Wilhelm Heinrich Riehl
Die Werke der Barmherzigkeit
Wilhelm Heinrich Riehl

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Viertes Kapitel.

Der Kirchhof zu Löhnberg liegt in einem Thälchen hinter dem Dorfe, mitten im Ackerland. Zwischen den hölzernen Kreuzen steht die alte Totenkirche, ein kahler, trauriger Bau; aber der Platz rundum ist recht freundlich. Es zieht sich ein weiter Wiesengrund zur Lahn hinab, der ist frisch und saftig grün, selbst jetzt im hohen Sommer, und die Wälder seitab sind stolz, hohen, üppigen Wuchses.

Eine Glocke hallt von Löhnberg in jenen stillen Gründen wieder. Die Totenglocke war es, die man zur Warnglocke gemacht; sie ward gezogen vor den beiden Begräbnisstunden (um sieben Uhr morgens und genau im Mittag), damit ängstliche Leute, denen es grauste, einer Pestleiche zu begegnen, zu Hause bleiben möchten. Der Himmel war wolkenleer, die Luft schwül, daß sie im Sonnenlichte über die Fläche des Bodens hinzitterte; kaum daß ein Gräschen nickte oder daß unhörbar fast die Halme und Aehren in den Kornfeldern geknarrt hätten, so bleischwer lag die Todesruhe auf allen Lebendigen.

Nur eine Leiche ward heute vom Dorfe herübergetragen. Es war verordnet, daß in diesen Sterbensläuften das Trauergefolge allezeit dem Sarg vorausgehe. Dieser Vorsicht bedurfte es heute nicht. Die beiden Träger bildeten zugleich das ganze Gefolge, und hätten sie nicht der verstorbenen Frau des Schultheißen die letzte Ehre als einen freiwilligen Liebesdienst erwiesen, so würde die Leiche wie tausend andere in einem ungeweihten Loche verwest sein gleich dem Aas eines gefallenen Viehes.

Als sich die beiden Männer mit dem roh gefügten Kasten, der als Sarg dienen mußte, dem Kirchhofthore näherten, fanden sie eine grausige Schildwacht vor demselben. Zwei große abgemagerte Hunde, in denen der Hunger die Wolfsnatur wieder geweckt, daß sie auf Schlachtfeldern und Kirchhöfen ihre Speise suchten, schauten die Männer knurrend, mit gefletschtem Gebisse an. Doch als diese herzhaft gegen sie herantraten, flohen die Bestien ganz wie ein Raubwild, so entwöhnt waren sie des Anblickes lebender Menschen.

Am Chor der Kirchhofskapelle setzten die Träger den Sarg nieder und begannen eilfertig den Boden zu einer flachen Grube aufzuschaufeln. Nach einer Weile sah der eine – es war der Glöckner – indes er ein wenig verschnaufte, den anderen mit großen Augen an und sprach: »Kamerad, wir sind ein Paar Totengräber, wie sich's selten zusammenfindet. Aber so schmächtig und blaß Ihr aussehet, scheint Ihr doch das harte Geschäft aus dem Fundament zu verstehen. Unser Herrgott hat allerlei Kostgänger von allerlei Geschmack, doch ein Geschmack wie der Eurige ist mir noch nicht vorgekommen. In dem Pesthaus kneipt Ihr Euch ein wie in der Schenke, unter dem Galgen tummelt Ihr Euch wie unter einem Kirmesbaum, und wenn Ihr einmal extra frische Luft schöpfen wollt, dann spaziert Ihr auf den Kirchhof und pfuscht dem Totengräber ins Handwerk.«

»Sagt lieber, es gibt allerlei Soldaten,« er widerte der bleiche Fremde. »Es gibt Soldaten, die im Dienste ihres irdischen Herrn und zur Sättigung ihrer eigenen Lüste morden, plündern und verwüsten. Ich bin ein Soldat, der im Dienste seines himmlischen Herrn und daß ich meiner Seelen Seligkeit gewinne, zu heilen sucht, zu retten, zu erquicken, zu beschützen. Wenn Ihr begreift, daß sich der weltliche Kriegsmann lustig in die Schlacht stürzen mag, warum könnt Ihr nicht fassen, daß ein Streiter des Herrn in stiller Freudigkeit durch alle leibliche Gefahr hindurchgehe, um da und dort eine Seele aus des Satans Händen zu retten?«

