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Der Malachof.

Der Sturm am 6. Juni hatte nicht bloß die Lünette Kamtschatka – den Mamelon – sondern auch die beiden anderen vorgeschobenen Werke, die Selenginski- und Vohlinski-Redoute nach einem heftigen Kampf und Blutbad in die Hände der Franzosen gebracht. Sie verloren an 3000 Mann, darunter den General Lavarande, die Russen nicht viel weniger mit dem General-Major Timotjef. Die beiden Redouten wurden gesprengt, der Mamelon unter dem Namen Brancion-Redoute zu einer Batterie gegen den Malachof umgewandelt. Bosquets Lorbeeren ärgerten jedoch General Pelissier, und er entfernte ihn daher vor dem beabsichtigten großen Sturm, indem er ihn den Oberbefehl der Tschernaja-Linie übertrug.

Man schien absichtlich den Jahrestag der napoleonischen Erinnerungen zu wählen, selbst der traurigen, und da zum 14. dem Tag der Schlacht von Marengo – die Vorbereitungen nicht vollendet werden konnten, wählte man den 18. – den Tag von Waterloo zum Sturm auf den Malachof, um den Engländern zu zeigen, daß man zu siegen verstehe. Aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Die Divisionen Mayran, Brünet und d'Autemarre mit der Garde sollten den Malachof, die Engländer den Redan angreifen, nachdem am Morgen des 17. auf der ganzen Belagerungslinie ein heftiges Bombardement eröffnet worden, während dessen 20 000 Kugeln und 10 000 Bomben von den Franzosen auf die Festung geworfen wurden.

Aber die Russen waren auf den Angriff vorbereitet und, wie heldenmütig auch der Ansturm der Franzosen war, die zweimal bis ans Werk drangen und sich in der Vorstadt festsetzten, sie wurden mit furchtbarem Verlust geworfen, da sie ohne Unterstützung durch die Engländer blieben, deren Angriff vollkommen verunglückte. General Mayran fiel, Brünet wurde durch die Brust geschossen, fast sämtliche Regiments-Kommandeure wurden verwundet, die Franzosen verloren als kampfunfähig gegen 6000 Mann, die Engländer an 2000; auch der russische Verlust betrug 5000. An einzelnen Stellen um den Malachof lagen die französischen Leichen vier Ellen hoch übereinander; die Bedienungsmannschaften der Geschütze im Malachof hatte dreimal ersetzt werden müssen; von der Kompagnie des tapferen Szewski-Regiments, welche die Batterie Gervais verteidigt, waren noch 35 Mann am Leben. – Entsetzlich waren die Szenen, die sich bei dem von den Alliierten begehrten Waffenstillstand zur Beerdigung ihrer Leichen zeigten. Die Geier hatten sich auf dem Schlachtfelde bereits gesammelt; ein Augenzeuge berichtet, daß er auf dem Wahlplatz einen englischen Offizier fand, der, tödtlich getroffen, noch Kraft genug hatte, in der krampfhaft geballten Faust einen Vogel zu erwürgen, der an ihm zu nagen begann.

Mit dem verunglückten Sturm auf den Malachof trat gewissermaßen eine Pause in der Heftigkeit des Kampfes ein; inan begnügte sich, die Belagerungsarbeiten fortzusetzen, mit der Sappe immer näher und näher an die Festungswerke heranzudringen und den Kreis der Trancheen enger zu schließen. Die Länge derselben betrug zu dieser Zeit bereits 17 Stunden; 85 französische Batterien waren errichtet, freilich nicht ohne den bedeutendsten Verlust, denn der Bau der einzigen Batterie Nr. 22 mit nur drei Geschützen kostete allein 865 Mann. Der Minenkrieg begann gegenseitig jetzt nach allen Richtungen hin zu spielen, auf russischer Seite von dem Stabs-Kapitän Melnikoff geleitet, der in Lotlebens Stelle trat, als dieser zu Anfang Juli am Fuß verwundet wurde und noch nicht geheilt, gegen Ende August doch wieder in den Werken erschienen, um aufs Neue zu erkranken, sodaß er auf Befehl des Fürsten Gortschakoff nach Simferopol gebracht wurde. Mit welcher Aufopferung die Soldaten an dem berühmten Schöpfer der Verteidigung von Sebastopol hingen, beweist der Zug, daß, als während des Sturmes vom 18. auf den Malachof eine 7 Pud schwere Bombe gerade neben dem General niederfiel und der Luftdruck ihn ohnmächtig zu Boden warf, sechs Soldaten herbeisprangen und ihn mit ihren Körpern deckten. Fünf wurden augenblicklich getötet, der sechste schwer verwundet, während Totleben damals mit einer leichten Contusion davonkam.

Am 11. Juli, abends acht Uhr, fiel der dritte des Heldenkleeblattes der russischen Admirale: Nachimoff, als er von der Brustwehr des Malachof die Feinde rekognoszierte. Wie an Lord Raglans Begräbnis, der am 28 Juni an der Cholera gestorben, die Russen ihre sämtlichen Geschütze schweigen ließen, so ehrten die Franzosen mit stummer Huldigung das Andenken des tapferen Gegners. Sechszehn Stunden hatte er nach seiner Verwundung noch gelebt; als er sein Ende fühlte, wandte er sich zu den Matrosen der 39. Tschernanor'schen Flottenequipage, die ihn schluchzend umringten, mit den Worten: »Kinder, vergeßt nicht, das Kreuz (die Kriegsflagge) vor dem Feind wie bei Sinope an den großen Mast zu heften!« Sein Tod machte auf die ganze Besatzung den tiefsten Eindruck und stimmte sie zu verzweifeltem Mut. Als der Sarg in die Gruft der Wladimir-Kathedrale sank, schwor General Chruleff: »Dein Denkmal, braver Seemann, soll Berge feindlicher Leichen werden!« und: Da budet tak! (So soll es sein!) rollte es durch die beiwohnenden Regimenter.

Die Zahl der tapferen Seeleute in der Festung war gewaltig zusammen geschmolzen, obschon am Tage' vor dem Sturm 2000 Matrosen der vernichteten Flotte des Asow'schen Meeres eingerückt waren. Von den 36 Marine-Offizieren, die bei Beginn der Belagerung die Batterien kommandierten, war noch einer kampffähig. Aber Begeisterung und fester Todesmut erfüllte Offiziere und Soldaten. Am 8. Juli weihte der Erzbischof von Cherson und Taurien, Innocenz, auf dem Katharinen-Platz die versammelten Truppen und reichte ihnen das Abendmahl. Sie schworen, auf ihrem Posten zu sterben. Im Laufe des Juli trafen die 7. und 15. Infanterie-Division in Sebastopol ein, zu Anfang August die 2. und 3. Division des berühmten Grenadier-Korps, sodaß die russische Armee der Krim trotz aller Verluste, zu Anfang September wieder 160 000 Mann zählte. Fünfunddreißigtausend Arbeiter waren allnächtlich mit der Ausbesserung der Schäden beschäftigt, welche die Kanonade des Tages an den Wällen verübt, oder errichteten neue Verteidigungswerke. Fortwährend suchten die Belagerten durch kleinere und größere Ausfälle die Arbeiten des Feindes aufzuhalten, die bedeutendsten erfolgten in der Nacht zum 25. Juli, 2. und 15. August. Am 28. verursachte eine russische Bombe im Mamelon eine furchtbare Explosion, die an 200 Mann tötete und verstümmelte.

Auch die Verluste der Alliierten waren entsetzlich. Bis zum Juni hatten die Franzosen bereits 80 000 Mann durch Krankheit und Wunden vor Sebastopol eingebüßt, die englische Armee war zweimal fast vollständig erneut worden. Von den Anfangs Mai eingetroffenen 15 000 Sardiniern waren nur noch 800 kampffähig, 2000 schon bis zum 1. August an der Cholera gestorben. Die Miasmen, die sich aus den Leichenfeldern und aus der versumpfenden Tschernaja entwickelten, verbreiteten, im Verein mit dem akuten Wechsel der Witterung Seuchen, nachdem die Cholera im August nachgelassen, den Typhus und Skorbut in desto größerer Heftigkeit. Es wurden während des Monats täglich 6-800 Kranke auf den Schiffen in die Spitäler am Bosporus transportiert. Durch das Feuer der Russen, die durchschnittlich in 24 Stunden 4000 Schüsse taten und 600 Bomben warfen, war der Verlust in den Laufgräben, je mehr sie sich den Werken näherten, desto entsetzlicher.

Die Stimmung, die sich ziemlich offenkundig in der Armee kund gab, ließ nicht frei von Besorgnissen. Offiziere und Soldaten sahen sich nutzlos dezimiert und als Beute von Krankheiten und Anstrengungen. Die täglichen Verluste in den Laufgräben, während mit jedem Morgen neue russische Werke aus der Erde zu wachsen schienen, ermatteten auch die Stärksten. Die Garden selbst schickten Deputationen an den Generalissimus mit der Bitte, ihr allzu ausreichendes Lederzeug ablegen zu dürfen, und General Reynault forderte gleich heftig ihre größere Schonung, wie man früher auf ihre Teilnahme am Dienst bestanden; man verlangte mit dem Mut der Verzweiflung nach einem neuen allgemeinen Sturm, um zu sterben oder zu siegen, denn allen graute vor einer nochmaligen Überwinterung, und schwerlich hätte man sich dieser gefügt. Als auch der Napoleonstag, der 15. August, ohne den gehofften Sturm vorübergegangen war, kamen mehrmals Fälle der offenen Renitenz vor, wenn die Regimenter zum Laufgrabendienst beordert wurden. Dazu zeigten sich wieder unter allerlei Verkleidungen Emissaire der revolutionären Propaganda im Lager und begannen ihre Wühlereien. General Pelissier verkannte die Gefahr nicht und ergriff verschiedene Maßregeln, um die Äußerungen des Mißvergnügens zu unterdrücken, da er zu gut einsah, daß er nicht alles auf einen letzten entscheidenden Wurf setzen durfte, ohne dessen Erfolg möglichst gesichert zu sehen. Die erste Maßregel war die Ausweisung der französischen Korrespondenten, die der Generalissimus am 14. Juli auf ein Schiff packen und nach Konstantinopel bringen ließ; – freilich blieben die weit ungenierteren englischen zurück! In Kamiesch wurde eine förmliche Militär-Zensur-Kommission eingesetzt, die alle abgehenden Briefe kontrollierte und jede Klage unterdrückte. Hierauf folgte die Entfernung Canroberts, der, so oft er sich zeigte, der Gegenstand von Ovationen der Soldaten war. Der General inspizierte – es war am 26. Juli – gerade die Laufgräben, als Pelissier ihm in Abschrift eine Stelle aus der Depesche des Kriegsministers zugehen ließ, wodurch der Kaiser ihn, im Interesse seiner Gesundheit, zur Rückkehr aufforderte. Canrobert antwortete auf der Stelle, daß er sich nur einem ausdrücklichen Befehl fügen werde, und schon am 29. war dieser durch den Telegraphen da. Der General verließ am 4. August die Krim, von seinem glücklichern Rivalen wenigstens beim Scheiden noch mit allen Ehren umgeben.

