Emil Alphons Rheinhardt
Ferien
Emil Alphons Rheinhardt

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Gelb aufgeblüht lag das breite Schloß hinter den ansteigenden vielfarbigen Beeten in der Sonne. Im seltenen Windhauch kam laues Dämmern zwischen den großen Bäumen des weiten, kaum begangenen Parkes hervor, voll Feuchte von dem Teiche und Moosatem, drang schlaff in den heißen Brodem aus drängenden Gerüchen der Nelken, Rosenstöcke und weißen Lilien und zog jeden Tag stärker durch die dünnen Spalte der geschlossenen Fensterladen in die schattigen Zimmer, bis auch ihre dunkelgrüne Stille voll Sommer war. Unten auf dem gelben Kies des Vorplatzes lagen die Hunde in der Sonne, knurrten im Halbschlaf oder schnappten nach Fliegen; zuweilen warf sich ein jüngerer wollüstig herum und hielt den hellen Bauch dem heißen Strome entgegen. Aus ihrem Frieden wurden sie nur gestört, wenn nachmittags die Baronin zu ihren Freundinnen fuhr und wenn der Arzt kam. Bis eines Morgens eine gelinde Unruhe die Trägen blinzeln und den Kies ein wenig stieben machte und der junge Erlen aus dem Wagen hell in Heimat und Ferien hineinsprang, ein wenig 6 stubenfarbig zwar, aber lachend, wach und im ganzen Glücke langer Ferien, doppelt schöner, hinter denen sich keine Schule mehr aufrichten konnte. Die Mutter, fein und wie verknittert, empfing ihn mit ihrer maßvollen Zärtlichkeit, der Vater, der wieder vor einer Reise war, mit der Frage, ob er mit wolle ans Meer. Otto dankte und sagte, er wolle daheim diese Zeit nach der Prüfung genießen und habe sich drei Freunde eingeladen. Ob sie kommen dürften ? Man bejahte es ihm, der Vater erfreut, da er damit ein Stückchen Verantwortung gut von sich genommen fühlte, und drei Tage später waren die Freunde im Schlosse. Jetzt lief und lachte es durchs Haus. Sie hatten den Vordertrakt ganz für sich und in dem hallenden Treppenhause rieselte und rumorte es von Schritten, Laufen und Rufen. Es galt, vieles nachzuholen. Und sie beeilten sich. Frühmorgens klappten die Pferde auf dem Hofpflaster. Und sie hetzten hinaus in den blitzblanken Tag, schwammen drüben im See, kamen heim und aßen armlange Butterbrote, Hauskäse und große Kirschen, holten die Gewehre und Hunde und strichen durch die Felder. Nachmittags lagen sie allein oder zu zweien, Otto immer mit Heinrich Bülte, seinem liebsten Freunde, im großen großen Parke, schliefen, atmeten die grüngoldige Nachmittagsstille, sahen die 7 Fleckchen tieferen Blaus durch die alten Bäume und waren so ferienfroh im Herzen, wie es vor der Sehnsucht der Reifgewordenen als Bild aller Jugendsüße schön und schwermütig zu stehen pflegt.

Heinrich lag mit dem Rücken gegen den Park, zur Parkseite des Schlosses blickend: »Gehören die zugedeckten Fenster deiner Schwester?« »Ja Heinz, weiß Gott, es geht ihr nicht ein bißl besser. Und sie ist so geduldig. Schad um das Mädel. Als wir noch klein waren, war es so schön, da zu spielen! Ich vergeß ganz, zu ihr zu schauen.« Der Diener brachte kühle sauere Milch. »Ist etwas Neues bei meiner Schwester?« »Nein, Herr Otto, der Doktor ist grad weggegangen.« Unwillkürlich sah Heinrich wieder zu den Fenstern. Ihm war, als hätte sich ein Vorhang bewegt.

