Wilhelm Heinrich Riehl
Der stumme Ratsherr
Wilhelm Heinrich Riehl

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Wilhelm Heinrich Riehl

Der stumme Ratsherr


Erstes Kapitel.

Hunde mitzubringen in die Ratssitzung einer Reichsstadt, war im Mittelalter gerade nicht der Brauch. Nun geschah es aber doch einmal, daß ein Hund fast sieben Jahre lang Sitz – wenn auch keine Stimme – in einem reichsstädtischen Rate erhielt.

Das kam also:

Gerhard Richwin, Bürger und Wollenweber in Wetzlar, war ein reicher Mann, weil sein Vater gespart und gearbeitet hatte. Dafür feierte nun der Sohn und vergeudete, und wenn er's noch zehn Jahre so fort trieb, so war er bis dahin vermutlich aus dem reichen der arme Richwin geworden.

In der Lahngasse, enggepackt zwischen anderen hochgiebeligen Häusern, stand Richwins Haus, ein stattlicher Holzbau, erst vor zehn Jahren von Grund aus neu aufgeführt, wie die Jahrzahl – 1358 – über der großen Türe bezeugte. Durch diese Türe trat man in die Verkaufshalle; denn Richwin handelte nicht bloß mit selbstgewebter Ware, sondern mehr noch mit fremden Zeugen und würde zur Kaufmannsgilde gezählt haben, wenn es eine solche in Wetzlar gegeben hätte. So aber gehörte er zur vornehmsten Zunft, zu den Wollenwebern, und innerhalb dieser zu einem kleinen vornehmen Kreise, den sogenannten »flandrischen Zunftgenossen«, vom Verkauf der kostbaren flandrischen Tücher also benannt; unter den vornehmen »Flandrischen« aber war Richwin wiederum der Reichste und Vornehmste, und es dünkte ihm, er sei doch fast um einen Kopf über die Zünfte überhaupt hinausgewachsen und auf ein Haar so groß wie ein Patrizier.

Durch die große Türe trat man, wie gesagt, in die Verkaufshalle; nämlich wenn man auf der Schwelle nicht über zwei böse Buben stolperte, die daselbst gewöhnlich zu spielen und zu raufen pflegten. Es waren Richwins ältere Kinder. Die jüngeren, zwei Mädchen, machten im oberen Geschoß der Mutter das Leben sauer; denn da es dem Vater zu langweilig war, Zucht zu üben bei den wilden Rangen, so lernten die Brüder jede Unart von selber und die kleinen Schwestern lernten die Unart von den Brüdern; die Mutter allein aber vermochte die unbändige Rotte nicht im Zügel zu halten.

Klagte die arme Frau Eva dem Manne ihr Leid wegen der Kinder, so hörte er mit dem rechten Ohre gar nicht zu und mit dem linken halb und gab keine Antwort oder, wenn er besonders achtsam war, eine verkehrte. So ging's auch in anderen Stücken. Gerhard merkte nicht, wie arg er seine Frau vernachlässigte; hätte er's gemerkt, er würde es besser gemacht haben; denn er hatte ein gutes Herz und liebte seine Frau. Aber Eva merkte um so mehr, daß er oft ganze Tage nichts mit ihr sprach, und wenn ja, so waren es kalte, zerstreute Worte, schlimmer als nichts.

Sie trug ihr Kreuz in Geduld und wußte doch nur zu wohl, daß es bald ein doppeltes Kreuz werden würde; denn sie sah den Verfall von Hab und Gut langsam, aber sicher heranschleichen, ohne ihm irgend steuern zu können.

Viel Unrechtes tat Gerhard Richwin nicht, er tat nur auch nichts Rechtes. Jedem Einfall, jeder Laune des Augenblickes gab er sich hin; diese Einfälle aber fielen, seltsam genug, niemals auf die Arbeit, welche im Augenblick zu vollführen dringend not war. Wenn es galt, in der Weberei nachzusehen, dann hatte er die größte Lust, auszureiten, und wenn er aufsitzen sollte zu einem Ritt nach den benachbarten Grafenschlössern in Weilburg, Dillenburg oder Braunfels, wo oft bedeutende Geschäfte abzuschließen waren, dann deuchte es ihm wunderschön bei den Webstühlen. Standen Käufer im Warenlager, dann schaute Meister Richwin wohl durchs Fenster seinen bösen Buben zu, sann, wie er ihrer Unart doch auch einmal wehren wolle, vergaß aber darüber geraume Zeit die Kunden und redete sie zuletzt mit grimmiger väterlicher Strenge an und fuhr mit der Elle ins Zeug, als wolle er die Käufer statt der Buben prügeln.

