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Zweites Buch

Haus und Familie.

Erstes Kapitel.

Die Idee der Familie.

Der philosophische Mythus Platons, Jakob Böhme's und so manches anderen Denkers, daß in dem Urmenschen Mann und Weib in Einer Person vereinigt gewesen sey, findet seine praktische Deutung in der Ehe.

Die in ihre zwei Gegensätze gespaltene menschliche Gesammtpersönlichkeit sucht in der Ehe wieder einheitlich zu werden. In einem einzelnen Mann oder einer einzelnen Frau kann sich die Idee der Menschheit niemals vollständig darstellen. Ein Ehepaar gibt erst einen Mikrokosmus der ganzen Menschheit. Die Menschheit ist ausgegangen von dem »ersten Paar;« und wenn sie ausstürbe bis nur auf ein Paar, könnte sie doch wieder aufwachsen und blühend werden wie vorher.

Durch die leibliche und sittliche Verbindung von Persönlichkeiten der beiden Geschlechter zur Wiederherstellung des ganzen Menschen – die Ehe – entsteht die Familie. Denn mit jener Wiederherstellung des ganzen Menschen ist zugleich die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes gegeben, und die drei Elemente der Familie: Vater, Mutter und Kinder sind in ihr bereits vollständig vorausgesetzt. Die Familie ist darum der erste und engste Kreis, in welchen wir unser ganzes menschliches Wesen wiederfinden, uns in uns befriedigt und bei uns selbst daheim fühlen.

Sie ist die ursprünglichste, urälteste menschlich-sittliche Genossenschaft, zugleich eine allgemein menschliche; denn mit der Sprache und dem religiösen Glauben finden wir die Familie bei allen Völkern der Erde wieder.

Die Ehe und die Familiengründung ist der erste Ausfluß des hohen Urrechtes des Menschen: der freien Persönlichkeit. Bei dem Thiere verbinden sich die Geschlechtsindividuen gattungsmäßig und eben darum nur vorübergehend: bei dem Menschen verbanden sich die Personen für die ganze Lebensdauer. Wenn moderne Socialisten Staats-Kindererzeugungs-Anstalten an die Stelle der Familie setzen wollen, so heißt das nichts anderes, als die Bestialität an die Stelle der Menschlichkeit setzen. Um aber den Begriff der Familie logisch zu vernichten, muß z. B. Peter Leroux von einem Grundsatz ausgehen, welcher schon durch die bekanntesten physiologischen Thatsachen widerlegt wird: von dem Grundsatz: »die Menschheit ist virtualiter in jedem einzelnen Menschen. Die Menschheit ist der Mensch – der Mensch die Menschheit.« Wir sagen umgekehrt: der einzelne Mensch kann nicht einmal für das verkleinerte Bild der Menschheit gelten, geschweige daß er selbst die Menschheit wäre; die Menschheit ist erst im Bilde repräsentirt durch zwei Menschen, durch Mann und Weib, und wiederum nicht durch Mann und Weib in ihrer Vereinzelung, sondern in ihrer Verbindung durch die Ehe zur Familie.

Die Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts sagten statt des »Ehestandes« auch: der » ächte Stand.« In der That ist er auch der Urstand: die Basis aller weiteren Gesellschaftsentwickelung. Als die Wiederherstellung des ganzen Menschen weihet die Kirche den Ehestand und erkennt in ihm eine göttliche Einsetzung.

Man hat es katholischerseits den Protestanten als eine Inconsequenz vorgehalten, daß sie zwar ein für das ganze Leben bindendes Ehegelübde statuirten, dagegen ein gleiches Gelübde, der Ehelosigkeit nicht wollen gelten lassen. In dem Ehegelübde ist aber eigentlich nur das Urrecht der menschlichen Persönlichkeit, das Recht auf die Wiederherstellung des ganzen Menschen in der Vereinigung von Mann und Weib besiegelt und erfüllt; das Gelübde der Ehelosigkeit dagegen ist ein Verzicht auf dieses Urrecht. Der qualitative Unterschied beider Kategorien springt auch schon daraus hervor, daß eine auf Zeitdauer abgeschlossene Ehe eigentlich gar keine Ehe, ein logisches Unding ist, wahrend sich eine auf Zeitdauer gelobte Ehelosigkeit recht wohl denken läßt.

Ich kann meine Persönlichkeit ganz und ungetheilt nur einer anderen Persönlichkeit darbringen, nicht aber einer Mehrzahl von Persönlichkeiten. Daher kann eigentlich nur aus der Monogamie eine wirkliche Ehe hervorgehen. Je reifer die Menschheit wird, um so allgemeiner wird die Monogamie.

Die Familie ist uns aber nicht bloß religiös, sondern auch social und politisch ein Heiligthum. Denn die Möglichkeit aller organischen Gliederungen der bürgerlichen Gesellschaft ist in der Familie im Keim gegeben, wie der Eichbaum in der Eichel steckt. In der Familie ist gegründet die social-politische Potenz der Sitte, aus welcher das Gesetz hervorgewachsen ist. Die Familie ist überhaupt die nothwendige Voraussetzung aller öffentlichen Entwickelung der Völker. Die Familie antasten, heißt aller menschlichen Gesittung den Boden wegziehen.

Der Staat setzt die Familie voraus, aber er ist keineswegs, wie man so oft behauptet hat, die erweitertete Familie: noch ist der Organismus der Familie schlechthin ein Vorbild des Staatsorganismus.

Die Familie ist nur das natürliche Vorgebilde der Volkspersönlichkeit, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft. Beide sind, gleichsam als Naturprodukte unserer geschichtlichen Entwicklung, bestimmt durch die Idee der Sitte; der Staat dagegen ruht auf der Idee des Rechtes. So verkehrt es daher ist, den Staat als eine erweiterte Familie zu betrachten, so verkehrt ist es, bei der Familie oder der bürgerlichen Gesellschaft nach der beiden Organismen zu Grunde liegenden Rechtsidee zu fragen. In dem Wesen beider liegt gar keine Rechtsidee, wohl aber kann und muß der Staat die Familie wie die Gesellschaft hinüberziehen in seine Rechtssphäre. Aber auch dann noch betrachten wir mit gutem Grund das Familienrecht nicht als einen Theil des öffentlichen Rechtes, sondern des Privatrechts.

Es ist ein Zeichen der höchst niedrigen politischen Entwickelungsstufe des patriarchalischen Staates (der eben überhaupt nur annähernd für einen Staat gelten kann), daß hier wirklich der Staat als eine erweiterte Familie erscheint.

Wie der Staat auf den Schwerpunkt des Rechtes gestellt ist, so die Familie auf den Schwerpunkt der sich ergänzenden Liebe und der auf diese gegründeten bewegenden Mächte der Autorität und Pietät.

Die Familie steht unter der natürlichen Obervormundschaft der Eltern und speziell des Familienvaters. Diese Obervormundschaft ist ein Urrecht, in der Natur der Sache gegeben. Weil Vater und Mutter die Auctores, die Urheber der Familie sind, darum besitzen sie von selber auch die Auctoritas, die Macht der Autorität. Weil aber die Autorität die Gewalt des Urhebers ist, so ist sie andererseits gegründet auf die natürliche Liebe und Aufopferung des Erzeugers für sein Kind.

Ebenso steht der Mann zu seiner Frau in dem aus der Liebe hervorwachsenden Verhältnis; der Autorität. Nicht gezwungen durch äußere Unterdrückung, sondern weil sie es ihrer Natur nach gar nicht anders kann und mag, tritt die Frau unter die Autorität des Mannes. So war es seit die Welt stehet und so wird es bleiben. Die Frau gibt ihren Namen auf und nimmt den Namen des Mannes dafür hin; denn in diesem Namen allein ist zugleich der durch die langen Reihen der Generationen fortlebende Namen der Familie gegeben. Auch die Religion des Vaters wird für das Bekenntnis der Familie entscheidend; denn er ist der Repräsentant der Familie. Eine völlige Verschiedenheit der Religion beider Ehegatten kann gar nicht gedacht werden, denn eine solche Ehe würde von vornherein ihrem vollen Begriffe nicht entsprechen. Wohl aber wird z.B. Verschiedenheit der Confession innerhalb der gemeinsamen christlichen Kirche eine wahre Ehe nicht unmöglich machen. Es liegt dann aber im Begriff der Familie, daß alle Kinder der Confession des Vaters folgen, als des Hauptes, des Repräsentanten, des Namengebers der Familie. Ohne diese Voraussetzung kann die Integrität und Continuität der Familie gar nicht aufrecht erhalten werden. Bei den Häusern der Fürsten und des hohen Adels, wo der historische Zusammenhang der Familie noch mit besonderer Sorgfalt gewahrt wird, gilt es daher als allgemeiner Grundsatz, daß die Confession des Familienhauptes, d.h. eben die historische Confession der Familie, maßgebend bleibe für alle Glieder der Familie. In Rußland, wo patriarchalische Zustände noch so tief in das sociale, religiöse und politische Leben eingreifen, müssen sich selbst die Schwiegertöchter des Kaisers bequemen, die Confession des Hauptes der kaiserlichen Familie anzunehmen.