Immer reicher wurde der Sommer. Die Blüte des nahen Klees war braun und die jungen Rebhühner bekamen Farbe. Wie es zu gehen pflegt mit Jünglingsfreundschaften, trieben es auch die vier mit Bevorzugung, Eifersucht, Vertrauen und Absonderung. Doch hatte sich jeder nach Anlage und Liebhaberei einen eigeneren Tagesgang zurechtgelegt, abenteuerte durch die Wälder, fischte im See, lief wie Franz, der Jüngste, einem Dorfmädel nach oder lag wie Heinrich mit einem Buche im Park. Nichtsdestoweniger hatten ihre 8 Erlebnisse erst den rechten Wert und Geschmack, wenn sie, den anderen erzählt und mit leisem Neid, Spott, Mitfreude oder Ungläubigkeit gewürzt, wieder zu ihren Stammherzen zurückkehrten. Sie hatten gelernt, hauszuhalten mit der Geselligkeit, die sie in der ersten Zeit reichlich aus- und abgenützt hatten. Und ihre Abende waren schön in Ottos großem alten Zimmer, wenn bei Wein und freundlichem Tabakrauche jedes einzelnen Tag nochmals aufstand mit Waldwegen und leisen Herzenswirrnissen, die jeden anrührten. Hinter den unbeholfenen Parenthesen zu den Tatsächlichkeiten spürten sie das eigene Dunkel und hatten einander lieb um ihrer Geheimnisse willen. Der Morgen badete ihre Herzen in eine schöne Kühle, daß sie über die sentimentalen Abende lachten, bis diese wiederkamen und sie den Morgen nicht mehr verstanden. Eines solchen Morgens hörte Heinrich im Stiegenhause die Beschließerin dem Diener sagen: »Heute hat die Baronesse wieder eine böse Nacht gehabt. Jetzt erst ist der Doktor weggegangen«. Er fragte Otto: »Mein Gott, es ist nicht ärger als sonst. Aber sag den andern, sie sollen heute im Torweg beim Park nicht johlen.« Doch beim Mittagessen war alles wie immer, die Baronin gleichmütig freundlich, und so vergaß Heinrich das Ganze. Nachmittags las er und 9 trieb dann im Boot auf dem baumversteckten Teiche. Er war mitten in Wasserrosen, bückte sich nach einer, und dabei fiel ihm das kranke Mädchen ein. Und er holte eine Menge Knospen und Rosen herauf und wand sie zusammen. Konnte er sie ihr aber schicken? Er kannte sie doch gar nicht. Sicher, er war doch jetzt so lang im Hause. Es ging gegen Abend. Er suchte die Beschließerin. Er hatte auf seine Karte geschrieben: »Ein Freund von Otto wünscht Ihnen recht baldige Genesung.« Und schickte die Blumen hinauf. Er hatte etwas Herzklopfen dabei. Abends in Ottos Zimmer war er mehrmals versucht, dem Freunde davon zu erzählen; aber immer kam es ihm wie eine Unkeuschheit vor und so ließ er es. Es wollte kein rechtes Gespräch entstehen und sie gingen bald in ihre Zimmer. Heinrich lag im Bette und las. Es freute ihn nicht recht. Ein leises Durcheinander war in ihm und er suchte unter den Sätzen, die er aufnahm, nach einem Angriffspunkte. Da klopfte es leicht an der Tür. »Otto« dachte er und sagte »Herein«. Ein Mädchen stand in der Tür, ein blondes, ganz mageres. Heinrich richtete sich auf. Das Mädchen sagte verlegen: »Sind Sie Herr Heinrich? . . . die Baronesse schickt mich, Ihnen für die schönen Blumen zu danken.« »Sagen Sie, bitte, der Baronesse, daß ich mich 10 furchtbar freue, wenn sie ihr angenehm waren: es tut mir doch so leid, daß sie krank ist, daß sie nicht mit uns den Sommer genießen kann.« Das Mädchen trat einen Schritt näher, in den Lichtkreis der Lampe; es war recht bleich und seine Augen waren schön, glänzend und groß. Heinrich merkte es, und daß es eine Art Morgenrock anhatte. Er dachte an die Kranke oben, war glücklich und verwirrt, stürzte in tausend Bilder, Träume und Hoffnungen, indes das Mädchen noch immer neben seinem Bette wie wartend stand. Er sah sie an, weil ihm vorkam, sie hätte spüren müssen, was in ihm vorging, und fragte fast rauh: »Sollen Sie mir noch etwas sagen?« Sie erschrack: »Nein . . .« Sie wandte sich zum Gehen, kehrte sich aber nochmals zu ihm: »Doch, ich soll sagen, daß die Baronesse bitten läßt, Sie mögen keinem Menschen etwas von dem Heutigen sagen, kein Wort!« Er war beleidigt: »Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, daß ich das auf keinen Fall getan hätte.« Es fiel ihm ein, daß ja ein Dienstmädchen vor ihm stehe, und er fügte hinzu: »Übrigens wäre es ja doch nicht zum Erzählen gewesen.« Die Hand an der Türklinke, flüsterte das Mädchen noch in das Zimmer hinein: »Ja, die Baronesse meinte, weil Sie doch so jung sind . . . Gute Nacht.« »Bitte.« Aber sie war schon 11 fort. Er hatte die Worte doch verstanden. In einem wachsenden Unlustgefühl begann er, das Gespräch in sich zu ordnen. Aber es wollte nicht gehen. Die wunderliche Weise der hergestellten Verbindung, das durch keine Wirklichkeit gestützte Bild jenes Mädchens, die Ungewißheit des Kommenden und vor allem die Bedrängnis von innen heraus, die das Erlebnis noch fiebriger gemacht hatte, warfen ihn in ein Gewirr von Gefühlen, in dem er nur klar eine sinnlose Scham und die Sehnsucht fassen konnte, die sich aus aller Welt auf dieses eine noch eben bildhafte und schon in eine Wirklichkeit getretene Wesen zu sammeln begann. Sein Schlaf war anders als sonst, nur eine Unterbrechung, keine Bereicherung wie nach anderen Nächten. Sein erstes Nachdenken galt Möglichkeiten, sich den Tag abgesondert halten zu können. Was sonst selbstverständlich war, schien nun plötzlich schwer und gefährlich, gleichwie jeder Wunsch, von Otto etwas über die Schwester zu erfahren. Er suchte Otto vorerst in seinem Zimmer auf, bei sich den Vorwand erwägend, sich Bücher für einen Tagesausflug zu leihen. Das Zimmer war leer. Heinrich ging zum Bücherständer. Dabei fiel ihm ein, sich gründlich umzusehen, ob sich nicht ein Bild fände, das die Schwester darstellen könne. Doch auf dem 12 Schreibtische stand nur das Jungen traditionelle Schillerbildnis; sonst war das Gewirr von Dingen dort zu finden, das lediglich Tagesbedürfnissen dient, die noch nicht entschieden sind, wie es ja diesem Alter eigentümlich ist, dem auch das Bedürfnis noch nicht zur Erfahrung und damit zu einer, wenn auch kleinen Lebenseinrichtung geworden ist. Enttäuscht ging Heinrich mit ein paar wahllos genommenen Büchern den Korridor hinunter. Auf der Stiege erreichten ihn die zwei Mitgäste, Franz, klein, eilig, überquellend, Richard, mit einer vorläufigen Männlichkeit ohne rechtes Material selbstzufrieden. Und sie redeten auf ihn ein, er müsse heute als an dem ersten Fasanenjagdtage mit ihnen hinaus. Heinrich erinnerte sich, daß Otto gestern davon gesprochen habe. Gestern: er fühlte sich vom Schicksal angerührt in Gedanken an seinen Besitz an Gefühlen. Er versprach den Drängenden, mittags nachkommen zu wollen, bat sie, Otto zu verständigen, und vereinbarte einen Ort mit ihnen, indem er vorschützte, er habe sich vorgenommen, einige Bücherstellen zu einem bestimmten Zwecke aufzusuchen, was sie ihm um so eher glaubten, da sie ihn im vertrauten Umgange mit Büchern kannten. Er eilte dem Parke zu, froh, Otto nicht gesehen zu haben, dem gegenüber 13 ihm das Lügen zufolge seiner innigeren Vertrautheit viel schwerer gefallen wäre. Unter der großen Linde, von wo aus er noch ein Stück des Parktraktes des Schlosses, jenes mit den verhüllten Fenstern, sehen konnte, ohne vom Torweg gesehen zu werden, ließ er sich nieder. Wunderlich blühte der Tag in sein Herz hinein, und in wunderlicheren Gedanken trieb er, Leben geworden, aus. Pläne, sich zur Baronesse hinaufzuschleichen, ihr Briefe zu schreiben und von Liebe zu reden, warf eine brennende Scheu ins Dunkle zurück. Bruchstücke von Bildern, Vorsätzen und Sätzen aus ersehnten Gesprächen hetzten durch sein Denken und er erschrak und frohlockte vor der Wandlung, die in ihm geschehen war. Die Hoffnung, sie könnte am Fenster erscheinen, ließ ihn immer wieder sich aus seinem Lager von Salbei und Thymian aufrichten. Das Surren der Bienen sang durch den Park, die starkfarbigen Blumen des hohen Sommers rochen wilder, und er saß und wartete, daß sein Bild im Herzen dort oben im Fenster Wirklichkeit werde. Aber als sich ein Vorhang bewegte, erschrak er doppelt, weil es geschah und weil seine Leseaugen nicht langten, das Bild dem Denken darzureichen. Und dann trieb ihn die Furcht, man könne ihn doch sehen und etwas ahnen, tief in den Park 14 hinein, ließ ihn durch die waldhaften Stämme laufen und legte ihn endlich in der Abgeschiedenheit der fernsten Lichtung ins hohe Gras, allein mit dem Aufruhr seines Herzens, den Blick im schönen Weiß der Sommerwölkchen. Er lag. Entfernte Dorfglocken und nicht minder der junge Leibeshunger meldeten ihm den Mittag, den er jedoch dem Hunger zum Trotz, draußen zu bleiben beschloß, da er den Anschein zu erwecken die Absicht hatte, als sei er im Felde gewesen und hätte die Freunde draußen verfehlt. Eine Schwarzamsel schreckte ihn auf mit ihrem Kollern, Kichern und Rascheln im ersten dürren Laub. Er sah sich um und die welken Blätter hinter ihm weckten die Angst vor dem Herbste und dem notwendigen Verlassen der Geliebten. Verwirrt, trübe und sorgenvoll legte er sein Gesicht auf die Knie. Und darein plagte ihn der Hunger, dessen er sich böse schämte und den all sein Seelenweh nicht wegscheuchen konnte. Da fielen ihm die Himbeeren drüben beim Teiche ein und er schlich beschämt hinüber, legte sich unter die Büsche und zog eine nach der anderen von den großen überreifen Früchten in den Mund, zuletzt mit seinen Gedanken wieder weg vom Essen, das sich indes von selber weitertrieb. Als er schon wieder still dem Denken 15 sich gebend am Waldrand lag, wollte sich jenes Gefühl abkühlender Beschämung wieder melden und plötzlich vermeinte er zu verstehen, daß das mit der gestrigen von dem Mädchen überbrachten Bemerkung, er sei so jung, zusammenhänge. Er wehrte sich mit allem Verstand dagegen. Doch es mochte nicht weichen und die gelinde Jämmerlichkeit hielt allem Selbstlobe stand. Bald fiel ihm bitterlich ein, wie die Himbeeren ihn gelockt hatten; und wiewohl er sich sagte, daß es ja gar nicht um eine Probe seiner Männlichkeit gegangen sei, die er an Schwererem zu erweisen bereit und fähig sei, war er sich selber gegenüber unsicher geworden, da ja jedem Menschen das tiefste Wissen um das Ich und seine Grenzen körperlich empfindbar im Blute geht und meist in den Anstürmen der von Eitelkeit getriebenen Seelenkunde unverrückbar bestehen bleibt. Der Laut ferner Schüsse klang zuweilen herüber und beruhigte ihn in der Hoffnung, allein bleiben zu können. Der Nachmittag ging hin unter den Wechselfällen einer allzu unsicheren Liebe. Der nahende Abend, tieferes Gold der Sonne auf dunkleren Wipfeln, das völlig reingewordene selige Blau des späten Himmels und nicht minder der schwere süße Geruch des überreifen Sommers überfüllten ihn mit Fühlen, das in wehen 16 Augenblicken Qual und Ichfurcht, in den besten aber fast eine schöne Wehmut war.