Schon lange vorher, ehe dies geschah, hatten die Belagerer einen neuen Angriff der russischen Armee von der Tschernaja her erwartet und vollkommen Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten und ihre Stellung zu befestigen. Er erfolgte am Morgen des 16. August – bekannt unter dem Namen der Tschernajaschlacht, oder der Schlacht bei der Traktir-Brücke. Die Russen stiegen unter den ungünstigsten Verhältnissen aus ihrer gedeckten Stellung in das Tschernajatal nieder, überschritten den Fluß und gingen die gegenüber liegenden wohlbefestigten Höhen hinan, zuerst die Türken und die verschanzten Sardinier angreifend. Bald aber ließ sich, gegen die ausdrückliche Disposition des Oberbefehlshabers, General Read von seinem Ungestüm fortreißen, mit dem rechten Flügel die gesicherte überlegene Stellung der Franzosen an den Fedhujini-Bergen zu stürmen und hier die Schlacht zu engagieren. Dreimal gewannen die Russen die Höhen, dreimal wurden sie von Bajonett und Kartätschen zurückgeworfen und der Tod mähte in ihren Reihen. General Read büßte seine Verwegenheit mit dem Leben – vier Stürme der Freiwilligen, die seine Leiche holen wollten, wurden von französischen Kartätschen niedergeworfen. General-Major Weymarn, sein Generalstabs-Chef, fiel, auf dem Rücken trug sein Adjutant, der gigantische Leutnant Stolypin, den Körper des geliebten Führers aus dem Getümmel; an der Seite des russischen Generalissimus wurde General Wreski getötet, nachdem er, zweimal schon getroffen, verweigert hatte, sich zurückzuziehen. Nutzlos, vergeblich opferten die tapferen Grenadiere immer und immer wieder ihr Leben, bis General Kotzebue, die Unmöglichkeit des Gelingens, das Zwecklose des Blutbades erkennend, vom Pferde sprang und auf dem Sattel die Ordre zum Rückzug an die engagierten Divisions-Chefs schrieb. Eine Granate schlug neben ihm nieder und platzte, während sich die Umgebung eilig zurückzog, ihn mit einer Wolke von Staub und Splittern deckend. Als sie sich verzogen, sah man den General ruhig fortschreiben und erst, nachdem er geendet, das Blut von der Stirn trocknen.

Weit über 3000 Russen, 1100 Franzosen, an 900 Türken und 200 Sardinier deckten den Kampfplatz, das Flußbett war gefüllt mit Leichen. Die Sardinier verloren den General Montevecchio, auch von den französischen Führern waren viele verwundet, darunter der tapfere Oberst der dritten Zuaven. Auf die Belagerung selbst hatte die Schlacht keinen Einfluß.

Dagegen vermehrte sich die Spaltung zwischen den französischen und englischen Truppen, die schon nach dem Sturm am 18. Juni, dessen Mißlingen man den Engländern geradezu die Schuld gab, bedeutend hervorgetreten war und sich in Übermut und Verhöhnungen auf Seiten der Franzosen offen kund gab. Die Erbitterung brach in hundert Zügen aus, als die englischen Soldaten das Tschernaja-Schlachtfeld, das nicht ihr Blut gekostet, auf eine so schamlose Weise plünderten, daß sechs Stunden nach beendigtem Kampf nur die nackten Leichen noch dort lagen und General Simpson selbst in einem Tagesbefehl vom 20. seinen Truppen ihr Benehmen vorwarf. Man mußte zuletzt den französischen und englischen Soldaten verbieten, dieselben Schankboutiken zu besuchen.

Am 17. August ließ General Pelissier das Feuer aufs Neue verstärken; während der zweiten Hälfte des Monats wurde in Kamiesch Tag und Nacht Munition ausgeladen und nach den Batterien gebracht. Fortwährend trafen neue Verstärkungen ein, am 24. General Mac-Mahon, der geprüfte Afrikaner, 1840 noch Bataillons-Kommandant der Vincenner Jäger, dann Oberst in Algerien, wo er sich, um sich vor dem Herzog von Orleans auszuzeichnen, auf einem Zuge gegen die Kabylen an der Spitze seines Regiments auf den dreimal stärkeren Feind warf, sein rechtes Auge verlor, aber zum General ernannt wurde. Er trat an Canroberts Stelle.

Die Zeit eilte – und der dem General Pelissier im Geheimen gesetzte Termin nahte heran; Depesche auf Depesche brachte der Telegraph, und der hitzige, durch die nicht erfüllte Hoffnung auf den Marschallsstab am 15. August erbitterte General sandte die berüchtigte Antwort: »Sire, wenn Sie glauben, es besser machen zu können, so kommen Sie selbst!«

In den ersten Tagen des Septembers endlich war man mit der Sappe so weit vorgedrungen, daß die Spitze der französischen Trancheen nur noch 30 Meter (90 Fuß) von den Werken des Malachof entfernt war; schon mehrere Tage konnten sich die Gegner sprechen hören. Der allgemeine Sturm wurde beschlossen.

Am 5. September begann die letzte allgemeine Kanonade, bestimmt, die Bastionen, – schon längst kaum mehr als ein Schutthaufen – vollends zusammen zu schmettern. Sechshundert französische und zweihundert englische Feuerschlünde größten Kalibers eröffneten ein Feuer, das die Erde ringsum erbeben ließ und selbst in der Entfernung einer Viertelmeile nur in den Pausen gestattete, sich anders als durch Zeichen verständlich zu machen.

Die Festung antwortete in gleicher Weise, obschon an vielen Stellen die Trancheen der Gegner so weit vorgedrungen waren, daß sie unter dem Niveau der Geschütze lagen. Die Zerstörung im Innern war furchtbar. Die Erde innerhalb der Werke und um sie her war von Kugeln so aufgepflügt, daß nicht ein Sandkörnchen an seinem Orte geblieben, sie war mit Flintenkugeln, Kartätschen, Granatensplittern, Kanonenkugeln und Bomben vollständig bedeckt. Vom 22. Mai bis 10. Juni sammelten die russischen Soldaten und Matrosen auf der ganzen Verteidigungslinie an Blei von feindlichen Kugeln 1960 Pud (78 400 Pfund) und 1015 achtzigpfündige, nicht geplatzte Bomben, aber das machte kaum ein Drittel, da zwei Drittel im Wall oder in den Mauern stecken blieben und nach der Stadt und den Buchten hinüber flogen. Schon im Mai waren gegen 500 Häuser vom Grund aus zerstört, selbst das Straßenpflaster aufgewühlt. Ende August waren nur wenige Gebäude bewohnbar, die Lazarette und alle Bureau's nach Fort Paul und Fort Nicolaus verlegt. In dem letztern wohnte der Kommandant Kismer mit mehr als 20 000 Menschen. Der Bericht Pelissier's giebt an, daß während der 336 Tage der Belagerung über 1 600 000 Schüsse aus 800 Feuerschlünden, also durchschnittlich täglich 4434 Schüsse auf die Stadt abgegeben worden seien. Die Verteidigungswerke waren sämtlich so zu Staub zermalmt, daß die Erdarbeiten kaum noch auszubessern waren, und Fürst Gortschakoff, – nachdem bereits am 5. und 6. August eine Pontonbrücke über den Handels- und Kriegshafen zur bessern Verbindung der beiden Stadtseiten geschlagen worden – für den Rückzug nach der Sievernaja (der Nordseite) eine Brücke über die Bucht zu schlagen beschloß. General Buchmeier, der Chef der Ingenieure, führte unter dem Kugelregen der Feinde, dies Riesenwerk in 15 Tagen aus, und die schwimmende Balkenbrücke von 1500 Schritt Länge und 9 Schritt Breite, die zwischen den Forts Nikolaus und Michael die Ufer verband, wurde am 27. August eingeweiht. In der Nacht zum 6. August ward das erste russische Linienschiff, die »Mariam«, durch die Bomben der Alliirten in Brand geschossen.

Es ist eine entsetzliche Tatsache, daß in den letzten neun Tagen dem Bombardement und den Krankheiten täglich viertausend Mann in der Festung zum Opfer fielen!

Während die Franzosen und Engländer so ihre Vorbereitungen zur Entscheidung des Kampfes trafen, sahen die Türken immer mehr ein, welch' überflüssige Rolle sie in der Krim spielten, und Omer-Pascha traf, schwer erbittert über die erfahrenen Zurücksetzungen, am 18. Juli in Konstantinopel ein, den Sultan für eine Verlegung des Kampfplatzes zu gewinnen. Seine Pläne wurden jedoch hintertrieben und Mitte August Iskender-Bey, jetzt Iskender-Pascha (Graf Ilinski), mit der Kavallerie, und gegen Ende des Monats der Serdar selbst mit dem größten Teil der Infanterie nach Klein-Asien geschickt zum Entsatz von Kars, das von General Murawieff und den Fürsten Andronikoff und Bebutoff schwer bedrängt war. Die Stelle der türkischen Truppen in Eupatoria nahmen die englisch-türkischen Baschi-Bozuks ein, die durch die offene Empörung am 7. Juli in Dardanelli und ihre dort verübten Greueltaten eine Probe von der Organisation geliefert, die ihnen General Beatson und Vivian beigebracht hatten. In Konstantinopel selbst war Ende August Mehemed-Ali wieder zum Kapudan-Pascha ernannt worden und die alttürkische Partei auf's Neue an's Ruder gekommen. Der Hat-Humayum, diese großmütige Erwerbung der alliirten Mächte zu Gunsten der christlichen Bevölkerung, an die Stelle des Tansimats und der Forderungen Rußlands gesetzt, blieb ein Spiel in den Händen der fanatischen Paschas und ohne alle Wirkung.


Die Folgen der Trennung der Bosquet'schen Divisionen waren bei dem Sturm am 18. Juni zu klar hervorgetreten, als daß der Generalissimus für die Erreichung des Hauptzweckes nicht jede kleinliche Rivalität hätte aufgeben sollen. General Bosquet war mit seinem Korps nach der Tschernaja-Schlacht wieder in die Belagerungs-Linien eingerückt, und das dritte Zuaven-Regiment, jetzt kommandiert von Colonel Méricourt, hatte sein früheres Lager am Sapun wieder bezogen.

Der alte polnische Oberst hatte das Feldlager nicht wieder verlassen, obschon er nach jener traurigen Täuschung jede weitere Hoffnung und Bemühung aufgegeben, das Schicksal seines Enkels lenken zu können. Die Teilnahme, die Méricourt diesem bewiesen, hatte ihn häufig in seine Gesellschaft gezogen, bis der Colonel ihm eine frei gewordene Baracke auf dem Sapun anbot. Er bezog sie zusammen mit dem von Konstantinopel zurückgekehrten Baronet. Die beiden trüben und wortkargen Gefährten paßten gut zu einander. –

Es war am Mittag des 7. September, als der alte Propagandist allein in der Hütte saß, auf einer umgestülpten Tonne schreibend und von Zeit zu Zeit mit traurigen Gedankenbildern auf den Donner hörend, der, Luft und Erde erschütternd, von den Wällen und Batterien herauf rollte. Den Eingang verdunkelte eine Gestalt und aufblickend gewahrte er einen der Armenier, die als Handelsleute das Lager durchstreiften. Unwillig, gestört zu werden, winkte der Oberst ihm, fortzugehen, der Fremde legte jedoch zu seinem Erstaunen den Packen von sich und setzte sich ihm gegenüber auf eine Kiste, nachdem er sich vorsichtig umgesehen.

»Der Lärm, den die Kanonen dieser Soldateska machen,« sagte der Eindringling in italienischer Sprache, »sichert uns wenigstens gegen das Behorchen. Ist meine Verkleidung wirklich so trefflich, daß ich erst dieses Zeichens bedarf?« – Er bog den Mittelfinger der linken Hand ein und streckte sie gegen den Polen.

»Abbé Cavelli?« rief dieser mit Staunen.