Die treuesten Geschäftsfreunde fühlten sich nachgerade doch gar zu säumig und grob behandelt, denn die Diener und Lehrlinge des Hauses schrieben sich des Meisters Beispiel hinters Ohr und wurden noch um einen Grad säumiger und gröber als er selber; kein Wunder also, daß es allmählich etwas stiller ward in Richwins berühmter Warenhalle.

Böse Zungen meinten, wenn das so fortgehe, dann werde Richwin bald der einzige Kunde seines Kaufladens sein, der beste sei er ohnedies schon. Er leuchtete nämlich in jener modesüchtigen Zeit allen anderen Bürgern vor durch reiches Kleid und steten Wechsel der Tracht, und sah man ihn im Prunkrock mit den langen Ärmeln, deren breite Tuchstreifen bis an die Füße reichten, in den buntgestreiften Hosen und spitzigen Schnabelschuhen, auf dem Kopfe die vorn und hinten aufgeschlagene Kugelmütze, das Haar geradlinig auf der Stirne abgeschnitten, indes nur rechts und links über den Ohren zwei Locken stehen geblieben waren, – dann konnte man glauben, er sei kein Zünftler oder Kaufmann, sondern ein Herr.

Hätte aber jemand Meister Richwin wegen seines Putzes einen Gecken genannt, so würde er das übel genommen haben, denn er war verletzbar wie ein geschältes Ei, und obgleich er des innerlich Unschicklichen wahrlich genug tat, fürchtete er sich doch grausam, gegen das äußerlich Schickliche zu verstoßen. Dieser Zug verkündete nun eben nicht den derben, geraden Bürgersmann. Und in der Tat hatten ihn seine Genossen, die Zünftler, im Verdacht, daß er auf zwei Achseln trage und aus Hoffart heimlich zu den Patriziern stehe.

Solch ein Verdacht aber war bitterböse in jenen Tagen; denn in den Gemütern der reichsstädtischen Zunftgenossen gärte es gewaltig. Die edlen Geschlechter tagten allein im Rat und beherrschten die Stadt; sie hatten neuerdings den gemeinen Säckel mit Schulden überbürdet, die Stadt in verderbliche Bündnisse und Fehden verstrickt, sie waren dem Volke von Grund aus verhaßt und das Maß ihrer Herrschaft schien voll zum Überlaufen. Eine Verschwörung der Zünfte gegen die Geschlechter wucherte auf, verborgen, aber weitverzweigt. Hatte doch so manche andere Reichsstadt in den letzten Jahren ihrem patrizischen Rate den Stuhl vor die Türe gesetzt: warum sollten die Wetzlarer ihre Patrizier nicht auch zum Teufel jagen können?

Und diesem stillen Wühlen, Planschmieden und Vorbereiten seiner Zunftbrüder gegenüber verhielt sich Gerhard Richwin kalt und zweideutig! Er war doch noch immer der vornehmste Mann der vornehmsten Zunft, hatte in den Trinkstuben großes Ansehen, und wenn sich auch die Geschäftsfreunde minderten, so mehrten sich doch die Zechfreunde; ein empfindlicher Mann, eigensinnig, gescheit, wenn er gescheit sein wollte, ein Mann, mit dessen Vermögen es bergab ging: war ein solcher nicht wie gemacht zum Demagogen? Es lohnte wohl der Mühe, ihn für die neue Sache zu gewinnen. Man winkte und flüsterte ihm zu, schmeichelte, beredete, drängte ihn. Es verfing alles nicht. Er hatte Freunde unter den Geschlechtern, und ihr hoffärtiges, eigenwilliges Wesen deuchte ihm ganz edel und fein. Überdies war Parteizucht dem Manne unbequem, dem jede Zucht mißfiel; er rührte sich nicht, wo er Hände voll Gold gewinnen konnte: wie sollte er sich rühren, wo vielleicht nur der Galgen zu gewinnen stand?

Zweites Kapitel.

In jenen aufgeregten Tagen hatte Richwin einen prächtigen jungen Hund zum Geschenk erhalten, der mindestens doppelt so aufgeregt war wie die Wetzlarer Bürger und dreimal so eigensinnig wie sein Herr, einen großen schwarzen Wolfshund von spanischer Rasse, kaum dreiviertel Jahre alt, noch ganz ungezogen, täppisch und allen Mutwillens voll.

