Franziska Gräfin zu Reventlow
Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«
Franziska Gräfin zu Reventlow

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Am folgenden Morgen fanden wir uns zum erstenmal ohne Hieronymus am Frühstückstisch zusammen, und die nächste Folge war, daß wir uns gegenseitig erstaunt und verlegen betrachteten. Wir hatten schon eine ganze Woche zusammengelebt, uns Spitznamen gegeben, wir bildeten eine Art Familie, aber das alles schließlich doch nur, weil Hieronymus Edelmann sich unserer bemächtigt und uns organisiert hatte. Solange er da war, hatte man das als selbstverständlich hingenommen, aber jetzt, heute, wo wir unter uns waren, empfanden wir auf einmal die ganze Unwahrscheinlichkeit der Situation. »Wer um Gottes willen ist denn eigentlich dieser Hieronymus?« so fragte sich jeder im stillen, »und wer sind wir? – Was haben wir miteinander zu tun?«

Die gute Schwester Hildegard aus Afrika, der gestern abend allerhand moralische Bedenken aufgestiegen waren, obwohl sie sicher nicht alles verstanden hatte, brach den Bann und begann zu fragen. Gesellschaftliche Skrupel kannte sie nicht, sondern war nur um ihr Seelenheil besorgt, und das schien gefährdet, wenn Hieronymus wirklich die stellenlose Gesellschaftsdame mitbrachte. So fragte sie nach seinem Vorhaben, nach allem möglichen, und es stellte sich heraus, daß keiner von uns ihn je zuvor gesehen, bisher aber jeder den anderen für seinen alten Bekannten gehalten und sich darüber gewundert hatte.

Man fühlte sich ja ein wenig blamiert, aber zugleich sehr erleichtert.

Doktor Gräber, der Assistenzarzt, schlug sich vor die Stirn:

»Wie konnte das nur geschehen, verehrte Anwesende? – Wie ein verschlagener Zauberer hat er uns ins Netz gelockt. – Wir kamen her, um uns zu erholen oder zu vergnügen, aber doch nicht...«

»Um unter schrecklichen Strapazen Flammenbünde zu gründen«, ergänzte der Loreley.

»Pfui, dieser Flammenbund«, sagte die Schwester mit einem Seitenblick auf das Trapezmädel. Das aber lachte nur.

»Mitglieder des Korrespondenzvereins sind wir schon«, seufzte der junge Kaufmann.

»Wir wohnen miserabel«, fuhr Doktor Gräber fort. »Erst gestern hat unser Hauswirt wieder mit einem Ingenieur darüber gesprochen, daß die Mauer gestützt werden müsse. – Im linken Flügel oben wird die halbe Nacht Grammophon gespielt – Gott weiß, was da überhaupt alles logiert...«

»O, ich glaube, da fängt der Flammenbund schon an«, rief das Trapezmädel. »Herr Edelmann geht oft hinüber, und mich hat neulich auf der Hintertreppe ein Herr in den Arm zwicken wollen.«

»So, und was hatten Sie denn auf der Hintertreppe zu tun?« fragte der Loreley strafend, und die Schwester war aufrichtig erschrocken. Ja, sie hatte überhaupt das Gefühl, als ob dieses Haus ein etwas bedenklicher Aufenthalt sei.

Längeres Schweigen, dann nahm wieder der Assistenzarzt das Wort: »Meine Herrschaften, wir sind hier allem Anschein nach, wie es sonst nur schutzlosen, alleinreisenden Mädchen passiert, in eine etwas zweifelhafte Atmosphäre geraten, und wer weiß, wo das alles noch hinausläuft...«

»O Gott«, sagte das Trapezmädel, »wenn das meine Eltern wüßten. Ich habe ihnen gerade geschrieben, ich hätte hier so netten Anschluß gefunden.«

»Und meine Oberin« – rief die Schwester, – »nein, hören Sie, Herr Doktor, ich ziehe heute noch aus. – Ich kann doch unmöglich in meiner Schwesterntracht...«

»Wir ziehen alle aus«, erklärte der Loreley ritterlich, »wir andern werden die Damen doch nicht im Stich lassen. Und abgesehen von allem andern bietet unser Logierhaus ›Zur Schwankenden Weltkugel‹ wirklich etwas zu wenig Komfort. Hätten wir uns nur nicht – aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern.«