»Still, lieber Graf – keine Namen! Sie könnten mich eben so gut den Bankier Thomas, den Lord So und So und wer weiß wie nennen, gegenwärtig bin ich der Handelsmann Basil Aristarchi, wohlbekannt auf dem Bazar von Konstantinopel, und es genügt, daß Sie über meine Person im Klaren sind. Wir sind doch sicher hier?«

»Ich erwarte keinen Besuch, Signor. Doch muß ich Sie auf Eines aufmerksam machen – ich habe seit dem 28. April aufgehört, Mitglied des Bundes zu sein und …«

»Der höchsten Gewalt Ihren Rücktritt zugleich mit der Warnung mitgeteilt, die der Kaiser Napoleon so gütig war, uns zukommen zu lassen. Ich weiß das Alles und noch mehr, aber Sie werden sich erinnern, lieber Graf, daß, wenn man nach unseren Statuten auch berechtigt ist, die Funktion als tätiges Mitglied des Rates der Sieben niederzulegen – man doch nicht aufhört, ein Wissender und Gehorchender zu bleiben; der Eid des Eintritts gilt für's ganze Leben, und ich hoffe, daß Graf Lubomirski ihn nicht brechen wird, wie ihn Andere in diesem Lager gebrochen haben.«

Der Greis blickte ihn erstaunt an. – »Sie kannten meine Stellung, Signor? Ich glaubte Sie bloß Mitglied des fünften Grades?«

»Ei, man schreitet vorwärts, Oberst, und wer weiß, was aus dieser unscheinbaren Hülle des Armeniers noch hervorgeht,« spottete der Italiener. – »Doch unsere Augenblicke sind gezählt. Ihre Dienste, Signor Conte, hatten Sie zu einem hervorragenden Mitglied des Rates der Sieben gemacht, sodaß man Ihre Tätigkeit und Ihre Erfahrung schwer vermißt. Ich komme mit dem Auftrag, Sie um den Wiedereintritt in den Bund zu bitten.«

»Mein Entschluß steht fest,« sagte der Andere. »Ich habe das Recht, wie Sie selbst zugestehen, alle Tätigkeit aufzugeben und ein Wissender zu bleiben, da der Grad, den ich eingenommen, nicht mehr gestattet, mich ganz aus der Gemeinschaft des Bundes zu entlassen. Ich bin ein Greis – meine Kraft ist durch manches, was Sie nicht interessiert, gebrochen, ich kann nicht mehr nützen und – gerade heraus, – ich will es nicht. Die Erinnerungen meiner Jugend sind mächtig in mir erwacht – ich mag nicht weiter kämpfen, weder gegen das Haus Bonaparte noch gegen das Haus Romanow!«

Der Italiener lächelte verächtlich. – »Ich kann nicht glauben, daß Alter die Nerven wirklich so verwelkt, um Geist und Kraft zu lähmen. Das Beispiel der Diplomatie zeigt, daß dem nicht so ist. Talleyrand hatte – Nesselrode und Metternich haben trotz ihres hohen Alters ihren Geist bewahrt.«

»Signor Abbé,« sagte der Pole, »Sie sind im Verhältnis zu mir jung, vor Ihnen liegt noch die Welt; – ich weiß nicht, welche Stellung Sie haben, denn Sie sind ein Geheimnis auch für mich – aber ich will Ihnen eine Erfahrung sagen, einen Rat geben. Die schärfsten Pläne des menschlichen Hirns brechen oft an der Schwäche der menschlichen Herzen. Nicht das Alter allein ändert die Menschen, jeder trägt seine Stelle im Innern, nennen Sie sie Grundsätze, Laster oder Gefühl, wo er Egoist bleibt. Darum müssen Sie mit den Menschen, welche die Mittel zur Ausführung der festen Pläne sind, wechseln, wie Gott mit den Geschlechtern der Menschen wechselt. Daß sie diesen Egoismus, diesen Punkt, in welchem die Willfährigkeit aufhört, nicht achteten, sondern ihn unterdrückten, zwangen, das war der Fehler der größten Verbindung, der größten Verschwörer aller Jahrhunderte, der Jesuiten.«

Der Abbé schaute ihn nachdenkend an. – »Der Rat hat sein Wahres! wir haben in letzter Zeit dahin zielende Erfahrungen gemacht. Die Agenten zum Beispiel, welche im März 1853 von der damaligen Versammlung ausgesandt wurden, sind fast sämtlich ihrer besonderen Interessen und Ansichten wegen aus unseren Reihen desertiert. Der Banquier Riepéra wurde ein Verräter aus Furcht und Habsucht, die spanische Tänzerin machten Eitelkeit und Blut ungehorsam und zur Maitresse eines Russen, Ihnen, Signor Conte, galt das Leben eines Knaben mehr, als die Zukunft der Propaganda, den deutschen Arzt hat ein allzu zartes Gewissen gerührt und von den beiden Arbeitern hat den Einen seine Ungeschicklichkeit auf das Schaffot gebracht, den Andern sein törichter Begriff von Familienehre zum enthusiastischen Soldaten gemacht.«

Der Graf schwieg.

»Ich komme soeben von einem anderen unserer Freunde,« fuhr der Abbé spöttisch fort, »ich habe General Pisanis Beichte gehört, ein Geschäft, das ich natürlich besser verrichten konnte, als jeder andere. Wenn ihn auch der Ehrgeiz und Reichtum nicht abtrünnig gemacht, so zieht er doch seine eigenen Pläne vor, jetzt muß er beides verlassen, den neuen Rang und den Reichtum seiner Frau. Wenigstens ist er Teufel genug, die letztere mit sich zu nehmen! – Sie haben recht, Signor Conte, man muß die Werkzeuge nur so lange benutzen, als ihre eigenen Interessen nicht mit den unseren kollidieren!«

»Signor,« sagte der alte Mann entschlossen, »das sind Gespräche, die uns nicht zum Ziele führen. In welcher Absicht haben Sie mich aufgesucht?«

Der Abbé sah ihn scharf an. – »Ich erwähnte bereits, Signor Conte, daß ich den Auftrag hätte, Sie zu uns zurückzuführen.«

»Und ich erklärte Ihnen, daß ich mich von jedem tätigen Anteil zurückgezogen habe.«

»Ist dieser Entschluß unwiderruflich?«

»Er ist es!«

»Auch dann, wenn ich den Auftrag habe, Ihnen dies zu bieten?« – Er übergab ihm eines der oft erwähnten Kreuze – es zeigte neun Silberstifte. Der Pole zuckte zusammen und sah ihn erstaunt an – »Sie – mit welchem Recht – das Zeichen der höchsten Gewalt?«

»Ich muß das Recht wohl haben, da ich Ihnen den Eintritt anbiete. Die Leiter der Unsichtbaren wünschen Sie in Ihrer Mitte zu wissen – um Ihres Vaterlandes willen und da sich mächtige Dinge vorbereiten.«

Der Pole schüttelte das greise Haupt. – »Mir scheint es, Signor, der Bund täte besser, günstigere Zeiten abzuwarten – der Kampf mit den Dynastien ist nicht zu seinen Gunsten ausgefallen. Der Kaiser Napoleon –«

»Hat morgen zu regieren aufgehört. Was Pianori verfehlt, wird Bellamare treffen. Wenn jener Mann heute, morgen oder übermorgen das Theater besucht, wird ein neuer Versuch auf sein verfluchtes Leben gemacht werden, sein Glück wird ihn nicht immer schützen!«

»Meuchelmord – immer und immer wieder – und glauben Sie dadurch die verlorene Schlacht zu gewinnen? Es wird unsere Sache vollends verderben.«

»Die Revolution, Signor Conte, wird nie mehr in Europa unterliegen, so lange sie nur den Mut hat, zu kämpfen, und so lange England seine Mission begreift, uns zu schützen! Meinten Sie wirklich, die Drohung dieses Emporkömmlings könne uns einschüchtern? Er ist es, der uns fürchtet; dieses Kokettieren schon mit der Demokratie, wie jene Rede seines Vertreters in der Ausstellung, zeigt es. Wir sind ihm den Prozeß gegen die 150 Mitglieder der Marianne, die im März verhaftet und am 31. Juli im Saal des pas perdus verurteilt wurden und Dheniers Verdammung in Lille Wegen des Versuchs, den Eisenbahn-Train des Kaisers in die Luft zu sprengen. schuldig! Aber selbst, wenn sein Stern ihn nochmals beschützen sollte, sind die Chancen in ganz Europa der Art, daß sie unsere erneute Tätigkeit fordern.«

»Verzeihen Sie, Signor,« sagte gemessen der Graf, »ich bin ein wenig aus der Kenntnis gekommen.«

»Es ist nötig, daß Sie von unseren Aussichten unterrichtet sind. Daß zwei wichtige Mitglieder des Bundes gestorben sind, wissen Sie wahrscheinlich, der Triumvir Mamiani in Athen und General Pepe am 14. August in Turin. Der Nachfolger des Korsen hat zwar seine sogenannte National-Anleihe von 360 Millionen erhalten, aber die Sache ist zu einem Börsen-Geschäft gemacht worden, und von den dreimalhundertundzehntausend Narren, welche das Zehnfache der Million zeichneten, sind zwei Drittel Unzufriedene geworden, weil man ihr Geld nicht nahm. Am 27. August sind bereits bedeutende Unruhen in Angers ausgebrochen. Auf die Armee kann sich der Usurpator für seine Pläne nicht stützen, von den 101 Infanterie-Regimentern Frankreichs sind 41 im Orient, 2 in Rom, 12 in Afrika, Paris allein braucht ihrer 10, und es bleiben ihm für die Bedrohung Preußens und Deutschlands durch das sogenannte Ostlager kaum 120 000 Mann. Eben so wenig wird er die Revolution in Spanien damit niederhalten, wenn die 25 000 Mann Spanier, die sich O'Donnel durch den geheimen Traktat vom 7. August für eine Anleihe von 500 Millionen Franks zu stellen verpflichtet, die Halbinsel verlassen haben. Mißglückt der Sturm auf Sebastopol, wie wahrscheinlich ist, so steht es schlimm mit dem napoleonischen Regiment, denn in der Armee ist die Zahl der Mißvergnügten groß, und ihnen ihr Ziel zu geben, bin ich hier. Das Offizier-Korps des 14. Regiments hat bei dem Abschiedsfest in Rom am 5. August bereits offen seine Empörung gezeigt – man hat es nicht gewagt, es nach dem Orient zu schicken. Napoleon – wenn sein Glück ihn vor Bellamare's Pistole rettet – wird dann von der Armee gezwungen werden, den Krieg hier aufzuheben und ihn an den Pruth, in die russisch-polnischen Provinzen zu verlegen, dahin haben auch Omer-Pascha und Ilinski in Konstantinopel agitiert. Skarzinski, (Osman-Bey) Zsurmanski, Wolawski, Safit-Bey halten den Sirdar auf diesem Plane fest und England wird das Geld geben zur Bildung zweier Legionen der Türkischen Kosaken, die nur aus Polen und Ungarn bestehen dürfen. Czaikowski leitet die Organisation, das war die Mission des Grafen Zamoiski in England und Frankreich. Mit der Überschreitung des Pruth durch den Serdar oder die Franzosen bricht die Erhebung in ganz Polen aus, Mieroslawski und Mak werden sie in dem Preußischen Großherzogtume verbreiten. Die Leitung der Polnischen Sache soll Ihre Aufgabe sein.«

»Signor,« sagte der Oberst, »meine Berichte aus Polen sollten Sie bereits über diesen Irrtum aufgeklärt haben. Die Polen hassen Rußland weniger, als Sie denken. Von all' den Polen, die in der Armee von Sebastopol stehen, sind bis jetzt nur vier ins Lager der Alliierten desertiert, während die Zahl der Deserteure aus den Reihen der Sardinier und der Fremden-Legion bedeutend ist. Wenn Sie keine andere Stütze Ihrer Pläne haben, als eine Revolution in Polen, steht es schlecht mit Ihrer Armee.«

»England wirbt sie für uns, Graf, im Norden wie im Süden. Die Fremden-Legion in Shorncliffe wird, wenn unsere Fahne weht, ihr folgen. Jeder Legionär ist ein Soldat mehr für uns, und das Geld, was das Parlament dafür bewilligt, ist nichts anderes als ein Beitrag zur Revolution. In der Schweiz sind neue Werbungen im Gange; die Bildung einer italienischen Legion ist beschlossen, General Percy zur Organisation bereits am 17. August in Surin eingetroffen; von Schweden her hat Doktor Rosenschild eine Freischar gegen Rußland angeboten. Zwischen Sardinien und Frankreich herrscht bereits Spannung, der Papst hat seine Allokution geschleudert, die famose Rede Palmerstons am 10. Aug. über Italien hat den Brand von den Alpen bis zum Kap Passero geschürt, Rom ist in Gährung, unser geheimes Bündnis mit den Muratisten, und Mieroslawski's Broschüre gegen die Bourbonen über ganz Neapel verbreitet, Pisokane harrt meines Winkes für ganz Unteritalien, die halbe Armee ist sein, und bei dem ersten Anstoß, dem ersten Ruf zur allgemeinen Erhebung, wird mit dem Norden auch der Süden in Flammen stehen und beide werden sich im Kampf die Hand reichen.«