Schweigend hörte der Glöckner zu, und ohne daß beide ein Wort weiter wechselten, vollendeten sie die Grube und senkten die Leiche ein. Der Fremde erhob sich, als wolle er ein Gebet sprechen; der Glöckner aber rief ihn scharf an: »Halt, Freund, den Segen spreche ich!«

Danach warfen sie rasch die Schollen auf den Sarg, gleich als fürchteten sie sich, je länger je mehr, auf dem Kirchhof zu bleiben. Der Glöckner murmelte bei jedem Wurf: »So leicht der Schultheißin, so schwer dem Schultheiß!«

Da fragte ihn der andere, was dieser Spruch bedeute. Veit fuhr anfangs fort, als ob er nichts gehört habe, endlich brummte er aber doch zur Antwort, ohne aufzublicken: »Dem Schultheißen soll jede Scholle, die ich auf dieses Grab werfe, wie ein Fels auf die Brust fallen, der guten Frau Katharine aber soll die Erde leicht sein. Seht! während ich allein aus ganz Löhnberg der Schultheißin die letzte Ehre erweise, beschimpft und ruiniert der Schultheiß mein Kind.«

»Und warum übt Ihr denn den gefährlichen Liebesdienst?«

»Wie?« rief Veit, scharf aufblickend: »War Frau Katharine nicht meine Base? Soll ein Glied meiner Freundschaft unbegraben bleiben? War sie nicht eine gute Frau, die ich mit eigenen Händen begraben hätte, auch wenn sie mich gar nichts anginge? Und muß ich' s nicht meiner Grete zulieb thun, die der Base in der letzten Not beigestanden hat, und die nun um ihrer Barmherzigkeit willen leiden muß? Aber so leicht der Schultheißin, so schwer dem Schultheiß!«

»Seht, Veit,« sprach nun der Fremde lächelnd, »wenn Ihr um deswillen Euch nicht scheuet, auf dem Kirchhof frische Luft zu schöpfen, wie konntet Ihr Euch wundern, daß ich aus so viel beweglicheren Gründen das Gleiche thue?«

Der Glöckner ließ die Schaufel stehen, als versage ihm die Kraft, und blickte lange traurig in die halbgefüllte Grube. Da ging ihm endlich das Herz auf, und er vertraute dem Genossen, was ihn schon den ganzen Morgen so trübsinnig gemacht, daß er fast kein Wort reden, sondern viel eher habe heulen mögen.

Der Schultheiß hatte auch die Grete einstecken lassen. Die silbernen Armspangen, die man bei ihr gesehen, konnten den Verdacht eines Diebstahles rechtfertigen. »Man kann allerlei Geschrei machen,« sagte Veit, »denn es ist vorgekommen, daß diebische Hexen, welche der Pestkranken warten sollten, denselben die Kehle voll Heidekraut stopften, damit sie nicht schreien konnten und erstickten. Inzwischen plünderten dann die verfluchten Weibsbilder das Haus aus.«

»Und glaubt Ihr, daß der Schultheiß Eure Grete wirklich solcher Frevel bezichtige?«

»O nein, so weit wird er nicht gehen. Aber zwicken und ängstigen und verderben wird er uns alle, mich und die Grete und den Schmied, und wird nicht ruhen, bis er uns aus Löhnberg vertrieben hat. Denn Ihr wißt, wie es die großen Herren samt ihren Amtleuten und Dienern in dieser betrübten Zeit treiben. Ueberall machen sie Halbpart mit den plündernden und pressenden Soldaten; darum können sie's nicht ertragen, wenn ein paar gescheite und ehrliche Leute daneben stehen und das Ding mit anschauen. Außer uns dreien sind aber alle gescheite Leute in Löhnberg gestorben und verdorben, die anderen sind nur noch eine Gemeinde von Eseln. Auch trägt es ein Schelm nicht gern, wenn sein Nachbar besser ist wie er, und daß die Grete von des alten Sünders Liebesanträgen nichts hat wissen wollen, hat ihn erst recht teufelswild gemacht. Kurzum, einer muß weichen aus dem Dorf, wir oder der Schultheiß. Aber dies sage ich, und es wird sich erfüllen: von dem Tage an, wo ich diese Schollen auf dieses Grab geworfen, wird der Schultheiß auch keine frohe und gesunde Stunde mehr haben!«

