Franziska zu Reventlow
Ellen Olestjerne
Franziska zu Reventlow

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Zweiter Teil

L..., 3. März 1888

Vor allem will ich Sie beruhigen, daß weder meine Mutter noch Detlev etwas von unsren Gesprächen gehört haben – sie schalt nur, daß ich zu viel mit Ihnen getanzt hätte. – Herrgott, wenn sie wüßte, daß ich jetzt an Sie schreibe – es ist bald fünf Uhr, unten auf der Straße rasseln schon Milchwagen, ich liebe nichts mehr, als so eine Nacht durch aufzubleiben, und heute wäre es mir unmöglich gewesen zu schlafen.

Es kommt mir wie ein Wunder vor, daß ich nun wirklich einen Menschen gefunden habe, dem ich alles sagen kann und der mein Freund sein will. Sie machen sich ja keinen Begriff davon, wie allein ich war und wie todunglücklich ich mich von jeher zu Hause gefühlt habe, besonders in diesem letzten Jahr, wo auch Detlev mir immer fremder wurde. Sie wollten mir das nicht recht glauben, aber es ist wirklich so: meine Mutter sieht es nicht gerne, wenn ich viel mit ihm zusammen bin. Sie hat ihm das Versprechen abgenommen, mich keine modernen Bücher lesen zu lassen und mich mit seinem Verkehr nicht in Berührung zu bringen. Nur unter der Bedingung darf ich mit ihm ausgehen, die Eltern sind ja schon außer sich, daß er so in all diese Sachen hineingekommen ist und mit freidenkenden Menschen verkehrt. Aber Sie können sich vorstellen, wie mir dabei zumut war, wenn er mir von Ihnen und den andern erzählte, wie von einer Welt, die mir immer verschlossen bleiben sollte. Dann fand ich eines Tages auf seinem Schreibtisch »Brand« und »Peer Gynt« und nahm es mir herüber. Ganze Tage habe ich darüber zugebracht und konnte weder essen noch schlafen, nur immer wieder lesen, sowie ich allein war. Es kam mir vor, als ob jedes Wort für mich geschrieben wäre, ich wußte mit einemmal, daß es keine unmöglichen Hirngespinste waren, mit denen ich kämpfte, – wenn sich alles in mir sträubte gegen das Leben, das man mir aufzwingen will. Früher empfand ich es immer als eine Art Unrecht gegen meine Eltern, mich so dagegen aufzulehnen und heimliche Sachen zu tun, aber nun ging es mir plötzlich auf, daß jeder ein unveräußerliches Recht an sein Ich und sein eigenes Leben hat. Wissen Sie die Stelle: das Eine darfst du nie verschenken, – dein Selbst, dein Ich, den heilgen Dom – du darfst's nicht binden – nicht es lenken – nicht hemmen seines Lebens Strom – Er rauscht dahin und strömt und schwillt: – bis er im Meer die Sehnsucht stillt.

Wenn Sie erst mein ganzes, bisheriges Leben kennen, werden Sie begreifen, was für einen überwältigenden Eindruck das auf mich machte, als ob plötzlich etwas Erlösendes durchbräche, wo früher eine dumpfe, undurchdringliche Masse war. Und dabei muß ich immer wieder an den großen Krummen im »Peer Gynt« denken, wie er im Nebel auf ihn losschlägt und nicht durchkann, und der Krumme antwortet: »Geh herum.« Aber wo er hinkommt, ist wieder dasselbe da und ruft: »Geh herum!« Zuerst hab' ich das alles ganz allein durchlebt, aber es hätte mich einfach erstickt, ich mußte mit Detlev davon sprechen. Und da kamen wir uns wieder so viel näher, er hat mir dann auch die andern Bücher gegeben, und was waren das für Stunden, wenn wir zusammen darüber sprachen. Er arbeitet abends immer in meinem Zimmer, und da reden wir oft die ganze Zeit von alledem. Dann erzählte er mir auch von Ihnen, und ich versuchte, ihm das Verantwortungsgefühl auszureden, weil ich Sie so gerne kennenlernen wollte. Als ich Sie ein paarmal gesehen hatte, wußte ich ja gleich, daß wir uns verstehen würden. Und wie Detlev es dann durchsetzte, daß ich zu dem Tanzabend mitdurfte – sehen Sie, da hatte ich das Gefühl, als ob etwas Entscheidendes kommen müßte, jetzt oder nie. Sonst wäre es wieder an mir vorbeigegangen, und ich hätte in dem alten Elend weiterleben müssen. – Und nun ist es wirklich geschehen – als ich hinter Mama und Detlev nach Hause ging mit Ihrem Brief in der Tasche, dachte ich immer nur: jetzt kann kommen, was will, das können sie mir doch nicht mehr nehmen.

Daß wir uns öfter sehen, wird allerdings schwierig sein, ich weiß schon gar nicht, wie ich immer zur Post kommen soll, um Ihre Briefe abzuholen – also wenn möglich, Mittwoch im Dom, die Tür beim Turm ist ja immer offen.

Und nun leben Sie wohl – es kommt mir vor, als ob ich Ihnen so viel zu sagen hätte, daß es nie ein Ende nimmt.

