Wilhelm Heinrich Riehl
Musiker-Geschichten
Wilhelm Heinrich Riehl

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Demophoon von Vogel

Erstes Kapitel

Wer die rechte Stimmung nicht findet, der kann keine gute Oper schreiben, und wer keine gute Oper schreiben kann, der schreibt am besten gar keine.

So dachte Friedrich Vogel, ein tüchtiger Tonsetzer der Gluckschen Schule. Aber er wollte und mußte jetzt eine Oper schreiben; darum rang er vor allem nach Stimmung.

Das Glück war ihm wie im Traume in den Schoß gefallen; denn wenn ein junger deutscher Musiker vor achtzig Jahren eine Oper für die Pariser Bühne setzen durfte, so war dies doch wohl ein traumhaftes Glück. Friedrich Vogel hatte sich in Paris eine glänzende Stellung als Musiklehrer geschaffen, wobei ihm allerdings die Fürsprache seines Vetters, des berühmten Johann Christoph Vogel, und des noch viel berühmteren Vorbildes beider, des Ritters Gluck, bedeutend unter die Arme griff. Kleinere dramatische Sätze Friedrichs wetteiferten in der Gunst der Kenner mit den Werken Johann Christophs, ja man verwechselte oft die neuesten Schöpfungen der zwei Vogel, so nahe verwandt auch in Form und Geist ihrer Musik waren die Vettern. Aber Friedrich war ein unruhiger Geselle; als er sich eben recht festgesetzt hatte in Paris, trieb es ihn wieder fort. Er ging nach Wien. Dort erhielt er brieflich den Antrag eines Pariser Theaterdirektors zur Komposition der Oper »Demophoon«. Anfangs glaubte er, der Mann habe wieder die Vettern verwechselt und meine eigentlich den gefeierten Johann Christoph Vogel; doch dem war nicht also: er meinte wirklich den Friedrich. Der Antrag war zwar in der Tat ursprünglich dem Johann Christoph zugedacht gewesen; da dieser aber bereits an seiner »Medea« arbeitete, die nachgehends so glänzenden Erfolg und ihrem Schöpfer einen kunstgeschichtlichen Namen gewinnen sollte, so hatte er abgelehnt und den Vetter warm empfohlen. Friedrich nahm nun die Arbeit dankbar an, denn die Bedingungen konnten nicht günstiger sein. Für die Vollendung war Jahresfrist bestimmt gefordert.

Mit wütendem Eifer stürzte er sich sogleich kopfüber in den vollen Strom des Schaffens und entwarf zuerst, getreu dem Vorbilde Glucks, das ganze Werk groß und frei im Geiste, bevor er irgend ans Niederschreiben ging. Er schwelgte in dieser Seligkeit des ersten Wurfes und hatte Stimmung genug und übergenug. Kaum drei Wochen waren vergangen, und schon wallten alle die Gestalten und Szenen des Dramas, musikalisch fest durchgebildet, vor dem inneren Auge und Ohre vorüber. Jetzt mußte er nur noch alles niederschreiben. Aber dieses »Nur« ist ein furchtbar tückisches Wort! Mit Schrecken entdeckte Vogel, daß es zweierlei Stimmung gibt: Stimmung zum Erfinden und Stimmung zum Schreiben, und daß Leute, die in der Phantasie am leichtesten arbeiten, auf dem Papiere entsetzlich mühevoll einherkeuchen, und daß umgekehrt Männer, bei welchen die schaffende Kraft des Geistes im Schneckengange schleicht, oft wahre Schnelläufer auf dem Papiere sind.