Sein Platz war abgedunkelt, die Blumen schwärzlich und naß, als er sich endlich zur Rückkehr ins Schloß entschließen mußte. Er nahm seine feuchtgewordenen Bücher auf und zog sich zögernd vor der Notwendigkeit glaubhafter Vorwände und seiner Unsicherheit dem Torgange zu. Ein Blick auf die erregenden Fenster zeigte ihm alles still und dunkel. Es gelang ihm, unbemerkt ins Haus zu kommen. Er kleidete sich um, lag noch eine Weile im Finstern und zwang sich endlich, zu Otto hinüberzugehen. Er fand die Baronin in dessen Zimmer, ein immerhin höchst seltenes Ereignis, das ihm die Ausrede erleichtern zu wollen schien. Er merkte sofort, daß die beiden ein Gespräch unfertig abgebrochen hatten, und wollte wieder gehen, als er sein Sprüchlein angebracht hatte. Man hinderte ihn jedoch: es seien keine bedeutsamen Dinge gewesen, lediglich ein paar kleine Sorgen in Wirtschaft und Hausgetriebe. Die Baronin ging bald. Heinrich fand Otto gedrückt, fragte nach Gründen und war doch fast froh über die ausweichende Antwort. Sie saßen sich schweigend eine Weile gegenüber, bis der lärmende Eintritt Franzens Gespräch und kleine Interessen aufwirbelte, 17 Erzählungen von dem heutigen Jagdtage, Schußerfolge, Hunde- und Trägerstückchen, die allemal in das Bedauern ausmündeten, daß Heinrich das versäumt habe. Richard kam noch dazu, elegant und überlegen. Man rief zum Abendessen, das auch Otto zu ermuntern schien. Es waren zwei Gäste da, Freunde des Hauses und Gutsnachbarn, die durch ihr Gespräch mit der Baronin den jungen Leuten ein beschränktes Untersichsein ermöglichten, so daß Otto wieder heiterer wurde und den Jagdtag nach seiner scherzhaften Seite hin auszunützen begann, als ein Diener die Baronin wegrief, die sich mit der Entschuldigung, daß man ihrer bedürfe, entfernte. Otto war wieder unruhig und führte mühsam ein Gespräch mit den Gästen über Wildstand, Jagdwetter und die Reisen des Vaters. Endlich, noch bevor das Abendessen zu Ende war, kam die Baronin zurück, schien unbefangen und besprach mit den Gästen ein übliches Kartenspiel. Bevor die jungen Leute in Ottos Zimmer hinübergingen, sagte die Mutter Otto noch ein paar Worte, die ihn zu beruhigen schienen. Unten rollte ein Wagen fort und sie traten in den freundlichen Raum, wo schon Wein bereit stand. Bald gab es ein Gespräch mit Herbstplänen, die Heinrich weh taten, großen Lebenprogrammen, Erwägungen über zu 18 wählende Universitätsstädte, Schulerinnerungen, die einen nie mehr so entrückt anmuten als zwei Monate nachher. Vom Leben redeten sie mit jener bedeutsamen Endgültigkeit, die sich nur die leisten können, die noch hundert andere vor sich haben auf die alle sie noch schwören werden. Wieder mußten alle Ansichten und Widersprüche hervor, das Lächeln über Schiller, das neudeutsche Edeltum, das leider so bald sich mit neuen Argumentationen alter Weisheiten begnügen lernt, und nicht zuletzt Gottesglaube und Naturwissenschaft. Heinrich, der sonst ein Hauptsprecher dieser Reden zu sein pflegte, verhielt sich heute schweigend: und nur zu krasse Widersprüche mit seinen Meinungen, oder was er bei dieser Gleichheit der Anschauungen dafür hielt, vermochten ihn zu einer Gegenrede zu reizen, die dann so unwirsch ausfiel, daß er selber erschrak. Man begann leise zu spotten, was ihn in seiner Unsicherheit dem eigenen Selbst gegenüber doppelt traf. Er versuchte einzulenken. Richard gähnte. Der Abend war erschöpft.