Der Italiener, von der Leidenschaftlichkeit seiner Natur über die gewöhnliche Vorsicht fortgerissen, schwieg jetzt erschrocken und sah sich scheu um; das halb spöttische halb traurige Lächeln des Greises beruhigte ihn, nur in der Nähe, in der sich beide befanden, war es möglich, seine Worte zu verstehen. »Das alles, Signor,« sagte ruhig und bestimmt der Oberst, »läßt uns zwar über Ihre Person keinen Zweifel mehr, aber es überzeugt mich, daß ein anderer Grund existiert, weshalb Sie mich aufgesucht und meinen Rücktritt wünschen.«

Ein leichter roter Fleck zeigte sich auf der mageren Wange des Revolutionärs – er erkannte, daß die edlere Natur seines Gegners ihn zur Offenheit zwang. »Wohl, Signor,« sagte er, »Sie haben recht. Wie auch Ihr Entschluß auf mein aufrichtig gemeintes Anerbieten lauten mag, Sie sind mir gleiche Offenheit schuldig, mit der ich Ihnen unsere Pläne enthüllte. Sie sind im Besitz eines Geheimnisses, das den Leitern der Unsichtbaren nötig ist. Es fehlt ein Glied in unseren Konjunkturen, es existiert etwas, das uns irre macht in unseren Kombinationen und das uns bis jetzt verschwiegen blieb. Es ist etwas in Paris beraten, beschlossen worden, das wir nicht kennen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Sie im Besitz dieses Geheimnisses sind, Ihre Unterredung mit dem Kaiser – Ihre plötzliche Sinnesänderung, Ihr Verweilen hier im Lager, das Ihre Mitteilungen über Ihren Enkel nicht mehr genügend erklären –«

»Und was führt Sie überhaupt zu der Annahme, daß ein solches Geheimnis existiert?«

»Der Mangel jeder Vorbereitung Frankreichs auf den Fall, daß Sebastopol nicht fällt! – Die ausgestreuten Gerüchte einer zweiten Überwinterung, eines neuen Heerlagers bei Konstantinopel können nicht bemänteln, daß man gar keine Anstalten dazu getroffen. General Pelissier verzögert es selbst, für einen notwendigen Fall der Wiedereinschiffung der Armee durch eine stärkere Befestigung von Kamisch zu sichern, während die Engländer dies aus allen Kräften mit Balaklawa getan haben. Entweder, Napoleon muß des Falles von Sebastopol sehr sicher sein, oder –«

»Daß er es ist, zeigt sein Brief vom 20. August an die Armee.«

»Was er über die Lage der russischen Streitkräfte und der Festung durch die beiden Spione in Berlin und den Verrat der Briefe aus der Umgebung des Königs von Preußen erfährt, wissen wir auch – aber das genügt nicht, um die Chancen des Kriegsglücks mit Bestimmtheit zu berechnen.«

»Oder –«

»Oder es existiert ein geheimer Pakt – kurz, Sie müssen um das Geheimnis wissen!«

»Ich kenne es!«

»So werden Sie sich erinnern, Graf, daß jede Wissenschaft der Unsichtbaren den Oberhäuptern gehört.«

»Signor,« sagte der Veteran entschlossen, »die Tage, die ich noch zu leben habe, sind gezählt, und ich fürchte deshalb die Dolche der Unsichtbaren nicht. Mein Entschluß ist deshalb gefaßt. Die Gewalt, die Sie mir bieten, soll der Preis des Geheimnisses sein, das Sie wünschen. Ich kann ihn nicht annehmen, ich habe Ihnen meine Gründe gesagt. Aber Sie sollen es haben für einen anderen Preis – den einzigen, gegen den ich es verkaufe.«

»Lassen Sie hören.«

»Ich schulde dem Kaiser Napoleon ein Leben – das Meine, und eine Güte – meinen Enkel. Geben Sie mir die Erlaubnis, ohne den Täter zu kompromittieren, gegen den Mordversuch zu warnen, und versprechen Sie mir, nicht weiter durch Meuchelmörder gegen ihn zu kämpfen, und das Geheimnis ist das Ihre.«

Der Italiener dachte nach. »Schwerlich kann ihn Ihre Warnung noch zur rechten Zeit erreichen – und sie muß ohnehin zu unbestimmt sein, dergleichen werden ihm und seinem Herrn Pietri täglich zugehen.«

»Der Erfolg steht in Gottes Hand!«

»Wohlan, ich will es wagen, und verpflichte mich mit meinem Ehrenwort, aber merken Sie wohl, nur auf zwei Jahre!«

Der Greis öffnete seinen Rock und zog unter dem Hemd ein flaches blechernes Kästchen hervor, das an einer Schnur um seinen Hals hing. Er öffnete es und nahm einen im offenen Kuvert steckenden Brief heraus, den er entfaltete und vor den Abbé legte, ohne ihn aus den Händen zu geben.

Der Brief enthielt nur die Worte:

»Ich wiederhole den bestimmten Befehl, den Rückzug der russischen Armee von der Südseite Sebastopols in keiner Weise zu gefährden.

Napoleon

Der Abbé ließ das Blatt los. »Also ein Traktat zwischen Rußland und Frankreich noch vor Entscheidung des Krieges! Man hat sich geeinigt und die Fortsetzung der Belagerung ist ein bloßes Spiel?«

»So scheint es – ich habe nur versprochen, sobald es nottut, von dieser Order Gebrauch zu machen.«

Der Italiener schwieg einige Augenblicke. »Die Gewißheit schon,« sagte er dann, »ist wichtig – sie ändert alle unsere Pläne im Norden. Leben Sie wohl, mein Herr, ich werde mein Wort halten, nach zwei Jahren werden wir andere haben, wie wir jetzt Bellamare haben. Leben Sie wohl – Ihres Schweigens wenigstens sind wir sicher.« In der Tür stieß er auf den Vicomte, der eben vom Pferde stieg.

Der Pole empfing seinen jüngeren Freund mit sichtlicher Freude. Der Vicomte nahm seine Hand und führte ihn in die Baracke. »Wo ist Sir Edward?«

»Er verließ mich diesen Morgen, ohne bis jetzt zurückgekehrt zu sein. Ist der Beschluß des Kriegsrats ein Geheimnis?«

»Nicht für Sie,« berichtet der Colonel. »Für morgen Mittag ist der Sturm auf der ganzen Linie bestimmt, mein Regiment wird die Reserve gegen den Malachof bilden.«

»Das Blutbad wird entsetzlich sein.«

»Wir sind darauf gefaßt. Jetzt muß ich meine Vorbereitungen treffen, die strengste Vorsicht ist befohlen, damit es uns gelingt, die Russen zu überraschen. Man ist in den letzten Tagen wieder feindlichen Spionen auf die Spur gekommen, und es ist der Befehl gegeben, alle verdächtigen Personen sofort zu verhaften und wenn sie sich nicht ausweisen können, zu erschießen. Auch Agenten der revolutionären Propaganda sollen sich im Lager zeigen und die Mißstimmung der Soldaten und Offiziere aufreizen. General Pelissier hat sogar auf unser Korps besonders hingedeutet. Das erinnert mich daran, daß ich den Schurken Lebrigaud alsbald nach dem Hauptquartier zu senden versprochen habe. Er ist einer der alten Zephyre des Generals, und der Adjutant sagt mir, daß er ihn sprechen wolle, wahrscheinlich um ihm ein Geschenk zu geben. Wir treffen uns wohl in einer Stunde in der Kantine Ninis, Herr Graf?«

»Ich muß sogleich nach Kamiesch,« sagte dieser, »und werde Sie daher erst am Abend wiedersehen. Sie rücken doch vor morgen nicht aus?«

»Nein, wir nehmen morgen noch die letzten Orders in Empfang!«

»Auf Wiedersehen also, Colonel!«


Es war am Abend; um die Kantine der jungen Marketenderin hatten sich zahlreiche Gruppen gesammelt, denn es war soeben darin ein kurzes Kriegsgericht über einen ertappten Spion gehalten und dieser zum Erschießen verurteilt worden. Der Unglückliche hatte sich unter der Maske eines armenischen Händlers mit seinem Knaben in Kamara und dem sardinischen Lager umhergetrieben, und gerade diese Kleidung hatte zu seiner Entdeckung beigetragen, da aus dem Hauptquartier geheime Warnungen gegen einen gefährlichen Agenten der Propaganda an demselben Tage erlassen worden. In Kamara war der Verdächtige zwar verschwunden, ehe man sich seiner versichern konnte, dagegen wurde er in den französischen Linien auf dem Sapun der Zuaven ertappt und von einem Soldaten als der Zigeuner wiedererkannt, der im vergangenen Sommer in der Dobrudscha den Brunnen vergiftet. Auch der Colonel erkannte ihn wieder, überdies fanden sich mehrere wichtige Papiere bei ihm, die bewiesen, daß er das Spionenhandwerk schon lange im Lager mit großem Erfolg getrieben, und daß er augenblicklich im Besitz aller Nachrichten über den morgenden Sturm war. Die Erbitterung der Soldaten, als sie von der Vergiftung des Brunnens durch die Leichen hörten, war so groß, daß die Wache, die mit dem armen Sünder jetzt aus der Kantine trat, um ihn zur Exekution zu führen, ihn nur mit Mühe vor einem noch furchtbareren Schicksal bewahren konnte. Es war Mungo, der Zigeuner, den die Schwester diesmal nicht zu retten in der Nähe war, Mungo, der endlich seinem Schicksal verfallen. Die Gewöhnung an die Gefahr hatte ihm jetzt eine festere Haltung gegeben als damals, da ihm zuerst der Strick drohte. Mit der Verstocktheit seines Volkes hatte er auch jedes Geständnis über seine Verbindungen im Lager und seine Mitschuldigen verweigert, und schritt jetzt zum Tode, zwar mit scheuem, angsterfülltem Blick, nach jeder Gelegenheit des Entkommens spähend, aber wenigstens ohne weibische Klage. Neben ihm, in der Mitte der Wachen, ging der Knabe Mauro, sein Gefährte bei den meisten seiner kecken Spionagen, und in dem finsteren Gesicht, den zusammengebissenen Zähnen und den feindlichen Blicken, mit denen er die Drohungen und Verwünschungen der Soldaten vergalt, lag der ganze Trotz und Haß, mit denen seine Jugend gegen die Unterdrücker seiner Kindheit erfüllt worden. Das Kriegsgericht hatte in Anbetracht seines Alters entschieden, daß er der Hinrichtung seines Gefährten beiwohnen, dann gepeitscht und ins Bagno von Konstantinopel abgeliefert werden sollte.

Zugleich verließen die Offiziere, die das Kriegsgericht gebildet, die Kantine. Der Adjutant des General Wimpffen reichte dem Vicomte die Hand. »Berichten, Herr Oberst,« sagte er, »werden wir auf alle Fälle an General Bosquet, vielleicht den Generalissimus müssen. Doch wird dazu die Abschrift der betreffenden Stelle genügen, wir haben kein Recht, indiskreter als möglich mit dem Brief einer Dame zu sein, besonders unter so traurigen Umständen. Behalten Sie also einstweilen den Brief und befragen Sie Ihren Freund, den Medizin-Major, sobald er aus dem Lazarett von Kamiesch zurückkehrt, ich zweifle keinen Augenblick, daß er jede genügende Aufklärung wird leisten können.«

»Ich verbürge mich mit meiner Ehre für die seine.«

»Gewiß, gewiß – das Ganze ist offenbar eine Privatangelegenheit, und wir durften sie nur um seiner selbst willen in Gegenwart der Offiziere nicht fallen lassen. Auf morgen denn, vor dem Malachof, der Ihr Patent einweihen wird!« Er ritt davon, während der Colonel zur Kantine zurückkehrte, um die Meldung der vollzogenen Exekution abzuwarten.

Während der Sergeant-Major Fabrice die Papiere des Gerichts auf dem Feldtisch zusammennahm, ergriff der Vicomte den verhängnisvollen Brief, den man mit verschiedenen verräterischen Notizen bei dem Spion gefunden hatte. Er war an den russischen General-Stabs-Kapitän v. Meyendorf in der belagerten Festung gerichtet und lautete:

»Mein Freund!