»Ihr frevelt, Veit!« rief der Fremde. »Wie wollt Ihr wissen, was Gott über dieses Mannes Zukunft verhängt hat?«

Da erhub der alte Veit seine Stimme mächtig und sprach, indes er das letzte Rasenstück zu Häupten des vollendeten Grabes legte: »Es gibt allerlei Erkenntnis. Ich bin ein ungelehrter Mann, und die Erkenntnis, die Euer ist, hab' ich nicht. Aber es gibt auch noch eine andere Erkenntnis, die den Menschen bei Nacht überschleicht, wie der Tau die Wiese, eine Erkenntnis, die in allen Wesen steckt, in Blumen, Gras und Bäumen, im Tiere und auch im Menschen, aber lauterer meist im Ungelehrten als im Gelehrten. Das ist jene Erkenntnis, welche den Blättern des Linden- und Weidenbaumes sagt, daß sie auf St. Veitstag sich wenden sollen zur Weissagung, daß nun in wenig Tagen auch die Sonne, wenn sie am höchsten kommt, sich wenden wird; das ist jene Erkenntnis, welche es dem Wunderborn zu Glonach eingibt, daß sein Wasser bei nahender Friedenszeit der Menschen Herz erfreut wie ein guter Wein, bei drohendem Krieg aber Blut und Asche führt; jene Erkenntnis, welche der Sonne gebietet, daß sie am Osterabend tanze, nach den Worten des Psalms, und zwar tanzt sie – das sage ich Euch von wegen des Rosenkranzes, den Ihr tragt – nicht auf den Ostertag des gregorianischen, sondern des julianischen Kalenders. Ruft der Kuckuck nicht mit heiserer Stimme, wenn im Mai noch Frost kommen soll, verkündet er nicht teure Zeit, wenn er nach Johanni ruft? Heult nicht der Hund dumpf und schaurig, wo ein Mensch in kurzem sterben wird? Ahnt nicht das Käuzlein, welches sich wochenlang vor des Kranken Fenster setzt und klagend ruft: ›Komm mit,‹ bis dem Sterbenden der letzte Atem ausgegangen ist, wann und wo der Tod über die Schwelle schreiten wird? Warum sollte dies nicht gleicherweise der Mensch vorahnen können?«

»Auch ein gescheites Huhn, Veit, läuft manchmal in die Brennesseln. Wißt Ihr denn, ob Eure eingebildete Weisheit nicht ein Spiel des Teufels mit Eurer armen Seele ist? Tier und Pflanze mögen uns dunkle Vorzeichen geben; der Mensch aber soll sich nicht vermessen, mehr wissen zu wollen, als was ihm Gott durch die Kirche offenbart und durch den klaren, allen gemeinen Verstand.«

Da wurde der Glöckner noch stolzer als zuvor und sprach: »Ihr sollt mich nicht für einen Hexenmeister, Gaukler oder Narren halten. Was ich noch keinem Menschen erzählt, will ich Euch erzählen. Vor fünfzehn Jahren lag ich todkrank. Es war ein großer Jammer; denkt Euch meine Frau mit den kleinen Kindern. Ich wußte ganz deutlich, daß man mich verloren gab; in einer hellen Stunde, wo mich der Fiebertraum verließ, hörte ich, wie meine Frau zu den Kindern sagte: Gehet hinauf auf die Kammer und betet, daß euer Vater nicht sterbe; denn jetzt ist bald alles verloren. Aber wenn gar kein Heulen und Flehen mehr hilft, dann hat doch oft noch das Gebet eines kleinen Kindes geholfen; denn der Bitte eines unschuldigen Kindes vermag der liebe Gott am schwersten zu widerstehen. Diese Worte hörte ich, wußte nun, wie es mit mir stand und dachte: jetzt muß es also gestorben sein. Da kam es mir aber gar grausam vor, daß ich jetzt schon fortgehen solle und Weib und Kind so hilflos zurücklassen, und ich bat den Herrn Christus, er möge mir ein Zeichen geben, ob ich denn nicht noch eine kleine Frist länger leben dürfe, und fiel in eine tiefe Ohnmacht. Wie ich aber wieder zu Sinnen kam, da hörte ich eine Stimme – ob ich gleich keinen Menschen sah – die sagte mir klar und vernehmlich, fünfundsiebzig Jahre müsse ich erst überdauern, dann sei es Zeit, mich zur Abfahrt zu rüsten. So ist's verheißen und so wird's geschehen. Von der Stunde an war meinem inneren Gesicht eine helle Leuchte aufgesteckt. Ich las fleißiger als zuvor in der Bibel, ich trug mir alte Kalender und Aspektentafeln zusammen, man nannte mich einen Propheten.«