Der Hund hieß »Thasso« und machte seinem Namen Ehre, welcher einen Schläger oder Streiter bedeutet. Denn Streiten und Raufen ohne Ende war seine Lust, und obgleich er, höchst gutartig, fast nur im Spiel kämpfte, so war doch ein Spiel mit Thasso nicht jedermanns Vergnügen. Ging ein ehrsamer Bürger auffallend raschen Schrittes durch die Straße, flugs sprang Thasso hintendrein und zupfte ihn neckisch am Wams, riß aber auch gleich einen handgroßen Fetzen Tuch mit herunter. Oder er sah ein Kind, sprang spielend zu ihm hin und warf es im ersten Anlauf mit seinen breiten Tatzen in die Gosse. Am ergötzlichsten aber war Thasso, wenn ein Reiter rasch vorbeitrabte. Gleich einem Raubtier setzte dann der Hund in Riesensprüngen dem Pferde nach, umkreiste es, hüpfte ihm zum Kopfe hinauf, dann wieder zum Schweif, schnappte dem Reiter nach der Hand oder schlüpfte dem bäumenden Rosse unter dem Bauche durch, ohne jemals einen Huftritt davonzutragen. Er biß nicht, er spielte bloß; aber die Pferde scheuten, wichen zurück, stiegen hoch auf oder gingen trotz Zügel und Schenkel gestreckten Laufes durch, als säße ihnen der Satan im Nacken.

Rief dann Meister Richwin den Hund zurück, so hielt dieser augenblicklich ein, blickte seinen Herrn an, als wollte er sagen: ich kann's noch viel besser, und verfolgte drauf das Pferd mit verdoppelter Lust. Drohte und schalt Richwin aber gar, so verwandelte sich das Spiel des Hundes in Zorn, er bellte und biß und lief dann aus Furcht vor der Strafe davon, durchschwärmte die halbe Stadt, trieb unterwegs allerlei neuen Unfug und schlich erst spät und ganz heimlich nach Hause zurück. Nun erhielt er freilich seine Hiebe. Diese verstand der Hund jetzt aber falsch; denn, da er die erste Ursache der Strafe längst vergessen hatte, so glaubte er, man prügle ihn, weil er nach Hause komme, und blieb das nächstemal um so länger fort.

Also nahm sich der Meister Richwin vor, den Hund auf frischer Tat zu bestrafen. Da lief dann der Hund hinter dem Reiter her und Richwin hinter dem Hund. Endlich stand der Hund und ließ, tief zerknirscht, den Schwanz zwischen den Beinen, seinen Herrn herankommen. Sowie dieser sich aber auf zehn Schritt genähert hatte, nahm Thasso wieder Reißaus. Meister Richwin ging langsam, lockte, schmeichelte und heuchelte ein freundliches Gesicht; der Hund kam herbei, – aber nur auf zehn Schritt, dann lief er wieder davon. Der Herr mochte eilen, schleichen, stille stehen – das Tier blieb immer bei ihm, aber auch immer zehn Schritt vom Leibe. Die Gassenbuben jubelten, und die ganze Straße lief an Tür und Fenster, um zu sehen, wer denn endlich gewinne, Meister Richwin oder Meister Thasso? Der stolze Bürger zitterte vor Wut und warf gar mit Steinen nach dem Sünder. Thasso aber wich jedem Wurfe wunderbar gewandt aus, sprang dem Steine nach, apportierte ihn wie zum Spotte mit fliegender Hast und war schon wieder zwanzig Schritt voraus, ehe sein Rächer nur ordentlich zum Hiebe ausgeholt hatte.

Jeder Tag brachte neue Szenen ähnlicher Art. Der Hund entfaltete einen staunenswerten Erfindungsgeist in immer neuen Unarten und in der Kunst, einem rechtzeitigen Hiebe zu entrinnen.

Es war aber, als sei mit dem Hunde erst das leibhaftige Unheil in Richwins Haus gezogen. Die vier unartigen Kinder spielten und balgten mit dem Tiere von früh bis spät, und Thassos Geist kam dabei dergestalt über sie, daß man schwer entscheiden mochte, ob der Hund ärgeren Mutwillen trieb oder die Kinder. Die arme Frau Eva konnte den Hund nicht leiden; das nahm Meister Richwin äußerst übel, und hatte er sie vorher nur durch seine Kälte gekränkt, so schalt und zankte er jetzt obendrein; war Thasso seiner Peitsche entlaufen, so ließ er den Zorn an der Frau aus, und redete diese irgendein unbequemes Wort, so mußte sie gleich ihren Haß gegen den edeln Hund auf dem Butterbrot essen. Seit der Hund im Hause war, gab sie ihren Mann, sich und die Ihrigen völlig dem Verderben geweiht. Hatte sich der Meister vorher schon wenig um Haus und Beruf bekümmert, so tat er es jetzt noch viel weniger. Er wollte vor allen Dingen seinen Hund dressieren, und dieses wichtigste Werk beschäftigte ihn den Tag. Da er aber durchaus planlos und launisch dabei verfuhr, heute alle Untugenden nachsah und morgen wieder überhart strafte, so verlor Thasso vielmehr das bißchen Zucht noch vollends, welches er mitgebracht hatte.