Im Angesicht des Todes – ich selbst eine dem Tode Geweihte, – richte ich die letzten Worte an Sie auf dieser Welt. Der Mann, der mir Ihren Namen nannte, den Sie sandten, nach mir zu forschen, wird Ihnen diese Zeilen überbringen.

Unsere Liebe, unser Glück wurde das Opfer eines Teufels. Von seinem Schmerzenslager, auf das die Wunde ihn warf, die Ihre rächende Hand in der Tschernaja-Schlacht ihm geschlagen, höre ich bis hierher den Verworfenen seine Flüche auf Sie und mich brüllen. Man will es mir nicht sagen, aber ich glaube, daß sein Haß mich absichtlich mit dem Pesthauch seiner Krankheit vergiftet hat, während ich meine Pflicht an seinem Lager tat. Das fühle ich, daß meine aufgezehrten Kräfte mich nur wenige Stunden noch von der Ruhe trennen, die mein zerrissenes, gebrochenes Herz begehrt.

Denn erst seit Tagen weiß ich durch die Geständnisse seines Fiebertobens und den Freund, den Gott an meine Seite stellte, am Krankenbett, wie am schrecklichen Traualtar, ohne helfen zu können! – daß mein Opfer ein nutzloses, daß ich auch damit hintergangen war! – Doktor Welland, der Sie rettete in Widdin und Ihre Flucht bewerkstelligte, der in Silistria mit Ihnen in Verbindung stand und den ich als Regimentsarzt der Zuaven vor Sebastopol wiederfand, hat mir alles klar gemacht und mir auch gesagt, daß er Ihnen Botschaft gesandt, wie nahe wir uns. Aber das Leben entflieht und die Sterbenden haben Eile, darum sende ich meine letzten Grüße nicht durch ihn. Der Allmächtige gebe, daß Ihre Pflicht Sie morgen auf der Nordseite zurückhält und fern von den Gefahren, mit denen um 11 Uhr ein allgemeiner, sorgfältig verheimlichter Sturm den Malachof und alle Ihre Bastionen bedrohen wird. Wahren Sie Ihr Leben, um dem Gedächtnis derjenigen eine lange, lange Erinnerung weihen zu können, die selbst als die Gattin eines anderen – des Vampyrs, der mein Herzblut gesucht – nie aufgehört hat, Sie zu lieben und die Ihre Liebe hinüber nimmt in die ewige Zeit, wo keine Trennung ist! Meine Hand ermattet – das letzte Lebewohl, Alexander! – bis zum Wiederfinden dort oben!

Helene

Er las den Brief wieder und wieder, und dachte betrübt an die Herzen, die rauh das Schicksal trennt und voneinander reißt! Er dachte traurig der eigenen in den Geschicken der Völker versinkenden Liebe! –


Erst gegen Mitternacht kehrte Doktor Welland von Kamiesch und den anstrengenden Vorbereitungen für den morgenden Kampf zurück; mit ihm der Baronet und der polnische Oberst. – Während der Vicomte dem Arzt den Brief zum Lesen einhändigte und ihn von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzte, erschien der Sergeant-Major Fabrice Tonton mit einer dringenden Meldung. Er zeigte an, daß der Zuave Lebrigaud, vor einer halben Stunde im trunkenen Zustand zurückgekehrt, prahlerische Reden führe, die auf ein gefährliches und wichtiges Vergehen schließen ließen. Die Ausdrücke, die der Feldwebel berichtete, machten die Aufmerksamkeit des Vicomte rege und er befahl, den Kerl ihm vorzuführen.

Der Lüderjahn erschien alsbald, von Bourdon und Bernaudin geführt, mit der unverschämten und unbesorgten Miene, die all sein Tun begleitete, und der erste Anblick schon bewies, daß er stark getrunken hatte.

»Ah, mein Kommandant – nein, mein Colonel, ich grüße Sie!« sagte der Bursche, halb taumelnd salutierend. »Was steht zu Befehl, mein General, Ihr Befehl ist vollzogen und das Geld redlich verdient!«

»Wo kommst Du in diesem Zustande her? Du bist total betrunken.«

»Ah, mein General –« der Lüderjahn hielt offenbar den Vicomte für einen anderen, – »es ist eine verfluchte Fahrt auf dem Grunde des Meeres, und man hat wohl das Recht, sich da einen Spitz zu trinken. Der Wein von Konstantinopel ist verflucht gut! Fichtre – die Burschen paßten mir arg auf, ehe ich sie überlisten konnte! Dreimal mußte ich tauchen, ehe ich das höllische Tau fand! Dieu me punisse! Wenn ich nicht meine Jugend am Strand von Marseille zugebracht – es wäre unmöglich gewesen. Aber Peste! General, Sie kennen Ihre Leute und erinnern sich der kleinen Fähigkeiten Ihrer Zephyre!«

»Was hast Du getan, was sollen die Reden?«

»Ei, General,« lachte vertraulich der Hallunke, »stellen Sie sich doch nicht so – das Tau des hundsföttischen Tele-Grafen ist durchschnitten, mindestens hundert Klafter vom Ufer weit, und die Narren werden zu tun haben, die Enden wieder zu kriegen. Ich fand zum Glück einen Nachen, aber spät, General – sie paßten auf den Dienst und ich durfte doch erst im Dunkeln ans Werk!«

»Schurke – Du hast den Telegraphendraht zerstört?«

»Den Teufel, ja, General, stellen Sie sich doch nicht so, als ob Sie's mir nicht befohlen hätten. Sie wußten recht gut, daß ich mit jedem Seewolf um die Wette tauche! – Geben Sie mir die zehn Napoleons, General – die anderen sind – hui! Weiß der Henker, wo das Geld bleibt!«

Der Oberst wechselte mit den Freunden erschrocken erstaunte Blicke, dann winkte er dem Sergeanten und Korporal, zurückzutreten, und den Trunkenen beim Arm fassend, sagte er mit unterdrückter Stimme zornig: »Du zerschnittest das Tau auf den Befehl des General Pelissier?«

»Versteht sich, General, Sie befahlen es ja selbst heute mittag, als wir allein waren,« er schaute den Offizier mit gläsernen, erstaunten Blicken an, dann schien ihm die Wahrheit emporzudämmern. – » Peste!« stammelte er – »ich glaube, ich bin ein Dummkopf gewesen – Sie sind nicht der Kommandant der Zephyre, nein, richtig, Sie sind mein Colonel! – Verdammt!« Er begann sich hinter den Ohren zu kratzen und auf die Lippen zu beißen, der Schreck fing an, ihn nüchtern zu machen.

»Nehmen Sie diesen Kerl und übergeben Sie ihn dem Profoß,« befahl der Colonel dem Sergeant-Major. »Daß kein Mann mit ihm zu sprechen sich untersteht. Wagt er selbst noch einen Laut von sich zu geben, so stecken Sie ihm einen Knebel in den Mund. Sie Drei beobachten strenges Schweigen über alles, was Sie gehört. Fort mit ihm, ich werde ihn selbst morgen in aller Frühe nach dem Hauptquartier begleiten.«

Er winkte, und der Zuave wurde, vielleicht zum ersten Male in seinem Leben, verdutzt und bestürzt abgeführt.

Als sie allein waren, wandte der Oberst sich zu dem Arzt und den Grafen. »Was halten Sie von den Geständnissen des Burschen?«

»Es sähe General Pelissier ähnlich,« sagte der Arzt. »Man erzählt noch ganz andere Willkür von ihm, und er wünscht wahrscheinlich für den morgenden Sturm und seine Folgen sich allen Befehlen von Paris zu entziehen. Aber mein Gott, was fehlt Ihnen, Graf – was bewegt Sie so tief?«

Der alte Mann, indem er sich mit dem Zeichen der größten Aufregung in den Stuhl warf und die Hände faltete, stieß den Brief der Gräfin, den der Arzt auf den Tisch gelegt, herunter, daß er im Luftzuge der geöffneten Tür einige Schritte davon flog.

Im Winkel saß der irre Iwan, ohne daß man auf seine Anwesenheit geachtet. Seine Blicke waren fest auf den Brief geheftet gewesen, dessen Inhalt der Arzt laut gelesen, – sein bleiches, abgemagertes Antlitz zeigte die Züge der äußersten Spannung, in seinen Augen blitzte es wie Wetterleuchten der immer mehr und mehr sich losringenden Seele, wie ein Entschluß, ein Wille des zurückkehrenden Verstandes. Leise, mit den Schritten einer Katze, schlich er im Schatten dem Gegenstande seines Verlangens zu – noch eine Bewegung – er streckte die Hand danach – »Elf Uhr! Der Zug geht ab! Ich komme noch zu rechter Zeit!«

»Es liegt ein Fluch auf allem, was ich tue!« sagte der Greis. »Diese unglückselige Tat wird die traurigsten Folgen haben. Der Kaiser –«

»Was ist mit ihm? Reden Sie!«

»Wenn die Depesche, die ich nach Paris absandte, nicht schon abgegangen, bevor der schmähliche Streich verübt ward, ist der Kaiser verloren und Pelissier trägt die Schuld. Doch – die Leben der Fürsten liegen in der Hand Gottes, sie mag ihn schützen, wenn sie will – meine Schuld ist abgetragen – hier aber, hier soll der Ehrgeiz und der Eigenwille eines Untergebenen nicht breitere Ströme von Blut vergießen, als der Wille des Gebieters gefordert! Gott sei Dank, ich kann den General zwingen, dem Entsetzlichen Einhalt zu tun, und unter den Geretteten wird der Allmächtige mir das Leben meines Enkels bewahren!«

»Sie sind außer sich, Graf – General Pelissier muß seine Pflicht tun gegen den Feind und diese fordert dessen Vernichtung.«

»Törichte Männer,« sagte hohnlachend der Pole, »wißt Ihr nicht, daß all dies Blut, diese Leben nur einem leeren Spiele geopfert werden? daß der Friede zwischen den Herrschern längst geschlossen und Ihr nicht für Frankreich kämpft gegen Rußland, sondern für Eure Thorheit, Eure Fahne auf zerschossene Wälle zu pflanzen, deren Besitz dem Feinde bereits wieder gesichert ist?«

»Entsetzlich – diese Ströme von Blut, die täglich vergossen werden –«

»Sie haben keinen Zweck, als das kaltherzige Spiel der Diplomatie! Spiel – grausames, herzloses Spiel ist alles im Leben, – der Republikaner spielt mit den Köpfen seiner Brüder für törichte, unausführbare Ideen, und der Autokrat türmt Berge von Leichen seiner Getreuen um einer stolzen Salve willen vom Invalidendom her! Soldaten meint Ihr zu sein, Krieger für Recht und Ruhm? – Gladiatoren seid Ihr, die der Imperator in die Arena schickt zu seiner Lust, und die, wenn Nero gesättigt, noch vom Ehrgeiz seines Centurionen zur Schlachtbank gepeitscht werden!«

Er sank erschöpft zurück in die Arme der erschütterten Offiziere; draußen aber vor dem Eingang der Kantine erschollen die Tritte eines Pferdes, der Ruf der Schildwache und die Antwort: »Ordonnanz aus dem Hauptquartier! Depesche für den Oberst des dritten Zuaven-Regiments.«

Der Vicomte nahm sie selbst dem Boten ab, bescheinigte den Empfang und öffnete sie in Gegenwart der Freunde. Sie war von dem General-Stabs-Chef Martimprey gezeichnet und lautete: »Colonel Méricourt hat sich mit dem Medizin-Major Welland morgen früh 7 Uhr bei dem Generalissimus zu melden und die Führung seines Regiments auf den angewiesenen Posten dem ältesten Major zu übertragen.«

»Das kommt meiner Absicht zuvor,« sagte fest der Colonel, »und gewiß, ich werde nach dem was wir gehört, zur Stelle sein.«

»Und ich werde Sie begleiten,« sprach der Graf, »ich werde morgen sein Schatten bleiben.«

»Aber der Befehl, der uns bescheidet, hat offenbar Bezug auf die Verhaftung des Spions,« fügte Welland hinzu. – »Nahmen Sie den Brief zurück, Colonel? Ich legte ihn hierher.«

»Nein!«

Der Brief war verschwunden. Jean – der Irre, der Schützling Ninis, mit ihm. Sie schlief sanft und ermüdet auf ihrem Lager.


