Walter Rheiner
Skizzen
Walter Rheiner

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Miramée (Paris)

Das Verhängnis hub an in einer gläsernen Sommernacht auf dem Boulevard Poissonniére. Eine Dame sank um im Lichtkreis einer Laterne; ich fing sie in meinen Armen auf. Es war Miramée. Ihr Kopf lag an meiner Schulter. Das Antlitz tauchte, einer Insel gleich, traumhaft und weich aus dem Äther ihres Haars. Eine seltsame Schönheit ruhte in ihm, als sie einen Augenblick lang die Augen öffnete und sie langsam wieder schloß. Es war, als sei der lange Boulevard feierlich mit diesem Blick in sie eingeflossen und hinter ihren seufzenden Lippen vergangen. Sie schmiegte den Kopf tiefer zu mir, ihre Hände umklammerten sanft meinen Arm, und sie erholte sich ein wenig. »Es geht Ihnen nicht gut, Madame«, sagte ich leise. Sie flüsterte: »Ach, ich hab zu viel gelitten!«

Ich rief einen Wagen an. Als ich beim Einsteigen half und ihre Schwere einen Augenblick lang trug, fühlte ich, wie eine große gemeinsame Welle durch uns beide schwebte und sich im Fluss der Bäume und Laternen verlor.

Der Boulevard schien sehr schmal und malte hektische Bilder an die fließenden Fenster unseres Autos. Miramée lag groß in den Polstern. Manchmal warf ein Fenster, einem Scheinwerfer gleich, eine Kaskade von Licht auf ihren Schoß. Ihr blauseidenes Kleid glänzte auf. Unendlich hing ihr Blick an mir. Dann kam ein Augenblick, währenddessen ich deutlich begriff, daß ich sie früher schon einmal gesehen, gehalten, geliebt – geliebt haben mußte.

Wo sahn wir uns schon?

Miramée, in der Nacht trafen wir uns quer durch den schlimmen Schlaf der Weltstadt und durch die Nebel der Menschen, die des Nachts aufglimmen und durch die Straßen schreien ohne Stimme. Schon verstricken uns gnadenlose Fäden. Unsre Hände falten sich, und süß ist es, im Meer sich aufzulösen und durch die sieben Morgenröten zu hallen ohne Grenzen!

Dann waren wir in einem großen Hotel dicht bei der Madeleine, schattenhaft in einem gelben Zimmer. Ein Bett wuchs schwarz, war ein dröhnender Sarg. Der elektrische Kronleuchter, ein böses rotes Geschwür, neigte sich schwer darüber. Sie erzählte mir ihr ganzes Leben, das makabre Wüten ihres Schicksals, mit einer verlorenen Stimme, die die Wände entlang schluchzte.

Soll ich das Lied singen, das zu mir kam, dieses Lied, das sich um den Eiffelturm spannt und wirbelt in einem unsäglichen vivace furioso? ... das kreißte und Welten aufwarf von schluchzenden Dimensionen? – Apachen von Montmartre, Studenten des Quartier Latin, Amerikaner auf gewaltigen Schiffen und in schreienden Häusern, die des Abends Tausende von Menschen und Wasserfälle von Licht speien, erglühende Abende im Wald von Compiègne, fürchterliche Nächte in schmierigen und drohenden Hotels an den großen Boulevards, das Gleiten der Seine unter der Qual ihrer grauen Brücken, eine tiefe Liebe voll Angst und Not, steinerne Ärzte mit sachlichen Feststellungen, die feindseligen Betten der Salpétrière, und, durch dies alles hindurch, im Hunger geträumt, die bestürzende Silhouette des schlanksten aller Türme über Paris im unbegreiflichen Glanz des Morgenhimmels: Silber und Blei, schimmernd und dumpf …

Ich lauschte, lauschte, und leise bildete sich in mir ihr kleines, unwirkliches Profil, wie es oft gewesen sein mußte auf der schwebenden Höhe in den weiten Falten der Sacré-Cœur-Kirche nach der Beichte. Miramée stieg hinab auf Paris, rein und golden ihr Schritt, eine süße Cirruswolke, die zu uns Menschen kam und verging, verging in Rauch und Schlamm.

Lang blieb ich noch entrückt und jenseits. Dann grinste sich das Hier wieder in mich ein. Ihr Leib lag bloß und weiß im Bett, das mir wie ein endloses Meer schien, hallend und urhaft. Eine bleiche Sonne quoll durch die Gardinen hüstelnd über die Dächer des Madeleine-Viertels herein. Koste ihre rechte Brust. Die linke lag böse zerfressen und geschwürig, braun und voll tückischen Lebens. Ihr armer Leib war eine Grotte von faulenden Massen, mühsam verklebt und verbunden. Das rechte Bein, schwarz von sich abschälender Haut, ragte wie ein verbrannter Pfahl in die Luft. Und all diese Stellen, auf die sich die furchtbare Krankheit gestürzt hatte, schillerten von einem gespenstischen Leben. Fast schien die Verwesung schon beginnen zu wollen, und je mehr sie fortschritt, um so mehr schien es mir, als ob ein neues Wesen da entstände, aus ihren Augenhöhlen kicherte und in den Zähnen hinter den toten, hochgezogenen Lippen lebte.

Eine sinnlose Angst faßte mich. Die Glocken begannen zu läuten, lange schleiften ihre wilden Töne über mich hin. Waren es nicht schwere Silben, die sie lallten, langsam und groß: »MI-RA-MÉE, MI-RA-MÉE«? – Paris stand auf und brüllte mich an. Ich stürzte wie wahnsinnig aus dem Hotel, Straßenkämpfe schienen mir zu toben, die Untergrundbahnen brachen herauf und kamen empor, ein Bahnhof schwebte in der Luft.

Ich rannte, ohne Hut, ohne Besinnung.

In einer Vorstadt hielt ich an, erschöpft auf einer Bank. Dann verließ mich das Bewußtsein. Als ich aufwachte, hatte man mich in eine nahe Schenke gebracht. Dort reichte man mir Schnaps. Die Pariser Arbeiter umstanden mich in ihren blauen Blusen und diskutierten eifrig. Draußen, auf dem Boulevard Ornano, zitterte die Sonne, Spatzen piepsten, und vom Hof her kam das leise Singen eines kleinen unbewußten Dienstmädchens:

»C'est une belle gosse,
mais une sale rosse,
on ne devrait jamais l'approcher.
O quelle torture
que l'on endure,
quand on a le malheur de l'aimer!«

Ich aber ging, weiße Rosen in der Hand, langsam und leicht den Boulevard Ornano entlang, aus Paris hinaus, in die uferlosen Felder.

 


 


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