mit erhobener Stimme. »Ich möchte auch eines von den schönen Duetten hören, Stadtpfeifer, und bitte meines Vetters, des Herrn Schützenkönigs Liebden, mit rechtem empressement um diese Gunst.'

Der Stadtpfeifer blieb regungslos und schweigend wie vorher und gab nur zuweilen durch tiefe Verbeugungen ein Lebenszeichen von sich. Während der Fürst mit Friedrich sprach, hatte er gegen Neubauer halblaut hinübergerufen: »Gebt mir meinen Rock! Hört! Meinen Rock! Den Rock, oder ich schlage Euch nachher Arme und Beine entzwei!«

Der Fürst blickte den versteinerten Stadtpfeifer staunend an. Da trat Neubauer mit zierlicher Verbeugung vor und sprach: »Ich erzählte Ew. Durchlaucht schon, daß mein Freund die Grille hat, nur bei verschlossener Tür zu geigen, daß er nur im Duett ein Meister ist, keineswegs aber, wenn er allein spielt. Ich vergaß noch eine andere Eigenheit. Er kann nur in Hemdärmeln so vortrefflich spielen; sobald er den Rock anzieht, wird die Geigenhaltung unsicher, der Bogenstrich steif. Ich bitte darum meinen gnädigsten Herrn in meines Freundes Namen, ihm für die Ablegung der ersten Probe seiner Kunst vor einem so hohen Kenner zu dem übrigen auch noch die Hemdärmel nachzusehen.«

Der Fürst lachte herzlich. »Die Bitte ist gewährt! Was doch so einem Musiker für Ratten durch den Kopf laufen! Aber flugs zu den Geigen! Stadtpfeifer, ich verlange viel von einem Duett in Hemdärmeln!«

Als nun Vater und Sohn ihre Instrumente richteten, war es seltsam zu sehen, wie gewandt, fein und doch so bescheiden Friedrich sich zu benehmen wußte, während der Alte so hölzern war, als seien die Hemdärmel eine Eisenrüstung, und vor dem Fürsten scheu die Augen niederschlug, dem neugebackenen Hofkapellmeister aber Blicke voll tödlicher Wut zuwarf. Frau Christine verlor ganz den Kopf über die Vermessenheit ihres Mannes, Duett vor den durchlauchtigen Ohren des Fürsten und den kritischen Neubauers zu spielen. Der Kapuziner hatte sich auf ihre Bitte davongeschlichen, um unten im Schlosse beim Küchenmeister einen Rock zu borgen.

Das Duett klang anfangs etwas rauh und steif. Der Stadtpfeifer gedachte noch mehr der Hemdärmel als der Musik. Doch, da er dem Sohne wieder Aug' in Auge sah, schwanden ihm diese Gedanken. Es klang allmählich wie sonst; die Zuhörer waren vergessen. Friedrich blickte voll kindlicher Unbefangenheit aufwärts; der Alte sah herab mit Blicken, die so hell glänzten, daß man nicht wußte, ob vor Tränen oder vor Freude. Ja, das war ein Duett! Es war das allerschönste, welches jemals in der Pfeiferstube gegeigt worden ist. Wer's nur auch mit angehört hätte! Zuerst mußte der Stadtpfeifer die Hemdärmel vergessen; jetzt sah aber auch der Fürst die Hemdärmel nicht mehr. Die Wände hallten wider von dem lauten Lobe; doch diejenigen, denen es galt, hörten es kaum, so tief waren sie ergriffen von dem eigenen Spiel.

»Hört«, sprach der Fürst und faßte den Stadtpfeifer bei der Hand. »Euer Sohn muß nach Wien, nach Italien, daß er ein ganzer Meister wird. Rüste Er allmählich seine Abreise. Was zur Ausstattung fehlt, lasse Er bei mir fordern; die Reise- und Lehrkosten bezahle ich, und nach der Rückkehr wird sich ja wohl ein Platz in Unserer Hofkapelle für den jungen Hexenmeister finden.«