Der Morgen graute unter dem Zischen und Krachen der Bomben; der Feind hatte in den letzten 24 Stunden an 70 000 Vollkugeln und 16 000 Bomben und Granaten in die Stadt geworfen.

Zwischen den demolierten Weingärten, welche sich von der Meierei Burnasi am Zusammenstoß des Laboratornaja- und Savandanakina-Grundes nach der Spitze der Südbucht hinziehen, zwischen dem großen Redan und der Mast-Bastion, kriecht von Graben zu Graben, von Trümmern zu Trümmern ein armselig Wesen, ein junger russischer Soldat. Er ist waffenlos, seine fast nackten Füße bluten, an scharfen Stein- und Eisensplittern zerrissen. Noch hat die Kanonade nicht begonnen, deren Beantwortung aus den Batterien Perekomski, Stahl und Kostanarof mit einem Hagel von Kartätschen und Vollkugeln sonst den Boden fegt und jede Annäherung unmöglich macht. Nur einzelne Bomben, von der Chapman-Batterie auf dem weißen Berg geworfen, schlagen in den Felsenboden ein oder klatschen weiter hin das Wasser der Bucht. Der junge Mann wendet kaum den Kopf nach ihnen. Einen Augenblick hält er unter den Trümmern einer Feldschanze an, welche die Kugeln zusammengerissen, und hebt den Kopf, um sich zu orientieren. Aber die aus dem Meer und den Schluchten aufsteigenden Nebel hindern ihn, der leise Anschlag der Wellen, den sein geschärftes Ohr in einzelnen Pausen des Bombardements vor sich zur Rechten hört, ist der einzige Halt, den er wahrnimmt. »Ich bin von dem Wege abgekommen,« murmelt der arme Bursche vor sich hin – »das ist nicht die Richtung, die ich dem Fähnrich bezeichnete! Doch Gott und die Heiligen haben bis hierher geholfen und werden mich schützen. – Elf Uhr, ich komme vorher!« – Es ist Jean, der Irre, der in dem sorgsam bewahrten Mantel des Fähnrichs Lasaroff dessen Flucht mit dem kostbaren Brief, den er gestohlen, nachgeahmt. Der arme Bursche hat einen weiten Umweg gemacht, um den französischen Posten und Batterien zu entgehen, die Erinnerung der Kinderjahre, während derer er einige Zeit in der Festung zugebracht, war in ihm aufgetaucht und hatte mit merkwürdigem Instinkt ihn die verborgensten Richtungen geführt.

Eine auffallende Veränderung war überhaupt mit ihm vorgegangen; das Bewußtsein, der Verstand kehrt immer klarer zurück; nur einzelne wüste Sprünge machte der Wahnsinn noch, der ihn so lange befangen. Die deutliche, zusammenhängende Erinnerung fehlte ihm zwar noch, Tage, Monate, Jahre schienen ausgestrichen aus seinem Gedächtnis, nur einzelne Momente daraus stehen deutlich vor seiner Seele, während aus dem Zustand seines Irrsinns ganze zusammenhängende Wahrnehmungen, Beobachtungen und Entschlüsse sich bereits in ihm entwickelten.

Er weiß, daß er Russe ist, daß sein Vaterland in Gefahr, Sebastopol von den Feinden bedroht ist! Er hat erfahren, daß der Malachof die Vormauer der Festung, daß er am nächsten Morgen um 11 Uhr angegriffen werden soll und alles davon abhängt, daß die Garnison zum Kampfe bereit ist. Er weiß, daß dies alles der Brief enthält, den er auf der Brust verborgen trägt und daß seine Bestellung, verbunden mit der mündlichen Botschaft, die Festung zu retten vermag! Das ist der einzige Gedanke, das einzige Ziel seiner wiedererwachten Vernunft!

So schleicht er vorwärts – von Stein zu Stein, von Wall zu Wall, bald kriechend, bald zusammenkauernd, bis plötzlich ein russischer Anruf, die Frage nach dem Feldgeschrei, ihn emporschreckt. Ehe er sich noch besinnen, ehe er eine Antwort stammeln kann, blitzen Musketen vor seinen Augen, knallen Schüsse, ein heftiger, zuckender Schmerz am Kopf wie ein Peitschenschlag; warmes Blut, sein eigenes, strömt über sein Gesicht, und er fällt besinnungslos nieder.

Ihm wird wohler und wohler, er fühlt gleichsam, wie das Fieber von ihm weicht, das bisher sein Gehirn verzehrt. Ihm ist, als höre er um sich her Stimmen; er fühlt sich aufgehoben und fortgetragen. Ein Augenblick lichtern Bewußtseins läßt ihn russische Soldaten, Offiziere und Matrosen um sich, wie durch Nebel, erkennen, einen Wundarzt, der neben ihm kniet und ihn verbindet, er versteht in einer kurzen Pause des Geschützdonners der Batterie Worte, die flüchtig gewechselt werden.

»Es hat nicht viel auf sich, Exzellenz,« sagte der Wundarzt. »Drei bis vier Stunden Ruhe werden ihm vollkommen Besinnung und Kraft zurückgeben. Der dicke Bund um den Zuaven-Fez hat die Kraft des streifenden Schusses gebrochen, und die leichte Blutung tut ihm eher gut, als daß sie schadet.«

»Der Fürst muß erst dieser Tage in Gefangenschaft geraten sein und hat sich offenbar selbst ranzioniert. Aber wir haben keine Zeit, die Sache zu untersuchen, und hier kann er nicht bleiben. Diesen Dienst wenigstens sind wir seiner hochherzigen Schwester schuldig, die, seit das Mütterchen Praskowja Iwanowna auf dem Malachof Kurgan von der Bombe zerrissen wurde, der Engel der Barmherzigkeit für unsere Brüder auf der andern Seite ist. Nehmen Sie vier Mann und lassen Sie den Verwundeten mit einer Trage zum Paulsfort bringen – dort in der Nähe des Lazaretts wohnen die Geschwister, seit ihr Haus von den Kugeln zerstört.«

Wieder krachten die Kanonen und verschlangen halb den Befehl – wiederum schwand das Bewußtsein des Verwundeten, der sich aufs neue emporgehoben und in dem Kugelregen fortgetragen fühlt, der auf die Bastionen und die Trümmer der Stadt herunterprasselt.

Die Hand des Allmächtigen schützt die Träger, schützt die Bahre! –


Stunden verrinnen in dem furchtbaren Toben der Geschütze; stürzende Mauern, berstende, wankende Dächer, das Stöhnen der Verwundeten, das letzte Aechzen der Sterbenden! Kommandorufe, die sich kaum verständlich machen können, das Rollen der Trommeln – die Hölle scheint alle Schleusen ihrer Schrecken geöffnet zu haben.

Auf einem Feldbett in einem kleinen kasemattierten Gemach des Fort Paul, das mit einer anstoßenden Kammer die allgemeine Verehrung, die Iwanowna Oczakoff genießt, ihr und den Ihren eingeräumt hat, liegt der Verwundete, den General Ssemjakin von der Mastbastion hierher gesandt hat. Vor ihm kniet Nursädih, die schwarze Sklavin, beschäftigt, sein Gesicht mit stärkenden Essenzen zu reiben, während ihre Linke das Kind an ihre Brust preßt. Unfern davon – bleich, ängstlich die Wiederkehr des Bewußtseins beobachtend, steht Annuschka – die Witwe de Sazés – mit dem andern Kinde, das Gottes Schickung am Hochzeitstage an ihr Herz gelegt.

Sie zittert heftig – sie allein mit der treuen Nursädih weiß um das Geheimnis, sie hat den Verwundeten erkannt.

Dumpf nur hallt der Kanonendonner in diesem geschlossenen Raum. Plötzlich schlägt der Kranke die Augen auf, seine Blicke sind klar, lebendig. Er richtet sich empor – er schaut um sich, zuerst erstaunt, bestürzt, allmählich bewußter; er erkennt die Frauengestalt am Fuße des Lagers: »Annuschka, treue Annuschka, Du bei mir – sprich, wo bin ich, wo ist Iwanowna, meine Schwester?«

»Fürst Iwan! Gott und die heilige Jungfrau seien gelobt, die Dich uns zurückgegeben. Du bist in Sebastopol, Gospodin, Du warst bei den Feinden Deines Volkes und Dein Geist von der Hand des Herrn mit Schatten bedeckt.«

»Sebastopol! – mein Gott, ja – ich erinnere mich –« er springt vom Lager empor – »der Brief – elf Uhr – die Flucht – das weiß ich! Alles andere ist wirr und dunkel noch in meinem Gedächtnis! Aber der Brief – wieviel Uhr ist es, Annuschka?«

»Zehn Uhr, Batuschka!«

»Zehn Uhr!« Der Ruf gellt schneidend durch das Gemach. »Fort, um Gotteswillen fort! oder alles ist verloren!« Ein hastiger Blick umher zeigte ihm einige Uniform- und Waffenstücke an den Wänden: er reißt sie herunter und ist im Nu damit bekleidet. Annuschka ringt die Hände und sucht ihn vergebens festzuhalten; alle Kraft und Besinnung ist ihm wiedergekehrt, das vergossene Blut hat wohltätig auf ihn gewirkt.

»Um des Erlösers willen, Fürst Iwan, ich lasse Dich nicht! Die Fürstin –«

»Wo ist sie? Wo ist Wassili, Dein Bruder?«

»Heiliger Basilius – Du weißt nicht, daß er für Dich starb?«

»Nichts, Weib, ich weiß nichts, als daß jeder Augenblick Zögerung Sebastopol stürzt.« Er sucht hastig nach dem Brief und zieht ihn von seiner Brust hervor. »Wo ist der Oberkommandant, weißt Du, wo der Generalstab sich befindet?«

»Auf der Sievernaja, Fürst Iwan, ist General Osten-Sacken – wo willst Du hin, Herr, Iwanowna –«

»Das Vaterland vor der Schwester! Wenn Du eine Russin bist, wenn der zehnfache Fluch aller kommenden Geschlechter von Boris nicht auf Dir ruhen soll, gieb ihm diesen Brief, dem General selbst, wenn Du jenen nicht findest! Schrei es durch die Gassen, jedem Offizier, dem Du begegnest, entgegen: Die Franzosen stürmen um Mittag die Stadt, dreißigtausend Feinde stehen verborgen vor dem Malachof!«

»Allmächtiger Gott, und die Fürstin ist auf der Bastion – auf Deinem Posten, Fürst Iwan!«

»Auf meinem Posten? – Wahnwitzige! Ja wohl, ist der meine dort, Sebastopol zu retten! Fort mit Dir!«

Er warf ihr den Brief zu und stürzte hinaus – Annuschka ihm nach. Draußen am Eingang der Kasematten lehnten Olis und Demetri, die letzten der sechs Brüder, zum Schutz der Frauen von der Fürstin zurückgelassen, während der Jessaul sie begleitet hatte, und die erstaunt der wohlbekannten Gestalt nachschauten, die sie fern auf den Wällen wähnten. »Ihm nach,« befahl mit Wort und Geberden die Frau, »weicht nicht von seiner Seite und schützt sein Leben mit dem Euren!«

An den prächtigen, jetzt mit Trümmern und Verwundeten bedeckten Quais und Docks der Schifferbucht entlang floh der junge Mann den wohlbekannten Weg nach den äußeren Verteidigungswerken zu, gefolgt von den beiden Kosaken.

Seit einer Stunde fast hat das heftige Feuer der Belagerer nachgelassen, und nur in Pausen fallen die Schüsse. Die russischen Kanoniere verschnaufen schweiß- und blutbedeckt an ihren Kanonen – die Mannschaften lagern sich um die Leichen ihrer Kameraden zur augenblicklichen kurzen Ruhe: Abteilungen rücken zur Stadt zurück – sie alle glauben, daß die gewöhnliche Ruhe der Mittagszeit eingetreten in dem beiderseitigen Feuer, und obschon auf die Meldung, daß feindliche Truppen die Trancheen vor dem Malachoff anfüllten, einige Truppen von General Chruleff, dem Kommandeur der Karabelnaja-Seite als Reserve aufgestellt worden, hielt man doch nicht den Angriff für so nahe.