Das Alles sind Ausflüsse des natürlichen Autoritätsverhältnisses in der Familie, für welche der Staat keine Analogie hat.

Schon bei der Aufstellung dieser einfachsten Begriffe der Familie öffnet sich vor uns ein wahrer Abgrund gewaltiger Consequenzen. Fragt mich Einer: warum bist du Protestant? so kann ich (wie mir dünkt ohne den Vorwurf der Oberflächlichkeit) nur antworten: weil mein Vater Protestant war. Ich bin es mit Ueberzeugung; aber ich würde zu dieser Ueberzeugung niemals gekommen seyn, wenn ich nicht in protestantischen Anschauungen und Ideen aufgewachsen, wenn meine Familie nicht protestantisch gewesen wäre: mein religiöses Bekenntniß, scheinbar das Individuellste, was ich nur besitze, ist mir also wesentlich eingeimpft worden durch die Autorität der Familie. Der gemeine Mann hält darum das Abfallen vom Glauben der Väter (»Umfallen« sagten unsere Vorfahren schlechtweg) auch deßhalb für ganz besonders schimpflich, weil er darin neben Anderem die größte Verleugnung der Familie sieht. Nur in Zeiten der wildesten religiösen Erregung werfen ganze Völker die Scheu vor einer solchen Verläugnung der Familie von sich. Darum sind aber auch die großen religiösen Krisen der Menschheit niemals ohne die gründlichste Umwälzung der Familie wie der Gesellschaft vor sich gegangen.

Wir ahnen gar nicht, wie sehr die Autorität der Familie unser innerstes Selbst gefesselt hält. Dieses Schauspiel wiederholt sich, wenn wir im Großen statt auf einzelne Menschen auf ganze Generationen blicken. Die vergangenen Geschlechter stehen zu den gegenwärtigen im Verhältnis; der Autorität, des Urheber-Rechtes, wie der Vater zum Sohn. Sie haben uns die Bahnen unserer Entwickelung fest bestimmt, und wir folgen diesen Bahnen so gewiß als ich Protestant bin und seyn muß, weil mein Vater Protestant war. Aber auch diese Fesselung der natürlichen Autorität hat Maß und Ziel. Dem Kinde wird niemals der ganz gleiche Beruf mit dem Vater zufallen, und wenn ich schon ein Protestant bin, weil mein Vater einer war, so bin ich doch ein ganz anderer Protestant als mein Vater.

Wenn das Familienhaupt den übrigen Gliedern der Familie gegenüber im Verhältniß der Autorität steht, so stehen diese zu ihm im Verhältnisse der Pietät, der liebe- und ehrfurchtsvollen Hingebung. Ich sagte, auch bei den Generationen der Menschheit wiederhole sich das Verhältniß der väterlichen Autorität der vorangegangenen Geschlechter zu den nachfolgenden. So soll sich auch das Verhältniß der Pietät gegen die Vorfahren bei jedem lebenden Geschlechte wiederholen.

Autorität und Pietät sind die bewegenden sittlichen Motive in der Familie. Im Staate sind sie das nicht; sie treten hier in die zweite Linie zurück, und das Rechtsbewußtseyn tritt an ihrer Statt in die erste Linie vor.

Aus dem Grundverhältniß der natürlichen Autorität und Pietät zwischen den Familiengliedern wächst die Familiensitte auf, welche das Familienleben formt und ordnet, wie das Gesetz die Formirung des Rechtsbewußtseyns im Staatsleben ist.

Es ist hier am Ort, den höchst wichtigen Begriff der Sitte gründlicher zu bestimmen. Denn von der Familie geht das Regiment der Sitte aus, um sich über die bürgerliche Gesellschaft und, beim organischen Aufwachsen der Gesetze und Rechtsgewohnheiten, auch über den Staat zu verbreiten.

Die Entstehung der Sitte vergleiche ich mit der Entstehung des Volksliedes. Kein Volkslied hat einen bestimmten, nennbaren Verfasser. So lange man einen solchen noch nennen kann, ist das Lied auch kein wirkliches Volkslied geworden. Nur das Volk selber macht Volkslieder. Allein ein Einzelner muß doch der erste Urheber gewesen seyn? Ganz gewiß. Andere bildeten aber sein Lied weiter; ganze Generationen modelten es auf's neue um, so daß immer wohl Elemente des ursprünglichen Liedes blieben, aber auch so viele neue, an denen Hunderte mitgearbeitet, hinzukamen, daß zuletzt Niemand mehr sagen kann, wer eigentlich das Lied gemacht hat. Wüßte man auch den Namen des Autors, so thäte das gar nichts zur Sache. Das Lied ist sein Lied nicht mehr. Es sind hundert neue Lieder daraus hervorgewachsen, an welche hundert weitere Sänger Ansprüche haben, und als die Quintessenz dieser hundert Lieder erscheint zuletzt die eben geltende neueste Fassung als Volkslied. In fünfzig Jahren wird aber auch diese wieder in eine andere umgebildet worden seyn. So entsteht und wächst das Volkslied, und ganze Generationen sind sein Dichter und Componist gewesen.

Aehnlich geschieht es mit der Sitte. Eine Sitte kann niemals von einem Einzelnen willkürlich gemacht werden: sie wird und wächst wie das Volkslied. Eine von einem Einzelnen geschaffene Einrichtung wird erst zur Sitte, indem sie sich durch eine Reihe von Geschlechtern festsetzt, erweitert und fortbildet. Etymologisch ist dies angedeutet in den mit Sitte häufig gleichbedeutend genommenen Wörtern »Brauch« und »Herkommen.« Die Sitte wird solchergestalt zu dem natürlichen, organischen Produkt einer ganzen Kette menschlicher Entwickelungen, und das Vorurtheil, daß eine Sitte schon darum gut sey, weil sie sehr alt, ist in der Regel nicht unbegründet. Ein Volkslied muß auch alt seyn, sehr alt, um recht ächt und gut zu seyn. Ein »ganz neues Volkslied« ist eigentlich ein Unsinn. Denn ein solches Lied kirnte wohl im Volke gesungen werden, aber es kann nicht vom Volke gemacht seyn; dazu braucht es Zeit.

Es fragt sich nun aber weiter, was denn eigentlich der substanzielle Werth der Sitten sey, die ächt sind, weil sie alt sind. Sind sie auch gut, weil sie alt sind? sind etwa die ältesten die besten? Sollen wir unfern Trieb zur freiesten, buntesten, individuellsten Entwickelung jenen Sitten in Fesseln dahin geben, deren einziges Recht ihr langer Stammbaum ist? Sollten wir nicht nach eigenen Heften neue Normen der Lebenspraxis aufstellen, begründet auf die in der modernen Zeit unstreitig geläuterten Ideen der Freiheit, des Rechtes, des Wohlstandes, der Bildung?

Hier stelle ich nun geradezu den paradoxen Satz auf, daß allerdings die meisten Sitten gut sind, weil sie alt sind, und daß wirklich in der Regel die ältesten die besten.