Der Stadtpfeifer hieß den Pflegesohn fortgehen, legte seine Geige nieder und sprach. »Ich würde in Freuden Dank sagen meinem gnädigsten Herrn, wenn mir die Tränen nicht zu nahe stünden. Ich glaube, heute hab' ich zum letzten Male gegeigt. Sehen Ew. Durchlaucht, ich bin eigentlich ein schlechter Musikant. Immer habe ich mich geplagt und konnte doch nichts zuwege bringen. Da ist mir dieser Bube vom Himmel herabgeschickt worden. Oft habe ich bei mir gedacht, ob Friedrich nicht mehr sei als ein bloßes Findelkind, so ein – wie soll ich sagen? – cherubimischer Genius der Musik, der einmal menschlicherweise hier unten geigen wollte, statt droben im Konzert der Engel die Harfe zu spielen. Dann wies ich aber meine Gedanken allezeit streng zurecht und sprach zu mir: Kullmann, sei nicht närrisch! Allein, wenn mir der liebe Gott am selben Abend das Geld für einen Laib Brot auf die Straße legte, warum soll er nicht auch eigens dieses Kind für mich dorthin gelegt haben, damit ich bei ihm ein Brot der Erquickung für meinen inwendigen Menschen fände? Als ich den Buben um Gottes willen aufzog, da ward ich inne, daß mir's wenigstens gegeben sei, in einem andern zu erwecken, was ich so deutlich in mir fühlte und doch nicht von mir geben konnte. Oh, wie tröstete mich das! Ich weiß nicht, war es ein Wunder oder hat es natürlich so sein müssen – nur mit Friedrich konnte ich meisterhaft spielen und bis daher auch nur insgeheim mit ihm. Es ist uns oft recht elend gegangen, gnädigster Herr, aber es ist doch kein Mensch in ganz Weilburg so glücklich gewesen wie wir armen Leute hier oben auf dem Turm, wenn ich mit Friedrich Duett geigte. Das ist nun aus und vorbei. Jawohl, Friedrich muß hinaus. Wie sollen wir Ew. Fürstlichen Gnaden dafür danken? Aber mit ihm zieht das beste Stück von mir fort. Und wer weiß, ob ich je wieder der ganze Stadtpfeifer sein werde, der ich gestern noch gewesen bin!«

»Ich will Ihm ja Seinen Friedrich nicht nehmen«, tröstete der Fürst tief ergriffen. »Er wird wiederkommen als vollendeter Meister, und Ihr werdet dann nicht bloß der ganze, sondern ein verdoppelter Stadtpfeifer sein.«

»Und doch ist mir's, als hätt' ich heute zum letzten Male gegeigt«, sprach Heinrich Kullmann leise vor sich hin, indes der Fürst dem lauten Dank sich entzog, für den jetzt Frau Christine Worte fand, und die Wendeltreppe hinabstieg.

Neubauer blieb noch einen Augenblick zurück. »Unglücklicher Mann«, rief er dem Stadtpfeifer zu, »warum habt Ihr meinen alten Reiserock, der nebenan in der Kammer hängt, nicht angezogen? Wäret Ihr nicht in den Hemdärmeln geblieben, so hätte Euch der Fürst hier auf der Stelle zum Hofmusiker ernannt: es war alles schon abgeredet!«

Der Stadtpfeifer trat gelassen näher, befühlte das Tuch seines eigenen ziegelroten Rockes und sprach: »Das Kleid sitzt Euch wie angegossen. Seht, Ihr seid gleich an den rechten Mann gekommen, in ganz Weilburg ist vielleicht kein zweiter, dessen Rock Euch so schön gepaßt hätte; ich bin dagegen ein Unglücksvogel, und wo mir endlich einmal der Hirsebrei fürstlicher Gnade geradezu vor dem Mund niederregnet, habe ich keine Schüssel, um ihn aufzufangen.«

Neubauer eilte dem Fürsten nach. In dem Augenblick, da er die Stube verließ, trat der Kapuziner atemlos zur andern Tür herein, den Rock des Küchenmeisters auf dem Arm.

»Zu spät!« rief der Stadtpfeifer und warf sich todesmüd auf einen Stuhl.

»Zu spät?« wiederholte der Kapuziner. »Dann will ich ungesäumt in den ›Goldenen Löwen‹ gehen, um zu erkunden, wie es Neubauer angefangen, daß er innerhalb einer Stunde ganz besoffen den Schneider mit dem Kruge prügelt und dann wieder fast wie nüchtern dem Fürsten aufwartet, so gewandt, als sei er auf dem Parkettboden zur Welt gekommen. Dieser Neubauer ist ein Mann, den man bewundern und studieren muß!«

 

In wenigen Tagen trat Friedrich die Reise nach Wien an.

Nun ward es still in der Turmstube. Der Stadtpfeifer blies nur noch im Dienste und im Geschäft. Die Geige hing im Schrank; Kullmann wollte sie nicht anrühren, bis er wieder mit Friedrich Duett spielen könne. Nur wenn zuzeiten ein Brief aus Wien kam mit erwünschter Nachricht über des Sohnes Wohlbefinden, ja wohl gar mit einem beigeschlossenen eigenhändigen Schreiben Joseph Haydns – dem Stadtpfeifer zitterte allemal die Hand, wenn er das Siegel des vergötterten Meisters erbrach – über Friedrichs unerhörte Fortschritte, nur dann ging er langsam zum Schrank und schaute sich die Geige vergnügt wehmütig an; aber um keinen Preis würde er einen Strich darauf getan haben.