»Und glauben die anderen an Eure Prophetenkraft?«

»Sie bauen Häuser darauf!« entgegnete Veit fast trotzig fest.

»Und baut Ihr selber Häuser darauf?«

Da stutzte der Prophet. »Ich werde wohl manchmal irre an mir selbst. Das sage ich Euch, Euch allein! Aber das glaubet mir, auf jene Verheißung, die meines eigenen Lebens Länge betrifft, baue ich Häuser. Ich kenne seitdem keine Todesfurcht mehr; mit dem fünfundsiebzigsten Jahre mag sie kommen. In der Schlacht wie in der Pest bin ich so sorglos mitten hindurchgegangen, als sei das alles nur ein Kinderspiel. Und wenn die anderen sehen, daß einer so an sich glaubt, dann glauben sie auch an ihn. – Aber mir deucht, Ihr müsset wohl auch eine solche Verheißung haben, da Ihr den Tod so gar nicht fürchtet. Und sehet, die Leute glauben darum, Ihr seiet zum wenigsten ein Gespenst oder der Ehegemahl der Pest, oder ein Stück vom leibhaftigen Teufel. Und wenn Ihr nun inne werdet, wie Ihr mit Eurem Verständnis und Eurer Kraft dieses einfältige Volk überragt, kommt Euch da nicht auch manchmal der Gedanke, den Leuten etwas zu prophezeien?«

»Ich prophezeie niemals,« erwiderte der Fremde würdevoll. »Ich verkünde nur, was allen geoffenbart ist, nicht ein Geheimwissen, das mir allein enthüllet wäre. Aber so verdunkelt ist das Gedächtnis dieser Offenbarung, daß in diesen Zeiten als ein Prophet erscheint, wer doch nur ein Prediger ist.«

Die zwei wunderlichen Totengräber gingen vom Kirchhof ins Dorf zurück. Dort hatte sich inzwischen ein seltsames Schauspiel gerüstet. Der Schultheiß hatte kurze Justiz geübt.

Eine Trommel ging durch die Gassen und lockte in den wenigen bewohnten Häusern halb furchtsame, halb neugierige Gesichter ans Fenster. Aber jeden überlief es, als er den Aufzug erblickte und dessen Sinn erriet. Der Ausrufer zog mit dem Trommler voran und hinterdrein schritt, von den zwei Ortsknechten begleitet, mit einem Strohkranz um den Kopf – Grete, als sei sie des Diebstahls überwiesen. Ueber der Stirn waren die silbernen Spangen im Kranze befestigt, damit jedermann sehen möge, was die Delinquentin gestohlen habe. In gemessenen Zeiträumen schwieg die Trommel, und dann verkündete der Ausrufer Vergehen und Urteil der Bestraften. Es war dies die gelindeste Strafe und doch die beschimpfendste; einem Dieb, der noch nicht reif war für den Turm oder den Galgen, gab man gleichsam die erste Verwarnung, das consilium abeundi durch Austrommeln.

In einer harten und rohen Zeit wird auch der einzelne härter und männlicher oder stumpfer in seinen Empfindungen. Wir ertrügen's nicht, was unsere Vorfahren ertragen haben, die in dreißigjährigem Elend groß gewachsen.

Grete war blaß, ihre Kniee zitterten wohl auch, und die Lippen zuckten und zwinkerten manchmal, wie wenn das Weinen hervorbrechen wolle. Doch in diesen Zügen voll tiefer Scham und mächtigen Schmerzes war zugleich das Bewußtsein des Stolzes der gekränkten Unschuld ausgesprochen. Die Braut im Strohkranze erschien nicht wie eine Verbrecherin; sie erinnerte an die Bräute aus der alten Zeit, die einen Distelkranz zum hochzeitlichen Kirchgang aufsetzten; einen Kranz aus Kreuzdisteln, daß sie auch in der Freude des Hochzeitstages eingedenk seien des künftigen Kreuzes der Ehe.

