Franziska Gräfin zu Reventlow
Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«
Franziska Gräfin zu Reventlow

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Es war während seiner Abwesenheit eine wahre Hochflut von Briefen an uns eingelaufen, nicht etwa von unseren Freunden und Verwandten, sondern von wildfremden Menschen. Unseren sämtlichen Vereinsbrüdern stand ja das Recht zu, uns ungestraft mit Schriftstücken zu bombardieren, und sie machten ausgiebigen Gebrauch davon. Schelmische Wandervögel fragten an, ob sie bei nächster Gelegenheit ihren Flug hierher richten dürften und man bereit sei, sie zu beherbergen und zu atzen – eine Dame klagte dem Loreley, der ein ausgesprochener Weiberfeind war, daß sie sich einsam fühle – ein Handlungsreisender erkundigte sich bei der Schwester nach guten Hotels und erwähnte dabei, er sei in den besten Jahren und sehr lebenslustig – eine Gesellschaft für Nacktkultur wünschte ein Terrain zu mieten, wo man Hütten bauen und sich unter südlichem Himmel in schönen Bewegungen üben könne – noch andere wollten alles mögliche und unterrichteten uns aufs genaueste über ihre Lebensverhältnisse, Neigungen und Gefühle, in der sicheren Zuversicht, ein Echo zu wecken. – Einen vollen geschlagenen Tag hatten wir alle dagesessen und zum Teil recht grobe Antworten geschrieben, um die Leute in ihre Schranken zurückzuweisen.

Jetzt aber stand Hieronymus Edelmann in seiner ganzen Länge da und richtete zornig sein Monokel gegen uns: Was uns denn eingefallen sei, den Verein so vor den Kopf zu stoßen? Man habe sich bereits bitter bei ihm beschwert. Und im nächsten Monat würden verschiedene Mitglieder hierherkommen, wunderbare Dinge würden sich dann ergeben – die stellenlose Gesellschaftsdame habe sich schon bereit erklärt, dem Flammenbund als – nun, als Präsidentin – vorzustehen. Er fand in der Eile wohl kein anderes Wort.

Aber wir waren ebenfalls gereizt, wir sahen in Gedanken schon die Insel von Wandervögeln, nackten Menschen und Handlungsreisenden überflutet, und das gab uns Mut. Der Loreley erhob seine Stimme und wurde ganz pathetisch: »Nein – wir wollen nicht mehr – wir brauchen kein Springmäuse und keine Vereinsbrüder – wir wollen keinen Flammenbund – wir haben genug an den Blattern« – seine Stimme überschlug sich. Hieronymus aber blieb wie angewurzelt stehen, mit seinem Brehm unter dem Arm, das Monokel hing schlaff herab, und er sah sprachlos zu uns herüber. Dann ging er in das Haus.

Monsieur Mouton, der dieser Szene beigewohnt hatte, war außer sich vor Vergnügen und beteuerte wiederum, Hieronymus sei ein Revenant. Auch wir begannen uns dieser Ansicht immer mehr zuzuneigen. Sein ganzes Tun und Treiben mit dem Krokodil und den Springtieren trug tatsächlich ein gespenstisches Gepräge, und er hatte eine Art, Tatsachen und Wirklichkeiten zu ignorieren, die uns immer wieder in Erstaunen setzte.

So hatte er am nächsten Tage anscheinend alles vergessen, tat, als ob überhaupt nichts weiter vorgefallen sei, und zähmte die Wüstenmäuse.