 

8. März, nachmittags

Eben komme ich von unsrer so schmählich zerrissenen Zusammenkunft im Dom zurück. Der Schrecken sitzt mir noch in allen Gliedern. Gott im Himmel, wenn mein Vater uns gesehen hätte – ich hätte mir auch denken können, daß er unserm Besuch die Kirchen zeigen würde. Und was der Kirchendiener wohl gedacht hat, als wir auf allen vieren zwischen den Bänken durchliefen. Es war eine gute Idee von Ihnen, denn sonst hätten sie uns sicher gesehen.

Aber es war doch schön, daß wir uns wenigstens so lange in Ruhe unterhalten konnten.

Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen unsre häuslichen Verhältnisse übertrieben habe. – Seit wir hier sind, habe ich mit Mühe erreicht, daß ich den ganzen Tag in meinem Zimmer sein kann und nicht mehr nähen muß. Da habe ich mir mit einer spanischen Wand eine Art Atelier eingerichtet, wo ich male und modelliere. Aber es ist unmöglich, allein weiterzukommen – ich darf weder Modelle nehmen, noch mir Gipsabgüsse ausleihen. Meine Mutter findet, ich soll dann wenigstens »hübsche, brauchbare« Sachen – Geschenke, Porzellanteller usw. machen. Das fällt mir natürlich nicht ein, und so bleibt mir nichts übrig, wie meine alten Stiefel und ähnliches zu malen. Davon hab' ich schon eine ganze Galerie. – Ich weiß ganz gut, daß meine Mutter mich auf diese Weise zwingen will, nachzulassen. Aber ich lasse nicht nach.

Es ist überhaupt ein fortwährender Krieg. »Jedermanns Hand wider jedermann.«

Mit meinem Vater kann ich auch zu keinem Verständnis mehr kommen, er hat sich in letzter Zeit mehr um mich gekümmert, aber es ist doch zu spät. Ich kann mich nicht freundlich mit ihnen stellen, wenn ich sie zugleich fortwährend hintergehen muß. Und das wieder muß ich, um zu meinem Lebensrecht zu gelangen. Ein ehrlicher, offener Kampf würde mir gar nichts nützen, sie sperren mich dann höchstens noch mehr ein.

Und was das Leben so schön macht, kann nicht schlecht sein. Wo bliebe dann die Wahrheit? In all dieser verschrobenen Sittlichkeit und Moral ist ja doch kein Funke davon.

Ich lese jetzt gerade »Die Frau« von Bebel und Lassalles »Leben«. Was ist das für ein Kerl, ich bin ganz weg, in den hätte ich mich wahnsinnig verliebt. Seine Flugschriften will ich jetzt auch lesen, Detlev hat sie ja.

P. S. Die Mutter hat Detlev gestern gefragt, ob er etwa mit zu diesem abscheulichen Ibsenklub gehörte, wo die Mädchen mit jungen Männern über unmoralische Sachen sprächen und zusammen Ibsen läsen. – Sie hat in einer Gesellschaft davon gehört. Natürlich waren Sven Olafson und die Schwestern Seebald damit gemeint, aber wer mag den Namen Ibsenklub aufgebracht haben?

Vielleicht haben wir Detlev jetzt bald so weit, daß ich die alle einmal kennen lerne. Übrigens hat Mama bei dieser Gelegenheit auch noch gesagt: »Friedrich Merold ist doch der einzige Nette von deinen Freunden.«

– Sie scheinen also doch guten Eindruck gemacht zu haben.

 

20. März

Es ist morgens um fünf Uhr – beim Aufwachen fiel mein erster Blick auf die Blumen von Ihnen, die noch immer blühen. – Ich stehe jetzt immer so früh auf, um mehr Zeit für mich zu haben, und diese stillen Morgenstunden sind das schönste am ganzen Tag. Früher in Nevershuus lief ich oft so in der Frühe auf die Wiesen hinaus und manchmal heimlich durch die Stadt zum Strand. Es war so schön, ganz allein am Meer zu sein, ich habe oft noch Heimweh danach. Aber was hätte ich für ein Leben geführt, wenn wir dort geblieben wären – jetzt scheint doch wenigstens hier und da ein Lichtstrahl durch die Türspalte. Und das tut auch wirklich not. Gott, was ist das für ein Familienleben, mir schaudert, wenn ich gleich zum Frühstück hinunter muß. Den ganzen Tag gibt es Auseinandersetzungen und Szenen, wo nur zwei in einem Zimmer beisammen sind. Sagt einer: das ist weiß, so schreit gleich der andere: nein, was fällt dir ein – schwarz ist es. Und alles hat Nerven, selbst die Hunde sind nervös bei uns und fangen an zu quieken, wenn zu laut gesprochen wird.

Aber es ist Zeit, ich muß hinunter, leben Sie wohl, bis wir uns wiedersehen.

Ellen.

 

28. März

Wenn wir uns doch bald wiedersehen könnten, ich habe Ihnen so viel zu erzählen. Vorgestern nahm Detlev mich nun wirklich mit zu Seebalds, und Olafson war zuerst auch da. Es wurde über die »Frau vom Meer« gesprochen, über Murgers »Zigeunerleben« und über freie Liebe. Und dann erzählte Olafson von Paris. Wie kann er wundervoll reden – wenn er sprach, schwiegen alle still, aber ich glaube, uns war allen zumut, als ob man laut schreien müßte vor Begeisterung oder weinen oder irgend etwas ganz Verrücktes tun. Was sind das alles für Menschen, endlich einmal wirkliche Menschen, ohne Schablone und voll Künstlertum und Freiheit. Es ist einem, als ob man sein Leben lang taub, blind und stumm in einer Höhle gesessen hätte und nun zum erstenmal sieht, zum erstenmal menschliche Stimmen hört, die ins Leben rufen.