Der Rausch des Erfindens verflog: die Noten trockneten ihm in der Feder ein. Wochen vergingen; die Partitur wollte schlechterdings nicht wachsen, und doch hatte er die ganze Oper fertig im Kopfe! Er mußte sich wohl in einen neuen Rausch stürzen, um den alten wiederzugewinnen. Also suchte er seine Freunde auf, Geselligkeit, heitere Anregung beim Glase Wein und bei weindurchleuchteter Rede. Aus Arbeitslust hatte er in der letzten Zeit die Freunde geflohen; jetzt rettete er sich zu ihnen, um in ihrem Kreise Arbeitslust zu finden. Er redete mit Kunstgenossen über das Werk, er phantasierte ihnen einzelne Motive, ganze Arien, ganze Szenen am Klaviere vor und sang dazu mit herzbrechender Komponistenstimme. Man fand die Proben überaus köstlich, bewunderte und ermunterte, und wenn Vogel so am Klaviere saß, die Freunde zur Rechten und das Weinglas zur Linken, dann war alles wieder fertig, er wußte genau, was und wie er schreiben müsse, er konnte gar nicht erwarten, bis er wieder allein war bei Feder, Tinte und Papier. War er aber dann wirklich allein, so konnte er erst recht keine Note schreiben; er hatte sich ja ausgesprochen, ausgespielt, ausgesungen, wozu noch weiteres? Er war so satt, daß ihn seine eigene Musik anwiderte.

Die Partitur machte keine Fortschritte; nur seine Virtuosität im Trinken schritt bedeutend fort, und Vogel war von Hause aus doch gar kein Trinker. Er tat dem Dinge Einhalt, denn er erkannte klar, daß auf diesem Wege die verhexte Stimmung nicht zu haschen sei. Also zog er sich wieder in die einsame Zelle zurück.

Arglos kam ein und der andere Freund zum Besuche, natürlich immer in dem Augenblick, wo sich eben etwas Stimmung zum Schreiben ansetzen wollte. Vogel runzelte die Stirn, rollte die Augen, war barsch, kalt, ungeduldig, so daß der Besuchende froh war, wenn er die Türe nur glücklich wieder im Rücken hatte. Wenige kamen zum zweiten Male wieder. Der unselige Stimmungsjäger aber klagte fort und fort, daß er überlaufen werde, und zuletzt blieben alle weg. Jetzt konnte er ungestört grübeln über das Geheimnis der Stimmung. Allein es geht hier wie mit dem Schlafe: wer nachdenkt, wie man einschläft, der schläft gewiß nicht ein. Und schon nach wenigen Tagen klagte Vogel, daß er in Selbstquälerei verkomme, daß ihm alle Anregung fehle, daß seine Freunde ihn allein ließen. »Wenn ich leben muß wie ein Eremit,« sprach er, »gemieden von den treulosen Gesellen, wie soll ich da die Stimmung zu der Oper finden?«

Doch zum Glücke war die Frist noch lang, ein Jahr hat viele Wochen; er konnte noch eine gute Weile die Stimmung abwarten. »Aber gerade das ferne Ziel lähmt meinen Eifer«, dachte er. »Ist nicht jeder Künstler wie ein Schulknabe, der am besten arbeitet, wenn's ihm auf dem Nagel brennt?« Da kam ein Brief seines Vetters aus Paris, der fragte an, wie weit denn die Oper vorgeschritten sei? Vogel erschrak; er sah in den Kalender: es war doch schon eine schöne Zeit verlaufen. »Man mahnt mich,« rief er aus, »man will mich drängen, und obendrein tut dies der Vetter, der doch selbst ein Künstler ist, und unglaublich langsam komponiert. Er sollte doch wissen, daß man gemahnt, gehetzt, aus aller guten Laune kommt, daß man angesichts der Uhr und des Kalenders nur tagelöhnern, nicht aber dichten und schaffen kann!«

Hätte Vogel doch nur ums Geld schreiben müssen: er würde vielleicht trotz dem Fluge der Gedanken auch auf einen festen Stuhl zum Schreiben gekommen sein. Allein sein Vater war ein reicher Nürnberger gewesen, und der genügsame Künstler bedurfte des Ehrensoldes für die Oper kaum. Er jammerte, daß er kein armer Teufel sei; er hätte dann wohl Ruhe genug gefunden, die Feder geduldig über die fünf Notenlinien laufen zu lassen.

Doch vielleicht lag der Quell des Übels ganz wo anders. Vogel war verlobt mit einer italienischen Sängerin und sah im Laufe des Jahres der Hochzeit entgegen. Wie mag auch ein Bräutigam eine vielstimmige dicke Partitur mit Notenköpfen ausmalen! Harrend, sehnend, hoffend, bald im hellen Jubel, bald in weicher Schwärmerei, konnte er da wohl seine Gedanken kühn durch die Saiten brausen lassen, aber das Schreiben ward dem unglückseligen Glücklichen in dem Maße unmöglicher, je näher der Hochzeitstag rückte. Er kannte zwar einen Kunstgenossen, der sogar am Hochzeitmorgen einen vierstimmigen Krebskanon auf den Text »Amen« erfunden und in den zierlichsten Noten niedergeschrieben hatte, allein solch ein Fugenreiter war Friedrich Vogel nicht: ihm mußten die Töne aus dem Herzen quellen, oder er blieb überhaupt stumm.