Schwester Hildegard war bald wiederhergestellt, und wir wollten mit dem nächsten Schiff fort, aber Mynheer hetzte uns die Gesundheitspolizei auf den Hals, und man verhängte eine vierwöchige Quarantäne über uns, ehe wir abreisen durften. Zudem steigerte er uns den Pensionspreis ins Ungeheuerliche unter dem Vorwand, wir hätten ihm die Blattern ins Haus geschleppt und die Kundschaft verscheucht. Da wir nicht darauf eingingen, verklagte er uns. Wir erhoben Gegenklage unter Hinweis auf die sinkende Mauer und den linken Flügel und behaupteten, die »Schwankende Weltkugel« sei in baulicher wie in sittlicher Beziehung ein gefährlicher Aufenthalt. Nur die Erkrankung der Schwester habe uns gezwungen zu bleiben, so daß dem Hauswirt aus der Blatternaffäre noch materielle Vorteile erwachsen waren. Dagegen trat nun wieder Hieronymus auf, der inzwischen vergessen hatte, daß er eigentlich in freundschaftlichen Beziehungen zu uns stand, und gab an, daß er längst das Europäerviertel für seine Flammenbündler habe mieten wollen, während Mouton die Gelegenheit ergriff, um seine Forderung an den Hauswirt geltend zu machen. Er wollte durchaus den Beweis antreten, daß dieser ein Schurke und Hieronymus Edelmann ein Gespenst sei. Auf letzteren Umstand legte der Untersuchungsrichter kein besonderes Gewicht. Im Gegenteil, man begann zu zweifeln, ob Monsieur Mouton bei normalem Verstand sei, und das machte die Gegenpartei sich natürlich zunutze.

So tobte der Kampf hin und her, und es bestand keine Aussicht, daß der Prozeß jemals ein Ende nehmen würde.

Mittlerweile war auch die stellenlose Gesellschaftsdame in das Gartenhäuschen übergesiedelt. Kopf an Kopf standen wir am Fenster, als sie ihren Einzug hielt. Wir sahen, wie Hieronymus ihr das Krokodil und die Springmäuse, die inzwischen wirklich gelernt hatten, aus der Hand zu fressen, vorstellte. Übrigens mußten wir wieder einmal Monsieur Mouton recht geben – so wenig Charme das Krokodil auch hatte, es war ihr immerhin noch vorzuziehen. Wir sahen, daß sie nicht einen Augenblick zusammenzuckte, sondern vertrauensvoll zu Hieronymus aufblickte, und wir begriffen, daß sein Gespensterinstinkt ihn diesmal nicht getäuscht hatte. Diese Dame war sicherlich geeignet, an seiner Seite und von unheimlichem Getier umgeben als Präsidentin des Flammenbundes zu walten.

Nachdem sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen, kam er mit strahlendem Monokel unter das Fenster – er hatte wieder vergessen, daß er jetzt im Prozeß unser erbitterter Gegner war – und verkündete, daß seine Pläne sich nunmehr aufs herrlichste entwickelten. Mit dem nächsten Schiff käme eine Reihe von Mitgliedern, und er hoffte, dann würden auch wir anders denken lernen und uns der Sache anschließen.

Uns war schlimm zumut.

Tags darauf kam er vom Hafen zurück und brachte einen dicken fröhlichen Kapitän mit. Es war das keine Seltenheit, denn wenn Hieronymus keine geeigneten Passagiere fand, überreichte er auch dem Kapitän seine Visitenkarte und versuchte, ihn mindestens für einen Abend in das Logierhaus zu bringen. Dieser hier fuhr mit einem kleinen Handelsdampfer und war entzückt über den gastlichen Empfang, der ihm zuteil wurde. Wir aber waren nicht minder froh, einmal wieder ein unbeteiligtes Gesicht zu sehen, und so kam es, daß der schlichte Seemann fast über Gebühr gefeiert wurde und die ganze Gesellschaft auf morgen zu einem Schiffsfrühstück einlud. Punkt zwölf Uhr, denn um zwei sollte in See gestochen werden.

Hieronymus ließ es sich angelegen sein, den Gast zu erfreuen, zog, kaum daß die Mahlzeit beendet war, die Statuten seines Vereins aus der Tasche, erläuterte seine organisatorischen Bestrebungen und suchte ihn dann ohne weiteres für den Flammenbund zu heuern.