Gesagt, getan, die Tafel wurde aufgehoben, und wir gingen sofort daran, unseren Auszug zu organisieren. Es gab eine bittere Auseinandersetzung mit dem dicken Holländer, dann begaben wir uns, von zwei Gepäckträgern gefolgt, geraden Wegs nach dem ersten Hotel der Stadt, erfuhren jedoch, daß alles besetzt sei. Es gab noch zwei weitere Hotels geringeren Ranges, aber überall wurde uns derselbe Bescheid. Als sich der gleiche Vorgang auch noch in einer Familienpension wiederholte, dämmerte uns eine furchtbare Ahnung auf. Wir waren hier in dem kleinen Ort längst als Gäste der »Schwankenden Weltkugel« bekannt, und nur das konnte der Grund sein, weshalb man sich so ablehnend verhielt. Unsere Wanderung erregte inzwischen einiges Aufsehen, man folgte uns, wenn wir weitergingen, stand um uns herum, wenn wir haltmachten.

Was nun? Vielleicht eine Privatwohnung? Um den neugierigen Blicken zu entgehen, ließen wir unsere Träger an einer Ecke warten und bogen in die Seitenstraßen ein. Hier nun sahen wir fast über jeder Tür eine viereckige Papptafel mit der Inschrift: Hay viruelas! Was viruelas bedeutete, wußten wir nicht, nahmen aber an, es handle sich um Zimmer, die hier zu vermieten wären, und drangen mutig in das nächste Gebäude ein. Eine dicke Frau erschien und bedeutete uns mit geradezu entsetzten Gebärden, es sofort wieder zu verlassen. Nun wurde es uns aber doch zu dumm. Wir schrien wütend: camera, chambre, Zimmer – sie schrie: viruelas und tupfte sich dabei auf Gesicht und Hände, als ob sie nicht recht bei Verstand sei. Gut, also viruelas – sie sollte uns nur ihre viruelas zeigen, vielleicht waren es doch Zimmer, und wir wollten mit allem vorliebnehmen. – Mit einer resignierten Gebärde stieß sie schließlich eine Tür auf und wies auf einen Kranken, der im Bett lag. Doktor Gräber und die Schwester traten näher und wurden plötzlich sehr still. »Gott im Himmel«, sagte Gräber, »der Mann hat die Blattern. Viruelas heißt natürlich Blattern, und die Plakate sind zur Warnung aufgehängt. Rasch hinaus, meine Herrschaften.«

Wir verließen das Haus nun ohne weiteres Widerstreben und standen im wahren Sinne des Wortes obdachlos auf der Straße. Da man uns auch hier gefolgt war und den Vorgang beobachtet hatte, würden wir in der ganzen Stadt kein Quartier mehr finden. Es blieb nichts übrig, als immer noch gefolgt von den beiden Packträgern und einer nicht unbeträchtlichen Menschenmenge, in das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel« zurückzukehren und dem dicken Mynheer zu erklären, wir hätten uns die Sache inzwischen anders überlegt. Er empfing uns mit schlecht verhehlter Schadenfreude und meinte, die Mauern würden sich wohl noch eine Zeitlang halten. Es war nur ein Glück, daß er von unserem Irrtum mit den viruelas nichts wußte.

Unser Doktor stürzte noch am gleichen Tage zu einem der einheimischen Kollegen und bestand darauf, daß wir uns alle impfen ließen. Nur die Schwester wollte nichts davon wissen und sagte, ihr Leben stände in Gottes Hand. Daß sie wieder im Logierhaus wohnen sollte, beunruhigte sie weit mehr. Sie trug auf unseren Rat von jetzt an Zivil, und der junge Kaufmann versprach ihr, in Afrika nichts davon zu erzählen. Und auf das Trapezmädel hatte man ein wachsames Auge, damit es sich nicht wieder auf die Hintertreppe verirrte.

Außerdem gedachten wir, sobald als möglich das gastliche Eiland zu verlassen und einen anderen Ort aufzusuchen. Nur die Wahl dieses Ortes war noch die Frage.