»Ich muß diese Sturmtage vor dem Lenze vorüberziehen lassen«, dachte er; »erst heiraten und dann komponieren, das ist die rechte Reihenfolge.« Und gewiß, wann mögen wir eine gesegnetere Zeit zum künstlerischen Schaffen finden als im Beginn der Ehe, wo wir schwärmen und dennoch befriedigt sind, angeregt und beruhigt zugleich, wo ein neues Leben uns erblüht, welches aber auch Maß und Ziel und Abschluß sicher in sich birgt: da läßt sich phantasieren und niederschreiben, erfinden und ausführen, eines so gut wie das andere.

So dachte der Künstler vor der Hochzeit. Allein nach der Hochzeit dachte er seltsamerweise wieder ganz anders. Das Notenpapier blieb in der Ecke liegen; er ging ihm aus dem Wege, denn die rastrierten Blätter schauten ihn an wie das böse Gewissen. »Soll ich die schönsten Tage des Lebens nicht voll und rein genießen?« fragte er sich; »es hat noch Zeit mit dem Schreiben, alles der Reihe nach: erst die Flitterwochen und dann die Oper.«

Die junge Frau sang wunderschön und berauschte alle Hörer und ihren Mann natürlich noch weit mehr als die übrigen. Wie herrlich mußten erst die Arien der neuen Oper »Demophoon« von ihren Lippen tönen; aber freilich, sie mußten geschrieben sein, bevor sie gesungen werden konnten. Mit wahrem Heldenmute zwang sich der Gatte zur Niederschrift, und er würde auch sicher eine ganze Arie binnen vierundzwanzig Stunden niedergeschrieben haben, wenn seine Frau nur nicht gar so schön gesungen hätte. Die Melodie kam noch aufs Papier; dann aber riß ihn die Ungeduld vom Pulte weg; er wollte auf der Stelle hören, wie das alles klinge, die Sängerin hatte ja jetzt Noten, und die Begleitung konnte er aus dem Kopfe spielen. Allein Eugenia sang nicht halb so schön, als er erwartet hatte. Natürlich. Ihr war das Tonstück fremd, sie hätte sich erst mit Fleiß und Nachdenken hineinarbeiten müssen; in Friedrichs Geiste dagegen stand jede Wirkung voll, fest und fertig: der unreife Vortrag klang ihm wie ein Todesurteil über seine Musik. Er verwünschte die ganze Oper und zog andere Tonwerke hervor, die seiner Frau geläufig waren, und so hörte er sich dann auch wieder zurück in das frühere Entzücken über ihre göttliche Kunst. Der Glucksche Stil Vogels war einer Italienerin ohnedies nicht sonderlich mundgerecht. Im zweiten Jahr der Ehe hätte er die Frau vermutlich zur deutschen Weise zu bekehren versucht, allein im ersten ließ er sie ganz italienisch gewähren. Ja, er studierte mit ihr Piccini, den er haßte; er studierte ihn mit Freuden, weil er nur Eugenia und nicht den Piccini hörte, weil er sich an ihr beseligen, mit ihr arbeiten, mit ihr triumphieren wollte; er vertiefte sich in die Gesangkunst, als ob er selber eine Sängerin wäre: das führte ihn zu tausend schönen Dingen, nur nicht zur Partitur des »Demophoon«.

Mehrere Wochen schwelgte er gedankenlos fort im bezaubernden Gesange; dann erwachte die Reue. Wenn sich solch eine verdammte Oper nur von selbst niederschriebe! Der Komponist wurde im jähen Gegenschlage fast tiefsinnig vor nagender Unzufriedenheit, er ärgerte sich und seine Frau und ward allen Menschen zur Last. Es gibt Künstler, die ihr ganzes Leben nach Stimmung jagen; sie sind die fürchterlichsten Gatten, Freunde und Mitmenschen. Vogel hatte in Paris einen solchen Stimmungsjäger gekannt, der so gefürchtet war, daß man sagte, ein Heuwagen fahre ihm aus dem Weg, wenn er, Stimmung suchend, über die Straße gehe. Es schauderte den armen Vogel, als er jetzt sein eigenes Spiegelbild in der Karikatur jenes trostlosen Gesellen erkannt.