Es war nicht ganz klar, ob der biedere Kapitän das alles richtig erfaßte, denn er wollte sich halbtot lachen und sagte immer wieder: »Ja, das wäre sehr hübsch, aber morgen kommen Sie erst mal zu mir, und dann wollen wir frühstücken.« Eine Welt von Alkohol lag in diesem einen Wort. Ein wenig verstimmt brachte Hieronymus nun das Gespräch auf exotische Tiere und erzählte, daß sein Krokodil seit ein paar Tagen nicht fressen wolle. Es müsse krank sein, und er wollte es ihm durchaus noch bei Nacht und Nebel zeigen, um seinen Rat einzuholen, in der festen Meinung, daß jeder weitgereiste Kapitän auch Sachverständiger in Krokodilangelegenheiten sein müsse. Dieser jedoch – er hieß Petersen – sagte, er selbst verstände nichts davon, aber sein Steuermann, und Hieronymus solle das Tier nur morgen mitbringen. Worauf er wiederholte. »und dann wollen wir frühstücken« und sich etwas benommen verabschiedete.

Wir anderen erwogen noch spät in der Nacht einen verzweifelten Plan. Kapitän Petersen war uns von Gott gesandt – er wußte nichts von unserer Quarantäne, er wußte überhaupt von nichts, und morgen, wenn man gefrühstückt hatte...

Und ungesäumt ging man zu Werk, während das ganze Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel« in tiefstem Schlummer lag. Wir packten unsere Koffer, schleppten sie selbst an den Hafen hinunter und gewannen einen Bootsmann, der sie auf ein verabredetes Zeichen im letzten Moment an Bord bringen sollte. Als wir gerade die letzten Sachen aus dem Hause trugen, kehrte Monsieur Mouton von seinem nächtlichen Bummel zurück und war sehr erstaunt über unsere Betätigung. Man weihte ihn ein, er wünschte uns alles Gute, war aber überzeugt, daß es uns nicht gelingen würde. Wir überredeten ihn, an dem Frühstück teilzunehmen, und er fuhr denn auch zur festgesetzten Stunde mit uns herüber. Den Ameisenbär wagte er bei der feindseligen Stimmung im Logierhaus nicht allein zu lassen und nahm ihn deshalb mit. Kapitän Petersen war ein wenig verwundert, da er Hieronymus Edelmann mit einem Krokodil erwartet hatte. Dieser aber verspätete sich, was bei ihm häufig vorkam. Er hatte absolut kein Gefühl für Zeit und konnte ebensogut übermorgen kommen und mit staunendem Monokel nach dem entschwundenen Schiff suchen.

Das Frühstück begann und dauerte fort. Es war eines jener Frühstücke, die nie ein Ende nehmen, die ebensogut bis zum Jüngsten Tage dauern könnten. Es gab allerlei Delikatessen und vor allem unabsehbare Getränke.

Es wurde eins, es wurde halb zwei, die Schiffsglocke läutete das erste Abfahrtszeichen. – Wir frühstückten, und Hieronymus kam immer noch nicht.

Schwester Hildegard, die noch angegriffen war und keinen Sinn für Gelage hatte, saß in einem Klappstuhl an Deck und hatte Auftrag, den Bootsmann mit unseren Sachen rechtzeitig herbeizuwinken. Von Zeit zu Zeit ging einer von der Gesellschaft hinauf, um ihr zuzusprechen. Denn sie rang mit ihrem Gewissen, ob es auch recht sei, was wir vorhatten. Der Kapitän schwärmte für sie und brachte ihr alle möglichen Leckerbissen – er schwärmte für uns alle und wurde immer aufgeräumter. Punkt dreiviertel zwei, als die Glocke zum zweitenmal läutete, eröffneten wir ihm, daß wir mitfahren wollten. Er hielt es für einen Scherz und ging nicht weiter darauf ein. Das Trapezmädel war inzwischen an Bord gewesen und flüsterte uns zu, das Gepäck sei schon da, und soeben nahe Hieronymus Edelmann mit seiner Präsidentin und dem Krokodil in einer Barke. Gleich darauf meldete ein Matrose seine Ankunft – die Dame war im Boot geblieben. Der Kapitän ging hinauf, um ihn zu begrüßen, wir folgten. Hieronymus war ungemein aufgeregt – vor einer halben Stunde erst hatte man unseren abermaligen Fluchtversuch entdeckt, und Mynheer hatte ihn hinter uns hergeschickt. Man zerbrach sich den Kopf, wohin wir uns gewandt haben möchten, und darüber war ihm das Frühstück wieder eingefallen. Tot oder lebendig sollte er uns wieder zur Stelle schaffen, und nun schleuderte er uns die furchtbarsten Beschuldigungen entgegen, sprach von den Blattern, dem Prozeß und dem Flammenbund ... und zerrte dabei das unglückliche Krokodil an der Kette hin und her.