Nachher zeigte Lisa uns ihre Skizzen. Gott, wenn ich denke, daß man auch einmal so hinauskönnte. Sie fanden es alle entsetzlich, daß ich so eingesperrt bin, besonders Marga, die ja auch Ihre besondere Freundin ist. Ich bin sehr angetan von ihr – man sieht, daß sie ihren Lebenskampf mit Stärke und Entschlossenheit kämpft.

Später gingen wir mit der ganzen Gesellschaft zu Allersens. – Sie haben ganz recht: das düstere, alte Haus paßt wunderbar zu diesen Menschen. Die zwei Schwestern saßen in großen Lehnstühlen und sahen aus wie seltsame schwarze Blumen. Anita spielte mit einer kleinen Katze – von der anderen weiß ich nicht, wie sie heißt, und der Bruder mit dem Christuskopf stand am Fenster. Sie sagten alle sehr wenig, aber man fühlt, daß sie es auch nicht nötig haben, so viele Worte zu machen wie wir anderen.

– – das war ein ereignisreicher Tag für mich, ich finde, das Leben wird jetzt mit jedem Tag schöner und reicher. Und ich bin mitten drin, nun lasse ich es nicht wieder fahren.

 

14. April

Kaum eine Stunde ist es her, daß wir uns trennten – nur die Rose, die im Glas vor mir steht, sagt mir, daß ich nicht geträumt habe – daß wir jetzt für immer zusammengehören. Friedl, ich hätte Dir noch so unendlich viel zu sagen, aber ich kann nicht. Es ist, als ob die ganze Wirklichkeit um mich versunken wäre – ich weiß nur noch unsre Liebe, und daß uns nichts mehr trennen kann.

 

Abends

Und dieser Tag ist verschont geblieben von all den Dissonanzen, die mich sonst quälen und zerreißen. Ich war ganz alleine mit den Eltern, und es fiel ausnahmsweise kein böses Wort zwischen uns. Mein Gott, und wenn sie einmal mit mir so sind, fühle ich auch wieder, wie ich sie im Grunde doch liebe. Ich war in einer so weichen Stimmung, daß ich ihnen am liebsten um den Hals gefallen wäre.

Gute Nacht, Geliebter, meine ganze Seele ist bei Dir und gehört Dir. Mein Fenster steht weit offen, die Luft ist voller Frühling, und in mein Leben ist zum erstenmal Sonne gekommen.

 

21. April

Hab Dank für Deinen Brief – wenn Du wüßtest, wie mich Deine Worte glücklich machen und auch wieder traurig. Ach, Friedl, daß wir jetzt an eine lange Trennung denken müssen, wo wir uns eben erst gefunden haben – das ist sehr schwer. – Aber es war schon lange festgesetzt, daß ich für diesen Sommer zu meinen Verwandten sollte. Länger wie ein halbes Jahr können sie mich hier zu Hause ja nicht ertragen. Aber sieh, wir können ja auch aus der Ferne alles miteinander teilen – wir müssen um unsrer Liebe willen alles ertragen, und ist es nicht geradeso schön, daß niemand darum weiß? – Und ich weiß doch nicht, wie ich nur einen Tag ohne Dich leben soll, und nun erst Wochen und Monate.

– – Ich muß Dir heute abend noch ein Wort schreiben und Dir immer wieder sagen, wie glücklich ich bin. Endlich – endlich ist es Frühling geworden, und ich komme mir wirklich vor wie ein Baum, der Knospen treibt. Ich sehe nun endlich das Leben vor mir liegen – in Schönheit und Freiheit, nur die letzten Schranken gilt es noch einzurennen, und sie sollen und müssen fallen. Herrgott, wir sind ja noch so jung – die paar Jahre, bis ich mündig bin, werde ich wohl noch aushalten, und dann soll keine Macht der Welt mich zwingen, noch zu bleiben. Sollte ich etwa mit gebundenen Händen immer weiter zusehen, wie man mir mein Leben zertritt, bis die Jugend vorbei ist und alles zu spät?

Nein, siehst Du, Friedl, ich muß hinaus aus alledem, sonst gehe ich innerlich zugrunde. – Und denke Dir nur, wie göttlich es werden kann, wenn wir beide in München wären – Du studierst und ich male, und wir lieben uns, wie noch nie zwei Menschen sich geliebt haben. – Ich sitze oft stundenlang da und stelle mir das alles vor, und es wird immer leuchtender in mir. Aber es macht vor allem Deine Liebe, und daß ich jetzt endlich einmal fühle, was Glück ist – da blüht dann auch alles andre auf. Sag mir immer wieder, jeden Tag, daß Du mich lieb hast –

Ich küsse Dich tausendmal – –

 

