Franziska zu Reventlow
Ellen Olestjerne
Franziska zu Reventlow

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3. April

Bis zum letzten Augenblick hoffte ich noch, Dich am Bahnhof zu sehen, aber Papa schickte mich auf halbem Weg zurück, ich wollte nicht erst bitten und ging bei dem tollen Schneegestöber langsam nach Hause, mir war bei jedem Schritt, als ob ich es nicht mehr ertragen konnte, ich hatte nur den einen wilden Wunsch, hinzustürzen und Dich noch einmal zu sehen. Dann war ich in Detlevs Zimmer, und da fühlte ich erst ganz, was ich verloren habe, wie ich auf Schritt und Tritt nach ihm rufen werde. – Die Hälfte von mir selbst ist fort, er war ja immer neben mir. Hüte ihn mir gut, Friedl, es ist mein Bestes, was Du mitnimmst. Ich kann mir selbst unsre Liebe ohne ihn nicht denken.

Aber Du sollst kein Wort der Klage von mir hören – all die gewesenen glücklichen Stunden kann uns niemand mehr nehmen. Und jetzt bleibt uns die Arbeit an uns selbst und für das spätere Leben. Wenn auch jeder seine Schule alleine durchmachen muß – es ist doch immer im Gedanken an den anderen.

Leb denn wohl, Geliebtester, ich will Dich und mich nicht weich machen – den Kopf oben behalten, sonst schlägt es über mir zusammen. Leb wohl.

 

12. Mai

Du schreibst jetzt so selten – es fehlt Dir doch nichts, oder bummelt ihr viel? – Wenn ich einmal mittun könnte. Nun seid ihr schon so lange fort, und ich vergrabe mich ganz in Arbeit. Ich will das Examen doch schon übers Jahr machen, die Lehrer haben mir selbst dazu geraten, und seitdem ist mir etwas leichter ums Herz. Ein Jahr – nicht mehr ganz ein Jahr, mein Gott, Friedl, was ist das für ein Gedanke. Wenn sie mich nur nicht vorher noch aus dem Seminar hinauswerfen; es ist meinen Eltern neulich erzählt worden, daß ich schlechte Bücher und Ansichten verbreitete.

Übrigens schwänze ich oft die Stunden und rudere statt dessen auf dem Wasser hinter der Bendstraße. Einmal bin ich auch heimlich zu Lisa Seebald gefahren, es sind ja nur zwei Stunden. Sie hat eine entzückende Wohnung und sagte, wenn der Krach mit zu Hause einmal käme, könnte ich bei ihr wohnen, so lange ich wollte.

Meine Sünden sind überhaupt Legion – ich bin tief gesunken, seit Du und Detlev mich nicht mehr bewachen. Soll ich Dir auch noch beichten, daß ich neulich mit Elfriede Liemann auf einem Sonntagstanz gewesen bin, wo wir mit Soldaten und Arbeitern tanzten? Wir standen an der Fähre und bekamen solche Lust, als wir die Musik hörten. Elfriede und ich sind übereingekommen, wenn alle Stränge reißen, als Kellnerinnen nach Berlin zu gehen, um mit euch zusammenzusein.

Schüttelst Du nun auch den Kopf und sagst wie mein Vater: »Was soll aus dir werden, wenn du dich nicht zügeln lernst?«

Ja, was soll aus mir werden, das denke ich auch manchmal.

Übrigens bin ich viel mit Ernst Allersen zusammen, wir gehen fast jeden Morgen vor meinen Stunden am Hafen herum. Der Verkehr mit ihm ist mir sehr viel, und ich brauche jemand, mit dem ich reden kann. Weißt Du noch, wie Detlev ihn immer den zweiten Zarathustra nannte, ich muß oft daran denken. Wir gehen meist schweigend nebeneinander, oder ich erzähle ihm von meinem Leben, und er rollt nur die Augen und sagt: »Ja, ja.«

– – Wieder ist mein Brief liegen geblieben, aber heute muß ich mich zu Dir flüchten, um wieder zur Besinnung zu kommen. Vorgestern hat sich der junge Rehmer erschossen, Du hast ihn doch bei uns gesehen – er war erst sechzehn Jahre alt. – Ich hab' ihn gesehen, da ich gerade mit einer Bestellung hingeschickt wurde, und den ganzen Tag konnte ich diesen Anblick nicht mehr los werden – das blasse Gesicht mit dem Tuch um die Stirn.

Statt zur Schule zu gehen, nahm ich mir ein Boot und war den ganzen Nachmittag auf dem Wasser – der Himmel war so trübe und bleigrau, und ich konnte immer nur an den Tod denken und – wenn dieses Kind den Mut hatte, warum kann ich ihn dann nicht auch finden? Es wäre ja das beste, die Erlösung von allem. Jetzt bin ich am Fenster bei dem schwülen Maiabend und möchte vergehen vor Weh. Du schriebst mir das letztemal, ich sollte mir vor allem Lebensmut und Freude bewahren. – Glaubst Du denn, ich habe noch eines von den beiden? Nein, es ist nur noch eine verzweifelte Zähigkeit, das Letzte durchzuhalten. Und warum muß das Leben gerade mich so drücken, gerade mir alles nehmen, alles versagen? Es gibt doch viele, die das nicht so fühlen und ganz zufrieden wären an meiner Stelle.