Fort und fort kamen Klagen über den Störenfried. Der Meister mußte Schaden ersetzen, Schmerzen vergüten, gute Worte geben und böse einstecken. Die Beschädigten drohten, das Tier zu vergiften oder totzuschlagen, und die Freunde drangen in den Meister, er möge die zuchtlose Bestie doch abschaffen oder an die Kette legen. Allein Richwin blieb bei seinem Satz: er selber wolle den Hund erziehen, er wolle ihn lammfromm machen und dann mit dem edeln, gefürchteten Tiere einherstolzieren wie Ritter Kurt mit seinem großen Fanghund.

Nun geschah es, daß die Wetzlarer Bürger am Aschermittwoch einen altherkömmlichen seltsamen Aufzug begingen. Sie zogen nämlich gewaffnet in die geistlichen Höfe, vom Hofe der Deutschherren bis zum Altenberger Nonnenhof, um bei den Deutschherren ein lebendes weißes Huhn, bei den Nonnen einen Schinken, beim Dechanten einen Goldgulden zu empfangen als Zeichen der Stadtgerechtsame in den geistlichen Höfen. Als Hauptstück glänzte dabei aber allezeit das lebende weiße Huhn, weshalb man den Aschermittwoch in Wetzlar noch bei Menschengedenken den »Hinkelchestag« nannte. Tadellos weiß, mit bunten Bändern geschmückt, mußte die Henne von einem Knaben dem Zuge voran durch die Straßen getragen werden.

Meister Richwin ging heuer an der Spitze seiner Zunft im Zuge und hatte zu Hause den strengsten Befehl gegeben, daß man den Hund wohl eingesperrt halte, bis der Lärm vorüber sei. Thasso aber brach dennoch aus, verfolgte die Spur seines Herrn und sprang mitten in die festlichen Reihen, als der Amtmann des Deutschordens eben das Huhn dem Knaben übergab. Den schreienden, flügelnden Vogel mit den flatternden Bändern hatte er im Nu erspäht, flog darauf los, entriß ihn der Hand des Kindes und zerrte ihn, daß die Federn und Bänder in der Luft umherzogen. Der Amtmann, welcher abwehren wollte, wurde kräftigst in die Waden gebissen, und als es Meister Richwin endlich gelang, den Hund zu bändigen, flügelte das Huhn noch einmal, und schloß dann seinen Schnabel für immer.

Nun hatte man kein lebendes, weißes Huhn mehr! Aber ohne lebendes Huhn keinen Umzug, ohne Umzug keine Gerechtsame in den geistlichen Höfen. Die Sache war sehr ernsthaft. An den pünktlich erfüllten Wahrzeichen des Rechtes hing damals das Recht selber.

Mit tausend Bitten und Beschwörungen erreichte endlich Meister Richwin, daß man den ganzen Vorgang als ungeschehen ansehen wolle, wenn er binnen zwei Stunden ein anderes tadellos weißes, lebendes Huhn zur Stelle schaffe. Die feierliche Übergabe sollte dann von neuem beginnen, doch mit der bestimmten Rechtsverwahrung, daß man nicht etwa in Zukunft den Deutschherren die Last aufbürde, zwei Hühner zu liefern, ein totes und ein lebendes. Auch sollte Gerhard Richwin diesmal dem Amtmann zehn Ellen des feinsten flandrischen Tuches schenken als Schadenersatz und Schmerzensgeld.

Von Zorn, Ärger und Angst gegeißelt lief der Meister in alle Hühnerhöfe der Stadt, fand aber kein tadellos weißes Huhn. Endlich, fast in der letzten vorgesteckten Minute kam er schweißtriefend auf den Deutschordenshof mit einer mageren alten Henne, die ursprünglich weiß und etwas grau gesprenkelt gewesen; durch das Ausrupfen etlicher Hände voll Federn aber hatte er sie in ein tadellos weißes Huhn verwandelt. Man ließ das neue Rechtssymbol gelten, und so kamen denn noch alle Beteiligten, wie man zu sagen pflegt, glücklich mit einem blauen Auge davon, die erwürgte erste Henne natürlich ausgenommen.

Die Bestrafung Thassos am Abende war mustergültig.

Meister Richwin aber gelobte sich heilig, von Stund an den Hund nach einer ganz neuen, planvollen und gründlichen Weise zu erziehen. Um aller Welt Güter hätte er das Tier gerade jetzt nicht abgeschafft; er wollte recht behalten und den Wetzlarern zeigen, daß er trotz des letzten Auftrittes dennoch den unbändigen Halbwolf lammfromm machen könne.

Er brütete – zum erstenmal in seinem Leben – die ganze schlaflose Nacht über Erziehungsplänen.


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