Wir erkannten oben die Sitte als das geschichtliche Produkt einer ganzen Kette menschlicher Entwickelungen. Sie ist ein Gefäß nicht des Witzes eines Einzelnen sondern der Weisheit der Jahrhunderte. Sie läuterte sich und wuchs mit denselben Generationen unseres Volkes, mit denen uns das ganze große Erbe unserer geistigen Fundamental-Anschauungen zugewachsen ist. Es wiederholt sich also auch hier ein Verhältniß, welches der väterlichen Autorität verwandt ist. Weil die nationale Sitte geschaffen ist von der ganzen Volkspersönlichkeit, darum legen wir ihr höheren Werth bei, als dem Brauch, welchen ein Einzelner aufbringt. Man will ja auch nicht, daß ein Einzelner die Gesetze mache; die Vertreter der ganzen Nation, nämlich der Fürst mit seinen Ministern zusammt den Volksabgeordneten beschließen die Gesetze. Glaubet man nun hier, daß es würdiger und besser sey, wenn ein solches Werk im Namen und Auftrag der ganzen Volkspersönlichkeit geschaffen werde: um wie viel höher muß man dann das Gewicht jener großen Volkskammer anschlagen, die seit Jahrhunderten tagt um stätig und langsam die nationalen Sitten herauszubilden.

Aus den Sitten sprossen die allgemeinsten und dauerhaftesten Gesetze auf, die eigentlichen Grundgesetze der Staaten. Sie bauen eine Brücke von der Gesellschaft zum Staate hinüber. Wie die Kunst-Musik sich verjüngt und erkräftigt, indem sie von Zeit zu Zeit immer wieder zu dem Born des Volksliedes zurückkehrt, so verjüngt sich auch der Staatsorganismus durch jede neue Berücksichtigung der volksthümlichen Sitte. Diese Rücksichtnahme auf die Volkspersönlichkeit anzubahnen und zu regeln, ist eben die Aufgabe der Social-Politik. Das Volk bleibt durch Jahrhunderte jung, während der Einzelne in Jahrzehnten altert: darum ist die Volkssitte und das Volkslied ein wahrer Jungbrunnen für alternde Staatsmänner und Musikanten. Denn die schwer zu verwüstende Jugendfrische des Volkes sprüht und glüht in seinen Sitten und Liedern, und je älter Sitten und Lieder sind, um so jugendfrischer müssen sie natürlich seyn, weil ihre Keime alsdann ja in dem frühesten Jugendalter des Volkes gesäet wurden.

Wenn aber die Sitte keimt, wächst und blüht, dann muß sie auch vergehen. Tausende von Sitten erstarren, sterben ab und werden vergessen. Die ursprünglichsten aber dauern fast immer am längsten aus, und auch darum sind sie gut, weil sie alt sind, denn sie haben die Feuerprobe der Jahrhunderte bestanden.

Ein jugendlich naives Zeitalter besitzt vorwiegend noch die rechte Unbefangenheit und den natürlichen Instinkt, um jene allgemeinsten und sittlichsten Sitten schaffen zu können, die für die häusliche und gesellschaftliche Lebenspraris auf Jahrhunderte den Grund legen. An eine Sitte muß man glauben. Wenn wir aber auch ganz vortreffliche neue Grundlagen des Hauses und der Familie ersönnen, würden doch schwerlich noch einmal Sitten daraus aufwachsen, denn alle Welt würde unsere neuen Regeln kritisiren, und nur die Wenigsten würden sie gläubig hinnehmen und bewahren. Eine Epoche, welche so theoretisch schöpferisch ist auf dem Gebiete des Rechts wie die unsrige, wird es niemals praktisch auf dem Gebiete der Sitte seyn. Wir werden die ererbten Sitten läutern, weiter bilden oder zerstören, in minder wichtigen Dingen werden wir auch allenfalls Keime zu neuen Sitten pflanzen; aber Cardinalsitten der Nation, die bestimmend würden für den ganzen Charakter derselben, schafft unsere Zeit keine mehr. Wären darum die alten Cardinalsitten unseres Volkes auch minder gut als sie wirklich sind, so müßten wir sie doch festhalten, weil in ihnen eine Autorität gegeben ist, die, einmal gebrochen, für uns nie mehr wieder gewonnen werden kann. Die Nationen selber fallen in Trümmer, wenn einmal ihre Cardinalsitten fallen; denn in dem Aufgeben dieser Sitten ist zugleich der ganze Charakter der Nation, die innerste Culturmacht derselben, verläugnet und abgeschworen.

*

Ich habe gezeigt, wie die Idee der Familie eine ganz andere sey, als die Idee des Staates, indem die Familie gegründet ist auf das Bewußtseyn der liebevollen Autorität und Pietät unter ihren Gliedern, der Staat aber auf das Rechtsbewußtseyn; wie dem entsprechend der innere Lebensgang der Familie geregelt wird durch die Sitte, der Lebensgang des Staates aber durch das Gesetz.

Dieser starre principielle Gegensatz wird jedoch in der Wirklichkeit flüssig. Die staatlichen Rechtsverhältnisse greifen hinüber in die Familie, und der Staat, der eben nicht bloß nackter Rechtsstaat ist, sondern zugleich ein socialer, in der Volkspersönlichkeit gewurzelter Staat, kann sich dem Rückschlage der Familienzustände durchaus nicht entziehen.

Hausregiment und Staatsregiment sind zwei grundverschiedene Dinge. Dennoch reißt der Verfall des Hausregimentes auch das Staatsregiment unrettbar mit sich fort.

Als Landgraf Philipp der Großmüthige von Hessen seinen Sohn Georg eines Tages aus der Schule rufen ließ, und dieser zierlich aufgeputzt mit neuen, engen, glatten Stiefeln und einem feinen hohen Filzhütchen erschien, schnitt der Vater dem geputzten Prinzen mit eigener Hand die Stiefel von den Füßen ab: und sandte ihn, mit einem Paar seiner eigenen großen Stiefel und einem rauhen Filzhut angethan, zum großen Gelächter der Gassenbuben zu seinem Lehrmeister zurück.

Man würde es heutzutage sehr unpolitisch finden, wenn ein Fürst seine väterliche Gewalt so angesichts der Oeffentlichkeit übte, daß er einen Erbprinzen, und wäre derselbe gleich noch ein ABC-Schütze, zur Strafe für ein häusliches Vergehen dem Spotte des Marktes preisgäbe. Vor dreihundert Jahren war das Verfahren Philipps im Gegentheil politisch. Zeigte der Fürst, daß er ein kraftvolles Hausregiment führe, so erwartete man auch ein kraftvolles Staatsregiment von ihm. So war es in dieser ersten Blüthezeit der neuen patriarchalischen Füistensouveränetät. Im constitutionellen Staatsrecht gibt es kein Kapitel vom Hausregiment, wohl aber in der Social-Politik.

Beiläufig bemerkt, ist die öffentliche und handgreifliche Demonstration des Hausregiments bei jenem Prinzen Georg gar nicht übel angeschlagen. Der Ahnherr der hessendarmstädtischen Linie, zeichnete er sich nachgehends durch seine kluge, sparsame Führung des Staatshaushaltes aus, durch ein patriarchalisch-ökonomisches Staatsregiment.

Man begehrt gegenwärtig wieder dringender als vorher Anerkennung der Autorität des Fürsten, der Verwaltung, der Gesetzgebung, der Kirche in Summa aller öffentlichen Lebensmächte. Das kann nichts anderes heißen, als daß man die bewußt oder instinctiv dargebrachte Beugung des Eigenwillens vor diesen Gewalten im Interesse der Gesammtheit fordert. Bei den Massen zieht dieser Geist des Respects vor der Autorität nur ein, wenn das Geschlecht die volle Autorität der Familie wieder durchempfunden hat. Eine anscheinend wieder gewonnene Autorität der öffentlichen Mächte steht so lange wurzellos in der Luft, als in der Sitte des Hauses die Autorität des Hausregiments nicht restaurirt ist. Es kann kein patriarchalisches, rein auf das Verhältniß von Autorität und Pietät gegründetes Staatsregiment mehr bestehen in dem civilisirten Europa, wohl aber ein patriarchalisches Familienregiment, und dieses letztere muß bestehen, wo ein ächt conservativer Geist bei den Staatsbürgern einziehen soll. Im Hause allein aber kann bei uns das Volk den Geist der Autorität und Pietät noch gewinnen, im Hause kann es lernen, wie Zucht und Freiheit mit einander gehen, wie das Individuum sich opfern muß für eine höhere moralische Gesammtpersönlichkeit – die Familie. Und im Staatsleben, obgleich es auf eine andere Idee als die Familie gebaut ist, wird man die Früchte dieser Schule des Hauses ernten.

