Wilhelm Heinrich Riehl
Der stumme Ratsherr
Wilhelm Heinrich Riehl

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Viertes Kapitel.

Der Sturm war in Wetzlar losgebrochen, die Geschlechter waren verjagt, die Zünfte hatten das Feld und zugleich das Regiment der Reichsstadt gewonnen. Meister Richwin hatte voran geleuchtet im Kampfe durch Ausdauer, Strenge gegen sich selbst und andere und durch seinen unversöhnlichen Haß gegen die Patrizier. Die Mitbürger staunten über den verwandelten Mann.

Als der neue Rat nunmehr rein demokratisch aus den Zünften gebildet wurde, fiel die Wahl auch auf Meister Richwin. Noch vor einem Jahre, da er sich doch gar nicht um das Gemeinwohl kümmerte, war es das süßeste Traumbild seines Ehrgeizes, einmal Ratsherr zu werden; heute, wo er heiß gearbeitet und gerungen hatte für die Stadt, lehnte er ab. Niemand erriet die Ursache und alle bestürmten den Meister, daß er in den Rat eintreten oder doch mindestens den Grund seiner Weigerung offenbaren möge.

Nach langem Zögern und mancherlei Ausflucht sprach er endlich: »Der Grund wird euch kindisch scheinen. Mir aber ist er ernst und schwer. Ich kann nicht täglich auf dem Rathause sitzen in dieser drangvollen Zeit, weil ich meinen Hund nicht mitnehmen darf. Lasse ich aber das Tier allein daheim, so kommt wieder das Unheil über mein Haus wie vordem. Ich sage wohl, der Hund hat ausgelernt; aber wer lernt jemals aus? Kein Mensch und kein Hund! Übergebe ich Thasso manchmal auf einen Tag dem Lehrjungen, so wird er gleich wieder rückfällig, und es ist mir begegnet, daß ich selber an einem solchen Tage auch wieder rückfällig geworden bin. Wir sind beide noch etwas schwach, wir dürfen uns nicht voneinander trennen. In der Vorhalle der Kirche mag ich die Messe so gut hören, wie drinnen im Schiff, und der Hund steht an meiner Seite; als Ratsherr aber kann ich doch nicht allezeit vor der Türe des Ratssaales bleiben. Nehmt meinen Grund für keine Grille. Ich hege den Aberglauben, daß mein Haus erst wieder fest stehen werde, wenn Thasso einmal ganz fertig gezogen ist; ich darf mich noch nicht trennen von dem Hunde. Und wie sollte ich das wankende Gemeinwesen festen helfen, wenn mein eigen Haus noch viel ärger wankt?«

Nach dieser Rede des Meisters, die dem einen ernst, dem anderen spaßhaft dünkte, beschlossen die Ratsgenossen, es solle Thasso vor allen Hunden der Stadt das Vorrecht eines Sitzes im Ratssaale unter dem Stuhle seines Herrn erhalten, jedoch mit der Klausel, daß dieses Recht Augenblicks erlösche, sowie sich der Hund eine Stimme anmaße.

Nach einigem Sträuben fügte sich Meister Richwin nun doch dem Willen seiner Mitbürger und erschien pünktlich zu jeder Frist mit Thasso auf dem Rathause. Diesen aber nannten die Wetzlarer seitdem den »stummen Ratsherrn«, und stumm blieb er in der Tat; man hörte in Jahr und Tagen nicht, daß er wider die Klausel seines Privilegs gesündigt hätte.

Auch auf der Straße schreckte er niemand mehr durch seine unbändige Spielerei; er war den Flegeljahren entwachsen und schritt, nach großer Hunde Art, so still und stolz hinter seinem Herrn einher, als sei er sich des Vorrechtes vor allen anderen Hunden der Reichsstadt klar bewußt. Nun geschah es, daß Meister Richwin in der Ernte durchs Feld ging, hart an dem Graben, welcher das Stadtgebiet von einem Walde des Grafen von Solms schied. Thasso schlich ruhig neben ihm. Mit einemmale aber war er verschwunden. Richwin spähte ringsum, rief und pfiff. Der Hund kam nicht. Da rauschte und krachte es in dem Dickicht jenseits des Grabens, und von Thasso wie von einem Wolfe gehetzt, brach ein königlichen Hirsch hervor, ein Zwanzigender zum mindesten, stutzte, als er das freie Feld und den Mann sah, kehrte um, warf den Hund mit der ganzen Wucht seines Geweihes zur Seite und machte sich rückwärts wieder freie Bahn in die Büsche, unter dem Rauschen und Knicken der Blätter und Zweige. Aber auch Thasso erhob sich von seiner augenblicklichen Niederlage und fuhr wie besessen hinter dem Tiere drein, und man hörte bald nur noch fernher das Rauschen und das Pfeifen, womit der Hund Laut gab. Der arme Richwin pfiff sich die Lippen trocken und rief sich die Lungen atemlos; all seine Dressur war verschlungen von Thassos Jagdfieber. Zweimal trieb er ihm den Hirsch zum Graben entgegen, gleich als wolle er ihn dem Herrn zum Schusse stellen, und zweimal brach der Hirsch wieder zurück.