24. April

Warum kamst Du gestern nicht? Du fehltest mir so unter den anderen. Gerade dann, wenn es lustig und laut ist, kommt mir auf einmal eine solche Sehnsucht nach Dir. – Wir trafen uns vorm Tor, der ganze Ibsenklub, und zogen in irgendein Wirtshaus weit draußen an der Landstraße, wo wir zur Feier des Karfreitags Grog tranken und sehr viel Lärm machten. Auf dem Rückweg kamen wir an der kleinen Kirche vorbei und hüpften im Gänsemarsch oben auf der Mauer entlang, als plötzlich die Türen aufgingen und die andächtige Gemeinde herausströmte. Wir machten, daß wir herunterkamen, und tanzten alle angefaßt um Lisa herum, die nicht mitgewollt hatte. Die Kirchenbesucher und Vorübergehenden schienen einigen Anstoß daran zu nehmen, und wir wurden verschiedentlich ermahnt weiterzugehen. Es war zu schade, daß Du nicht da warst. – Detlev und ich kamen noch etwas angesäuselt zu Tisch und wurden mit einem Donnerwetter über unser langes Ausbleiben empfangen. – Sie sind auch außer sich, weil wir uns weigerten, morgen mit zur Kommunion zu gehen, den ganzen Abend wurde kein Wort gesprochen – aber wäre es nicht Feigheit, es um des Friedens willen doch zu tun?

 

2. Mai

Das ist nun unwiderruflich der letzte Abend – für Monate. Eben bin ich noch mit unsrem alten Nero im Mondschein durch den Garten gegangen – und mir war ganz wehmütig dabei. Dies Tier ist das einzige Wesen, das hier zu Hause wirklich an mir hängt und mich vielleicht etwas entbehren wird.

Nein, es ist nur gut, daß ich fortkomme, dieser Zustand reibt mich auf. Immer liegt es wie ein dunkler Schatten über meinem Leben, das sonst so froh und licht sein könnte. Friedl, denke daran, daß ich keine Mutter habe, nie gewußt, was Mutterliebe ist – das alles mußt Du mir ersetzen, und Du tust es ja schon. So leb wohl, Du einzig Geliebter, wann werden wir uns nun wiedersehen? Wann wird wieder eine Blume von Dir vor meinem Bette stehen, wenn ich einschlafe? Du wirst wohl oft zu meinem leeren Fenster hinaufsehen – es ist mir ein Trost, daß Du oft mit Detlev zusammen bist, den werde ich auch schwer vermissen.

Leb wohl, ich schreibe Dir so bald wie möglich.

 

Balsdorf, 4. Mai

Nun sind wir so weit auseinander, und das Herz tut mir so weh. Ich denke den ganzen Tag an Dich, an alle die einzelnen Stunden, die wir zusammen waren und an jene allerschönste auf dem Kirchhof, wo Du mir Deine Liebe sagtest. Immer wieder zog das alles an mir vorbei. Wie hab' ich mich heute auf diesen Augenblick gefreut – ich bin allein in meinem Zimmer und Dein Bild steht vor mir – ich seh' in Deine Augen – draußen über den dunklen Tannen der Mond, und im Garten schlagen die Nachtigallen. – Friedl, was sollte wohl aus mir werden, wenn ich Dich nicht hätte.

Ich habe noch viele bittre Worte gesagt und gehört in den letzten Tagen zu Hause, es gab noch einen argen Zusammenstoß mit meiner Mutter, und wir haben uns kaum Adieu gesagt. Papa sprach den letzten Morgen mit mir über meine namenlose Starrköpfigkeit und versicherte mir, daß es mir doch alles nichts helfen würde. Das einzige Gute bei diesem Abschied war mit Detlev, wir haben uns eine ganze Stunde geküßt und uns geschworen, fest zusammenzuhalten. Beinahe hätte ich ihm jetzt schon unser Geheimnis verraten.

Vorhin war ich mit den anderen im Wald. Ich lag im Gras und träumte, während sie sich unterhielten, machte die Augen zu und dachte an unser letztes Beisammensein: wir standen wieder im Dom bei der großen Orgel – und dann sah ich Dich rasch fortgehen. Da wurde mir zumut, als ob ich weit fortstürzen möchte in die Einsamkeit mit allem Sehnen und Denken. Ich möchte Dich noch einmal sehen und dann mein verfehltes, zertretenes Leben von mir werfen. Ja, Friedl, ich fühle mich manchmal so entsetzlich zerrissen und heimatlos, daß mich alle Kraft verlassen will. Nirgends bin ich zu Hause, nirgends – am wenigsten da, wo ich es sein sollte. Kaum ein halbes Jahr kann ich mit ihnen leben, dann muß ich wieder hinaus unter fremde Menschen, wo ich auch nicht hingehöre.

Wenn sie auch gut gegen mich sind, gerade das tut mir manchmal am meisten weh und es sind doch überall dieselben Schranken, an denen ich mich wundstoße.

Und ich fühle doch auch, daß niemand so zur Lebensfreude geschaffen ist wie ich – manchmal erschrecke ich selbst darüber, was für Wildheit in mir steckt und sich ausrasen möchte.

Du bist ja der einzige, zu dem ich so sprechen kann. Hab Geduld mit mir, Du allein, die andern haben sie ja alle nicht, weil ich nicht so sein kann, wie sie mich haben wollen. Vielleicht, wenn Du mich ganz kenntest, würdest Du ebenso denken wie sie. Das ist ein fürchterlicher Gedanke; nein, sag mir, daß Du immer an mich glauben willst – immer. Hilf mir, ich will auch alles auf mich nehmen, wenn Du mich nur lieb hast.