Der tiefste Grund zur Autorität in der Familie, zum Hausregimcnt, wird gelegt bei der Erziehung der Kinder.

Früher erzog man die Kinder im Hause; moderne Art ist es dagegen, sie möglichst früh hinaus in die Schule zu schicken. Die deutschen Fürstensöhne des sechzehnten Jahrhunderts wurden im früheren Knabenalter noch von ihren Müttern erzogen; später nahm der Vater in Gemeinschaft mit den Hofmeistern die Erziehung in die Hand. Regieren lernten die Prinzen gleichfalls im väterlichen Hause, indem sie schweigend zuhören durften, wenn wichtige Staatsangelegenheiten verhandelt wurden. Nachgehends schickte man sie fleißig in die Schreibstuben der fürstlichen Räthe, auf daß sie dort mitarbeiten und die Kunst des Regiments von unten herauf kennen lernten. (Gegenwärtig hält man es zwar noch für passend, daß ein Prinz im Militär von unten herauf dient und zur Probe einmal Schildwache steht, würde es aber durchaus nicht mehr für passend halten, wenn er sich auch durch die Bureaux der Ministerien von unten auf arbeitete, obgleich er doch später weit mehr regieren als commandiren soll.) Hatte der Prinz zu Hause ausgelernt, dann ging er in die Fremde, d. h. an den Hof eines befreundeten deutschen Fürsten, um anderer Leute Art und Weise kennen zu lernen. Auch dort kam er in die Zucht des Hauses und lernte fremdem Hausregiment sich fügen. Auf diese Art bildete man zwar keine Gelehrten (obgleich Ludwig der Getreue von Hessen-Darmstadt bei seinem häuslichen Erziehungscursus das ganze Corpus juris auswendig gelernt hat); aber man bildete Persönlichkeiten.

Der Segen solcher ächten familienhaften Gesellen-Erziehung ging früher durch alle Stände. Wer Cavalier werden wollte, der zog nicht auf die Pagerie, sondern ging zu einem erfahrenen alten Hofherrn, in dessen Haus er wie in kindlichen Pflichten und Rechten gehalten wurde und nebenbei alle Handgriffe eines Cavaliers erlernte. Der Künstler suchte sich seinen Meister auf, und der Meister machte eine Schule, die zugleich eine Schule der häuslichen Autorität war. Nicht blos die Kunst, auch das Familienleben wurde trocken durch die Akademien. Bei dem Handwerk lebt das heutzutage noch halb und halb in alter Weise fort. Der ächte Bauer allein aber gehet noch bei keinem andern auf die hohe Schule der Landwirthschaft als bei seinem eigenen Vater. Dadurch ist zwar die bekannte Verstocktheit gegen ökonomische Fortschritte unter das Bauernvolk gekommen; allein auf der andern Seite ist auch der Bauer ein um so größerer Virtuos der Persönlichkeit geblieben, familienhafter und in seinem Stand gefesteter als irgend ein anderer moderner Mensch.

Es gehört jetzt zum vornehmen Ton, die Kinder so früh als möglich aus dem Hause zu schaffen, oder sie wenigstens im Hause ganz an einen gemietheten Hofmeister abzugeben. Man sagt, unsere Berufs- und Erwerbsverhältnisse sind so complicirt geworden, daß sich der Vater der häuslichen Erziehung seiner Kinder gar nicht mehr widmen kann. Damit wäre aber nur der Beweis geführt, daß unsere Erwerbsverhältnisse überspannt und maßlos geworden sind, daß wir in Vielthuerei und der Hetzjagd nach Geldgewinn uns selber verderben, nicht aber daß wir unsere Kinder der häuslichen Erziehung entreißen müssen. In unserer statistischen und finanz-politischen Zeit mißt man die Arbeit nur nach dem daraus hervorspringenden materiellen Erwerb. Das ist grundfalsch. Die häusliche Kindererziehung ist eine Arbeit, durch welche man gar nichts erwirbt – höchstens Gottes und seiner Kinder Segen – und dennoch sollte sie die vornehmste Arbeit eines jeden Staatsbürgers seyn. Wer aber von vornherein keine Zeit hat, seine Kinder selbst zu erziehen, dem sollte auch das Heirathen von Polizeiwegen von vornherein verboten seyn. Man verbietet ja auch das Heirathen wegen mangelnder Subsistenzmittel. Die häusliche Erziehung gehört auch zur Subsistenz der Familie; denn der Mensch lebt nicht vom Brode allein.

Der Zeitpunkt, in welchem die häusliche Erziehung übergehen muß in die öffentliche, wird nach den verschiedenen Culturstufen der Völker ein verschiedener seyn. Wir können die häusliche Erziehung nicht mehr so weit erstrecken, wie das Mittelalter: nicht aus dem eitlen Grund, daß die Familienväter keine Zeit mehr übrig hätten für ihre Kinder, sondern weil der Staat eine ganz andere Stellung zur Familie eingenommen hat. Denn in der Schule baut sich der Staat eine Brücke zur Familie und macht ein in der modernen Staatsidee tief begründetes Oberaufsichtsrecht über die Familie geltend, wie es das Mittelalter nicht gekannt hat. Ihrer Form nach gehört die Schule dem Staat, ihrem Inhalte nach aber sollte sie eine Vertretung und Fortsetzung des Hauses seyn. Ganz verkehrt aber ist das moderne Extrem, nach welchem die Schule das Haus absorbirt und überflüssig macht.

Unser modernes Schulwesen ist aufgekommen mit der Reformation, mit der modernen Fürstensouveränetät, mit der modernen Staatsidee des sechzehnten Jahrhunderts. Das ist eine culturgeschichtliche Thatsache von großer Tragweite. Die Stellung der Schule zur Familie hielt auch gleichen Schritt mit der Entwicklung jener Staatsidee.

Zuerst bildete sich die absolute Fürstengewalt als das entscheidende Moment im neuen Staate heraus, der die Feudalwelt stürzte. Die Organisirung der Schulen als Bildungsanstalten war damals eine Frucht des Humanismus und der Reformation; ihre Organisirung als Erziehungsanstalten dagegen eine Frucht des neuen Staatslebens. Die neuen souveränen Fürsten mochten wohl fühlen, daß die Idee der in ihrer Person dargestellten Staatsallmacht, die sich ihnen vorerst noch wie eine dunkle Ahnung aufdrängte, den mittelalterlichen Absolutismus der Familie und der häuslichen Autorität beugen müsse. Die Anlegung der öffentlichen Schulen bot ein vortreffliches Mittel dazu: denn in diesen Schulen tritt ja das Kind aus der Autorität der Familie heraus unter die Autorität einer öffentlichen Anstalt. Kein Jahrhundert war eifriger in der Gründung öffentlicher Schulen und in der Zerstörung der Winkelschulen als das sechzehnte. Beiläufig bemerkt trat man durch die Schulen auch nicht bloß der Uebermacht der Familie entgegen, sondern nicht minder der Uebermacht der Kirche.

Wie aber die neue Fürstensouveränetät sich selber noch keineswegs frei gemacht hatte von den pattiarchalischen Reminiscenzen des Mittelalters, so ging auch der patriarchalische Geist der Familienautorität vorerst noch durch die neuen Schulen. Es gab noch keine Schullehrer und Schulgehülfen, sondern Schulmeister und Schulgesellen. Sie handhabten als Patriarchen der Schule die väterliche Autorität. Luther nennt die Schulmeister auch Zuchtmeister, Bildung und Zucht war eines. An den zehn Geboten lernten die Kinder das ABC, und am Vaterunser und dem Glauben lernten sie buchstabiren. Um sich zum Lateinsprechen zu rüsten, mußte der Tertianer der Lateinschule vorerst den ganzen Terenz auswendig leinen, und durfte dann in der Klasse (bei dem »Haufen« pflegte man etwas zuchtmeisterlicher zu sagen) nur lateinisch reden. Durch so harte Zucht kam die Autorität des Hauses in die Schule. Man vermeinte auch, aus ein und demselben Schulbuche müsse für alle Ewigkeit gelernt werden. Von Melanchthons griechischer Grammatik ist z. B. in alten protestantischen Schulordnungen ausdrücklich gesagt, daß »Grammatica Philippi für alle Zeiten« Schulgrammatik bleiben müsse. Wisset ihr nicht, daß auf ererbten Büchern aus der väterlichen Bibliothek ein ganz anderer Segen ruhet, als auf neu erkauften? Jene Bücher lebt man durch; die neuen liest man bloß durch. Darum saß ein eigener huldreicher Zauber in der alten Weise, welche in Schule und Haus die Lehr- und Hausbücher von Geschlecht zu Geschlecht forterben und immer brauchbar bleiben ließ, während der ganze grelle Individualismus der modernen Zeit losgelassen ist in dem Brauch, daß jeder Schulmeister mit einem eigenen Lehrbuch experimentiren muß.