Mit Karten und Reisebüchern saßen wir am nächsten Nachmittag im Garten unter den Palmen, als Monsieur Mouton, der alte Franzose, mit seinem Ameisenbär herunterkam, sich in unserer Nähe niederließ und, anstatt seinen »Matin« zu lesen, ein Gespräch anknüpfte. Ah, wir wollen also fort? – und weshalb denn, wenn man fragen durfte? – »eh bien, nous verrons, Sie sind nicht die ersten, die wieder fortwollten – – aber man kann nicht, man kommt nicht wieder weg.«

»Aber warum denn nicht – wir würden einfach abreisen und basta. Kein Mensch könnte uns daran hindern.«

»Nein, Menschen gewiß nicht, aber –« Mouton senkte die Stimme und fuhr in geheimnisvollem Ton fort: Nach seinem Dafürhalten gehe es hier nicht mit rechten Dingen zu. Dieser Hieronymus sei kein Mensch wie wir anderen, sondern ein Gespenst, ein Revenant. Er sähe aus wie ein Gespenst, schnitte sich den Bart wie ein Gespenst – denn welcher Mensch aus Fleisch und Blut käme wohl auf den Gedanken, einen fächerförmigen Bart zu tragen?

Und seine Art, sich an die Leute heranzumachen, beständig zu organisieren, wo eigentlich gar nichts zu organisieren war, kurz seine ganze Handlungsweise sei durchaus gespenstisch ... Er tue nichts Schlimmes, Gott bewahre, er glaubte eher die anderen zu beglücken, aber es komme immer ein Unheil dabei heraus. Jetzt zum Beispiel mache er eine umständliche Reise nach dem Festland hinüber, um ein Krokodil zu kaufen.

Ein Krokodil? Wir dachten eine stellenlose Gesellschaftsdame ... Nein, ein Krokodil – Mr. Mouton wußte es ganz bestimmt – »aber Gott weiß, was für Spuk er damit treiben wird« – der alte Herr warf einen bekümmerten Blick auf den Ameisenbär, der sich teilnahmslos an einer Palme scheuerte. »Oui, oui, oui, m'ssieurs, mesdames, c'est un revenant.«

Wir mußten zugeben, daß wir auch schon ähnliches empfunden hatten, ohne uns darüber klar zu sein, aber wir glaubten nicht an Revenants, und wir würden abreisen, ehe er mit dem Krokodil – oder der Gesellschaftsdame – zurückkam.

Mouton lächelte skeptisch. In diesem Augenblick kam der dicke Holländer in den Garten, in Begleitung eines Herrn. Er warf uns einen mißtrauischen Blick zu, dann gingen beide um das Haus herum, beklopften die Mauer und sprachen eifrig miteinander.

»Das ist der Ingenieur«, sagte Mouton, »ah, diese Schurken!«

Und auf unser Befragen – denn wir interessierten uns allmählich lebhaft dafür – erklärte er uns, das Haus sinke, weil der Boden zu locker sei. Unter der lockeren Schicht aber war Felsen; wenn nun die Mauer so weit sank, daß sie auf den Felsen stieß, mußte sie einknicken und in sich zusammenfallen. – »Ah, diese Schurken!«

Der Anblick der beiden Herren regte ihn sichtlich auf, er wurde immer mitteilsamer und erzählte uns seine ganze Leidensgeschichte. Er war hergekommen – wie wir – von Hieronymus empfangen, überwältigt und in das Logierhaus eingeführt worden – wie wir. Er wurde, ehe er sich's versah, Mitglied des Korrespondenzvereins und für den Flammenbund angeworben – wie wir – hier seufzte er schwer, bemerkte, er sei eben ein einsamer alter Mann und schien etwas zu verschweigen. – Ja und dann hatte er dem dicken Mynheer eine große Summe geliehen, angeblich um die »Schwankende Weltkugel« im Gleichgewicht zu erhalten. Aber sowohl die baulichen Maßnahmen wie die Rückzahlung seines Kapitals wurden immer wieder hinausgeschoben – so war er hiergeblieben und zahlte keine Pension mehr, um wenigstens etwas auf seine Kosten zu kommen.

Ebenso oder ähnlich war es der Amerikanerin ergangen – daraus leitete sie auch das Recht her, auf der Treppe zu sitzen und den Betrieb zu stören, wenn es ihr gerade einfiel. Ja, Mynheer wisse es schon so einzurichten, daß seine Gäste blieben – bis ihnen einmal das Dach über dem Kopf einstürzen würde. – Und wieder kam er darauf zurück, es gehe hier nicht mit rechten Dingen zu, man würde verhext und täte Dinge, die einem sonst nicht in den Sinn kommen würden.