Vorhin kam mein Vater zu mir herein und sagte ganz leise: »Ellen, bedenke, daß Tatsachen unwiderruflich sind.« Wir sahen uns lange an, dann ging er wieder. Er muß wohl etwas geahnt haben, was heute in mir vorging, und ahnt auch, daß er mich doch einmal verlieren wird, so oder so – rettungslos.

Ach, hilf mir, Friedl, mir ist, als ob ich versinken müßte.

 

20. August

Seit zwei Monaten haben wir nun nichts voneinander gehört. Warum schreibst Du nicht mehr? – Und ich – was sollte ich Dir schreiben, immer das gleiche: Tag für Tag dieselbe Tretmühle, dasselbe Elend zu Hause.

Und wenn Du nicht antwortest, denke ich, daß meine Briefe Dich ermüden und langweilen.

Könnten wir doch noch einmal das vorige Jahr zusammen durchleben, es kommt mir jetzt vor wie ein Traum voller Frieden, und als ob es schon so lange her wäre. Es stimmt mich auch so traurig, daß Du und Detlev immer mehr auseinanderkommt.

In den Ferien war ich fort, jetzt wieder mitten in der Arbeit und mache Morgenspaziergänge mit Allersen.

Wann kommt ihr denn? – Leb wohl und auf Wiedersehen.

Deine Ellen.

 

Kurz vor Friedls Rückkehr, an einem Septembermorgen, ging Ellen mit ihrem Freunde Allersen im Dom auf und ab. Die Kirche war ganz leer, die Sonne leuchtete durch die Bogenfenster, und droben spielte jemand auf der Orgel. – Sie blieben auf demselben Platze stehen, wo sie so oft mit Friedl gestanden hatte – der Mann neben ihr legte den Arm um sie, sie wollte sich wehren, losmachen, aber dann sahen sie sich an, und wieder schlug das heiße Verlangen in ihnen empor – sie fühlte seine Küsse brennen – dazwischen rauschten langgezogene Orgeltöne durch den Raum.

Ellen ging nach Hause – in die Schule, wie alle Tage, aber sie sah nichts von dem, was um sie herum vorging, glaubte nur immer wieder zu fühlen, wie er sie küßte, und hörte die Orgel wieder brausen. Ihr war, als ob eine Lawine auf sie zukäme, die sie mitreißen wollte, und sie wußte, es gab keinen Widerstand. Der Gedanke an Friedl drückte sie wie ein schwerer Stein – gleich war sie erlegen, das erstemal, wo eine Versuchung an sie herantrat – ein paar Tage, ehe er zurückkehren sollte – sie, die jahrelang freudig hatte warten wollen.

Friedl kam – draußen beim Mühlwasser wartete sie auf ihn. Er war in Uniform, spielte mit seinen weißen Handschuhen, war verändert, fremd. Schon die Uniform kam ihr fast wie ein Verrat an ihren einstigen Idealen vor. Sie machte einen gezwungenen Scherz darüber, keiner wußte recht, was er reden sollte.

»Wir haben uns wohl beide verändert«, sagte Ellen schließlich.

»Fühlst du das auch, Ellen?« Es klang fast bewegt, und sie wußte mit einemmal, daß sie nicht lügen und schweigen konnte.

»Friedl, ich muß dir etwas sagen – du hast dich in mir getäuscht – «

»Ellen«, sagte er sehr ernst, »wir haben uns wohl beide getäuscht. Es ist mir eine Erleichterung, daß du das auch empfindest. Wir waren töricht, uns aneinander zu binden, ehe wir das Leben kannten und uns selbst. Eine schöne, wunderbare Zeit ist es gewesen, wie wir beide sie vielleicht nie wieder erleben werden – aber sinnlos, sie festhalten zu wollen, wenn wir beide fühlen, daß sie vorbei ist.«

Die Fremdheit schwand, sie konnte ihm jetzt alles sagen. »Ja, siehst du, halb und halb hab' ich mir auch das gedacht. Und dann ist ja auch alles gut, nicht wahr, und wir können ohne alle Bitterkeit scheiden. Ich hatte so viel Sorge um dich, – aber er wird dir ein besserer Halt sein wie ich.«

Sie küßten sich noch einmal an der Stelle ihrer einstigen Liebesstunden. Dann ging Ellen allein hinunter an den Hafen, da klammerte sie sich mit beiden Armen an einen von den Kaipfosten, sah auf das schimmernde Wasser hinaus, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Jetzt hatte sie zum erstenmal erfahren, daß etwas vergehen kann, woran man einst mit ganzer Seele hing. Sie sah ihr erstes Frühlings-Kinderglück zerbrochen, die Blüten verweht und die Morgenfrische hin.

Und was nun folgte, war kein Frühling mehr. Schwüle Sommerwinde strichen über sie hin und rüttelten wach, was noch in ihrer Seele geschlafen hatte. – Begehren, Verlangen, alles, was sie bisher nicht verstanden hatte.

Als der andre erfuhr, daß sie jetzt losgelöst war, riß er sie an sich, als wollte er sie zermalmen.