Aber was nützt alle Selbsterkenntnis, wenn ihr nicht die Tat der Umkehr und Besserung auf dem Fuße folgt. Also zur Tat! Der junge Gatte entzog sich seufzend dem Sirenengesange seiner Frau; er vertiefte sich wieder ganz in die Oper. Er stellte sich die Aufführung recht greifbar vor, malte sich den Erfolg und schrieb sich im Geiste die schönsten Zeitungskritiken. Allein indem er so das Ende vor den Anfang setzte, fand er immer weniger die Stimmung, nun einmal wirklich anzufangen.

Woche um Woche verstrich, und ehe er sich's versah, war der Termin des Jahres abgelaufen. Der Theaterdirektor schrieb Mahnbriefe und forderte endlich das Textbuch zurück mit dem Bemerken, Johann Christoph Vogel habe inzwischen seine »Medea« vollendet und sei bereit, jetzt auch den »Demophoon« zu übernehmen und für den Vetter einzustehen, wenn derselbe denn schlechterdings seinen Vertrag nicht halten wolle. Friedrich Vogel war tief entrüstet über ein solches Vorgehen und antwortete dem Theaterdirektor gar nicht, sondern schrieb nur einen spöttisch artigen Brief an Johann Christoph, worin er ihm Glück wünschte zu dem neuen Auftrage des »Demophoon«. Dieser war mit Recht gekränkt, daß er für so viele Güte noch Spott und Hohn ernten müsse, und brach allen Briefwechsel mit dem launischen, undankbaren Vetter ab.

In einem Gemisch von Wut und Jubel warf Friedrich die dürftigen Anfänge der Partitur in den Ofen; das Textbuch aber faßte er mit der Feuerzange und schob es in den hintersten Winkel seines Notenschrankes, denn als einen Gegenstand äußersten Abscheus wollte er es nicht mit den Fingern berühren. Da hinten mochten die teuflischen Verse einstweilen liegenbleiben, bis er einmal Stimmung fand, sie einzupacken und nach Paris zurückzuschicken; die Pariser konnten warten, und sie besaßen doch wohl ohnedies eine Abschrift. Damit ihm das Buch aber ja nicht zur Unzeit vor die Augen komme, warf er einen Haufen alter Papiere darüber und wünschte die Pariser und alle Opern und alles Stimmungssuchen und Notenschreiben zum Teufel.

Zweites Kapitel

Vier Jahre waren vergangen. Friedrich Vogel lebte noch immer in Wien; er gab Unterricht und schien das Komponieren ganz verlernt zu haben. In seinem Hause sah es bürgerlich behäbig aus, aber besonders künstlerisch gerade nicht.

An einem Sommernachmittage saß er einmal in Hemdärmeln auf der Stube, denn es war sehr heiß. Ein Bübchen von drei Jahren stand ihm zur Rechten und lehnte sich an des Vaters Knie, ein anderthalbjähriges Mädchen kroch spielend auf der linken Seite umher, und vor dieser Gruppe lag ein ganz kleines Wickelkind in einem Korbe und schrie erbärmlich. Der Musiker ließ sich aber durch die unmelodischen Töne nicht verstimmen, sondern sagte mit vergnügtem Gesicht bald dem Knaben ein Sprüchlein vor, welches derselbe in drolligem Kauderwelsch nachstammelte, bald schob er dem Mädchen die zerstreuten Spielsachen wieder herbei oder versuchte den Schreihals im Korbe zu besänftigen. Da klopfte es. Ein Fremder trat herein und fragte auf französisch nach Herrn Friedrich Vogel. Als der Mann in den Hemdärmeln sich erhob und sagte, der sei er selber, glaubte der Franzose, irre gegangen und zu einem unrechten Vogel geraten zu sein, allein es klärte sich bald auf, daß eben der Musiker Vogel vor ihm stand, welchen er gesucht hatte. Kaum aber überzeugte sich der Franzose, daß er seinen Mann gefunden, so ging er aus dem höflichen Ton seiner ersten Frage plötzlich in eine viel gröbere Tonart über: er war der Theaterdirektor, welcher vor fünf Jahren dem Künstler brieflich die Bestellung des »Demophoon« gegeben. Vogel hörte das mit großem Gleichmut; allein der Franzose nahm die Sache gar nicht auf die leichte Achsel. Er warf dem Musiker in harten Worten den Vertragsbruch vor, klagte bitter über die unbeantworteten Briefe, und daß ihm nicht einmal das Textbuch, sein Eigentum, trotz vielfachen Mahnens zurückgesandt worden sei.