 

10. Mai

Die ruhigen Tage hier haben mich wieder mehr ins Gleichgewicht gebracht – sowie ich nur die wahnsinnige Überreizung von zu Hause überwunden habe, bin ich wieder ein andrer Mensch. Und Dein geliebter Brief macht mich so froh.

Ich werde hier förmlich verzogen und habe ziemlich viel Freiheit, kann den ganzen Tag draußen zeichnen oder rudern.

Dein Herbstgedicht ist sehr schön – ich mußte an die Herbsttage daheim in Nevershuus denken, wenn ich mit den Hunden auf der Koppel war und im Gehen den Ossian las. Kennst Du den? Oder in den Sturm hinaussang – ich kann eigentlich gar nicht singen, nur wenn ich allein bin. Aber ich sehne mich so oft nach Musik, und sie fehlt mir so. Aber bei uns ist das nun einmal so: was nicht zum täglichen Brot gehört, ist überflüssig und verwerflich. Und was könnte man alles aus sich machen, wenn einem nur ein bißchen geholfen würde. Ich möchte alles können und alles wissen und muß fortwährend meine ganze Kraft aufbieten, um nur das wenige zu retten, was ich habe – damit mir nicht auch das zerdrückt wird.

Jetzt lese ich Tristan und Isolde in der alten Sprache, es ist so wunderbar schön. Meist steige ich damit in einen Baum und schaukle mich in den Zweigen und denke an Dich.

 

18. Mai

Kennst Du das Gedicht von Ibsen: »Sie saß schon frühe – im Lebensmai – in der Galerie – vor ihrer Staffelei? –« Und den Schluß, wie sie immer noch da sitzt und von »leuchtenden Schönheitstagen« träumt, als der Lebensmai längst vorüber ist?

Vielleicht wird mein Schicksal ähnlich fallen. Und wenn Du nach vielen Jahren heimkommst und Dir Dein Leben aufgebaut hast, groß und schön, findest Du mich immer noch an meinem Fenster – aber zerstört – vernichtet und fürs Leben verloren.

Und das mit dem Jäger – ich las heute gerade die beiden wieder – erinnerst Du Dich – wie er den andern mit magischer Gewalt auf einen Berg hinaufzieht und dort festhält. Und von droben sieht er alles vergehen, woran er hing: sein Haus brennt auf, während der Jäger von der schönen Beleuchtung spricht. Seine Braut zieht mit einem fremden Mann zur Kirche – aber er bleibt auf dem Berg, und wie alles vorbei ist und tot da drunten, ist er stark geworden und gefeit: Mein Leben im Tale auf ewig tot – Hier oben Gott und ein Morgenrot – dort unten tappen die andern –.

Vielleicht fällt es auch so – –

 

1. Juni

Morgens halb vier – eben sind wir vom Ball gekommen durch den schimmernden, tauigen Sommermorgen. Uns liefen Rehe über den Weg. Wie kann man da zu Bett gehen? Ich habe unsinnig getanzt und dachte so viel an Dich, wie wir damals zusammen tanzten. Ich schicke Dir die Blumen, die ich im Haar hatte. – –

 

Sechs Uhr

Mir wurde vorhin doch etwas müde, da bin ich hinaus und zwei Stunden lang durch die Wiesen und Felder gerannt, ganz ohne Besinnen ins Blaue hinein mit meinen Tanzschuhen durchs nasse Gras und über Gräben. Es war wie ein Rausch, ich fühlte mich so frei, als ob es keine Fesseln mehr gäbe. Ach, wenn Du hier wärest, ich alles mit Dir genießen könnte, mit Dir zusammen in der freien Natur und die Seele ausruhen lassen. Da müßten wir beide froh werden. – Vorhin war mir noch ganz wirblig vom Tanzen, aber jetzt ist es vorbei. – Siehst Du, so etwas ist eigentlich nicht gut für mich, es steigt mir immer so zu Kopf. Ich bin so entsetzlich wild, Friedl, ich könnte tanzen, bis ich tot umfalle.

 

12. Juni

Friedl, ich habe einen großen Schritt getan – meinem Vater geschrieben, er sollte mich das Lehrerinnenexamen machen lassen. Ich habe es mir in dieser Zeit eingehend überlegt. – So lassen sie mich doch nicht fort, und dann kann ich mich wenigstens auf eigne Füße stellen, wenn es zum Klappen kommt. Und mir das Geld zum Malen selbst verdienen. Ich habe mir schon alles ausgerechnet, wenn ich erst mal für ein Jahr genug habe, gehe ich nach München, und das Weitere findet sich.

Es ist nur ein greulicher Gedanke, alles andre liegen zu lassen und sich wieder hinter die Schulbücher zu setzen. – Übrigens habe ich Papa gesagt, wenn er mir dies nicht erlaubte, würde ich mich weigern, überhaupt wieder nach Hause zu kommen.