Dem Dahinstürmenden, der den begegnenden Offizieren und Soldaten zuschreit, der Malachoff Kurgan sei in Gefahr, wirbelt Trommelschlag in der Nähe der Bjelostok'schen Kirche entgegen. Das Regiment Jelets rückt in die Linie hinter der Batterie Scherve, ein Bataillon des Jäger-Regiments Fürst Warschau, das die Nacht über in der Kornilowski-Bastion geschanzt hat, will die Pause der Kanonade benutzen und zur Stadt zurück. Offiziergruppen sind den Truppen voran – ihnen begegnet JeanIwan mit dem Ruf: »Zurück! Zurück! Die Franzosen stürmen den Malachof!« Man staunt einen Augenblick ihn an; ein Stabs-Offizier springt vor, Graf Wassilkowitsch, jetzt General-Major, der seit acht Tagen mit Verstärkungen eingerückt, eben vom Malachof kommt – » K tschortu, Kapitän Oczakoff, wie kommen Sie hierher? Sie haben Ihren Posten auf dem Kurgan verlassen? Geben Sie Ihren Degen ab, Herr, Sie sind Arrestant!« – Der junge Kapitän faßt seinen Arm. »Meinen Posten? Ich war auf dem Malachof? ich? ich bin soeben aus dem feindlichen Lager entflohen, die Gefahr der Festung zu verkünden!« – Sind Sie wahnsinnig, Herr?« tobt boshaft der Ober-Offizier – »ich verließ Sie vor zehn Minuten auf dem Posten, den ich Ihnen zugeteilt, wie Sie mir einst den Posten auf Schloß Ayu anwiesen. Antwort, Herr Kapitän, wie kommen Sie hierher?«

Da kracht es und schwirrt und tobt und prasselt es durch die Luft, – eine einzige Salve aus neunhundert Feuerschlünden! Drei steinschleudernde Fugassen entladen sich aus den kaum 30 Meter von dem Malachof noch entfernten Approchen und zermalmen die Brustwehren und Merlons in dem ausspringenden Winkel der Bastion. Ein donnerndes » Vive l'Empereur!« jubelt durch den Geschützdonner und ein heftiges Kleingewehrfeuer von links und vorwärts zeigt den begonnenen Kampf.

Durch die Vorstadt herauf kommt General Chruleff mit wenigen Adjutanten gesprengt und wirft sich vom Pferde. Meldungen jagen von allen Seiten herbei, Befehle fliegen davon. »General-Major Wassilkowitsch nimmt die Jäger Fürst Warschau und das Brjanskische Regiment und hinauf mit ihnen zur Korniloffski-Bastion. Fürst Iwan Oczakoff, bringe Sabaschinski an der fünften Abteilung den Befehl, der Turm-Bastion zu Hilfe zu eilen. Fort mit Dir!« Der junge Mann, erschrocken, willenlos vor dem plötzlichen Ausbruche der Gefahr, eilt, dem Befehle Folge zu leisten, davon. – –


Vor der bestimmten Stunde schon hat sich der Colonel Méricourt mit dem Medizin-Major Welland und dem polnischen Obersten im Hauptquartier eingefunden. Eine Wache von zwei Mann geleitet hinter ihnen den Zuaven Lebrigaud mit auf den Rücken gebundenen Händen und verlegenem, trübseligem Gesicht.

Die drei Männer sind ernst und gedankenvoll. Dem unangenehmen Verlust des Briefes ist am Morgen ein anderes seltsames Ereignis gefolgt: der irre Jean ist aus der Kantine Ninis verschwunden, der Bursche, der sich sonst nicht ohne Begleitung fünfzig Schritt über die Baracken-Reihen des Regiments gewagt, ist nirgends zu finden und Nini untröstlich, denn die Pflicht ruft sie in die Reihen ihres Bataillons, und sie will heute durchaus nicht zurückbleiben – eine unbestimmte Ahnung treibt sie.

Doktor Welland beschäftigt dies Verschwinden offenbar mehr, als der neue verdrießliche Verdacht, der auf ihm lastet. Er hat, so viel in der Eile sich tun ließ, die eifrigsten Nachfragen angestellt, ohne indes auf eine Spur zu stoßen, außer daß unter den wenigen Sachen des Armen der russische Mantel fehlte, den er nach seinem eigenen Geständnis von dem jungen Fähnrich zurückbehalten. Zehn Mal treibt es ihn an, die seltsame Entdeckung, die ihm Fürst Iwan bei seiner Flucht zugeflüstert, den Inhalt des von Jussuf heimlich überbrachten Briefes, der ihm mit den dringendsten Worten ängstliche Sorge und Aufmerksamkeit für den Irren ans Herz legt, dem Colonel mitzuteilen. Zwar ahnt er nur die Hälfte des Geheimnisses; er weiß aus den Worten des Fürsten nur, daß Jean ihm nahe stehe durch Bande des Blutes – er weiß zu wenig von den Geschwistern, um eine bestimmte Mutmaßung zu fassen, und seine vorsichtige Nachforschung bei Nini und ihrem Bruder ist an deren Schweigen gescheitert. Aber sein feierlich gegebenes Ehrenwort an den Fürsten bindet ihn und läßt ihn schweigen.

Das Quartier des Generals, halb Zelt, halb Baracke, ist von Stabsoffizieren umgeben, Adjutanten kommen und gehen jeden Augenblick und die Pferde des Generalissimus stehen bereits gesattelt. Auf die Meldung, die der Colonel durch einen der arabischen Leibdiener Pelissiers hineinsendet, kommt jedoch alsbald der Befehl, in das innere Gemach zu treten. Der Colonel befiehlt Lebrigaud zu folgen, während der alte Pole zurückbleibt und sich mit den Offizieren des Generalstabes unterhält.

In der Zelt-Abteilung, die das Kabinett des Ober-Kommandierenden bildet, befindet sich, von dem zweiten Araber bedient, General Pelissier, mit dem Ankleiden beschäftigt, während General Martimprey, sein Stabschef, über einen großen Plan der Festungswerke gebeugt, noch verschiedene Details mit ihm bespricht und ein Adjutant die Punkte notiert.

Die Miene des Generals ist hart und finster, als er die beiden eintreten sieht; aber offenbares und unangenehmes Erstaunen malt sich auf seinem Gesicht, als er hinter ihnen den Zuaven erblickt. Er tritt sogleich hastig auf sie zu. – »Was soll die Freiheit heißen, Kolonel Méricourt, die Sie sich herausnehmen, diesen Burschen in mein Gemach zu bringen, während ich nur Sie und diesen Herrn da hierher befohlen habe?«

»Euer Exzellenz wollen den Drang des Augenblicks entschuldigen,« erwiderte ruhig der Vicomte, »ich wäre auch ohne den eingegangenen Befehl genötigt gewesen, mich Ihnen vorzustellen. Dieser Mann hat sich diese Nacht im Trunke gerühmt, das Seil des unterirdischen Telegraphen bei Kamiesch durchschnitten zu haben.«

»Da hätten wir ja den Täter,« sagte General Martimprey. »Soeben ist die Meldung von dem Unheil eingegangen, das der Bursche angestiftet.«

»Zum Teufel mit dem Telegraphen!« herrschte unwillig der General. »Die Anzeige hätte Zeit gehabt bis morgen, oder an den General der Brigade geschehen müssen.«

»Euer Exzellenz entschuldigen, ich hielt ihn hierher zu führen für meine Pflicht. Der Kerl hat anzudeuten gewagt, daß er den Telegraphen auf Euer Exzellenz Befehl zerstört hat.«

Das Gesicht des Ober-Feldherrn färbt sich dunkelrot bis unter die weißen Haare. Ein wütender Fluch entschlüpft seinen Lippen, auf welche sich tief die Zähne pressen; sein funkelndes Auge fährt zornig bald auf den Colonel, bald auf den Zuaven. » Maudit soit le butoir! Das hast Du gewagt, Schurke?«

Lebrigaud blickt halb trotzig, halb furchtsam auf. »Gesagt kann ich's wohl haben, wenn's der Colonel einmal behauptet,« murrt er, »aber das ist kein Beweis, daß es wahr sein muß! Ich weiß keine Silbe davon und war betrunken.«

General Pelissier läßt einen pfeifenden Ton zwischen den Zähnen hören; man kann nicht unterscheiden, ob er Behagen oder Zorn anzeigt. Ehe er aber noch der Sprache Herr wird, mengt sich der Generalstabs-Chef in die Verhandlung, indem er sich zu dem Gefangenen wendet: »Aber Du gestehst zu, den Draht zerstört zu haben?«

» Fichtre! was hilft alles Läugnen, das Unglück ist mir passiert – beim Baden. Ich tauche ziemlich gut und blieb hängen an dem verfluchten Strick; er oder ich! Da dacht ich, es wäre besser, daß der Kaiser einen Zuaven behielte, der heute die Fahne auf den Malachof pflanzen kann, als daß ich da unten im Grunde wie an einem Angelhaken hängen bliebe. Zur Niederschlagung auf den Schreck hab ich ein Paar Flaschen getrunken und da vielleicht dummes Zeug geschwatzt, um mich vor Strafe zu schützen. An einer Lüge stirbt ein Bursche wie ich nicht gleich!«

»Nein, der Schlag müßte Dich denn jetzt gerührt haben!«

»Lassen Sie den Burschen, Martimprey,« sagte der Generalissimus, »die Entschuldigung läßt sich hören. Mach', daß Du zu Deinem Regimente kommst, Kanaille, und wenn Du heute Mittag nicht der Erste im Sturm bist, so laß ich Dich morgen schinden. Fort mit Dir!«

Der Hallunke läßt es sich nicht zweimal sagen und mit einer halb spöttischen Verneigung verschwindet er, während die anderen Anwesenden sich betroffen ansehen.

»Und nun zu Ihnen, mein Herr, der Sie mit solchen Lappalien die kostbare Zeit rauben,« fährt der General den Offizier an. »Ich habe gestern Abend noch mit General Bosquet über den Bericht des Generals Wimpffen gesprochen. Dieser Herr da« – er deutete auf den Arzt – »hat schon früher sich verdächtig gemacht und ist in Varna unter dem Verdacht des Verkehrs mit dem Feinde verurteilt wurden. Wo ist der Brief, der die Bestätigung der Spionage enthält und den man verkehrter Weise in Ihren Händen gelassen, der Sie der Freund und Gönner dieses sauberen Herrn sind?«

Das Gesicht des Kolonels entfärbte sich. – »Exzellenz, ein unglücklicher Zufall hat das Papier verloren gehen lassen, aber ich beteuere auf meine Ehre …«

»Wenn mir Eure Exzellenz Gehör gestatten wollen,« fügte der deutsche Arzt hinzu, »so …«

»Schweigen Sie! Wer mit den Russen verkehrt, ist ein Feind! Diese deutschen Eindringlinge waren stets Verräter gegen Frankreich. Sie sind Ihres Dienstes entlassen und werden mit dem ersten Schiff nach Konstantinopel die Krim verlassen.«

»Das ist eine Ungerechtigkeit, Exzellenz! Ohne Untersuchung, ohne Verteidigung meiner Ehre …«

»Danken Sie es diesem Herrn hier,« schrie der General, »der so geschickt zur rechten Zeit die Briefe seiner guten Freunde verliert, während er Verleumdungen seiner Vorgesetzten protegiert, daß ich Sie nicht dem Kriegsgericht übergebe, wie ich es gewollt. Und Sie, Kolonel, schämen Sie sich der Freundschaft für so zweideutige Gesellen. Wenn das die vielgerühmte Treue für den Kaiser ist, die die adeligen Herrn von der Garde in die Linie mitbringen, so danke ich für solchen Einschub!«

Der Vicomte ist totenbleich, seine Augen funkeln, aber er sucht sich gewaltsam zu fassen, während General Martimprey besorgt näher tritt. – »Mäßigen Eure Exzellenz Ihre Worte,« sagte er endlich, ein Papier aus der Uniform ziehend. »Wer sich seines Verkehrs zu schämen hat, glaube nicht ich zu sein. Wenn Euer Exzellenz meine Ernennung zum Oberst des dritten Zuaven-Regiments unangenehm, so kann ich Ihnen damit entgegenkommen, daß ich Ihnen mein Abschiedsgesuch hiermit überreiche und um seine Beförderung bitte. Ich diene Frankreichs Ehre, nicht einem frevelhaften Spiel mit dem Leben der Armee – und bitte Euer Exzellenz, wenn ich den Sturm überlebe, mein Kommando bis zur Entscheidung des Kriegsministers niederlegen zu dürfen!«

»Gleich, Herr! gleich! zur Stelle, wenn's beliebt! Wenn dem Herrn Vicomte der Malachof zu gefährlich scheint, wird jeder bürgerliche Unter-Leutnant gern seine Stelle bei dem Angriff versehen!«

Der Colonel zuckte zusammen. – »Meine Ahnen, Herr General, fochten als Barone bereits mit Auszeichnung in den Kreuzzügen, während die Ihren vielleicht noch vor sechzig oder siebzig Jahren als Schuster hinterm Ofen saßen. Alter Adel hat wenigstens das gute vor den Emporkömmlingen aus dem Plebejertum, daß er sich in allen Lagen als Gentleman zu betragen versteht!«

»Mir das, Herr!?« – in blinder Wut hob der General die Hand, in der er bereits die Reitpeitsche trug.