Vogel ersuchte ihn höchst artig, Platz zu nehmen, holte das Buch, welches aber seltsamerweise nicht mehr im Notenschrank vergraben, sondern offen auf dem Klaviere lag, und übergab es dem harten Mahner mit der Bitte, er möge doch nicht gar so böse sein, einem Künstler müsse man kleine Zerstreuungen nachsehen. Der Direktor aber schalt so gewaltig über solche kleine Zerstreuungen, die man genauer ein schweres Unrecht nenne und die ihm Schaden und Verdruß genug gebracht hätten, daß die zwei Kinder aus Schreck über den bösen Mann sich hinter des Vaters Stuhl verkrochen und selbst das kleinste in den Windeln ein furchtbares Angstgeheul anstimmte.

»Erschrecken Sie mir doch meine Kinder nicht!« rief der Musiker. »Die Franzosen sind die artigste Nation: wie kann ein Franzose so grob sein!«

Der Fremde staunte und rief: »Ich bin auch von Natur gar nicht so grob. Aber man hat mir immer gesagt, Sie seien der gröbste Musiker in ganz Deutschland: wie können Sie denn so artig sein?«

»Ich bin nur grob, wenn ich Stimmung suche,« erwiderte Vogel und reichte dem Franzosen die Hand, »aber seit geraumer Zeit habe ich sie bereits gefunden.« »Reden Sie mir nicht von Ihrer Stimmung«, zürnte der Franzose; »Ihre vermaledeite Stimmung hat mir schon ich weiß nicht wieviel tausend Livres gekostet! Wozu brauchen Sie denn noch Stimmung? Zum Komponieren? Am Ende gar zum ›Demophoon‹?«

»Nein! die brauche ich jetzt nicht mehr, oder nur noch ein ganz klein bißchen, denn der ›Demophoon‹ wird bald bis zur letzten Note fertig sein.«

»Bald? und fertig? – Was soll das heißen?«

»Nun, ich meine so etwa in acht Tagen.« »Ah, das kenne ich, er ist schon oft in acht Tagen fertig gewesen.«

»Diesmal ist er ganz gewiß zum letztenmal in acht Tagen fertig.«

»Geschrieben fertig?«

»Ja! Aber ich werde Ihnen die Oper nicht geben und auch keinem anderen Menschen. Mein Vetter hat sie ja für Ihre Bühne komponiert; er ist der bessere Meister. Ich habe den Text für mein Vergnügen gesetzt und Note für Note niedergeschrieben: dort liegt die Partitur.«

»Ihr Vetter hat die Oper nicht komponiert!« rief der Franzose dazwischen. »Er hat mich mit unbestimmten Versprechen gerade so arg hingehalten, wie Sie mit dem bestimmtesten Vertrag. Ihre ganze Familie scheint beständig nach Stimmung zu suchen, welche sie nie zur rechten Zeit finden kann.«

Bei diesen Worten verlor nun Vogel seinerseits all seinen Vorrat von Höflichkeit und brach in so hellen Zorn aus, daß sich die Kinder jetzt aus Angst vor ihrem Vater hinter den Franzosen flüchteten. »Sie sind ein abscheulicher Mensch,« rief er, »ein wahrer Stimmungsmörder! Warum sagen Sie mir eben jetzt, daß mein Vetter die Oper nicht geschrieben? Warum sagen Sie mir es nicht erst nach acht Tagen? Nun weiß ich wieder nicht mehr, ob ich fertig werde. Das halbe Finale fehlt noch und die Ouvertüre; ich war seit Monaten in der sichersten Stimmung zum Schreiben; jetzt ist wieder alles vorbei. Johann Christoph hat keinen ›Demophoon‹ komponiert? Sie begehren also eine Partitur für die Aufführung? Aber sie wird unvollendet bleiben, ohne Anfang und ohne Ende.«