Du, Schatz, durch Detlev habe ich erfahren, daß man mich möglichst viel auf Bälle und solche Sachen schickt, weil Mama hofft, es würde sich doch mal jemand zum Heiraten finden. Momentan ist hier das ganze Haus voll von Offizieren zur Jagd. Ich halte ihnen Reden über Ibsen und moderne Ideen. Wenn sie morgens in den Garten kommen, sitze ich im Kirschbaum, und sie müssen bitten, daß ich ihnen Kirschen hinunterwerfe. Die werden sich schwer hüten, mich zu heiraten. Überhaupt macht es mir furchtbaren Spaß, die Leute vor den Kopf zu stoßen, besonders diese aristokratische Bande.

Ich bin aus meinem Zimmer ausquartiert und wohne in einer Bodenkammer, droben ist ein plattes Dach, auf dem ich gestern nacht geschlafen habe, das war herrlich.

In acht Tagen fahre ich nach D... zu Tante Helmine und treffe Detlev dort. Leb wohl –

 

D..., 25. Juni, vier Uhr morgens

Liebster Friedl – Detlev weiß alles – gestern abend habe ich es ihm gesagt, bis jetzt haben wir zusammen auf seinem Bett gesessen und gesprochen. Er war so furchtbar lieb, freut sich so an unserm Glück – und will uns helfen, so viel er kann. Jetzt hab ich ihn ganz wieder, wie in unsrer Kindheit. Dann hat er mir auch vieles von sich selbst erzählt, was ich noch nicht wußte – ich kann dir nicht sagen, wie es mich erschüttert hat und auch tief bewegt. Detlev fühlt sich ja so unglücklich und denkt nur an Maria N., ob sie ihn wohl doch noch lieben wird. Nicht wahr, wir wollen tun, was wir können, um ihn froher zu machen – Du bist ihm ja ein solcher Halt.

 

3.Juli

Morgen fährt Detlev nun fort zu Euch – ich mag ihn gar nicht hergeben, was haben wir hier für Abende gehabt, wenn die Tante zu Bett ist und wir noch stundenlang zusammen redeten, von Dir, von ihm und von allem. Auch über die Kreutzersonate haben wir viel gesprochen, hab Dank, daß Du sie schicktest. Ja, ich kann begreifen, wie sie Dich erschüttert hat, uns ist es ebenso gegangen, gerade durch all die furchtbaren Wahrheiten. – Mein Gott, so verbinden sie einem die Augen bei dieser idiotischen Erziehung, und wenn man sie aufmacht, sieht man in einen Abgrund. Hab auch Dank für alles, was Du mir gesagt hast, ja, wir wenigstens wollen in unsrer Liebe nach Reinheit und Wahrheit streben.

– Gott, Friedl, wenn ich Dich nicht hätte und den ganzen Reichtum unsrer Liebe –

 

Abends

Heute nachmittag ist mein Vater gekommen, und es gab eine große Unterredung. Also: ich trete diesen Herbst ins Seminar ein und muß dann zweiundeinhalb Jahre drinbleiben – zu Hause. Mir graut doch davor – denk Dir, die ganze Zeit nicht malen können. Vielleicht geht es auch in anderthalb Jahren, wenn ich mich sehr anstrenge, dann wäre ich gerade zwanzig – Gott, und dann – –

Übrigens hat er mich auch arg verdonnert – es wäre ein letzter Versuch, ich würde ja auch dort wahrscheinlich wieder hinausgeworfen werden, wenn ich mich nicht mehr zusammennähme. – Er wußte auch, daß ich Detlev aufhetzte und daß wir beide eine Verschwörung im Hause bildeten mit unsern sogenannten freien Ansichten. Fortlassen würde er mich nie, wenn ich mich nicht änderte. Ach Du, mir fehlt doch im Grunde die »moralische Kraft«, um das alles auszuhalten – ich glaube, davon hab ich überhaupt nicht viel. Wenn mein Ziel nicht wäre.

Vorläufig bleibe ich noch hier – es ist auch ganz nett, nur diesen Sommer etwas unruhig; fortwährend muß man ausfahren, Theater spielen und so weiter. Früher ließ meine Tante mich den ganzen Tag arbeiten, jetzt findet sie, ein junges Mädchen muß sich vor allem amüsieren. Gott ja, ich amüsiere mich auch, aber es bekommt mir innerlich nicht, ich gerate zu leicht in das hinein, was Detlev meine Tobsucht nennt. Und das ist natürlich auch wieder nicht recht: ein junges Mädchen muß immer die Grenzen innehalten! – Aber wenn ich einmal anfange, kann ich das nicht. Ich möchte dann nur losrasen und alles vergessen, bis ich zusammenklappe, und dann wieder von vorne an und so durch alle Tiefen und Höhen des Lebens durch, bis es aus ist. Weißt Du, was man so inneren Halt nennt, ich glaube, das fehlt mir gänzlich. Das mußt Du mir geben, Du hast so viel davon – und in Deiner Liebe werde ich es finden.

 

Allenberg, 15. August

Nun bin ich schon wieder anderswo, Du siehst, ich suche noch die sämtlichen Güter heim, ehe ich mich ins Seminar begrabe. – Hier bin ich alle Tage schon bei Sonnenaufgang an der See und bade ganz alleine. Es ist wundervoll, so allein in das kühle, goldene Wasser hineinzuschwimmen, während der ganze Himmel rot ist.