Heinrich kam klopfenden Herzens in sein Zimmer. Es schien ihm sicher und notwendig, daß der Abend noch etwas bringen müsse, und er beschloß, nicht zu Bett zu gehen. Er saß lange beim Tische, hörte die letzten Geräusche des einschlafenden Hauses, die 19 wachsende Stille, die ganz an ihn herantrat und ihn beklommen machte. Er sah sich da sehnsüchtig sitzend, wartend, wurde sich selber Gestalt und Bild, tauchte wieder unter in das bewegte Ich, um abermals emporzusteigen zur Warte des Beurteilers dieser tragischen Person. Langsam befiel ihn die Müdigkeit und schon im Halbschlummer riß ihn dasselbe leise Klopfen an der Tür empor. Er öffnete und ließ das Weiße vom dunklen Korridor eintreten. Sie fragte gleich: »Sie haben auf eine Nachricht gewartet? Warum?« Er stotterte: »Ich dachte . . . nein.« »Warum haben Sie nicht nachfragen lassen, wie es der Baronesse geht?« Sie blieb im Türschatten, sprach ganz leise. Er erschrak: »Sie hat es mir doch selbst verboten und dann, wie hätt ich es tun sollen?« »Sie fragen? Sie können es ja jetzt noch immer tun. Sie können mir alles sagen. Ich bin die Vertraute der Baronesse. Die einzige!« Er dachte fieberhaft nach: »Ich hab so viel an sie gedacht.« »An wen?« »An die Baronesse.« »Wie heißt denn die Baronesse eigentlich?« Eine böse Scham durchfuhr ihn. Er wußte es nicht. Otto hatte immer nur »meine Schwester« gesagt. Er versuchte sich gegen die Fragen dieses Dienstmädchens zu empören: »Warum stellen Sie solche Fragen?!« Sie sagte ganz leise: »Die . . . Baronesse hat mich 20 beauftragt.« Er fühlte sich in seiner ganzen Größe vor dem kleinen Dienstmädchen da verloren. Sie stand eine Weile still. Dann trat sie wie gestern einen Schritt zu ihm. Aber heute blieb ihr Gesicht im Schatten des Lampenschirms. Und sie fragte mit derselben leisen, etwas heiseren Eindringlichkeit weiter: »Warum fragen Sie nach nichts, was die Baronesse angeht? Sie brauchen es nicht als unlautere Vertraulichkeit zu fürchten. Ich komme ja zu diesem Zweck her. Ich soll . . .« Sie hielt inne, atmete tief und lehnte sich an den alten, großen Wandschrank. Heinrich saß vornübergebeugt, halb von ihr abgewandt und suchte aus dem Brennen von Erregung und Beschämung Sätze zu formen. Aus einem Schweigen, das ihm bald selber unheimlich vorzukommen anfing, begann er verschreckt im Halse eine Frage zu bilden, als sie ihm heiser darein sprang: »Sie glauben die Baronesse zu lieben?« »Ja,« sagte er überlaut und ein wenig erlöst. »Das ist nicht wahr.« »Wie können Sie das sagen!« »Sie hätten es ihr ja schreiben können!« »Ja, ja, schreiben. Kommen Sie morgen, ich will Ihnen einen langen Brief geben.« »Morgen, morgen . . . schreiben Sie gleich!« Er gehorchte willenlos und stammelte hilflose, verliebte Sätze auf ein Blatt Papier. Er wollte es in ein Kuvert 21 schließen. Sie nahm es ihm aus der Hand und begann es, in ihrem Halbdunkel darübergebeugt, zu lesen. »Warum lesen Sie es?« Sie hörte nicht auf ihn. Da stieg ein Zorn wie über eine Entweihung in ihm auf: »Sie dürfen es aber nicht lesen!« Sie kam näher und gab es zurück: »Da haben Sie's wieder. Ich will es der Baronesse aus dem Kopf wiederholen.« »Das können Sie doch nicht!« Sie schob sich langsam zur Tür, würgte ein wenig und sagte, die Hand an der Klinke: »Ich kann's schon. Es ist wie alle Briefe und ist an alle Frauen.« »Was meinen Sie? Was ist . . .« Die Tür schloß sich. Er wollte nach, fühlte sich dunkel betrogen, hörte sie leise den langen Korridor hineilen und dann plötzlich ein Schnarren und Schlingen wie von einem bösen Husten. Als es still war, trat er armselig und dem Weinen nahe ins Zimmer zurück, warf sich aufs Bett und suchte tausend Wege, sich zu entkommen. Aber auf jedem kam oder eilte er zu sich und zu seinem unfaßbaren Jammer zurück. Daß noch einmal dieser Juli wäre! Daß noch einmal das Ganze neu begonnen werden könnte! Zu den Wasserrosen jagte sein Denken hinunter und verstörte die sanfte Welt der Gärten, in denen er sie in sich verfehlt hatte. Hilflos kehrte die ganze Jünglingszeit wieder mit Hoffnungen und ersten Sicherheiten im 22 Denken, Winterabende mit Büchern und Gesprächen, der Vater, der so überlegen getan hatte – O hatte er nicht recht gehabt? Würde dieses Kind nie aufrecht sein können? Dieses Kind, dieses Ich. Wie sicher alle waren. Dieses Dienstmädchen – wie er sich schämte, o wie . . . Aber doch gelang es allmählich, Seitenwege zu finden, die wegführten von dem da, bis ihn einer hineinwies in den Schlaf, einen unruhigen, ungerechten Schlaf, durch den Traumfetzen und Erwachen ununterschieden trieben. Einmal vermeinte er, eilige Schritte und Rufen durch die Gänge, einen ratternden Wagen zu hören. Aber der Traum forderte es für sich und Heinrich gab sich ihm hin.