Da riß auch dem Franzosen der letzte Geduldfaden. »Sie sind ein Narr!« schrie er, »und all das Gerede von der fertigen Oper ist nur eine Schwindelei, die Sie mir schon öfters vorgegaukelt.«

Vogel wurde bei diesen Worten ganz kalt und gelassen und sagte lächelnd: »Sie haben mich für den gröbsten Musiker gehalten; machen Sie doch nicht, daß ich Sie nun für den gröbsten Theaterdirektor halten muß! Aber hören Sie mich an; ich bin wirklich kein Narr. Solang ich dachte, mein ›Demophoon‹ solle aufgeführt werden, war mir kein Effekt stark und sicher genug; rastlos prüfte ich und verwarf wieder und geriet in solche Todesangst über das Gelingen, daß ich keine Note mit gutem Gewissen niederschreiben konnte. Der Teufel mag komponieren, wenn er beständig von tausend klatschenden und pfeifenden Menschengestalten verfolgt wird! Aber als Sie Ihren Auftrag zurückgezogen und meinem Vetter übergeben hatten, da kam mir ein seltsames Gelüsten, die längst erfundenen Melodien nun doch niederzuschreiben, aber ganz heimlich, bloß für mich, und ich kümmerte mich keine Minute darum, ob sie sonst noch einer Seele gefallen würden als mir selber. Nun ging es prächtig. Obgleich ich ein sehr strenges Publikum war, so wußte ich doch immer, warum ich als Publikum mir, als Komponisten, Beifall spendete oder nicht, und das weiß das andere Publikum gar selten. Aus dieser seligen Selbstvertiefung reißen Sie mich heraus, indem Sie Ihre gierige Hand nach meiner Partitur ausstrecken. Der Vetter hat keinen ›Demophoon‹ gemacht. Sie wollen mir mein Werk abzwingen, Sie wollen es aufführen, aber es wird in acht Tagen nicht fertig werden, vielleicht niemals; denn solange Sie mir auf dem Nacken sitzen, ist alle Stimmung verloren!«

Vogel hielt eine Weile inne, ging im Zimmer auf und ab und besann sich. Er blickte auf seine Kinder, die sich wieder zu ihm herüberwagten. Dann fuhr er fort: »Eigentlich habe ich aber doch nicht bloß darum Ihren Auftrag ausgeführt, weil Sie mir denselben abgenommen und einem Besseren übergeben hatten. Ich habe Frau und Kinder, die zwangen mich noch viel mehr zur Stimmung.«

Der Direktor atmete auf; er fragte den Künstler, ob er durch sein Hauswesen etwa in Not geraten sei?

»O nein!« erwiderte dieser, »es ging uns immer gut. Aber meine Frau ist Sängerin –«

»Ich habe Signorina Eugenia gehört und bewundert«, unterbrach ihn der Franzose. »Von der Macht ihrer Stimme wurden Sie ins Komponieren hineingesungen!«

»– ist Sängerin gewesen«, fuhr Vogel gelassen fort. »Solange sie singen konnte, sang sie mir alle Stimmung zum Schreiben hinweg. Allein sie hat im ersten Kindbett die Stimme verloren und singt jetzt nur noch mezza voce, Wiegenlieder nämlich für unsere kleine Peppi, und auch das nur gleichsam auf Gastrollen, wenn ich mit dem Kinde gar nicht fertig werden kann. Nun gedenke ich aber gar oft zurück, wie wunderschön einst Eugenie gesungen hat, und bilde mir ein, wie herrlich sie meine Arien singen könnte, obgleich sie mir dieselben immer verdarb, und im Traumbild aller der Möglichkeiten, die noch aus ihrer Stimme für den deutschen Stil wären zu entwickeln gewesen, schreibe und schreibe ich und lese in den Noten ihre Stimme und meinen Vortrag. Ach, so harmonisch sangen und schrieben wir nie zusammen vor dem ersten Kindbett! Eine Sängerin mit ausgeprägter Schule und wirklicher Stimme kann fürchterlich werden für einen Komponisten, der bloß Partituren denkt, aber eine Sängerin mit bloß gedachter Stimme zaubert uns wunderbar in alle Tiefen einer wirklichen, geschriebenen Partitur hinein.