»Jetzt bist du mein.«

Es war eine fortwährende zehrende Unruhe, bis sie sich wiedersahen, und waren sie zusammen, so schüttelte er sie durch, in verwirrenden, heißen Liebkosungen, die Ellen noch neu waren – brennend süß und beängstigend. Friedl und sie hatten sich nur geküßt wie zwei Kinder.

Aber im letzten Grunde war immer eine leise Enttäuschung, etwas wie Ernüchterung mitten im Taumel. – Dieser Mensch, mit seiner hohen Stirn und den unergründlichen Augen war ihr als etwas Überirdisches erschienen – er sollte nur in Wolken wandeln – der zweite Zarathustra sein – sollte schweigen, als ob er keine gewöhnlichen Worte reden könnte. So hatte sie ihn früher gesehen – sie konnte nichts Menschliches an ihm ertragen. Als sie ihn das erstemal essen sah, war es wie eine zerstörte Illusion, das hatte sie sich nie vorstellen können, daß er aß, trank, zu Bett ging, wie alle andren Menschen.

Und dann, daß er es seiner Mutter sagte, damit sie sich ungestört sehen konnten. Als Frau Allersen von Verlobung sprach und Ellen als Tochter umarmte, wäre sie am liebsten davongelaufen. Das schien ihr alles so sinnlos, so gut bürgerlich und gänzlich unmodern – war nicht das, was sie wollte.

 

Der erste Schnee fiel. Ellen stand am Fenster und sah die Flocken wirbeln. Von jeher war ihr das eine so ganz besondere Stimmung gewesen, etwas von Heimatsehnen und Weihnachten.

Sie wollte eigentlich an Allersen schreiben, und der Brief lag angefangen. Aber immer wieder kamen andere Gedanken – in der kurzen Zeit, seit er fort war, schien ihr alles verändert und am meisten sie selbst. – Er hatte sie die ersten Schritte gelehrt und sie dann alleine gelassen, – sie sollte auf ihn warten, und schon fing es an, sie wie eine unerträgliche Fessel zu drücken, daß sie an diesen einen Mann gebunden war. Sie meinte zu ahnen, daß sie sich doch niemals so ganz binden könnte; wie sollte man es wissen, ob nicht immer und immer wieder ein andrer kam? Denn kaum war er fort gewesen, so hatte sie schon wieder an einen andern gedacht und dachte jetzt unaufhörlich an ihn. Ellen hatte keine Ahnung, wer er war – sie begegneten sich eine Zeitlang fast täglich, und dann sprach er sie eines Abends an. Es war ihr auch ganz gleichgültig zu wissen, wie er hieß, für sie war er gar kein Mensch mit irgendeinem Namen – er war die Versuchung selbst – der Versucher in irgendeiner Menschengestalt, der plötzlich vor ihr auftauchte, wenn sie abends zur Stunde oder ins Theater ging – er sprach auch nicht laut wie andere – er raunte nur, wich nicht von ihrer Seite und raunte ihr geheimnisvolle Lockungen zu:

»Komm mit mir, bei mir ist der Rausch, nach dem du verlangst – komm mit mir, ich will dich alle Geheimnisse und Wunder lehren, die du noch nicht kennst.«

Und dies diabolische Lachen, mit dem er dann wieder im Straßengewühl untertauchte, wenn sie alle ihre Kraft zusammennahm und nein sagte. Tagelang bebte es in ihr nach, als ob wirbelnde Wogen um sie her brandeten; und wie es lockte und reizte, da hineinzustürzen, Hals über Kopf, alles vergessen, über sich hinbrausen lassen.

Ihr ganzes Wesen schlug um, sie arbeitete nicht mehr, dachte nicht mehr mit tiefem Ernst über alle möglichen Dinge nach – sie träumte nur noch von einem Rausch ohne Grenzen und Ende. Und diese Träume ließen sie Tag und Nacht nicht los.

Immer wieder sah sie sich in einem rotdurchleuchteten Zimmer, die Wände, die Teppiche, alles brannte in Rot – rote Ampeln, rote Gläser, in denen der Wein rote Schaumperlen warf. Alles mußte funkeln und leuchten – und ein Ruhebett war da, mit seidenen Kissen und durchscheinenden Vorhängen. Und er war da – der Versucher – und sie tranken Wein – immer näher zog er sie an sich – jauchzend hintaumeln in namenlose Lust, das versengende Feuer löschen in berauschter Raserei, sich selbst vernichten, sterben, vergehen in Wollust.

Da half keine Arbeit, und wenn sie sich noch so hartnäckig auf die Bücher warf – immer wieder tauchte sein Gesicht zwischen den Zeilen vor ihr auf, und das rote Glühen fing wieder an. Der Kopf sank auf die Bücher nieder, die Augen zu und träumen, träumen, bis sie verstört auffuhr und wieder versuchte zu arbeiten und alles von vorne anfing.