Beim dritten Mal aber trat ein Solmsscher Forstwart aus dem Walde hervor und legte seine Armbrust an, nicht auf das Wild, sondern auf den Hund. »Schämt Euch, der Ihr ein Jäger sein wollt und zielet auf den edelsten Hund, der doch nur von dem gleichen Jagdmut berauscht ist, wie Ihr selber!« rief der Meister dem Dienstmann entgegen.

Getroffen von der Wahrheit dieses Wortes und zugleich von der Schönheit des kämpfenden herrlichen Hundes, ließ der Forstmann die Armbrust sinken und schritt trutzig zu dem Bürger. »Der Hund ist mir verfallen«, rief er, »weil er in meines Grafen Bann gejagt hat. Ihr folget mir mit Eurem Hunde zum Grafen, und will er das Tier in seine Meute nehmen, so sei ihm das Leben geschenkt.«

Meister Richwin widersetzte sich natürlich, der Dienstmann aber hielt ihn fest, und als sich der Bürger mit Gewalt frei machen wollte, schlug ihm jener die blanke Klinge über den Arm. Im selben Augenblicke jedoch ward der Dienstmann von hinten durch Thasso zu Boden gerissen; denn sowie das Tier den Herrn in Gefahr sah, wich auch das Jagdfieber einer Treue, die nicht Dressur war. Mehrere Wetzlarer Leute liefen nun auf den Lärm gleichfalls aus dem Felde herbei, befreiten den Forstwart von dem Hunde und führten den Mann gefangen zur Stadt, weil er einen Bürger auf reichsstädtischem Boden verwundet hatte. Denn die Städter waren in dem siegreichen Kampfe mit den Geschlechtern rauflustig genug geworden und fürchteten sich nicht vor einem neuen Strauß.

Der Rat aber kam doch stark in Verlegenheit, was er mit dem gefangenen solmsischen Dienstmann anfangen solle.

Den Arm in der Schlinge, konnte Meister Richwin schon am nächsten Tage der Sitzung beiwohnen, in welcher über den kitzlichen Fall verhandelt ward. Alle Ratsleute waren gewaltig aufgeregt, nur Thasso lag in behaglichster Ruhe unter dem Stuhle, als gehe ihn die Sache gar nichts an. Und doch ging es ihm an den Kragen und er fand wenig Fürsprecher. So sehr man ihm als dem stummen Ratsherrn gewogen war, schien es doch, als ob man ihn diesmal der großen auswärtigen Politik opfern müsse.

Es hauste nämlich zur Zeit (1372) der böse Ritterbund der »Sterner« so arg in den Nachbargauen, daß man in Wetzlar im stillen sich rüstete zum offenen Kampfe. Die Sterner aber zählten gar viele Grafen, Ritter und Herren zu ihren Genossen, die Reichsstadt hingegen hatte wenig Freunde und es kam ihr sehr überquer, gerade zu dieser Frist einen so kriegstüchtigen Nachbarn wie den Grafen Johann von Solms zu erzürnen, von dem noch unbekannt war, ob er für oder wider die Sterner Partei nehmen werde.

Als daher ein Ratsherr dartat, der Forstwart sei im Rechte gewesen, nickten manche Köpfe bejahend, und als er hinzufügte, auf Begehren des Grafen dürfe man sich nicht weigern, den Jäger freizugeben und den Hund auszuliefern, fiel ihm stracks die Mehrzahl zu, und etliche meinten, Thasso habe vordem schon Unfug genug verübt, man dürfe sich nun doch nicht vollends noch den Solmser durch ihn auf den Hals hetzen lassen.

Thasso blieb ganz ruhig und schaute nur fragenden Auges um sich, als er seinen Namen nennen hörte. Sein Herr aber erhob sich. Er sprach:

»Ist Graf Johann, der schlaue Fuchs, für uns, so wird er sich um des Hundes willen nicht gegen uns kehren; ist er wider uns, so gewinnen wir ihn auch nicht mit einem geschenkten Hund. Der Mann kennt seinen Vorteil und schaut nach ganz anderen Dingen als nach Hirschen und Hunden. Soll die Verletzung des Wildbannes gesühnt werden, so erbiete ich mich, den dreifachen Wert des Hirsches und Hundes in gutem Gelde zu erlegen. Den Hund aber liefere ich keinem Menschen aus; eher ersteche ich das Tier auf der Stelle. Ihr wißt nicht, was ich dieser unvernünftigen Kreatur Gottes schulde, die zugleich sichtbar Gottes Werkzeug gewesen ist. Wenn Gott nicht will, so bekehren uns seine heiligsten Prediger nicht, und wenn er will, so bekehrt uns ein Hund. Dieser Hund hat Ordnung meinem Geschäfte gebracht, Zucht meinen Kindern, den Hausfrieden meiner Frau; er hat mir den Weg gezeigt zu meinen Freunden und Zunftbrüdern, den Weg zur Kirche und den Weg zum Rathaus; indem ich den Hund zu erziehen glaubte, erzog der Hund vielmehr mich. Das hat mir meine Hausfrau oft gesagt, und ich achtete es als einen artigen Spaß; jetzt, da ihr mir meinen Hund nehmen wollt, erkenne ich mit einemmale, daß es bitterer Ernst gewesen ist.«

Diese wenigen Worte nur sprach Meister Richwin, aber er sprach sie mit feuchtem Auge, und Thasso, der seines Herrn Bewegung sah, erhob sich langsam, rührte ihn leise mehrmals mit der breiten Vordertatze an und leckte ihm die Hand, als wolle er den Bekümmerten trösten.