»Man sieht ihr die Betrübnis nicht sonderlich an,« meinte ein Weib aus der kleinen Schar der Gaffer. Aber ein alter Mann antwortete darauf mit dem alten Spruch: »Das Hemd bedeckt alle Herzenspein! Und keiner weiß, wie's in des Mädchens Herzen aussieht.«

Der Schultheiß hörte die Trommel von fern in der Ratsstube. Er hatte nämlich dort seither sein Quartier aufschlagen, da er noch nicht wagte, in sein eigenes Haus zurückzukehren. Der Aufzug mußte bald um die Ecke biegen und aus den Fenstern des Rathauses sichtbar werden.

Da ging die Thür auf, und Veit, der Glöckner, trat herein und mit ihm der fremde Mann. Des Glöckners Gesicht war von wilder Zornesglut übergossen. Wie hätte er jetzt noch an sich halten können. Er ballte die Faust, er rollte die Augen; hätte ihn der Fremde nicht gleich einem Zauberer in der wildesten Wut gebannt, er würde den Schultheißen auf der Stelle erwürgt haben.

»Herr Vetter,« rief er, »ich will Euch nur eine kleine Geschichte erzählen. Seht, da Ihr Eure Frau freventlich verstoßen und in der Scheuer elend hattet umkommen lassen, ward sie von dem Mädchen, das man eben austrommelt, getreu verpflegt. Das wißt Ihr. Das letzte Andenken, was die Base der Grete sterbend vermachte, waren die Armspangen. Ihr wollt mein Zeugnis nicht gelten lassen. Gut! Die Wahrheit wird schon noch an den Tag kommen. Da Eure Frau noch nicht kalt geworden war, begegneten wir einander; wir dachten an die tote Base, Ihr aber wolltet schön thun mit der Grete. Wißt Ihr noch, wie sie da aufs Sterbehaus zeigte und sprach: Herr Schultheiß, es liegt ein Totes drinnen! Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't! – Ihr wißt das noch. Kommt her ans Fenster« – und er riß den Widerstrebenden mit starkem Arm dorthin – »seht hier, Herr Vetter: die Trommel voran – das blasse Kind mit dem Strohkranz in den Haaren – auch ein kleines Häuflein gaffenden Lumpenvolkes stumm hintendrein, – Herr Schultheiß, unser Herrgott spricht nit, aber er richtet!«

In diesem Augenblicke erschaute der Schultheiß den fremden Mann, den Pestmann, der bis dahin unbemerkt im Hintergrund gestanden hatte.

Entsetzt fuhr er zurück, als sei der Eindruck der Worte des Glöckners nichts gegen den Schrecken dieses Anblicks, und stotterte: »Was wollt Ihr hier?«

In ganz ruhigem, kaltem Ton, der seltsam abstach gegen die Wut des Glöckners und das Entsetzen des Schultheißen, erwiderte der Angeredete: »Ich habe nur meinem Freunde, Veit Kreglinger, das Geleit hierher gegeben, und wir beide kommen soeben von dem Begräbnis Eurer verstorbenen Frau. Auch ich hoffe, die Wahrheit wird an den Tag kommen. Binnen heute und vierzehn Tagen, Herr Schultheiß, werdet Ihr Rechenschaft geben müssen über Euer Richteramt. Gedenkt an mich!«

Mit diesen Worten zog er den Glöckner hinweg aus der Ratstube. Der Schultheiß aber stand wie eine Bildsäule. Auf die Straße konnte er nicht blicken, dort ging der Zug mit dem Mädchen, und in das Zimmer noch weniger, dort war der Pestmann. So stand er als ein armer Sünder mitten inne zwischen dem Anblick seines Verbrechens und der rächenden Gerechtigkeit.

Als aber der Glöckner und der Fremde die Treppe hinabstiegen, konnte sich Veit trotz seines Zornes und Schmerzes doch nicht enthalten, dem Begleiter zuzuflüstern: »Vorhin habt Ihr gesagt, Ihr prophezeitet niemals, seht, eben habt Ihr doch prophezeit!«


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