So verging ein halbes Jahr gar stille, und es war Winter geworden. Kapellmeister Neubauer hatte sich festgesetzt bei Hofe und die ganze Hofkapelle umgewälzt. Doch der Erfolg sprach für seine kecken Neuerungen. Minderen Beifall fand es, daß er allwöchentlich bald vor diesem, bald vor jenem Wirtshause um Mitternacht selber in bedenklichen Umwälzungen gefunden und vom mitleidigen Nachtwächter heimgetragen wurde.

Nach Neujahr kam eines Morgens der Kalikant der Hofkapelle auf den Turm und übergab dem Stadtpfeifer ein dickes Paket. Neubauer war ausdauernd gewesen in seiner Dankbarkeit von wegen des ziegelroten Rockes; er hatte nicht geruht beim Fürsten, bis er allmählich dessen Abneigung gegen den allzu grillenhaften Stadtpfeifer besiegte. Das Paket enthielt ein Anstellungsdekret als Hofmusikus für Heinrich Kullmann. An den Rand hatte jedoch der Fürst die eigenhändige Bemerkung geschrieben:

»Notabene: Im Hofkonzert wird nicht in Hemdärmeln gegeigt.«

Heinrich und Christine feierten einen Tag stiller Freude. Zum Jubeltag wollte derselbe nicht werden, denn es war dem Ehepaar fast wehmütig, die altgewohnte Turmstube zu verlassen, wo sie so viel Leids und Liebes einträchtig zusammen erlebt.

Gegen Abend ging der Stadtpfeifer zu Neubauer, um ihm zu danken. Er fand den jungen Wüstling in auffallend ernster, weicher Stimmung. Als er ihm seinen Dank aussprechen und seine Freude über das unverhoffte Glück bekunden wollte, unterbrach ihn Neubauer. »Seid stille, Meister! Was ist alles Menschenwerk und Menschenhoffen! Wir sind wie Gras auf den Wiesen, das am Morgen noch stolz stehet und am Abend abgemäht ist – ich weiß nicht mehr genau wie der Spruch heißt, aber er klingt ungefähr so. Und daß ich's kurz sage – denn Ihr seid ja ein Mann, und ich bin kein Pastor –, heute früh habt Ihr einen Brief mit rotem Siegel erhalten; hier ist einer für Euch mit schwarzem – Morgenrot; trüber Abend –, lest ihn selber.«

Der Brief enthielt die Nachricht von Friedrichs Tode. Sein schwacher Körper hatte das Übermaß des Studierens, dem er sich hingab, nicht aushalten können. »Der Tod will seine Ursach' haben«, bemerkte Neubauer zu dieser Stelle, die sie beide nicht ganz fassen konnten, und der Stadtpfeifer fügte hinzu: »So oder so: ich habe es voraus gewußt, daß ich mein Kind nicht wiedersehen würde.«

In den ersten Tagen der Trauer saß Kullmann oft stundenlang im dunkelsten Winkel der Stube, blickte auf den Boden und faltete die Hände über dem Knie. Und als die Frau ihm freundlich zuredete in dieser Trübsal, sprach er: »Weib, tröste mich nicht. Jetzt bin ich mehr als Hoftrompeter, ich bin wirklicher Hofmusikus und habe satt zu essen; o wäre ich wieder Stadtpfeifer und wir blieben hier auf dem Turm und wären hungrig und – hätten unsern Friedrich wieder! Ach, es war mir immer im Gemüte, daß der Junge zu gut und zu zart sei für diese Welt!« Dann aber richtete er sich plötzlich hoch, reichte der Frau die Hand und vollendete in männlicher Fassung: »Wir wollen dennoch nicht verzagen. Der Haussegen, den uns Gott gegeben, weil wir uns dieses Kindes erbarmt, wird nicht von uns genommen sein. Schicke mir unsere drei Kinder herein, daß ich mit ihnen spiele und ihnen von Friedrich erzähle. Wer Trost sucht, der findet Trost.«

 

Der neue Hofmusiker zog vom Turm in eine Stadtwohnung, und jener Haussegen zog mit ihm, und bald war auch die stille Zufriedenheit des Pfeiferstübchens wieder heimisch geworden in dem neuen Quartier. Ein sonniges Alter war den Eheleuten nach so viel rauhen Jahren bereitet. Christine gedachte jetzt manchmal des Wirtes zu Beilstein, der ihr auf der Hochzeitsreise das Behagen des Sonnenscheins gepriesen, als sie Sturm und Regen so lustig gefunden hatte. Jetzt war sie zu des Wirtes Ansicht bekehrt.