Es war ganz stille geworden im Ratssaal; man konnte die Atemzüge hören.

Da streckte der Ratsdiener den Kopf zur Türe herein und meldete einen Boten des Grafen von Solms. Die Bürger erschraken und ahnten Schlimmes. Um so überraschender klang die Botschaft.

Der Graf hatte mit Bedauern vernommen, daß sein Dienstmann einen Wetzlarer Bürger aus so geringfügigem Anlaß geschlagen, ja verwundet habe. Doch bat er, man möge um guter Nachbarschaft willen den Forstwart wieder freigeben, er – der Graf – mache seinerseits ja auch von dem verletzten Wildbann kein weiteres Aufheben, und damit die Stadt erkenne, wie freundlich er gesinnt, so schicke er dem hohen Rate anbei einen Hirsch, den er selber erlegt habe und der mindestens ebenso gut sei, als der von dem Hunde gejagte und nicht erlegte, nebst einem Fäßlein Bacharacher, damit auch der Trunk zum Schmaus nicht fehle.

Die Ratsherren waren starr vor freudigem Staunen, da statt des gefürchteten Donnerwetters plötzlich so heller Sonnenschein über sie hereinbrach. Sie sagten dem Boten manch artiges Wort und beglückwünschten den Meister Richwin mit seinem Thasso. Der Meister aber erhob seine starke Stimme, den durcheinanderwirbelnden Redeschwall laut übertönend, und bat, daß man vor erteilter Antwort den Boten noch einmal abtreten lassen und ihm auf wenige Minuten Gehör schenken möge.

»Mißtrauet den süßen Worten des Grafen!« rief er. »Hätte er uns seinen Zorn entboten, ich würde nicht erschrocken sein, aber da er uns seine Huld entbietet, erschrecke ich. Der Graf schenkt uns seinen Hirsch nicht umsonst. Wir bedürfen des Grafen nicht; sein Vetter, der Braunfelser Otto und Landgraf Hermann von Hessen sind uns bessere Bundesgenossen. Graf Johann aber bedarf unser. Und hat er uns erst am kleinen Finger, so hat er uns auch ganz. Thasso, Thasso! du schaffst uns großes Leid, nicht weil du jenen solmsischen Hirsch ins Wetzlarer Feld, sondern weil du diesen Hirsch in die Wetzlarer Ratsküche jagtest! Ich beschwöre euch, werte Freunde, lehnet das Geschenk freundlich ab, fordert unser Recht und gebt dem Grafen das seine. Schicket den Hirsch zurück und behaltet den Jäger, bis der Graf des Dienstmannes Übermut nach der Ordnung sühnen will –«

Hier unterbrachen die anderen den Redner und hielten ihm vor, er treibe seinen Groll wegen des leichten Hiebes doch zu weit, daß er nicht einmal durch so viel Güte zufrieden zu stellen sei.

Meister Richwin aber erwiderte: »Spräche ich für mich, ich wäre wohl der Zufriedenste mit des Grafen Vorschlag, vorab wegen meines Hundes. Aber ich rede hier als Ratsherr der Reichsstadt und sage: Fordert unser Recht und gebt dem Grafen das seine: dem Grafen ist der Hund verfallen, weil er seinen Wildbann durchbrochen; uns ist der Forstwart verfallen, weil er unseren Burgfrieden verletzt hat. Aus Furcht vor dem Zorne des Grafen wollte ich diesen Hund, meinen treuesten Freund, nicht ausliefern, aber aus Furcht vor des Grafen Freundschaft liefere ich ihn aus. Vorhin, da ich als des Hundes Anwalt sprach, hätte ich weinen mögen über das arme Tier; jetzt spreche ich als der Anwalt unserer Gemeine, und da möchte ich noch viel bitterere Tränen weinen, nicht über den Hund – was kümmert mich der! – sondern über das heranschleichende Verderben meiner armen Vaterstadt!«

Der Meister hatte in den Wind gesprochen; er blieb allein mit seinem Argwohn. Das Geschenk ward mit Dankesworten angenommen und passend erwidert, der Dienstmann freigegeben, und Graf Johann von Solms war bald, was er gewollt, der erklärte Freund und Beistand des Wetzlarer Rates.

Als der Hirsch bei festlichem Mahle verzehrt und der Bacharacher getrunken wurde, blieb Meister Richwin schmollend zu Hause, und Thasso bekam nicht einen Knochen von dem Wild, welches er doch den Ratsherren in die Küche gejagt.


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