Die politische Entwickelung blieb aber nicht stehen bei der absoluten Fürstensouveränetät. Während der Blüthezeit dieser neuen Herrschergewalt wurden allmählich neue Gedanken über die Rechtsordnung des Staates wissenschaftlich durchgearbeitet. Sie gingen dann auch in die öffentliche Meinung, in die Staatspraxis über. Da gab es keinen Glauben mehr an patriarchalische Autorität, nicht im Staate, auch nicht in der Familie. Wäre es nicht Barbarei gewesen, wenn die Schulmeister allein noch patriarchalische Autorität geübt hätten? Neue Ideen wurden allmächtig: Gleichheit des Rechts, Gleichheit der Stände, Freiheit der Staatsbürger, allgemeine Humanität, allgemeine Weltverbrüderung. Es war eine Periode der Verläugnung des Hauses und der Familie, wie ich weiter unten nachweisen werde. Das Haus mußte also auch aus der Schule fortgeschafft werden. Basedow, der selbst aus dem elterlichen Hause fortgelaufen war, weil er die häusliche Zucht seines Vaters, eines Perückenmachers, nicht ertragen wollte, begründete den Philanthropinismus in der Erziehung, der sich ebenso bestimmt auf die Theorien Locke's, Rousseau's etc. stützte, wie es nachgehends die Staatsgrundsätze der Revolution gethan. Bildung aller Art sollte den Kindern gleich gebratenen Tauben in den Mund fliegen. »Bitter für den Mund, ist für's Herz gesund« – war ein verachteter Bauernspruch geworden. Der Mühsal und Plage der häuslichen Zucht sollte die liebe Jugend ganz überhoben werden. Der Schmutz und die Armseligkeit des bürgerlichen und bäuerlichen Hauses kam der feinen Welt plötzlich zur haarsträubend genauen Anschauung. Man erkannte dabei freilich nicht, daß doch auch die etwas kannibalisch klingende Redeweise der Bauern einen tiefen Sinn birgt, nach welcher just der Bube, der am meisten Läuse hat, dereinst der gesündeste, kräftigste und schmuckste Bursche werden wird.

Die philanthropischen Erzieher trieben nicht nur den Geist der häuslichen Zucht aus der Schule, sondern sie suchten überhaupt die Schule an die Stelle des Hauses zu setzen. Dieß fand abermals die Sympathie und Begünstigung des Staates, der gerade in die Phase des modernen Bureaukratismus überzugehen begann. Der büreaukratische Staat, welcher alles eigenthümliche sociale Leben verneinte, wollte noch viel weniger der Familie die Berechtigung eines selbständigen sittlichen Kreises im öffentlichen Leben zuerkennen. Er suchte daher den Sieg der reinen Schulerziehung über die Hauserziehung nach Kräften zu fördern. Die Zucht- und Meisterlosigkeit des Geschlechtes, welches Deutschlands tiefste Erniedrigung in der napoleonischen Zeit miterlebt und theilweise mitverschuldet hat, hing nicht wenig mit der Zerstörung aller patriarchalischen Autorität in Schule und Haus zusammen. Aus den neumodischen Schulen, in welchen vernünftige Ueberzeugung und freundschaftlicher Verkehr die alte Zucht ersetzen sollte, kamen tausend anmaßliche Vielwisser hervor, aber gar selten ein Charakter. Wie sehr das Zeitalter, da es die gesunde Praxis der überlieferten häuslichen Zucht aufgegeben, einem pädagogischen Theoretisiren verfiel, und darüber den einfachsten Mutterwitz in Erziehungsfragen verlor, zeigt das Beispiel des Philosophen Fichte. Dieser Denker, der selbst der philanthropischen Erziehungsspielerei in seinen Schriften als ein Reformator gegenübersteht, wandte sich an den Philosophen Johann Jakob Wagner, um ihn als Erzieher für seinen anderthalbjährigen Knaben zu engagiren, weil »das Kind beim ersten Erwachen seiner Vernunft gleich als völlig vernünftig behandelt werden, daher unablässig in verständiger und gesetzter Gesellschaft seyn solle, die sich mit ihm unterhalte, als ob es selbst verständig sey.« Erst als die Ausführung des Problems herannahete, nahm Fichte wahr, daß der anderthalbjährige Kleine noch nicht einmal zwei Worte deutlich sprechen konnte, also schlechterdings außer Stande war, die ihm zugedachte philosophische Erziehung bereits aufzunehmen! Im Gegensatz zu Fichte's »verständiger und gesetzter Gesellschaft« für Kinder, die eben laufen lernen, sagt der Bauer: »Jung bei jung und alt bei alt; denn was jung ist, das spielt gern, und was alt ist, das brummt gern.«

Durch die Entfernung vom Hause und ihre Folgen führte der Weg zum Wiedererkennen des Werthes der altmodischen naturalistischen häuslichen Erziehung. Indem wir abkommen von dem Begriff der büreaukratischen Staatsallmacht, indem wir die Bedeutung der socialen Mächte wie der Familie neben dem Staate wieder zu würdigen beginnen, können wir uns auch einer Umgestaltung unsers Erziehungswesens nicht lange mehr entschlagen. Wir müssen dem Hause wiedergeben, was des Hauses ist; in der Schule aber nicht den Geist der häuslichen Zucht verläugnen, sondern vielmehr verklärt und geläutert wiederum walten lassen. Radowitz unterscheidet einmal die Perioden der Pädagogik nach »geprügelten und geschmeichelten Generationen,« die sich fort und fort wechselsweise folgen, denn die Väter suchen vorzugsweise das bei den Söhnen nachzuholen, was man in ihrer Jugend versäumte. Dem Lehrer des nachmaligen Grafen Eberhard im Barte von Württemberg, Johannes Nauclerus, ist »eingebunden« worden, dem Jungherrn nicht zu viel lateinisch zu lehren, »sondern wäre genug, wann er schreiben und lesen kundt.« In Folge dessen empfand Graf Eberhard später den Mangel gelehrter Bildung so bitter an sich selber, daß er die Gelehrten auf's höchste in Ehren hielt, und dieweil er selbst kein Latein gelernt, stiftete er die hohe Schule in Tübingen, damit andere Leute um so besser Latein lernen möchten. – Unsere Generation war noch halb und halb eine »geschmeichelte;« es wird also wohl wieder eine »geprügelte« kommen müssen.

In Nordamerika, wo das Familienleben fast ganz untergeht in dem Rennen und Jagen nach Gelderwerb, besteht auch kaum eine häusliche Erziehung. Die Frauen, die dort überhaupt für das eigene Führen der Haushaltung zu vornehm sind, mögen sich noch viel weniger mit der Zucht ihrer unartigen Rangen plagen; die Väter haben keine Zeit dazu. Auch gehört es zur amerikanischen Freiheit, dem Kind möglichst seinen Willen zu lassen. Strenge Uebung der häuslichen Autorität wäre eine »feudale« Reminiscenz aus der alten Welt. Dafür ist denn auch die großstädtische amerikanische Gassenjugend die ungezogenste und bösartigste, die es gibt. Die Volksschulen können nicht gedeihen, weil die Vorschule der häuslichen Zucht fehlt, weil überhaupt nur dann ein Volk für das ganze Erziehungswerk begeistert und opferwillig seyn wird, wenn die Väter bei der Uebung des häuslichen Erzieheramtes dessen Bedeutung selber durchempfunden haben.