Hatte er, der Versucher, nicht recht, daß er sie auslachte mit ihrer gewollten Treue und mit ihren Wahrheitsprinzipien? »Eine Stunde nur«, so redete er zu ihr, »und nachher vergessen, was geschehen war – was niemand weiß, ist so gut wie ungeschehen.« – Nein, nein, dann würde alles aus sein und sie den einzigen Menschen verlieren, der ihr gehörte. Sie mußte an ihm festhalten, sonst ging es hinab in unabsehbare Tiefen. So schrieb sie an Allersen, erzählte ihm alles, jedes Wort, jedes Zusammentreffen. Darüber kam es zu blutigen Auseinandersetzungen, die sie reizten und verstimmten. Dann kehrte Ellen den Spieß um und überzeugte ihn, daß er ihr unrecht täte. Der Versuchung ins Auge sehen und sie überwinden, sei bessere Treue, als ihr aus dem Wege gehen, und sie wollte sich und ihm nur beweisen, wie stark sie sei. So endigte es damit, daß er sie beinahe um Verzeihung bat, sie fühlte ihre Macht über ihn und daneben eine leise Spur von Geringschätzung.

Dann traf sie den andern wieder, diesmal bei hellem Tag. Sie gingen zusammen durch stille Seitenstraßen, und an einer Ecke blieb er stehen.

»Eine Stunde nur, du süßes Weib – nur eine Stunde –«

»Gott, ich kann ja nicht –«

»Ihre Augen haben längst ja gesagt, und wenn Sie schweigen, sagt Ihr Mund auch ja. – Aber, comme vous voulez – Samstag bin ich den ganzen Nachmittag zu Hause und erwarte Sie.«

Nachher saß sie an ihrem Schreibtisch vor der Arbeit – ihre Gedanken drehten sich wie im Wirbel. Sie schrieb einen raschen, abgerissenen Brief an Allersen – »Es hilft doch alles nichts – ich will nicht mehr. Du mußt mich lassen, mir meine Freiheit geben.«

Seine Antwort kam und sprach von Rechten – Verpflichtungen: »Ich verlange von Dir –« Als Ellen den Brief gelesen hatte, warf sie ihn in die Schieblade und ging hinunter. – Schweigend wie immer saß sie mit ihren Eltern am Tisch – die litten auch alle unter ihr. Das Familienleben war im letzten Jahr immer trostloser und verbitterter geworden – nur noch ein schweigender Kampf aufs Messer. Nachher suchte Ellen einen Vorwand, um auszugehen, und dann geradenwegs zu ihm, der sie erwarten wollte. Sie wußte jetzt seinen Namen und seine Wohnung.

Da stand sie auf dem hellgetünchten Vorplatz und sah auf das weiße Porzellanschild.

Aber er war nicht da – verreist – Freitag käme er wieder. Langsam ging sie die Straße hinunter – es losch etwas in ihr aus – der große Augenblick war vorbei – verfehlt.

Statt dessen kam Ernst Allersen selbst am nächsten Tag, es hatte ihm keine Ruhe gelassen. – Er wohnte im Hotel, um seiner Familie und allen Bekannten auszuweichen.

Ellen stand erst kalt und feindselig in der Tür, aber er stürzte auf sie zu, riß sie an sich mit so viel Angst und Liebe, daß sie ganz erschüttert war, machte ihr keine Vorwürfe: sie sollte nur sein bleiben, nicht mit ihm spielen. Und sie wurde weich gestimmt, wie immer, wenn sie Liebe fühlte – es kam etwas von dem alten Gefühl für ihn wieder. Sie sagte zu allem ja – er sollte ihr nur nicht wieder mit Rechten und Verpflichtungen kommen, das reizte sie dann gerade, das Gegenteil zu tun. Und schließlich war sie wieder im Recht und er hatte sie gekränkt.

Allersen blieb noch einen Tag, und sie kam frühmorgens ins Hotel, statt zur Schule zu gehen. Er schlief noch, und Ellen setzte sich zu ihm auf das Bett – sie waren wieder ganz versöhnt. Langsam zog er sie immer dichter an sich, löste ihr die Haare auf – Schritt für Schritt kamen sie dem Geheimnis näher, das ihnen beiden noch fremd war. Aber dann schraken sie doch wieder zurück. – Sie hätte lieber alles vergessen wollen, aber wenn sie darüber nachdachte, kamen ihr wieder all die bangen Bedenken – all die unsichere Angst. – –Ein Kind – dann wäre alles für sie vorbeigewesen, alle Pläne, ihre Kunst, die Freiheit, die nun immer näher kam. – Im letzten Grunde war es ja auch nur das, was sie dem anderen gegenüber zurückhielt – sie wußte etwas und wußte doch nichts und konnte sich nicht entschließen, zu fragen – da lag immer noch ein Rätsel und niemand löste es ihr.

Die Examenangst trieb eine Zeitlang alles andere in den Hintergrund. Ellen saß ganze Nächte lang und lernte. Dies Letzte mußte nun noch durchgehalten werden, und dahinter stand die Freiheit, endlich die Freiheit. Den Sommer über wollte sie wie gewöhnlich eine Verwandtenreise machen und dann mit Sturm die Entscheidung herbeiführen. Ließ man sie nicht freiwillig gehen, so würde sie es erzwingen, Lehrerin werden und Geld verdienen.

Der häusliche Himmel hatte sich wieder etwas aufgehellt, die Eltern waren aufgeregt über den Ausgang der bevorstehenden Prüfung und aus Sorge um Ellen, weil sie blaß und überarbeitet aussah.