Der neue Tag hing grau und mit Regenrauschen vor den Fenstern. Heinrich erwachte und fühlte fröstelnd, daß etwas anders geworden sei. Mißmutig sah er die Kastanienblätter draußen sich biegen und kleine Wasserstürze abschütteln und versuchte vergeblich, während er den dunklen wärmeren Rock anzog, jenes heimliche Sommerregenbehagen in sich zu wecken, das nach vielen goldenen Tagen gerne einmal ein wenig Winter spielt und sich am ungewohnten Daheimsein gütlich tut, sich selber zublinzelnd im versteckten Denken an den nächsten Morgen voll Sonne. 23 Feuchte Kühle kam durchs Fenster und Heinrich dachte, wie herbstlich das nun sei, ohne sich aber über diesen Gedanken und seinen Anhang bei sich auszulassen. Er trat auf den Korridor. Von oben her schlurfte die alte Bedienerin und trug einen klappernden Kübel voll Eis, den zur Hälfte ein blutiges Tuch deckte. Sie fragte Heinrich im Vorübergehen: »Wissen Sie schon, junger Herr, unsere Baronesse ist in der Nacht gestorben.« »Was?« . . . Sie war schon weiter. Er ging ins Zimmer zurück, legte die Hände vor die Augen und war arm und elend. Ein sinnloser Haß stieg in ihm auf. So hatte er es erfahren müssen! Wie häßlich das war! Er stand beim Fenster und Regen sprühte in sein Gesicht. So war es, Herbst, lauter, lauter Herbst. Und er hatte nicht einmal ihre Hand geküßt. Ihm war sie fortgestorben, ihm, die anderen hatten sich ja gar nicht um sie gekümmert. Aber, etwas wehrte ihm sehr und er vermochte das nicht weiterzudenken. Eine fröstelnde Leere wuchs in ihm. Ob das Mädchen ihr noch den Brief gesagt hatte? Da klopfte es. Er erschrak bis ins Herz. Otto war es. Er schrie ihm entgegen: »Du, ist es wirklich wahr?« »Du weißt es schon? Ja, sie war die letzten Tage manchmal schon recht schlecht. Aber gerade gestern schien es besser mit ihr zu stehen. Aber da 24 kam in der Nacht der Blutsturz.« »Also wirklich!« Und es war ihr Blut gewesen. Otto setzte sich: »Sie hat so viel ausgestanden. Jetzt ist sie darüber hinaus. Man muß es um ihretwillen leichter ertragen. Sie hat schon kaum mehr schlafen, kaum mehr reden können.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Du, ich bin mit einer Bitte gekommen. Die Andern werden ja jetzt abreisen. Aber du sollst bei mir bleiben. Ich werde es gerade in den nächsten Tagen recht schwer haben. Papa ist ja so weit fort. So muß ich mich um alles kümmern. Und ich möchte nicht gern allein sein.« »Wenn's dir besser tut, bleib ich natürlich.« Aber er wehrte sich furchtbar. Der Gedanke an das Fortgehen war so tröstlich gewesen. Wie Schweres man ihm zu seinem Leide noch zu tragen gab!