Ein höchst merkwürdiger nordamerikanischer Schriftsteller und Agitator, der Congregationalist Theodor Parker, legt in einer seiner geistvollen Abhandlungen die Schattenseiten des Erziehungswesens seines Landes mit großem Scharfblicke dar, kommt aber zuletzt zu der Forderung, daß die Erziehung und Bildung für alle Menschen eine möglichst gleichmäßige und ausgedehnte werden, daß der künftige Arbeiter dieselbe Erziehung erhalten müsse wie der künftige Gelehrte etc. Das ist ächt amerikanisch. Wer die Gesellschaft nivelliren will, der muß nicht damit anfangen, daß er den Besitz ausgleicht, sondern die Erziehung. Die Erziehung erhält ihren Grundton im Hause, welches ein anderes ist je nach den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Der Arbeiter wird seinen Sohn ganz anders erziehen, als der Gelehrte. Darum ist noch lange kein Kastenwesen in dieser socialen Unterscheidung der häuslichen Erziehung festgestellt. Denn wenn in dem Sohn des Arbeiters ein mächtiger Charakter und ein Talent steckt, dann durchbricht er den Bann des Hauses und wird in seiner Bildung sich bis zum höchsten wissenschaftlichen Range durcharbeiten. Die Erziehung soll also – im Gegensatz zu der Forderung jenes Amerikaners – für jeden gesellschaftlichen Kreis die beste seyn, aber nicht für jeden die gleiche. Maß und Richtung sind hierbei bezeichnet durch die Familienzustände, das Haus der einzelnen Gesellschaftsgruppen. Daran mag man die Bedeutung des Hauses und der häuslichen Erziehung für das Fortbestehen wie für die Verjüngung unserer gesammten bürgerlichen Gesellschaft erkennen.

Die modernen »Rettungshäuser« sind neben Anderem ein thatsächlicher Beweis, daß man die Bedeutung der Familienzucht für die Erziehung wieder begreifen lernt. Nicht bloß Waisenkinder, sondern überhaupt familienlose Kinder, Kinder welche »hinter den Hecken jung geworden« sind, sollen hier ein Haus wiederfinden; zuerst sollen sie erzogen werden in christlicher Familiensitte, in der liebevollen Zucht des Hauses, und alsdann gebildet in allerlei nützlicher Kenntniß; zuerst soll ihnen das Haus erschlossen werden und nachher die ganze Welt. Darin ist ein großer Gedanke geborgen.

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Auf den uranfänglichsten Stufen der Civilisation der Völker ist das Familienleben schon kräftig entwickelt, das Staatsleben dagegen schlummert noch. Auch der Gedanke der Freiheit und des persönlichen Menschenrechtes des Individuums schlummert noch, während das Recht der Familie bereits entschieden zum Bewußtseyn gekommen ist.

Dadurch entsteht eine Zwingherrschaft des Hauses, eine Despotie der Sitte, die im patriarchalischen Zustand jede andere öffentliche und private Freiheit verschlingt. Und doch ist diese Zwingherrschaft zugleich der älteste Adelsbrief des Menschen: denn in der Despotie der Familien- und Stammessitten ist der erste Grundunterschied einer Horde roher Wilden von einer Horde Bestien gegeben.

Während bei uns die Familie schier aufgehoben wird durch die Fessellosigkeit des Individuums, droht die Familie bei rein patriarchalischen Zuständen das Individuum geradezu zu vernichten. Schwache und krüppelhafte Kinder werden bei den alten Germanen, bei den Indianern Nordamerikas und selbst noch bei den Spartanern ausgesetzt und getödtet, damit sie die Familie nicht verunzieren und belästigen. Uneheliche Kinder, die der Familie doch nur zur Schande gereichen würden, wurden früher von den Kabylen ohne weiteres erdrosselt. Im Orient kaufte der Bräutigam die Braut seinem Schwiegervater ab, nicht als seine Sklavin, sondern um sie als Sklavin der allgewaltigen Familien-Idee zu bezeichnen. Eine alte Jungfer zu bleiben, ist nirgends schimpflicher als im Orient; denn nur in der Familie gilt das Weib, nicht als Individuum. Die Furcht, mehr Töchter zu besitzen, als man verheirathen kann, führt in Indien nicht selten zum Kindermord. Bei den Hindus, wo überhaupt so manches Symbol einer richtigen Idee in ungeheuerlicher Verzerrung dargestellt wird, zeigt die Wittwenverbrennung, wie sich der Despotismus der Familie bis zur Vernichtung des Individuums steigert. Gerade bei dem ritterlichsten indischen Volke, bei den Radschputen, ist die Wittwenverbrennung bis in die neueste Zeit nicht auszurotten gewesen: wie uns bei diesem besonderen Stamm so mancher mittelalterlich romantische Zug in der phantastischen Umbildung des Orients entgegentritt, so auch in der Wittwenverbrennung der bis zur wahnsinnigen Selbstvernichtung gesteigerte mittelalterliche Cultus des Hauses und der Minne. Die Wolga-Kalmüken behandeln ihre Frauen mit der feinsten patriarchalischen Courtoisie; so wie aber die Frau im Hauswesen etwas versieht, hört diese Courtoisie auf (denn der Genius des Hauses steht höher als die persönliche Würde des Weibes) und die Sünderin wird tüchtig durchgepeitscht. Die Peitsche womit dieß geschieht, zugleich Schwert und Scepter des Hausregiments, wird aber wie eine heilige Reliquie von Geschlecht zu Geschlecht aufbewahrt.

Das merkwürdigste Beispiel, in welchem Grade ein Volk geradezu aufgehen kann in der Familie und dem damit zusammenhängenden familienhaften Stammesleben, geben übrigens die Zigeuner. Schon der Name, den sich das Volk selber gibt, »Rom« oder »Romanisaal« heißt nach der Auslegung des großen Zingaristen Borrow Familienvolk. Das Volk hat kein Land, keine Stadt, kein Haus, es ist nur bei sich selbst zu Hause, d.h. beim Stamm, bei der Familie. Diese einzige Basis des Volkslebens ersetzt ihm jede andere. Nur innerhalb der Familie und des Stammes gibt es eine Sittlichkeit, gibt es Recht und Gesetz: die ganze übrige Welt ist dem Zigeuner vogelfrei. Den Bruder der großen Stammesfamilie soll er nicht betrügen, nicht bestehlen, er soll ihm kein Geld schuldig bleiben; wenn er andere Leute betrügt oder bestiehlt, so hat das nichts zu sagen. Denn nur innerhalb des Stammes gilt das Sittengesetz. Wenn der Bruder ihn beleidigt, so ist seine Ehre gekränkt und er fordert eclatante Genugthuung; der Fremde dagegen mag ihn treten, mag ihm ins Gesicht speien, das kränkt seine Ehre so wenig, als der Biß eines Hundes meine Ehre kränkt – es reizt höchstens seine geheime Rache. Die Familienpietät ist des Zigeuners Religion, der Gehorsam gegen die Sitte der Stammesfamilie seine Staatsbürgerpflicht. Jede öffentliche sittliche Macht wird bei ihm verschlungen von der Familie. Der Zigeuner hat Familienüberlieferungen. Er liebt es, dieselben beim Feuer des nächtlichen Lagers im Walde den Seinen zu erzählen und träumend in dem vergangenen Glanze seines Geschlechtes zu schwärmen. Aber er hat keine Volksgeschichte. So fest die Familie sein Volk zusammenhält, so zerbröckelt ihm ihr Absolutismus doch wieder den historischen Begriff des Volkes in die Erinnerung an lauter einzelne Familien. Der Zigeuner rettet Einzelzüge aus seiner Familienüberlieferung oft mit wunderbarem historischem Instinkt; aber er kann uns nicht einmal andeuten, wann sein Volk nach Spanien, nach Europa gekommen ist. Er weiß nicht, woher es kommt und wohin es geht. So vernichtet das Uebermaß der Familienhaftigkeit den historischen Geist nicht minder, wie auf den kahlen Höhen der Civilisation die Verläugnung der Familie denselben auslöscht. Wie könnte der Zigeuner auch eine Geschichte seines Volkes haben, da eine Geschichte der andern Völker für ihn so wenig existirt, als für uns eine Geschichte der Hunde? Erst indem ein Volk an andern Völkern sich reibt, indem es sein Wesen mit dem ihrigen vergleicht und mißt, wird es sich auch seiner eigenen Volkspersönlichteil historisch bewußt. Eine Familien- und Stammestradition, die sich bloß in sich selbst versenkt, kann niemals zu einer Volksgeschichte werden.