Es gewann den Anschein, als sollte er recht behalten, denn Schwester Hildegard erkrankte an den Blattern, und es lag auf der Hand, daß wir sie nicht alleine hier zurücklassen konnten. Das ominöse Plakat hing nun auch über unsrer Tür. Mynheer grollte fürchterlich, daß wir sein Haus erst verlassen und dann verseucht hätten. Wir wurden gemieden und miserabel bedient, man brüllte uns alle möglichen Vorwürfe und Beleidigungen durch das Haustelephon zu, und wir suchten sie auf dem gleichen Wege zu entkräften oder zu widerlegen. Wurde das für beide Teile zu ermüdend, so machte sich auch wohl der Widerpart im Garten bemerkbar – wir erschienen am Fenster, und man setzte das anregende Gespräch mit erhobener Stimme und feindseligen Gesten fort.

Inzwischen kehrte Hieronymus zurück und brachte sowohl das Krokodil wie die stellenlose Gesellschaftsdame und einige Wüstenspringmäuse mit. Monsieur Mouton teilte uns entrüstet durchs Telephon mit, es habe gleich nach seinem Ameisenbär geschnappt, aber dennoch sei es sympathischer wie die Dame. Sie wohnte vorläufig noch im Hotel, und man richtete das Gartenhäuschen für sie ein, da sie der Ansteckung wegen das Haus nicht betreten wollte.

Wir lagen den ganzen Tag im Fenster, es war wie ein Guckkasten für uns, immer wieder gab es etwas Neues zu sehen. Wir sahen, wie Mouton sich mit dem Hauswirt zankte oder mit seinem Ameisenbären promenierte, sahen, wie Hieronymus Edelmann mit fieberhaftem Eifer seine Menagerie und die Unterkunft der stellenlosen Dame organisierte. Für das Krokodil ließ er eine Extrabehausung mit Schwimmbassin bauen, bis die fertig war, wohnte es in einer großen Kiste. Man hatte ihm ein Halsband angelegt, und ein paarmal am Tage führte er es auf den Kieswegen spazieren, entweder weil er dachte, daß etwas Bewegung an der frischen Luft ihm zuträglich sei, oder nur um Mouton zu ärgern, der für seinen Ameisenbären zitterte und ihn jetzt ebenfalls an die Leine gelegt hatte, um ihn zu schützen. Zum Zeitunglesen kam er vor lauter Aufregung überhaupt nicht mehr. Wir sahen, wie er sein gerüsseltes Ungeheuer ängstlich an sich zog, während Hieronymus mit dem seinen herrisch den Weg hinabkam und durch das Monokel jede seiner Bewegungen kontrollierte, denn es schnappte manchmal nach seinen Beinen.

Auch die Amerikanerin kam öfters herunter und fand das Krokodil lovely, während sie dem Ameisenbären keinerlei Beachtung schenkte. Sie und Mouton waren geschworene Feinde, wahrscheinlich weil sie sich gegenseitig durch ihre Räusche und ihr spätes Nachhausekommen störten.

Und aus dem verdächtigen Flügel links oben schauten des öfteren neugierige Gesichter herab.

Wir sahen auch, wie die Wüstenspringmäuse in einem großen Käfig angeschleppt wurden und Hieronymus sich bemühte, sie zu einem harmonischen Zusammenleben mit seinen Meerschweinchen zu veranlassen. Das schlug vollständig fehl, die Springmäuse hüpften in tollen Sätzen zwischen den zu Tode erschrockenen Meerschweinen herum, und man mußte sie wieder trennen, was ebenfalls keine leichte Aufgabe war. Hieronymus aber holte einen Band Brehm aus dem Giebel, ließ sich damit auf einer Gartenbank nieder und rief mit Stentorstimme zu uns hinüber: die Wüstenspringmaus lasse sich mit leichter Mühe zähmen und sei dann ein possierliches Haustier. Er wolle den Versuch machen, ob wir nicht meinten, daß die Gesellschaftsdame Spaß daran haben würde?

»Wohl möglich«, schrien wir zurück, »wir haben noch nicht das Vergnügen, die Dame zu kennen.«

»Und Schwester Hildegard – wie es ihr ginge? – vielleicht würde es sie amüsieren...«

»Nein«, brüllten wir förmlich, sie sei zwar in der Besserung, aber Springmäuse seien einstweilen noch zu anstrengend für sie.

Das kränkte ihn, und nun fiel ihm ein, daß er noch einiges gegen uns auf dem Herzen habe.


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