Doch das hätte alles nicht durchaus geholfen und die Oper wäre noch nicht halb fertig, wenn nicht die drei kleinen Kinder da herumwimmelten. Ihnen danke ich die nachhaltigste Schreibestimmung. Die Bälge lärmen und toben den ganzen Tag auf meinem Zimmer, denn meiner lieben Frau steckt das Theaterleben noch im Kopf; sie ist seelengut, aber sie ist keine Hausfrau, sie kann namentlich kein Kindergeschrei hören. Da muß ich nun fast allein haushalten und die armen Würmer erziehen, und in den Pausen schreibt sich der dramatische Satz ganz vortrefflich. Seht, wenn die Kinder ausnahmsweise einmal stille sind, dann phantasiere ich, und wenn sie, wie in der Regel, heulen und schreien, dann schreibe ich nieder – Kindergeschrei wirkt wie Eis zur Abkühlung einer überglühenden Phantasie. Und lediglich weil es fortwährend in mir sang und klang, konnte ich früher nie recht zum Schreiben kommen: jetzt singen die Kinder, da wird es stille in mir und ich schreibe.

Dann aber erst die Nächte! Oh, die Nächte im Ehestande sind wie gemacht zum Opernschreiben. Besonders still sind sie gerade nicht, allein da würde ich ja auch schlafen und träumen. Nun kommen aber die Kinder, eines nach dem anderen – ich kann sie der Mutter nicht überlassen, die ist zu nervös –; Georg hat im Schlaf die Decke weggestoßen, er will wieder zugedeckt sein, Anna wimmert, sie will – nun, Sie kennen das wohl auch. Aber die kleine Peppi fordert den strengsten Dienst; ich muß sie stundenlang umhertragen, auf den Armen wiegen; – ach, es dauert oft entsetzlich lange. Da dachte ich, als ich zum erstenmal so mein eigen Kind in stiller Nacht auf und nieder trug: das kleine Geschöpf zeigt ein neues Geschlecht an, welches aufzusteigen beginnt, und du selber trittst mit all deiner Jugend bereits in die zweite Reihe. Du bist jetzt ein ganzer Mann, denn du hast Weib und Kind; aber du hast noch nichts für die Welt getan, wie's einem ganzen Manne ziemt, du hast früher ein Kind als eine Oper auf die Beine gebracht. Am Ende wirst du Großvater, und der ›Demophoon‹ ist immer noch nicht fertig. Ein goldener Gedanke, Arbeitsstimmung zu erwecken! Mit wahrer Wut setzte ich mich des anderen Morgens an den Schreibtisch.

Wenn aber die Kinder so aus dem Kleinsten herauszuwachsen beginnen, dann schreien sie immer ärger und länger, und immer schwerer wird's, die tödliche Langeweile der Nachtstunden zu überwinden. Ich aber prüfe derweil in Geduld meine musikalischen Gedanken, die ich am Tage zusammengedichtet, ich bessere und ordne sie und singe sie dem Wickelkinde zwanzigmal vor. So banne ich mich auf einen festen Punkt der Arbeit, und das habe ich früher nie gekonnt. Braust es mir aber trotz alledem noch manchmal am Tage wild durch den Kopf, daß meine Stimmung zu allen Sternen zerflattern möchte, dann mache ich mir einen Vers aufs Notenschreiben und sage ihn dem Christian so lange vor, bis er ihn nachsprechen kann. Kann der Bube den Vers, dann ist auch die Stimmung wieder gesammelt. Ich habe wohl fünfzig solcher Verse über dasselbe Thema gemacht. Christian! wie heißt das Liedchen von der Feder und dem Pflug, welches du gestern lerntest?«

Der Kleine begann, verlegen stotternd, unter väterlicher Nachhilfe:

»Die Feder ist mein Pflug,
Den führ' ich mit festem Zug
Durchs Notenblatt, mein Furchenfeld,
Mit tausend Körnern wird's bestellt,
Und fällt der rechte Regen drauf,
So geht –«

Christian blieb stecken und lief davon; der Alte aber schloß:

»So geht der ganze ›Demophoon‹ auf.