Dann war es vorbei, und Ellen konnte zuerst kaum begreifen, daß sie wirklich gut durchgekommen war. Aus dem grauen Schulhaus stürzte sie in den Frühlingsabend hinaus und schleuderte ihre Bücher auf die Erde, daß die Blätter flogen. – Zu Hause wurde sie förmlich gefeiert, die Mutter war stolz, daß Ellen eine gute Note hatte, und Papa legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte:

»Jetzt hast du mir eine wirkliche Freude gemacht.«

Die Brüder waren zu den Osterferien gekommen – so war es einer von den seltenen ungetrübten Abenden, wo sie alle um Papas Tisch saßen mit Wein und Gelächter.

Ellen konnte heute mitstimmen, ohne einen bösen Blick von der Mutter zu bekommen, es schien, als ob man sie jetzt zum erstenmal anerkannte, zum erstenmal mit ihr zufrieden war.

Ihr selbst war nicht ganz wohl dabei – die dachten jetzt nicht daran, daß es doch nur ein kurzer Waffenstillstand sein konnte. Wenn sie wüßten, wie es in Wirklichkeit um Ellen stand, daß sie innerlich schon Tango draußen auf hoher See trieb und wohl nie mehr den Weg zurückfinden würde –.

Der Frieden dauerte denn auch nicht lange, in den kurzen Wochen, die sie noch zu Hause blieb, fing es immer von neuem an zu gewittern. Die Eltern lebten in beständigem Mißtrauen: wo steckt Ellen nur wieder?, was treibt sie? – wenn sie den halben Tag verschwunden war, um mit einer Freundin, die am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte, zu modellieren, oder mit einer anderen Französisch zu treiben. Konnte man denn auf Schritt und Tritt hinter ihr stehen und ihr das bißchen Verkehr mit jungen Mädchen verbieten?

Und Ellen nahm jetzt alles auf die leichte Achsel und baute nur auf den Zufall, der sie nun schon jahrelang vor Entdeckung beschützt hatte. Was lag auch jetzt noch daran, wenn das Pulverfaß explodierte? So führte sie ein förmliches Abenteuerleben; solange Allersen noch Ferien hatte, schlich sie sich frühmorgens aus dem Hause, um ihn zu treffen, lange, ehe die andern aufstanden, und manchmal auch abends, wenn man sie im Bett glaubte. Und drunten am Hafen hatten sie eine stille Bierstube entdeckt, wo sich die Reste des Ibsenklubs und allerhand neu hinzugekommene Bekannte versammelten, während am andern Tisch die Schiffskapitäne Karten spielten.

Dann war Allersen fort – auf Ellens Sommerfahrt wollten sie sich wiedertreffen.

Am letzten Tage, als ihre Koffer schon gepackt standen, begegnete sie dem Versucher, den sie jetzt auch wieder öfters sah. Es war allmählich eine Art frivoler Kameradschaft zwischen ihnen geworden, sie gingen zusammen ins Café, lachten, spielten eine Zeitlang mit dem Feuer und trennten sich dann wieder. Ellen ließ sich auch heute wieder mitziehen in das Bahnhofsrestaurant, wo nachmittags die bekanntesten Lebemänner der Stadt saßen und durch die Glasscheiben des runden Erkers die Vorübergehenden kritisierten.

»Das ist nun das letztemal«, sagte Ellen.

»Schade, schade, und wie steht's mit der Moral?«

»Immer das gleiche.«

Er kam eben vom Reiten, war in hohen Stiefeln und ließ die Reitpeitsche auf dem Tisch tanzen.

»Nein, es ist wirklich schade um den schönen Leichtsinn, denn den haben Sie doch in sich. Und dann mit dem Trottel da verlobt sein –. Soll ich Ihnen einmal weissagen – darauf verstehe ich mich einigermaßen?«

»Ja, bitte.«

»Also Sie – Ellen, Freiin von Olestjerne, mit Ihrer guten Erziehung und Ihrem unglaublichen Lachen –, Sie werden noch eine von den Allerschlimmsten werden, wenn Ihre Zeit erst einmal gekommen ist.«

»Das ist sehr möglich«, meinte sie.

»Nun also, warum denn noch dieser Tugendpanzer? Glauben Sie nur nicht, daß er Ihnen gut steht, dazu sitzt er viel zu lose. – Ich möchte doch übrigens wissen, wer Sie die ersten Flötentöne gelehrt hat?«

»Sie!«

»Ach, das ist ja nicht wahr, das sagen alle Frauen. Da wäre man immer der erste. Und was haben Sie denn von mir gelernt? Sie sind ja immer noch ebenso verlobt.«

Ellen lachte – dann nahmen sie Abschied. Ellen fühlte etwas wie Reue um schöne, nichtbegangene Sünde. –

Wenn er doch einmal ihre Gedanken erraten hätte, ihr das Rätsel gelöst, von dem alles abhing. Aber das Unglück lag darin, daß er sie für viel raffinierter hielt, wie sie war.

Aber trotz allem wogte eine selige Stimmung in ihr, als sie die Allee zum elterlichen Hause hinaufging – zum letztenmal! Jetzt war sie keine Gefangene mehr, alles lag so wundervoll weit und unsicher vor ihr.