Die Zigeunermutter wacht über ihrem Kind wie die Löwin über ihrem Jungen. Aber so tief die wilde Mutterliebe in ihrer Brust sitzt, bringt sie doch auch diese der Idee der Familie zum Opfer dar. Oder wollt ihr lieber sagen dem Idol der Familie? Noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ließ die deutsche Justiz gelegentlich ein ganzes Dutzend Zigeuner der Reihe nach an den Chausseebäumen aufknüpfen, lediglich weil sie Zigeuner waren. Da nämlich der Stamm der Zigeuner alle Draußenstehenden im Punkte des Bestehlens und Betrügens für vogelfrei erklärte, so erklärte die Justiz alle Zigeuner im Punkte des Hängens für vogelfrei. Oftmals bot man Generalpardon jedem, der die Schlupfwinkel der übrigen Horde angeben wollte. Sie ließen sich aber der Reihe nach aufhängen und schwiegen. Es ist hierbei vorgekommen, daß man hochschwangere Mütter – aus Menschlichkeit! – von der Execution ausnahm, um sie vorerst gebären zu lassen. Dann erst wurden sie zum Galgen geführt und ihnen Pardon unter derselben Bedingung wie den Andern geboten. Allein sie überwanden selbst die Mutterliebe, die ihnen befahl, zum Schutze des verlassenen neugeborenen Wurmes ihr Leben zu erhalten und den Stamm zu verrathen; sie ließen sich aufhängen, zu Ehren des allmächtigen Familiengeistes ihres Volkes und überließen das Kind unserem Herrgott und ihren Henkersknechten.

Das urpatriarchalische Uebermaß des Familienthums, welches die Familie zu einem Moloch macht, dem die freie Persönlichkeit in den Rachen geworfen wird, ist in den Überlieferungen auch des deutschen Volksaberglaubens noch tief in das germanische Mittelalter hereingedrungen. Aus dem dunkelsten Alterthum dämmert dort der Glaube herüber, daß ein Hausbau am festesten wird, wenn man ein lebendes Kind in die Fundamente einmauert. Vernichtet werden muß der Einzelne, vernichtet das theuerste Kleinod der Familie, ein unschuldiges Kind, damit das ganze Haus fest stehe über der Leiche des zu Tode gemarterten Einzelmenschen.

Auf den bloßen Grundlagen der natürlichen Autorität und Pietät kann die Familie sich erweitern zum familienhaften Stamm; die Familiensitte kann als Stammessitte den Schein eines bürgerlichen Gesetzes annehmen, die Sühne des Hausfriedensbruches kann sich in der Blutrache bis zum Vernichtungskrieg ganzer Volkerstämme erweitern: allein niemals wird diese quantitative Ausdehnung der Familie den Stamm auch qualitativ auf die Potenz eines Staatsvolkes erheben. Die starre, reine Familienherrschaft erzeugt die Gesittung, um sie selber wieder zu verschlingen. Der bloße Familienstaat erstarrt; das bezeugt die Geschichte des Orients zur Genüge. In großen Zügen hat sie ihre Warnungen aufgezeichnet, wohin die ausschließliche Uebermacht des Familienprincipes führt, wenn das Staats- und Gesellschaftsleben daneben verkümmert und verkrüppelt bleibt. Sorgen wir aber, daß die Nachwelt nicht bei uns selbst ein Warnungszeichen nach entgegengesetzter Seite erkennen muß, ein Warnungszeichen, wohin die einseitige Uebermacht des Staatsprincipes führt, wenn die Familie und das Haus daneben verläugnet wird!

Der organische Zusammenhang des Hausregiments mit dem Staatsregiment besteht am unmittelbarsten in der germanischen Urzeit; er lockert sich in der Feudalzeit: er löst sich auf in dem modern büreaukratischen Staate. Die Familie sinkt dem letzteren zur bloßen statistischen Formel herab. Wie der Patriarchalisnms die Familie fälschlich als das Vorbild des Staates ansteht, so tragen die mechanischen Administrationsschulmeister unserer Zeit den Staat in die Familie hinüber und möchten gar auch das Haus nach ihrem Schubladensystem der Statistik und Verwaltung regiert wissen.

Die Sittenlehre der Edda hebt noch an mit der Sitte des Hauses. Erst aus der Sittlichkeit der Familie wächst ihr die allgemeine Sittlichkeit hervor. So setzt auch das germanische Alterthum das Haus voran, als den wahren Herd der öffentlichen Sittlichkeit, der nationalen Kraft und Tugend. Es kennt nicht nur ein durchgreifendes Hausregiment, sondern auch eine entsprechende Hauspolizei. Seltsam genug steigert sich bei den alten Deutschen die Autorität des Hausvaters zum Uebermaß wegen der Ohnmacht des staatlichen Elementes, während der altrömische Bürger ein Tyrann des Hauses seyn konnte kraft der Uebermacht der Staatsidee, die in ihm, dem Bürger, allein den ganzen Menschen sah.

Im patriarchalischen Deutschland war die Polizei Sache der Familie; sie ward vom Hausvater über alle zu derselben gehörige Personen geübt. In unfern meisten modernen Strafgesetzbüchern dagegen kann das allgemeine Büttelamt des Staates selbst bis zu den unerzogenen Kindern am häuslichen Herde vordringen. Es ist schon ein Zeugniß besonderer Mäßigung und Anerkennung der Familie, daß das bayerische Gesetz vom Jahre 1813 der Polizeibehörde bloß das Recht der »Mitwirkung« zugesteht, wenn der Vater seinem bösen Buben die Ruthe applicirt, wofern derselbe gegen ein öffentliches Gesetz gesündigt hat.

Dem entgegen möchte ich einen Zug der deutschen Volkssitte stellen, welcher anzeigt, wie tief der Gedanke, daß der Vater nicht bloß der Meister, sondern auch der verantwortliche Stellvertreter seiner Kinder sey, heute noch im Volksbewußtsenn wurzelt. Wenn eine Krankheit durch »Besprechung« geheilt werden soll, dann ist zum Gelingen durchaus nöthig, daß der zu besprechende Kranke den vollen Glauben an die Besprechung habe. Soll aber ein Kind durch Besprechung geheilt werden, dann muß der Vater für das Kind den Glauben an die Besprechung haben. Dem Bauern geht also die Stellvertretung des Kindes durch den Vater so weit, daß um des Glaubens willen, den der Vater hat, das kranke Kind gehellt werden kann. Und dieser Vater soll dem Staate gegenüber nicht einmal mehr die volle Zucht seines Kindes auf sein Gewissen und seine Verantwortung nehmen dürfen!

In den lateinischen Rechtsbüchern des deutschen Mittelalters heißt der Gemeinfreie, der in Beziehung zur Gesellschaft nur home liber ist, in Beziehung auf sein Weib baro. Es symbolisirt das tiefe Durchdrungenseyn des Zeitalters von der Würde des Hausregiments, daß der Hausvater allezeit Freiherr ist über Frau und Kinder.

Bei den Juden vom alten Schlag, die bekanntlich noch viel mehr altpatriarchalische Familiensitten bewahren als wir, hört man häufig die ächt jüdische Redewendung, daß der Sohn den Vater nicht seinen Vater nennt, sondern umschreibend sagt: er ist » der Vater über mich«: selbst der Oheim ist wohl auch noch »der Onkel über ihn.« Das ist der ins Hebräische überfetzte baro des mittelaltrigen Hauses.

Vor den Wagen der Cybele ist ein Löwe und eine Löwin gespannt, beide ziehen unter Einem Joch. Sie sind ein verwunschenes Ehepaar, Hippomenes und Atalante. Zur Strafe wurden sie hier eingejocht, weil Hippomenes sich des Undankes gegen Aphrodite schuldig gemacht, und nun in dem Frevel, der Frevel gebärt, das Heiligthum der Cybele entweihen mußte mit seiner persönlich schuldlosen Frau, auf daß Beide, als das gesammthaftbare Ehepaar die völlig gleiche Strafe treffe.