Sonst beschäftigen wir uns damit, ein paar störrische Esel zuzureiten ohne Sattel und Zügel, und abends wird fast immer getanzt. Es ist hier überhaupt ein ideales, verwöhntes Landleben – so ganz leicht wird es mir doch nicht, von alledem Abschied zu nehmen.

Aber ich denke daran, daß wir uns dann wiedersehen – endlich, nach all den Monaten. – Und Ostern schon geht ihr beiden von der Schule – und ich bleibe ganz allein. Deshalb habe ich jetzt auch Eile, zurückzukommen, damit wir wenigstens dies halbe Jahr voll genießen können. Und es soll so schön werden.

 

L...

Deinen Brief, daß Du für die Ferien verreistest, bekam ich erst heute morgen und fuhr mit sehr gemischten Gefühlen hierher. Detlev ist ja auch noch nicht da, und ich mit den Eltern allein.

Vorhin habe ich meine Malsachen eingepackt – mir war dabei, als ob ich jemand Geliebten in den Sarg legte, aber ich glaube an eine Auferstehung. – Dann den Schreibtisch ans Fenster gerückt, damit ich Dich immer sehen kann, wenn Du zu Detlev kommst. – Als ich gerade dabei war, kam meine Mutter und sprach mit mir über das Seminar. Ich sollte nur recht fleißig sein, und wir wollten jetzt in Frieden leben. Das schnitt mir durchs Herz, Friedl, früher hat sie nie so mit mir gesprochen. Ich glaube, sie hat jetzt Angst, daß sie uns doch einmal ganz verlieren könnte. Mama ist überhaupt ganz anders geworden, sie hat etwas Milderes, das ich sonst an ihr nicht kenne, und wenn sie nur gut mit mir ist, habe ich sie doch wieder so lieb. – Aber es ist zu spät – gerade in dem Augenblick fühlte ich auch, wie sehr ich schon losgelöst bin. – Sieh, Friedl, von Natur ist mir alle Unwahrheit verhaßt, aber sie haben mich selbst da hineingetrieben. Du hast ja recht, daß gerade wir als Kämpfer für unsre Ideen alle Lüge verschmähen und unantastbar dastehen sollen. Aber jetzt noch würde es dasselbe bedeuten, wie die Waffen aus der Hand geben und verzichten. Selbst der Weg zur Wahrheit steht uns noch nicht offen. Ach, Friedl, wir werden noch viel bluten müssen um unsre Freiheit; sagt nicht Lassalle irgendwo, daß wir alle Gladiatoren der neuen Zeit wären?

Von jetzt an wird mein ganzes Zuhauseleben nur noch Schein und Verstellung sein, jedes Wort, das ich sage – mein wahres Leben liegt anderswo – mit Euch. Aber wenn ich so allein bin, ist mir oft, als ob ich diesem Widerspruch erliegen müßte – jeden Schritt zu mir selbst mit Lügen erkaufen. Aber es muß sein und ich werde die Kraft auch finden. – Und wie lange wird es dauern, bis einmal alles herauskommt – mir ist, als ob ich auf einer Pulvertonne lebte, die jeden Augenblick in die Luft fliegen kann.

Wenn Du nur erst hier wärest – – –

 

Ellen stand am Fenster und hörte durch Herbstwind und Regen vom nahen Bahnhof herüber die Züge pfeifen. Heute abend sollte Friedl ankommen.

Es wurde dunkel, sie zündete die Lampe an und wollte den Vorhang herunterlassen. – Da stand plötzlich jemand drüben unter der Laterne und sah herüber. Sie riß das Fenster auf, Sturm und Regen schlugen ihr ins Gesicht. – Ja, das war er, in seinem weiten Mantel – keiner versuchte ein Wort oder ein Zeichen, sie mühten sich, mit den Blicken durchs Dunkel zu fühlen, als ob nur ihre tiefe Sehnsucht die Arme ausbreitete. – So standen sie sich lange stumm von ferne gegenüber.

Als dann der Bruder ins Zimmer kam, schloß sie gerade das Fenster, die Haare hingen ihr naß in die Stirn.

»War Friedl da?« fragte er, dann fielen sie sich in die Arme und konnten beide eine Zeitlang nicht sprechen. Detlev war der getreue Helfer, unermüdlich trug er die täglichen Briefe hin und her, Blumen, Bücher – holte Ellen von der Schule ab und brachte sie zu ihren Liebesstunden. Die beiden wollten sich jeden Tag sehen, bei gutem Wetter wartete Friedl draußen vor der Stadt am Mühlwasser. Da saßen sie in einem morschen alten Boot unter den kahlen Weidenzweigen und hielten sich umschlungen, als ob der lange Tag zwischen dem letzten Wiedersehen und dem nächsten in diese kurze Stunde zerfließen müßte. Als es Winter wurde, lagen sie oft alle drei auf der weiten, gefrorenen Wasserfläche oder auf dem Felde im Schnee und sahen in den schimmernden, weißen Himmel hinauf. Und war die Zeit zu kurz und das Wetter arg, so blieben die Kirchen ihre Zuflucht. Detlev nahm ein Buch mit und las, während Friedl und Ellen auf einer alten schwarzen Sargbahre oder im Kirchengestühl saßen und sich küßten und die hohen feierlichen Gewölbe schweigend auf all den Frevel herabsahen. Wenn es vier Uhr war, kam der Kirchendiener mit seinem großen, rostigen Schlüsselbund entlang: »Meine Herrschaften, die Kirche wird jetzt geschlossen.«