Die Mutter stand schon an der Gartentür und sah nach Ellen aus.

»Wo bleibst du wieder so lange? Gott sei Dank, das hat nun ein Ende; wenn du wiederkommst, werden wir eine andere Ordnung einführen.«

Nach Tisch rief der Vater sie herüber.

»Wir lassen dich jetzt zum erstenmal ohne Begleitung reisen, Ellen. Ich erwarte von dir, daß du dich auch danach benimmst – vor allem bitte ich dich, deine sogenannten Ansichten nicht überall auszuposaunen. – Im Herbst wollen wir dann einmal weitersehen – vielleicht findet sich bei unseren Bekannten irgendeine Gelegenheit, deine Ausbildung als Lehrerin zu verwerten.«

»Papa, ist es ganz ausgeschlossen, daß Ihr mich Malerin werden laßt?«

»Hast du den Blödsinn immer noch im Kopf? – Dann schlag es dir jetzt ein für allemal aus dem Sinn – all diese Emanzipationsgeschichten. Glaubst du, ich werde dich mit deinem törichten Hang zur Ungebundenheit allein in die Welt hinausschicken? Aber das sind Sachen, die du nicht verstehst –« Dann nahm er einen Brief vom Tisch und warf ihn wieder hin: »Hast du etwas davon gewußt, daß Detlev Schulden hat?«

»Nein«, aber Ellen fühlte, wie sie rot wurde.

»Und auch nicht von der Duellgeschichte?«

»Nein!«

»Ellen, ich will die Wahrheit wissen.«

»Ich hab' ihm versprochen, nichts davon zu sagen.«

Und nun brach sein Zorn hervor: »Immer steckt ihr unter einer Decke, ihr beiden – gegen uns, gegen alles. – Was wollt ihr damit? – Was setzt ihr euch in den Kopf? zu fügen habt ihr euch, und ihr werdet euch fügen, solange wir leben.«

Ellen stand hinter ihrem Stuhl und wiegte ihn langsam hin und her, sie fühlte, wie jedes Wort kalt an ihr herunterlief, und die ganze jahrelange Erbitterung regte sich in ihr gegen diese zermalmende Strenge. Und der Vater wurde immer heftiger, ging rasch hin und her und blieb dann vor ihr stehen.

»Ihr habt nichts getan, ihr beiden, wie uns das Leben verbittert, seit Jahren –«

Sie zitterte innerlich vor seinem Zorn und wollte nichts sagen, aber plötzlich fuhr es ihr heraus: »Ja, weil ihr uns unsere Jugend nehmen wollt.«

»Nimm dich in acht, Ellen«, schrie er auf und machte einen Schritt auf sie zu. Ellen rührte sich nicht, und dann kehrte er rasch um und ging ins Wohnzimmer hinüber.

 

Kronsee, den 3. August

Liebe Lisa – dieser Brief gilt Euch allen – und lest ihn mit Andacht, es ist der erste Schrei aus meiner Gefangenschaft, der ein menschliches Ohr erreicht. Ich bin ja selbst von Detlev abgeschnitten, kann ihn weder sehen, noch ihm schreiben. – Und was mögt Ihr gedacht haben, als der berühmte Krach, den wir uns immer wie mit Freiheitsposaunen vorstellten, so abgelaufen ist – am Ende denkt Ihr gar, ich habe mich »gefügt«. Aber ich schwöre Euch bei allen unsern Göttern: Ellen Olestjerne wird sich niemals fügen.

Das war eine Zeit, Lisa, diese letzten acht Wochen und jetzt immer noch! Zähneknirschen und Wutschäumen sind nur schwache Worte für das, was ich von Morgen bis Abend empfinde.

Aber nun alles der Reihe nach: zuerst kam die Reise nach meiner alten Heimat. – Sie wissen, ich war bei Bekannten in Halmby, unsrer kleinen Seestadt bei Nevershuus. Es war so schön, alles wiederzusehen, ganze Sommertage am Strande zu liegen, die alten Wege zu gehen und ganz eigner Herr zu sein, denn dort kümmerte sich niemand darum, was ich tat. Ich habe wirklich einmal nur so hinausgeschrien vor Lebensfreude nach all den bedrückten Jahren. – Nachher besuchte ich dann noch verschiedene Verwandte weiter nach Norden – daß Allersen überall mit war, haben Sie wohl durch Detlev gehört. – Es war wie in einem Lustspiel, dies fortwährende Trennen und Wiederfinden. Und denken Sie nur, wenn an diesen entlegenen Orten ein Fremder mit schwarzem Bart und unheimlichem Aussehen auftaucht, von dem niemand weiß, wer er ist und was er da will, und wie wir uns dann immer heimlich trafen, meist in aller Morgenfrühe in irgendeinem obskuren Hotel. – Zuletzt unterschlug ich mit vieler List noch ein paar Tage, wir fuhren im Dampfschiff die Küste entlang und blieben, wo es uns gerade gefiel in den Fischerdörfern.