Die altdeutsche Gesammtbürgschaft der Gemeinden hatte ihr Fundament in der noch älteren Gesammtbürgschaft der Familie. Durch Frevel und Niedertracht eines einzigen Familienglieds tonnte das ganze Haus zu Schanden werden und seine bürgerlichen Rechte und Ehren verlieren. Bei einer solchen Haftbarkeit aller Familiengenossen geht die freie Persönlichkeit auf in der Familie; die Autorität der Familien muß bis zur wirklichen Herrschaft entwickelt, und die Sitte des Hauses ein festes, heiliges Gesetz seyn, bei dessen Aufrechthaltung einer für den andern einsteht.

Beim gemeinen Manne finden sich auch jetzt noch mehr Trümmer dieser alterthümlich strengen Anschauung der Familie, als in der seinen Welt, in welcher man sich nicht mehr gar viel daraus macht, wenn ein Vetter oder eine Nase ein mauvais sujet isk Die Selbstherrlichkit des Individuums ist auch hier das Losungswort der Civllisation. Selbst essen schmeckt am besten. Als man Anno achtundvierzig in der Noth des Augenblickes mehreren deutschen Kammern Gesetze vorlegte, welche die Gesammtbürgschaft der Gemeinden in Fällen des Aufruhrs wiederherstellen sollten, machten die meisten Abgeordneten ein kurioses Gesicht zu dieser Institution aus den germanischen Urwäldern. Das lebende Geschlecht konnte kein rechtes Verständniß von der tiefen sittlichen und politischen Bedeutung dieser Gesammtbürgschaft haben, weil es die Gesammtbürgschaft der Familie nicht mehr kennt, die auf einer ganz andern Idee des Hauses ruht als die unsere, ganz andere Sitten des Hauses erzeugte; weil unsere Gemeinden längst vergessen haben, daß sie ursprünglich ein Clan gewesen sind, und weil unser Staatsregiment erst an der Außenpforte der socialen Politik angekommen ist. In England, wo die Sitte des Hauses weit dauernder gewesen als bei uns, ist auch die Gesammtbürgschaft der Gemeinden ein stätiges Rechtsherkommen geblieben bis auf diesen Tag.

Der einzige Ort, wo im modernen Leben noch ein patriarchalisches Hausregiment eingewachsen ist in den Organismus einer öffentlichen Corporation, ist – die Kaserne. Die Kaserne steht aber der Phalanstere der Socialisten bedenklich nahe. Man sieht, ein Spiel mit den Analogien patriarchalischer Zustände kann in unserer Zeit mitunter Kinderspiel mit Feuerzeug seyn. In der Kaserne existirt noch eine Art öffentliches Familienleben. Die Truppe, welche beim gemeinsamen Kartoffelschälen auf dem Kasernenhof eine gemüthliche Hausdisciplin durchgemacht hat, wird im Felde um so besser zusammenzuhalten wissen. Wenn um der Schuld eines Einzelnen willen eine ganze Rotte kriegsrechtlich decimirt wird, das ist noch so etwas wie Gesammtbürgschaft der Familie. Die Starte der altdeutschen Heerverfassung beruhte großentheils auf der Haftbarkeit der einzelnen Streit- und Stammesgenossen für einander. Der Organismus der Familie gab Basis und Vorbild zur militärischen Organisation, und die wohlgeschulten römischen Legionen konnten diesen sogenannten Barbaren nicht widerstehen. Aber unsere Familie ist eben nicht mehr die altdeutsche und soll sie nicht mehr seyn. Das gute Recht des Individuums und die berechtigte Idee des modernen Staates tritt dazwischen. Die Kaserne besteht im modernen Leben, weil die Ausnahme neben der Regel bestehen soll, und in diesem Sinne mag man das im Style eines großen mit absolutem Hausregiment geleiteten Familienlebens eingerichtete Hauswesen unserer Soldaten wie einen letzten Nachklang der Familienorganisation des alten Heerbannes anerkennen. So hat sich denn auch die patriarchalische Autorität, der familienhafte Corpsgeist unter den Soldaten als ein kräftiger, rücksichtsloser Gegendruck in Tagen allgemeiner Zuchtlosigkeit gut bewährt.

Hier bin ich abermals bei dem Punkte angelangt, wo sich der Gegensatz von Familie und Staat als ein flüssiger zeigen muß. Aus dem Autoritätsprincip der Familie geht niemals das Rechtsprincip des Staates hervor, aber der in der Familie genährte Geist der Autorität und Pietät soll auch heute noch Staatsregiment und Staatsbürgerthum durchdringen, weihen und verklären.

Gerade so steht es mit dem Verhältniß der Sitte des Hauses zum Gesetz des Staates. In der Urzeit fällt Familiensitte und Staatsgesetz zusammen. In den Perioden des entwickelten Rechtsbewußtseyns krystallisiren sich die instinktiven Sitten zu einem Gewohnheitsrecht, welches die Grundlage der ältesten und allgemeinsten Gesetze der Völker wird. Von da an ist Sitte und Gesetz für alle Folgezeit theoretisch geschieden. Praktisch soll aber der Geist der Volkssitte immerfort erfrischend und verjüngend auch durch das bewußte Rechtsleben gehen. Nur der todte Rechtsstaat, nur der starr mechanische Verwaltungsstaat hebt diesen innerlichen, ideellen Zusammenhang zwischen Sitte und Gesetz geflissentlich auf.

Es gehört zu den reizvollsten Aufgaben der Philosophie wie der Staats- und Volkswissenschaft, die öffentlichen Rechtsgewohnheiten der Völker mit den Resten der überlieferten Familiensitten zu vergleichen, auf daß man inne werde, welch geheimnißvoller Austausch zwischen der Sitte des Hauses und der nationalen Gesetzgebung besteht. Da kann man ahnend hinabschauen in die unergründliche Tiefe des Seelenlebens der Nationen. Ein Volk wie die Franzosen, welches nicht mehr fähig ist, Hausregiment zu führen und zu ertragen, kann auch mit keinem Staatsregiment mehr zurecht kommen. Und doch sind Hausregiment und Staatsregiment grundverschiedene Dinge geworden. Je gefesteter die Sitte des Hauses, um so gefesteler ist das Gesetz. Das Rechtsleben des französischen Staates wird gipfeldürr werden, weil die Sitte des Hauses abgeschnitten ist, welche allein den Wurzeln neue Säfte zuführen könnte. Im achtzehnten Jahrhundert entwickelte sich auch bei uns der Geist der Familienlosigkeit: der Polizeistaat und die socialistische Standeslosigkeit folgte im neunzehnten: nun wird die Umkehr folgen müssen oder der Ruin.

Es ist aber die Sitte des Hauses gerade derjenige Punkt, wo jeder Einzelne Großes wirken kann, um (mit einem Modeausdruck) »die Gesellschaft zu reformiren,« tüchtigen Bürgersinn zu wecken, einen ächt conservativen und loyalen Geist im Volke zu begründen, das Staatsregiment zu stärken. Die höchste Aufgabe für den Neubau der halb zertrümmerten Gesellschaft ist für Jeden gegeben in der Erneuerung der Familiensitten. Selbst den Frauen ist hier das Reich ihrer politischen Wirksamkeit angewiesen. Statt über neue Verfassungen zu phantasiren, wollen wir unsere Familien wieder in Zucht und Ordnung bringen, dann sind wir auch politische Männer. Wer den Teufel bannen will, muß selbst rein seyn. Im eigenen Hause müssen wir zuerst uns rein machen.

Die neuen guten Gesetze werden von selber kommen, wenn erst einmal die gute Sitte wieder da ist; denn die Gesetze, das organische Produkt der Sitte, stehen entweder in fortwährendem lebendigem Austausch mit den Sitten, oder sie sind bloß ein beschriebenes Stück Papier. An unsern Kindern und Enkeln wird es seyn, die alten Formen in Staat und Gesellschaft, die uns noch zum leidlichen Nothbehelf genügen, umzubilden, wenn wir erst einmal gesorgt haben, daß sich eine würdigere, größere und strengere Lebenspraxis herausbilde, und daß das kommende Geschlecht die rechten Männer habe, um neue, bessere Staatsformen ertragen zu können. Wo wir das aber nicht thun, werden die nach uns kommen, noch schlimmer daran seyn als wir; die Sünden der Väter werden sich an den Söhnen rächen, und unser eigen Blut wird, wie ein schneidendes Wort des Volksmundes sagt, unsere Knochen im Grabe verfluchen.


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