Trübselig und kümmerlich wurde dieser Tag aufgebraucht mit Geschäftigkeit, deren bösen Sinn er seinem Bewußtsein zu verschweigen versuchte. Nachmittags fuhren die Freunde fort und es gab einen verstimmten Abschied mit gehasteten Wiedersehensversprechungen bis ins Kleinste, denen das Innere keinen rechten Glauben schenken mochte. Dann vom Bahnhof weg bittere Wege in der kleinen Stadt. Er konnte doch nicht fassen, worum es gehe, klagte Otto an und war schon zufrieden, wenn er nur 25 wiederkam und ihn nicht länger im Wagen allein ließ. Endlich saßen sie zu zweit in Ottos Zimmer, verspürten die fehlenden Freunde mit im Gefühl vom Tode und wußten nichts miteinander zu beginnen. Zu reden wie sonst hatten sie nicht den rechten Mut und so würgten sie an der Zeit, die nicht gehen wollte. Und doch fürchteten sie, allein zu sein. Endlich schlich Otto zur Mutter hinauf, die mit zwei eilig gekommenen Verwandten aus der Nachbarschaft ihre wohltemperierte Trauer besprach. Und Heinrich war in sein Zimmer verwiesen. Er trat hinein, zog frierend das Fenster zu und saß unvermerkt im Sessel wie gestern. Aber dann riß es ihn doch hoch und sein Blut erschrak vor der Erkenntnis, daß alles Warten sinnlos sei. Aber wenn vielleicht das Mädchen doch käme! Vielleicht wollte sie ihm berichten, vielleicht sollte sie ihm doch noch etwas sagen! Mein Gott, wozu aber hätte sie Botschaft bringen sollen, nun alles, alles aus war. Er fühlte, daß es ihm doch nicht recht einginge, so ganz stark, was zu Ende sein denn heiße. Und er mühte sich darum, als ob er damit eine Schuld tilgen könnte. Aber das menschliche Herz wehrt sich wild und mit aller Vernunft gegen das rechte Wissen vom Tode. Unverständlich zog sich etwas um ihn zusammen, aus dem er keinen 26 Ausweg sah und das doch nicht so sehr das Geschehene an diesem einen Menschen als die dadurch kenntlich gemachte Ohnmacht des inneren Lebens zu sein schien. Nun würde sie gewiß nicht mehr kommen. Was hätte sie bei ihm auch sollen? Was war er gewesen? Was war das Ganze überhaupt gewesen? Ein winziger Anfang, kaum so viel wie ein Zulächeln, eine unverhältnismäßige Aufbauschung, ein wildes Mißverstehen seines hungrigen Herzens. Aber die Fülle und Macht der rege gewordenen Kräfte bewies ihm mit ihrem Dasein, daß etwas Größeres geschehen sei. Endlich entschloß er sich, zu Bett zu gehen und die Nacht zu versuchen. Aber das erst Erwachte kümmerte sich nicht um Zeit und Wollen und forderte sein Leben. So lag er in dem sinnlosen Kreisen um das unverständlich gewordene Ich, das nur mehr schwach getönt war von Tod und Liebe und richterhaft mählich auf ein noch nicht verstandenes Gefühl von arger Schuld zu weisen begann, die in ihrer bitteren Erstmaligkeit selbst der Ermattung Trotz bot. Immer wieder fuhr er auf und begann mit dem Gedanken an sein Sterben zu rechnen. Aber es war zu viel Spiel darin, zu viel vom süßen Todtraum des Jünglings, der sich mit der Herzenswunde an der Treppe der Geliebten liegen sieht und alles Unausgleichbare der 27 Knabenbedrängnis in diesem milden Verströmen einzuwiegen sucht. Zu bald begann ihn dieses Spiel schöner Todesromantik zu würgen und ungetröstet sehnte er sich nur mehr nach einer Krankheit, die ihn entrücken sollte. Doch mit dem Grauen des Tages wußte er, kühler geworden, daß irgend ein harter Ernst hinter diesem Gewebe von Gedanken und Wirklichkeit stehe, der ausgetragen und gelebt werden müsse. Als er aber vor dem Spiegel die Krawatte umlegte, sah er den großen Jungen übernächtig und elend da sitzen, die blonden Haare verwirrt, als ob sie nie mehr geordnet werden könnten, und schnell waren ein paar heiße Tränen da und eine arme Sehnsucht nach Geschütztsein und Daheim, daß er eiligst fortgelaufen wäre, hätte er sich das Bubenherz damit wieder erlaufen können. Zeitig war Otto bei ihm und zeigte sich wieder ausgeglichen. »Heinrich, möchtest du an meiner Stelle mit meiner Mutter und den Verwandten bleiben? Ich muß mich um die Aufbahrung kümmern. Es werden auch bald die Besuche kommen.« Heinrich saß nun oben mit der Baronin und den zwei Verwandten, die über Nacht geblieben waren, redete nüchtern und wie ausgetrocknet schwerfällige Sätze, mühte sich allgemeingültige Dinge zu sagen und verschwand hinter den erfrorenen Phrasen, die 28 ein Gespräch vertraten. Bald kamen die Kondolenzbesucher. Wagen rollten, Schritte und Räuspern widerhallten im Stiegenhause und würdige gutgesetzte Trostsprüche begannen das Zimmer zu füllen. Die Baronin nickte sichtlich zufrieden bei jedem neuen Namen, der gemeldet wurde, ging jedem Neuankommenden je nach seinem Range drei oder mehr Schritte entgegen, und bald wußte Heinrich, in dem ein kühles Grauen sich ausbreitete, ihren ganzen Wortschatz. Der Salon hatte sich mit Menschen gefüllt, die darauf warteten, in das Aufbahrungszimmer geführt zu werden, um der Sitte zu genügen und ein Stücklein Grausen zu der Freude an dem eigenen Nochvorhandensein dazuzuschlagen. Die Älteren saßen steif in ihren Sesseln und nahmen, auf sich bezogen, die Zeremonie recht ernst. Die Jüngeren sahen zum Fenster in das bleiche Regnen hinaus mit einem mißmutigen, beleidigten Gesicht. Die Baronesse war so lange krank gewesen, daß man ihre Zugehörigkeit derweil vergessen hatte. Endlich kam Otto und bat um Verzeihung wegen des Wartens: der Gärtner sei nicht fertig geworden. Alle erhoben sich und Otto führte über Treppen und Korridore. Heinrich war noch nicht recht zum Bewußtsein gekommen, als ihn ein Geruch von Tuberosen aufriß und sein Herz zu 29 einem wilden, rasenden, erstickenden Klopfen aufrüttelte. Er hörte nicht die Fragen, die ein junger Mann, der mit ihm gegangen war, an ihn richtete. Er lehnte sich neben der Tür, durch die nun die Ersten in das Sterbezimmer eintraten, halb versteckt zwischen Oleander, an die Wand und konnte sein Herz nicht zur Ruhe bringen. Er spürte den Mull der schwarzen Portiere an seinen Händen, roch den starken und beengenden Duft der vielen Blumen und fühlte sich in dem Zittern und Rütteln seines Herzens erwachen. Langsam begannen die Menschen da, die hohen Girandolen, die Kugellorbeerbäume und ein gleichmäßiges Murmeln in sein Wachsein einzutreten; von der jähen Wirklichkeit gezwungen trat er aus seinem Zufluchtswinkel zu den Andern und wurde in das Totenzimmer gedrängt. Zwei Nonnen knieten neben dem kerzenhellen blausilbernen Gerüste und neben sich hörte Heinrich flüstern: »Wir waren miteinander im Kloster, die Gretl und ich, und die Schwestern sind von dort, Notre Dame de Sion.« Er sah zwei große Mädchen nun vor dem Sarge stehen. Und dann war die Reihe an ihm. In lauter Weiß, ein silbernes Kruzifix in die gefalteten Hände gedrückt, lag sie da, bleich und schwach entschlafen, auf die er gestern noch gewartet hatte: das 30 Dienstmädchen. Er starrte sie an und etwas Brennendes quoll auf in ihm, sich zu rechtfertigen für alles: »Du totes Mädchen, sei nicht so schlecht zu mir! Ich hab ja nicht so viel getan! Ich will dir alles sagen. Ich hab ja nicht gewußt . . .« Aber da war er weggedrängt und nahe der Tür, noch immer das Gesicht zum Sarge gewandt. Und da versagte sein Atmen und er preßte sich hinaus, schnell schnell, flog die Stiegen hinunter und jagte in den Park. Das feine Regnen und die Kühle taten ihm wohl. Und er versuchte den Gedanken an diese letzte Erfahrung. Aber es wehrte sich noch. O Leben, Leben, warum hast du mir's so schwer gemacht! Wie schön, wie süß empfangen dich die Andern, wenn du als die große Verwandlung kommst. Warum? Und ich, ich . . . Aber das Ich wollte ins Wissen, endlich. Und als ein Fieber durchdrang ihn das Erkennen, daß wohl das Geschehene da zum Ich gehöre und auch das Leben sei. Das Geschehene. Ja es war geschehen, alles das, für immer geschehen, unauslöschlich. Was sollte er tun? Konnte man denn leben mit dem? Und er begann als neue Anklage die ganze Scham zu verstehen, die ihn aufgewühlt hatte, als noch nicht alles zu spät war. Ja es hätte noch gut werden können, trotz des Schicksals und Todes, wenn nur er anders 31 gewesen wäre. Aber wie, wie hätte er sein sollen? Wenn er sie geliebt hätte, hätte er sie erkennen müssen. War's nicht Liebe gewesen? Warum jetzt Kampf und Anklage? Er konnte es doch noch nicht fassen und sein Gedächtnis trug quälerisch alle Erinnerungen der letzten Tage zusammen wie für einen Gerichtstag.