Wir leugneten einmütig – nein, wir wußten von keinem Prozeß und von keinen Blattern. Die Matrosen amüsierten sich königlich, denn inzwischen war auch Monsieur Mouton vorgetreten, und es war ein eigenartiger Anblick, wie die beiden sich mit ihren Haustieren gegenüberstanden und aufeinander einschrieen.

Der Kapitän aber wurde sehr ernst. Es war Vorschrift, daß jeder Passagier ein Gesundheitsattest vorweisen mußte, er sah auch jetzt, daß es uns Ernst war, mitzufahren, und falls er Hieronymus Glauben schenkte, mußte er uns für eine Art verseuchter Verbrecherbande halten.

Die Schwester saß immer noch in ihrem Klappstuhl und rang die Hände. Aber beim Anblick des rasenden Hieronymus und seiner Präsidentin zerronnen ihre Skrupel. Nein, sie wollte nicht in dieses Haus des Lasters zurückkehren. Sie rang die Hände und flehte Gott um ein Wunder an.

In diesem Augenblick der höchsten Spannung vergaß sich das Krokodil und schnappte in auffallender Weise nach dem Ameisenbär, der friedlich neben seinem Herrn stand. Darüber wurde Monsieur Mouton so zornig, daß er ihm einen fürchterlichen Fußtritt gab. Hieronymus fuhr dabei die Kette aus der Hand, und das Krokodil sauste mit einem langen Satz über Bord.

Und nun geschah etwas Unbegreifliches, was man sich weder im Augenblick noch später zu erklären wußte. Hieronymus sprang ihm nach – eine Viertelsekunde lang starrte er völlig abwesend und entgeistert durch sein Monokel das entschwindende Ungetüm an und sprang dann ohne weitere Überlegung ebenfalls über Bord in das Meer, das gerade an diesem Tage stark bewegt war.

Alles stand wie angewurzelt, nur drunten im Boot stieß die Präsidentin des Flammenbundes einen gellenden Schrei aus.

Zum drittenmal ertönte die Schiffsglocke. Von allen Seiten eilten Barken herbei, aber weder Hieronymus noch das Krokodil kamen wieder zum Vorschein.

Der Dampfer setzte sich in Bewegung, der Kapitän gab keinen Gegenbefehl, es wurde vorläufig überhaupt kein Wort mehr geredet. Wir waren an Bord – unser Gepäck war an Bord – man fuhr ab – wir fuhren mit, auch für Mouton und seinen Ameisenbären gab es kein Zurück mehr. Mochte das Logierhaus in den Boden versinken und die ganze Insel vom Meer verschlungen werden wie Hieronymus und sein Krokodil – wir kehrten nicht mehr zurück.

Erst weit draußen, als der Hafen längst hinter uns lag, fand man allmählich die Sprache wieder.

Schwester Hildegard wollte wieder von ihren religiösen Bedenken anfangen und fühlte sich schuldig, weil sie um ein Wunder gebetet hatte, das uns retten möchte. Monsieur Mouton aber brachte sie zum Schweigen, indem er sagte: Nein, hiermit habe der liebe Gott nichts zu tun, und wenn überhaupt von einem Wunder die Rede sein könne, so sei es, daß dieser Hieronymus jemals existiert habe, nicht aber sein jäher und spukhafter Untergang. Er selbst, Mouton, der doch durch seinen Fußtritt den Anstoß zur Katastrophe gegeben, spreche sich gleichfalls von jeder Schuld frei, denn Hieronymus – c'etait un revenant, m'ssieurs et mesdames.

Wir übrigen neigten stumm das Haupt.

Kapitän Petersen aber stand nachdenklich und breitbeinig da – jeder Zoll ein Seemann. Er verstand unsere Gespräche nicht, er verstand überhaupt nichts mehr und sagte schließlich kopfschüttelnd: »In die Kajüte, meine Herrschaften. Ich denke, auf den Schrecken ist es am besten, wenn wir erst mal weiter frühstücken.«


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