Dann kam ich hierher nach Kronsee, alles war gut gegangen – und drei Tage später telegraphiert Papa an meinen Onkel, er möchte sofort zu ihm kommen und der Krach war da. Ich hatte zu Hause in einem Lexikon den letzten Brief von Allersen liegen lassen und meine Mutter hatte ihn zufällig gefunden. Daraufhin brachen sie meinen Schreibtisch auf – Sie können sich ungefähr einen Begriff davon machen, was alles zu Tage kam – mein ganzer Briefwechsel mit Friedl Merold – mit Allersen, Detlev, den Ibsenklubleuten und noch allerhand kleine Torheiten vom letzten Winter – der arme Allersen war ja nur ein verschwindender Faktor in dem ganzen Sündenpfuhl. Als mein Onkel zurückkam – mit mir selbst wollten meine Eltern nicht mehr unterhandeln – all diese Unterredungen, Ausfragen – ich habe getobt, Lisa, bis ich endlich so klug geworden bin, alles schweigend über mich ergehen zu lassen. Denn mir sind einfach die Hände gebunden – man läßt mich nicht aus den Augen, gibt mir kein Geld in die Hand, fängt jeden Brief auf. Außerdem behaupten sie, solange ich nicht mündig bin, könnten sie mich jederzeit zwingen zurückzukommen. Das muß ich erst alles ganz genau wissen. Ich will Ihnen keine Einzelheiten erzählen, Lisa, sonst gerate ich wieder in solche Wut, daß ich alles entzweischlage, und sie sind imstande, mich dann für tobsüchtig zu erklären. Es war schon einmal die Rede von unter Kuratel stellen. – Mir ist schon so zumut, als ob man mich in ein Tollhaus gesteckt hätte, um mich verrückt zu machen, ich schiele nach jeder Tür, um zu entkommen, aber jedes Mal steht ein Wächter dahinter.

So habe ich mich einstweilen zum Schein ergeben – man hat beschlossen, mich in ein Pfarrhaus zu geben, wo ich Moral und Haushalt lernen soll – und ich habe freudig ja gesagt. Zweitens ist Allersen und mir ein wöchentlicher Briefwechsel gestattet, und wenn wir uns sieben Jahre lang – nämlich bis er eine Stellung annehmen kann – musterhaft führen, dürfen wir sogar heiraten. Er hat sich schriftlich verpflichten müssen, ohne Einwilligung der Familie keinen Schritt in bezug auf mich zu unternehmen.

Natürlich wollen sie mir auf diese Weise nur die Waffen aus der Hand winden – ach, Lisa, als ob ich daran dächte, ihn zu heiraten, mir geht es ja nur um meine Freiheit und ums Malen, aber ich hüte mich wohl, das durchscheinen zu lassen. – Ich warte nur auf den Moment, wo sich eine Türspalte auftut – es kommt mir ja schon vor, wie ein erstes Aufleuchten, daß ich einen Brief an Euch fortschicken kann. Mein Onkel ist heute zur Stadt gefahren, und wenn die Tante schläft, will ich versuchen, nach der Station zu rennen und ihn einzustecken. Noch ist nicht einmal sicher, ob es gelingt. Mein Gott, wenn ich doch jetzt soviel Geld hätte, um zu Euch zu fahren oder meinetwegen auch zu Fuß hinzulaufen. Aber dann würden sie mich ja doch erwischen.

Kinder, denkt an mich – ich habe vielleicht noch schlimmere Zeiten vor mir. So lebt wohl und vergeßt mich nicht – schreibt mir nicht, ich würde es doch nicht bekommen.

Ellen.

 

Pfarrhaus Steensby

– Da bin ich nun als räudiges Schaf mitten unter der Schar seiner Gläubigen – in einem friedlichen Landpastorat – wasche Zimmer auf, putze Lampen und stehe am Herd – »frühmorgens, wenn die Hähne krähen«.

Seit dem ersten Oktober bin ich hier – wurde wie ein sibirischer Sträfling hergebracht – man ließ mich keine Wagenstrecke allein fahren. – Vorher in Kronsee mußte ich noch eine Art Kontrakt unterschreiben, daß ich keine heimlichen Briefe abschicken, nie allein zur Stadt gehen und mich in die Hausordnung fügen wollte. Es ist nur gut, daß ich im Seminar von der reservatio mentalis gelernt habe. Am ersten Abend habe ich mir gleich das Haus darauf angesehen, wie man von hier ausreißen könnte – Türen, Fenster, alles. Ich war eigentlich auf lauter neue Quälereien gefaßt: Verhöre, Bußpredigten, Überwachung – aber nichts von alledem. Es sind sympathische Menschen, die mir nun mit Takt und Freundlichkeit entgegenkommen, – was ich im Gegensatz zu meiner Familie doppelt wohltuend empfinde. Ich mag sie alle gerne und es ist eine einfache, heitre Atmosphäre, in der ich mich wohlfühle. Ja, Lisa, es läuft der Hase manchmal wunderlich – daß ich mich in einem Pfarrhaus zum erstenmal wohlfühlen würde, hätte wohl zur Zeit unsrer »Ansichten« niemand gedacht. Mit letzteren läßt man mich ganz in Ruhe, und ich mache stillschweigend Kirchgänge und Andachten mit. Ebenso fragt man nicht danach, was ich in meiner freien Zeit anfange und was für Briefe ich bekomme. Ihr könnt mir also ruhig hierherschreiben, und wie lechze ich nach einem Wort von Euch. – Kinder, wie habe ich diesen Sommer oft nach einem Briefkasten ausgespäht, – hier kann ich meine Briefe ungestört nach der Stadt bringen.