 

Der Sonntagskuchen des elterlichen Hauses in Ebersbach tauchte nach mehr als achtzehnjähriger Pause mit einem Male wieder auf; zuerst kam er klein wie das erste Mondviertel auf den Tisch, dann größer, gleich dem Vollmond, dann gewaltig wie ein Mühlstein. Der Pater Kapuziner witterte den Kuchen, zu dem Frau Christine an Sonntagnachmittagen sogar ausnahmsweise einen Kaffee spendete, und ward nun ein Stammgast in Kullmanns Hause. Sowie noch ein dritter anwesend war, erzählte er dann mit großem Humor und alljährlich sich mehrenden sagenhaften Ausschmückungen die Geschichte von dem Konzert in Hemdärmeln. Als Neubauer schon längst sich zu Tode getrunken, ward seiner dabei immer noch dankend gedacht.

 

Heinrich Kullmann rührte keine Geige mehr an. In der Kapelle blies er die Hoboe. Als er Hofmusikus ward, hatte er sich jedoch vorbehalten, an besonderen Festtagen auf dem Turme den Choral mitblasen, ja ihn dann selber auswählen zu dürfen. Erst da die Stadtpfeiferei ein Ende nahm, fühlte er, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen war. So blieb er denn oben auf Weihnachten, Neujahr, Ostern und Pfingsten, und die Bürger merkten's gleich an dem vollen, feierlichen Klang, daß der alte Heinrich Kullmann wieder auf dem Turme stehe. Außer jenen Kirchenfesten hatte er sich aber auch noch für einen persönlichen Festtag die erste Posaune ausbedungen. Es war dies der 14. Juli, sein Hochzeitstag. Da überdachte er wohl in dämmernder Frühe beim Aufstehen die wunderbare Führung, mit der ihn Gott durch Leid zu Freud' gebracht, und freute sich des Segens, der nicht von seinem Hause gewichen war, obgleich er dasselbe in Leichtsinn gegründet, dann aber in Mut und Gottvertrauen gestützt und gefestigt hatte. Zweierlei war es, was ihm nach seiner Meinung diesen Segen beschert: daß er nicht bloß das Brot vom Wege aufgehoben, sondern mit dem Brote auch das Kind, und dann, daß er in dem Bauernmädchen von Ebersbach ein so unübertreffliches Weib gefunden. Was er von seinem verstorbenen Friedrich zu sagen pflegte, das sagten die Leute auch wohl von ihm: er sei fast zu gut für diese Welt und zu zart, und fügten dann hinzu: ein Glück, daß er eine so gestrenge, heftige Frau hat.

Mit frommen Gedanken, mit schmerzlich süßen Erinnerungen bestieg der ehemalige Stadtpfeifer am 14. Juli den Schloßturm. Dann aber stieß er oben so mächtig in seine Tenorposaune, daß es widerhallte von den Felswänden des engen Talkessels, und wie er die Töne aushielt, anschwellen und verklingen ließ, so machte es ihm keiner nach, ja er selbst konnte an keinem andern Tage blasen wie an diesem. Denn es schallte nicht bloß die Posaune, daß sie den rechten Ton gab, sondern der Stadtpfeifer sang auch inwendig bei sich den rechten Text mit, und es klang in ihm wie ein ganzer voller Chorgesang, wie ein Tedeum nach gewonnener Schlacht, wenn sie selb viere zu blasen anhuben:

        »Nun danket alle Gott
        Mit Herzen, Mund und Händen,
        Der große Dinge tut
        An uns und allen Enden;
Der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an
Unzählig viel zu gut und noch jetzund getan.«

Traten die Bläser ans gegenüberstehende Fenster, um den Choral zu wiederholen, dann schmetterte der Alte noch gewaltiger drein, denn er schaute nun hinunter auf sein Haus und sang im stillen den zweiten Vers des Liedes, und dieser lautete, als habe ihn Martin Rinckart ganz besonders gedichtet für unsern Heinrich Kullmann, den Stadtpfeifer von Weilburg:

        »Der ewig reiche Gott
        Woll' uns bei unserm Leben
        Ein immer fröhlich Herz
        Und rechten Frieden geben
Und uns in seiner Gnad' erhalten fort und fort
Und uns aus aller Not erlösen hier und dort.«


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