Das Leichenbegängnis, das einer Langgestorbenen galt, mit seinem lästigen Prunke, dem eilig herbeigerufenen Vater, dem mißmutigen, um den noch das verlassene Vergnügen ferner Seeorte zu sein schien, und den leeren Gebärden der Trauer, brachte keinen lösenden Schmerz. Und nach ein paar Tagen reiste er heim. Ein kleiner, langsamer Zug trug ihn durch die verwandelten Wälder, durch neues Rot und Braun. Und er versuchte vergeblich die versöhnliche Herbstschwermut, die er aus geläuterten Dichtern früher in seine verwirrte Jugend zu tragen vermochte. Bitterlich sehnte er sich nach einem schönen Schmerz und der Wehmut um eine geliebte Tote. Doch Scham und peinvolle Erinnerung des Gewesenen antwortete. Er kam heim. Die väterlich überlegenen Scherze, die ihn empfingen, waren plötzlich fremd, einem Anderen geltend, und, ohne sein Dazutun, empfand der Vater in wenigen Tagen den Verwandelten neu. Wenn er 32 auch ererbtes Recht und ersessene Autorität nicht so leichtiglich aufzugeben geneigt war, so war in seinen Sticheleien die Überlegenheit doch eher respektvoll geworden und damit der Monat, den Heinrich noch bis zum Beginn des Universitätsjahres daheim verbringen sollte, erträglicher. Alte Freunde suchten ihn, Mädchen von eh und neue kamen, von einer flackernden Sehnsucht für einen Augenblick gegrüßt, die doch immer neu von Ängsten und Zweifeln verschüttet wurde. Aufmunternde Blicke streiften den ungemäß Ernsten, wie es ja meist zu sein scheint, daß dem am wenigsten Begehrenden das Glück sich zuwendet. Er suchte die Kameraden kaum, streifte viel durch die Wälder, die sich um die kleine Heimatstadt breiteten, und hatte einige heimliche Winkel der Kindheit, denen er durch das lange Fernesein der Gymnasialzeit fremd geworden war, wiederentdeckt und füllte die alte Zärtlichkeit bang mit seinem neuen Schicksal an. Doch oft riß es ihn wild aus schwachversuchten Träumereien, daß er sich zur Erde warf, sinnlos zornig und betrübt zugleich, und dann auf dem Heimwege bei einem Gemurmel wirrer Reden von Bekannten ertappt, doppelt unselig und ausgestoßen nach Hause schlich. Dann kamen die langen, trüben Regentage. Heimliches Lampenlicht und Bücher 33 bis zum Rande voll lockender Welt, verhießen Tröstung. Doch vom Lesen emporgerissen lag er auf seinem Sofa und quälte sich, einen Gedanken, der ihm Hilfe schien, festzuhalten und über die Lächerlichkeit, in die er vor sich hineingewachsen war, logisch hinwegzukommen. Und eines Tages fand er sich bei dem Gedanken, daß ihm sein Erlebnis so weit fortgerückt schien und nur noch er selber, wie aus sich verwundet, mit sich rang.