Alles in allem, Lisa, ich dehne mich in einem langentbehrten Gefühl von Frieden nach – und vor dem Sturm. Denn der schläft ja nur. – Bis zum Frühjahr bleibe ich hier, dann schreibe ich noch einmal heim, ob sie mich freiwillig gehen lassen. Dann haben sie die Wahl, ob sie mich zum Äußersten zwingen wollen. Es wird mir ja auch nicht leicht, mich für immer von ihnen loszureißen, und ich weiß, daß ich ihnen den Rest ihres Lebens zerstöre. – Ich habe doch manchmal Heimweh nach allen – seit ich von zu Hause fortreiste, habe ich keinen von ihnen mehr gesehen, die andern Geschwister haben sich ja auch gegen mich gestellt – nur Detlev nicht.

Aber es ist besser, nicht daran zu denken. –

 

24. März

Lisa, nun ist es entschieden. Papa hat auf meinen Brief hin eine Zusammenkunft mit dem Pastor gehabt. Als der zurückkam, war seine gute Meinung über mich bedenklich erschüttert. Mein Vater hat ihm alles erzählt, auch von der Reise mit Allersen, und er war ganz entsetzt. Beinahe drei Stunden hat er auf mich eingeredet, er von seinem Schreibtisch und ich daneben auf dem Stuhl, »wo schon so manche arme gnadenbedürftige Seele gesessen hat«.

Er sähe mich ins Verderben rennen, wenn ich von diesem Menschen nicht lassen wollte, denn die Sünde ist der Leute Verderben und unser Verhältnis ein sündiges und beflecktes. – Meine Eltern würden es nie zugeben, daß ich mich selbständig machte – aber er, der Pastor, schlüge mir vor, in seinem Hause zu bleiben. Da sollte ich meine volle Freiheit haben, malen, alles, was ich wollte, und zugleich mich von ihm zu Gott führen lassen, bei dem allein die Wahrheit ist. Er wüßte wohl, daß viel Gutes in mir steckte (das finden die Pastoren immer bei mir). – Aber alles das nur unter einer Bedingung – von Allersen mich lossagen, weil der mich rettungslos herabzieht. Wenn ich das nicht täte, könnte ich auch hier nicht bleiben und müßte zu meinen Verwandten zurück. Denn er wolle sich nicht mit mir im Sumpf wälzen – –.

Mir wurde ganz wirblig dabei – ich sah zuletzt nichts mehr wie seinen Kopf, der mir immer größer zu werden schien, und die Augen, die mich unaufhörlich ansahen. Jetzt kann ich mir einen Begriff machen, wie die armen Seelen hypnotisiert werden und wie man in solchen Momenten nachgibt, einfach, weil man schwindlig wird. – Schließlich fing ich aus lauter Nervosität an zu weinen, und das hielt er wohl für ein Zeichen, daß die Gnade nun bei mir durchbräche – das tut sie nämlich, wenn der Sünder ganz zermalmt und zerknirscht ist.

Dabei tat es mir auch beinahe weh, er ist trotz aller Verranntheit einer von den wenigen, die es gut mit mir meinen, und als Menschen habe ich ihn sehr gern.

Ich habe mir vierzehn Tage Bedenkzeit ausgebeten, aber die Würfel sind geworfen. Lisa, es bebt in mir bei dem Gedanken, nun so bald frei zu sein. Ich möchte in einemfort schreien, und meine Hände zittern bei allem, was ich tue. Jetzt komme ich, Lisa, ich komme – ich komme, und dann soll geschehen, was will.

Ich muß mir selbst etwas Vernunft einreden, – also: am Ostermorgen brenne ich durch – um halb neun gehen sie alle in die Kirche, da ich sonntags manchmal ausschlafe, fällt es nicht auf, wenn ich vorher nicht erscheine. – Der Hauslehrer hat mir einen Koffer und das Geld zur Reise geliehen, ich habe ihn in alles eingeweiht. – Sollte mich jemand sehen, so sage ich, es wäre ein Aprilscherz – Sonntag ist gerade der erste.

Nur noch acht Tage – es ist mir doch auch wieder wehmütig. Ich erzählte Ihnen von der Kranken, die wir im Hause haben – um die wird es mir ganz schwer. Ich bin so viel bei ihr, manchmal auch nachts, wir haben uns sehr gerne und hatten viele schöne stille Stunden. Jetzt ist sie wohl dem Ende sehr nahe, ich sitze frühmorgens bei ihr am Fenster, wenn die Vögel draußen zwitschern, und denke daran, daß ich nun bald in die Freiheit gehe, während hier ein Mensch mit dem Tode ringt. Dann bilde ich mir ein, sie könnte mich entbehren, und möchte lieber, sie stürbe noch vorher. Es ist eigentlich schrecklich, Lisa, daß man überall wieder so mit seinem Herzen festhängt. Aber jetzt leben Sie wohl, ich telegraphiere Ihnen noch, wann ich komme. Und lassen Sie es Detlev dann wissen.

Ihre Ellen.

 


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