Und er ist aufgegangen bis auf die Ouvertüre und das halbe Finale.«

Der Franzose sah den Musiker groß an, stemmte beide Arme in die Seite und rief: »Wie konnte ich Sie so lange anhören und mich von Ihnen foppen lassen! Ein schönes Drama aus der Kinderstube wird der ›Demophoon‹ geworden sein! Sie haben mir schon viele Märchen vorgelogen über Ihre Stimmung und Nichtstimmung; aber Sie lügen mich jetzt nicht aus Wien hinaus, bevor Sie mir das Textbuch zurückgegeben und mit Ihrem Vetter Schadenersatz gezahlt haben. Sie sind ein lederner Spießbürger geworden und können gar keine Oper mehr komponieren!«

Mit diesen Worten setzte er den Hut auf den Kopf, ging zur Türe hinaus und warf die Türe ins Schloß, daß die Fensterscheiben klirrten.

Nach acht Tagen suchte Vogel den Theaterdirektor in seinem Gasthause auf, die fertige Partitur unterm Arme. Die meisterhafte Ouvertüre, welche das ganze Werk überdauert hat und heute noch manchmal im Konzerte mit Bewunderung ihres hohen tragischen Schwunges und ihrer edeln, wahrhaft Gluckschen Einfalt gehört wird, hatte er in drei Tagen entworfen und ausgeführt.

Vogel sprach: »Aus Liebe oder Zorn werden unsere tiefsten Schöpfungen geboren. Im Zorn über Ihre Grobheit habe ich nun doch noch den ›Demophoon‹ fertiggemacht. Betrachten Sie die Ouvertüre des ledernen Spießbürgers, der gar nicht mehr komponieren kann, und genehmigen Sie meine Versicherung, daß Sie wirklich der gröbste Theaterdirektor sind!«

Der Franzose lachte. »Ich heuchelte nur jene Grobheit, um Ihnen den Rest der nötigen Stimmung zu verschaffen, und meine Freude über den Erfolg und mein herzlichster Glückwunsch sei Ihnen zugleich Sühne für meine rohen Worte.«

»Allein die Oper bekommen Sie keineswegs von mir«, fuhr Vogel fort; »das Textbuch steht zu Diensten. Damit Sie aber durch einen gründlichen Kenner erfahren, ob ich noch eine Oper schreiben kann oder nicht, so werde ich die Partitur an meinen Vetter in Paris schicken, der mag Ihnen sein Urteil abgeben. Bietet er Ihnen zur Lösung seines Versprechens das Werk zur Aufführung an, so mag er's tun. Ich kümmere mich nicht weiter darum; ich habe den ›Demophoon‹ lediglich für mein Vergnügen gesetzt und behalte eine Abschrift zu Hause.«

Und so geschah es. Als aber die Oper nach Paris kam, lag Johann Christoph bereits auf dem Sterbebette. Bald darauf brach die Revolution aus, der Theaterdirektor machte Bankerott und floh in die Schweiz. Unter dem Nachlaß Johann Christophs fand man später die Partitur mit der Aufschrift: »Demophoon von Vogel.« In der Meinung, sie sei das letzte Werk des Verstorbenen, führte man die Oper auf mit außerordentlichem Beifall; sie war lange Zeit ein Schmuck der deutschen und französischen Bühnen. Doch verbreitete sich frühe schon das Gerücht, nicht Johann Vogel, sondern irgendein anderer sei der Verfasser. Da aber Friedrich Vogel inzwischen völlig verschollen war und vermutlich auch bald nach seinem Vetter gestorben ist, so blieb die bezweifelte Autorschaft ein ungelöstes Rätsel. und dieser »Demophoon von Vogel« ist wohl die einzige Oper, welche nicht nur ihrerzeit allgemeinen Bühnenerfolg errang, sondern auch als eines der wenigen dramatischen Werke aus echt Gluckscher Schule kunstgeschichtlich bedeutsam wurde, obgleich niemand genau anzugeben wußte, wer sie eigentlich komponiert habe.


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