An diesem Tage hatte er mit einem Mädchen, das, seines Alters und Gespielin von einst, an der gleichen Universität wie er studieren sollte, einen Ausflug unternommen. Doch dem Oktobermorgen, der so schön und sommertäuschend angelassen hatte, folgte ein verwölkter Nachmittag, der eine große Wolke zum Regnen führte, ehe die beiden irgend Unterkunft finden konnten. Unter einem Baume mit niedrigen Ästen, die durch die darüber gebreiteten Regenmäntel ein leidliches Zelt abgaben, saßen die beiden, näher aneinander, als sie es im Innern waren, die nach ausgetauschten ein wenig blassen Kindheitserinnerungen und einigen vagen Zukunftsdingen nur ihre ungewisse Jugend zueinander zu bringen hatten. Ein Gespräch, das ihnen notwendig schien, mußte das Mädchen zuletzt allein bestreiten. Denn Heinrich 34 war in sein Brüten geraten, obwohl ihn für einen Augenblick eine Berührung dieses Mädchenkörpers hell erregt hatte. Bei einigen von ihr fortgeknurrten und hervorgestoßenen Worten merkte sie die jähe Entfernung dieses Jünglings, der ihr nahe lieb und erwünscht war, nahm unvermutet seine Hand und sagte: »Heinrich, was treibst du denn mit dir?!« Und getroffen und ertappt begann er eine Erzählung, die er tragisch exponierte, aber die ihm, da er ja nicht Herr des Erlebten war, allgemach ins Wahrhaftige und Beschämende hinüberglitt. Und als er sich plötzlich auf dem ihm so ungewissen Boden und in all seiner Hilflosigkeit fand, warf ihn die Unklarkeit seines Herzens zugleich mit der ganz zerschlagenen Eitelkeit in ein plötzliches kinderheißes Weinen, aus dem ihm das ergriffene Mädchen den Kopf in seinen Schoß zog, wo er, noch eine Weile von Schluchzen geschüttelt, langsam still ward, und endlich, von einem liebkosenden Streicheln über sein Haar wunderlich getröstet, in zwei gütig überlegene Augen aufsah, die ihm in ihrem schönen Ernst eine erste Sicherheit wiedergaben. Bald versuchte sich ein Gespräch, das, von schnellen kleinen Zärtlichkeiten unterbrochen, doch einem Rechten zustrebte, da das Mädchen, sich an die Stelle der Verstorbenen setzend, klar Heinrichs 35 Schuld erkannt hatte und ihm vorsichtig verständlich zu machen suchte, wie ein gut Stück Schicksal mit dabei gewesen sei, daß dieses Erlebnis vor aller Läuterung geendigt und ihn in seinen schuldbeladenen Kummer verstoßen habe. Eine kleine Rache für ihr Geschlecht mochte sie bei aller Zärtlichkeit nicht missen und so zeigte sie ihm nach und nach, um ihn nicht zu verstören, seine der angeblich geliebten Person so ferne Eitelkeit, sein Unverständnis, ja seine Fühllosigkeit für die Tragik jenes Mädchens und, allmählich zu dem lebendigen Ich überleitend, erklärte sie ihm, in der Liebe sei Mißachtung des Persönlichen das schwerste Verbrechen. Auf dem Heimwege, liebgeschmiegt nach dem Regnen im abendlichen Walde, empfand sie ihn ein wenig vertraut mit einigen ihrer kleinen Eigenheiten und war auch ihrerseits schön getröstet und hoffnungsvoll. Die nächsten Tage nützte sie, ihr Werk zu befestigen, dem noch manche Dunkelheit, Gefahr und Rückfall drohte. Bis sie wußte, daß Heinrich auf dem Wege war, was von der zarten Toten in ihm Leben hatte, mit ihrer Gestalt zu verweben und der süßen Sehnsucht nach dem Leben ihren Namen zu geben.

Im Gewirr seiner Abreise stand sie auf dem kleinen Bahnsteige, neben den erregten Eltern, leise lächelnd, 36 gab ihm ein paar Astern und herbstliche Blumen ins Wagenfenster und sagte dem bange Scheidenden ein zufriedenes und sicheres Auf Wiedersehen nach.

Aus einem unruhigen Schlummer weckte ihn das Poltern des Zuges auf einer Brücke. Durch das vom Hauch gesäuberte Fenster sah er vom Flusse fort die Morgennebel auf und nieder steigen. Dann hoben sich aus ihnen blutrot in erster Sonne Schlöte und Türme. Er öffnete das Fenster. Der Zug fuhr in die Stadt ein. Ein ungeheures Brausen begrüßte den Erwachten. Menschenmassen drängten in die Fabriken. Sirenen und Glocken gellten durcheinander und zischend fuhr der Zug in die Halle. Und Heinrich trug seinen Asternstrauß stolz lächelnd wie ein Eroberer durch das Gewühl von Körpern und Händen, die nach ihm griffen.

 

Geschrieben im Jahre 1913.

 


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