Dann mußten sie sich trennen. Die Geschwister gingen langsam heim; bis zum späten Mittagessen saßen sie in der Küche beim heimlichen Kaffee, den die Köchin ihnen immer bereithielt, und abends in Ellens Zimmer mit ihren Schularbeiten. Sie waren unzertrennlich wie in alten Zeiten und sahen die übrige Familie fast nur bei den Mahlzeiten. Alles, was sie in sich aufnahmen, lasen, dachten, was ihnen wuchs und was jeder erlebte, wurde erst voll und ganz, wenn sie es miteinander teilten. Und was hatten sie nicht alles in sich aufzunehmen in dieser Zeit!

Eines Abends kam Detlev mit einem Buch nach Hause. Die Eltern waren aus, und dann machten die beiden Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem. Sie holten sich ihren Tee herüber, vor dem Ofen schliefen die Hunde, Ellen lag auf dem Sofa, Detlev saß neben ihren Füßen und las vor – es war Nietzsches »Zarathustra«.

Sie bebten beide – der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne – jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los, sagte etwas, was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte, wonach man im Dunkeln herumgetappt hatte und geglaubt, es nie zu finden. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen – es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte – brausend, berauschend, überwältigend. Und alles andere, der Alltag, das Alltagsleben und -empfinden schrumpfte in eine öde, farblose Masse zusammen, verlor sein Dasein – nur das wahre, heilige, große Leben leuchtete, lachte und tanzte. Sie konnten sich nicht mehr zurückfinden – noch spät in der Nacht saß der Bruder an Ellens Bett und las immer weiter – wie aus einer andern Welt hörten sie Eltern und Schwester heimkommen, die Haustür zufallen und alles wieder ruhig werden.

Und von nun an lasen sie jeden Abend, der »Zarathustra« wurde ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten. Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren, – da gab es Gespräche, bei denen sie alle fieberten: die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer, und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausrichten wollten. Es war wie ein gärender Frühlingssturm in ihnen, jeder träumte von einem ungeheuren Lebenswerk, und sie alle hätten sich jeden Tag für ihr Lebensrecht und ihre Überzeugung hinschlachten lassen, wenn es nötig gewesen wäre.

Aber noch im Laufe dieses Winters schmolz der Ibsenklub immer mehr zusammen, und das war ein großer Schmerz. Olafson, der Apostel aus dem Norden, der die neuen Lehren zuerst in die würdige alte Patrizierstadt gebracht hatte, war wieder nach Paris. Nach Weihnachten ging auch Marga Seebald ins Ausland, von der Detlev sagte: Marga ist wie das Meer. Sie war älter wie die übrigen und die Seele der ganzen Gesellschaft mit ihrer größeren Reife und Erfahrung. Die anderen Schwestern verließen auch bald nacheinander die Stadt, und die Zurückgebliebenen mochten kaum mehr an dem Hause vorübergehen, das jetzt so leer und fremd dastand.

Das Frühjahr rückte heran. Detlev und Friedrich Merold steckten im Examen, dann war es bestanden, und sie sollten zusammen nach Berlin, um zu studieren. Die waren nun frei und hatten das Leben vor, sich – alle, alle gingen sie hinaus, nur Ellen mußte zurückbleiben, einsam und zähneknirschend ihre Ketten schleppen.

Sie machten noch einen letzten Abendgang zusammen, sie und Friedl, während die Eltern wieder einmal ausgegangen waren. Detlev blieb diesmal zu Hause.

In einer Seitenstraße trafen sie sich und gingen durch die Vorstadt hinaus, verirrten sich in unbekannte Gegenden, stiegen über Planken und Gitter, quer über Höfe und Lagerplätze. Endlich waren sie draußen auf freiem Feld, weit fort von allen Menschen. Friedl saß am Grabenrand. Ellen lag mit dem Kopf in seinem Schoß und sah in sein Gesicht und in den Mond hinauf.

Beide waren still und traurig, ihnen war so schwer ums Herz, und die tiefe, stille Einsamkeit erfüllte sie mit Bangen.

»Warum sind wir uns doch so fern bei aller Liebe«, kam es plötzlich über Ellen, »so ganz anders sollten wir zusammengehören, und wenn auch mein Leben zerbräche, was liegt daran. Sich einmal ganz gehören, und dann sterben und vergehen.«

Es ging ein Zittern durch ihre Seele und durch ihren Körper, und sie glaubte es auch in ihm zu fühlen. Vielleicht ahnte er, was sie dachte, denn er sagte plötzlich: »Ellen, laß uns gehen«, und beugte sich dann zu ihr nieder. Sie umarmten sich lange, lange. – Es war wohl das letztemal vor seiner Abreise. Schweigend trennten sie sich vor ihrem Haus. Drinnen saß Detlev bei der Lampe.

»Gott sei Dank, daß du da bist, es ist gleich Mitternacht. Ihr seid doch wahnsinnig unvorsichtig.«

Ellen antwortete nicht, sie warf sich aufs Bett und weinte: »Wie soll ich es aushalten, wenn ihr fort seid.«

 


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