Der Vicomte trat eine Schritt zurück und legte, ohne ein Wort zu sagen, die Hand an den Säbelgriff. Martimprey fiel dem General in den Arm, und der Arzt umfaßte den Freund und zog ihn halb gewaltsam aus der Tür. Die Offiziergruppen im Vorgemach hatten bei dem Geräusch des bevorstehenden Aufbruchs und der entfernten Kanonade wenig von dem Streit gehört und waren zu gewöhnt an Zornausbrüche des Generalissimus, um viel darauf zu achten. Der Colonel stand noch vor dem Zelt mit den Freunden, einen Augenblick unentschlossen, was er zu tun habe, als General Martimprey ihm nachkam, ihn am Arm faßte und beiseite führte. – »Es tut mir leid, Herr Vicomte,« sagte er, »daß es zu einer solchen Szene gekommen. Aber der Generalissimus hat gestern abend mit Bosquet und heute morgen bereits andere Verdrießlichkeiten gehabt, und die dumme Geschichte mit dem Telegraphen, an der er wahrscheinlich nicht ohne Anteil ist, hat ihn in Wut gebracht. Sie sind ihm indes nichts schuldig geblieben, und er läßt Ihnen sagen, sie möchten an der Spitze des Regiments den Russen nur ebenso begegnen wie ihm. Morgen, so wir leben, wird sich alles ausgleichen und hoffentlich auch für den Doktor da etwas tun lassen. Jetzt eilen Sie fort, denn der General wird sogleich zu Pferde steigen, um die letzte Besichtigung vorzunehmen.«

Der Colonel salutierte höflich, aber kalt. – »Nehmen Sie meinen Dank, Herr General – ich werde meine Pflicht tun, doch, verschont mich auch die Schlacht, der Armee des Kaisers Napoleon werden wir beide nicht länger angehören. Leben Sie wohl!«

Einige kurze Worte noch zu dem polnischen Veteranen, ein bezeichnender Händedruck, dann eilte er mit dem Freunde davon.


Die Verbündeten harrten in drei Angriffs-Kolonnen des Zeichens zum allgemeinen Sturm; alle Dispositionen waren auf's Sorgfältigste getroffen und größtenteils den Russen gänzlich verborgen geblieben, da schon seit dem frühen Morgen ein heftiger Nordwind wehte und große Staubwolken emportrieb, welche die Bewegungen der Franzosen verhüllten.

Die Division Lavaillant auf dem linken Flügel sollte die Zentral-Bastion und ihre Lünetten angreifen, unterstützt von der Division d'Autemarre, welche sich gegen die Mast-Bastion zu wenden bestimmt war, im Verein mit der sardinischen Brigade des Generals Cialdini. Die Divisionen Bouat und Paté mit dem 30. und 35. Linien-Regiment bildeten die Reserven auf dem äußersten Flügel, den Quarantäne-Werken gegenüber; General de Salles führte den Oberbefehl.

Auf der östlichen Seite war der gleichzeitige Angriff gegen mehrere Punkte gerichtet. General Dülac sollte mit zwei Brigaden auf dem rechten Flügel den kleinen Redan stürmen, unterstützt von der Brigade Marolles und dem Garde-Jäger-Bataillon. Der zwischen dem kleinen Redan und der Kornilowski-Bastion (Malachof) gelegenen großen Courtine stand General de la Motterouge gegenüber mit zwei Brigaden, den Voltigeurs und den Grenadieren der Garde unter General Mellinet als Reserve.

Den Malachof selbst und die Batterie Scherve war General Mac-Mahon mit der ersten Division des Bosquet'schen Korps anzugreifen bestimmt, die Brigade Wimpffen und die zwei Garde-Zuaven-Bataillone als Reserve.

Sobald die Franzosen im Malachof sich festgesetzt, sollten auf ein gegebenes Zeichen die Engländer den großen Redan stürmen. Der Erfolg am 18. Juni hatte gezeigt, daß, so lange die Batterien des Malachof den Redan deckten, die Engländer ihn nicht zu nehmen vermocht hätten. General Simpson hatte sich in den kläglichen Anteil gefügt, den Pelissier seinen Verbündeten an dem blutigen Ruhm des Tages zugestanden.

Gegen einen Angriff des Fürsten Gortschakoff von Inkerman und der Tschernaja her waren die Truppen der Generale d'Herbillon und d'Aurelle, die Kavallerie d'Allonvilles und der Rest der Sardinier aufgestellt.

Um 8 Uhr morgens hatten die sämtlichen Truppen ihre Aufstellung in den Trancheen genommen, in denen zum leichtern Vorgehen breite Durchgänge eingehauen waren. Zwei Batterien Feldgeschütz standen in der Lancaster-Batterie bereit, im Galopp heranzustürmen, und vier andere Batterien als Reserve in der Viktoria-Redoute. Jede Kolonne hatte 60 Sappeure bei sich, je ein halbes Bataillon führte Werkzeuge und Bohlen für das Passieren des Grabens und die Kolonne begleiteten 50 Kanoniere, um nach den Ergebnissen des Kampfes die eroberten feindlichen Geschütze zu vernageln oder gegen die Russen selbst zu kehren.

Um 10 Uhr hatte sich General Bosquet auf den gewählten Posten in die am weitesten gegen die Courtine vorgeschobene Parallele begeben, wohin freilich die Schußlinien der feindlichen Geschütze konvergierten, der aber einen vollständigen Ueberblick des Kampfplatzes ermöglichte. Hier erwartete er die festgesetzte Stunde. Ein Signal zum Beginn des Sturmes sollte von der Brancion-Redoute, wo der Generalissimus um 10 Uhr 45 Minuten sich eingefunden, nicht gegeben werden. Alle Uhren der Divisions-Generale waren nach der Uhr des Ober-Befehlshabers gestellt – sobald der Zeiger auf elf Uhr 30 Minuten stand, hatten die drei Angriffs-Kolonnen hervorzubrechen.

Die Russen lagen ruhig und achtlos in ihren Traversen.

Es waren Augenblicke der furchtbarsten Spannung. Die französischen Generale standen aufrecht unmittelbar an den Brüstungen, die Uhr in der Hand, die Offiziere hatten ihre Säbel und Degen gezogen, die Truppen, in gebückter Stellung in den Trancheen, hielten das Bajonett gefällt.

In der äußersten Tranchee, die links nach dem Kirchhof zu, hat das dritte Zuaven-Regiment mit den algierischen Scharfschützen seinen Stand; es ist bestimmt, die Batterie Gervais anzugreifen, und die Zuaven fluchen heimlich, daß die Wahl, die ersten zu sein gegen den Malachof, diesmal ihre Kameraden vom ersten Regiment getroffen habe.

Auf den Säbel gestützt, trotz des furchtbaren Augenblicks in Gedanken verloren, steht der Vicomte. Die leise Berührung einer eiskalten Hand, die sich auf die seine legt, weckt ihn. Aufblickend sieht er neben sich Nini, die Marketenderin. Ihre Augen sind gerötet von Tränen, ihr bleiches Gesicht drückt Angst und Kummer aus. »Haben auch Sie noch immer keine Spur von ihm gefunden, mein Herr? Verzeihen Sie meine dreiste Frage, die Angst zerreißt mein Herz!«

»Sie meinen Jean? Nein, Mademoiselle. Der Bursche wird sich wohl wiederfinden. Doch was tun Sie hier, Nini? Sie gehören zum Nachtrab und nicht in die vordersten Reihen.«

Das Mädchen preßte die Hände auf das Herz und ihr banger, seelenvoller Blick schaute bittend zu ihm empor. »O, lassen Sie mich hier, Monsieur le Colonel,« flüsterte sie – »wissen Sie denn nicht, daß er ein Russe ist?«

»Ein Russe?«

»Ich wußte es zuerst auch nicht, aber später wurde mir's klar. Vor zwei Jahren war er mein Freund und Beschützer in Paris – aber am Abend des 5. Juli traf uns alle ein furchtbares Unglück und seitdem ist er irrsinnig.«

Der Vicomte starrte sie mit Entsetzen an – der 5. Juli – in seiner Seele stieg ein Bild empor – ein Gedanke, selbst halb wahnsinnig und dennoch – all' die sich verkettenden Umstände – er öffnete die Lippen zur weitern Frage –

Da krachte und donnerte es über ihren Häuptern, als wollte der Himmel zerreißen in seinen urewigen Grundvesten. Die sämtlichen Geschütze hatten noch eine Ladung abgegeben. Der Augenblick war gekommen. Die Generale ihren Hut über dem Haupte schwingend, erschienen auf der Brüstung, auf dem äußersten Epaulement der Trancheen zeigte sich das Kommando-Fähnlein Bosquets, die Trommeln wirbelten, die Trompeten schmetterten, ein tausendstimmiges Hurrah erschütterte die Luft – und vorwärts ging es zum Sturm.

Mac-Mahon mit der Brigade Espinasse, das erste Zuaven-Regiment voran, links ihm folgend das 7. Linien-Regiment, warf sich auf den Vorsprung des Malachof und auf die linke Façade der Bastion, dort wo diese mit der Courtine zusammenhing. Der Raum zwischen den Laufgräben und dem Ravelin der Bastion betrug etwa 50 bis 70 Schritt im Sturmeslauf, im Nu ist er überstiegen, der halb verschüttete Graben überschritten, ohne auf die Hilfe der Sappeure zu warten, die Abdachung der Wälle erklommen und der Zuave Lihaut vom ersten Regiment, dem Mac-Mahon die Kommandofahne anvertraut, pflanzt sie im ersten Anlauf auf den Wällen des Malachof auf, um sie sammeln sich die emporklimmenden Tapferen.

Die Russen sind bestürzt – überwältigt, die Brustwehr ist nur mit den Mannschaften der Artillerie besetzt, die an ihren Stücken niedergestoßen werden. Das ganze Innere des Malachof, bis auf die Trümmer des alten Turmes, ist mit hohen Traversen durchzogen, hinter denen die Soldaten Schutz gegen das Bombardement gesucht. Vereinzelt stürzen die Kompagnien des Regiments Praga daraus hervor – ihr tapferer Kommandant Oberst Freund wirft sich mit ihnen dem Feinde entgegen und stürzt verwundet; es ist ein Zusammenstoß Mann gegen Mann, die russischen Offiziere, den Degen in der Hand, stürzen sich auf das Parapet, mit Wort und Geberde ihre Soldaten zum Widerstand ermunternd. Einer nach dem Andern sinkt unter den Kugeln, die aus nächster Nähe auf sie gerichtet werden – aber der Kampf entbrennt jetzt am ganzen Wall. Man ringt Leib an Leib mit einander in wilder Wut, das Bajonett ist unnütz geworden, man schlägt sich mit Kolben und Steinen nieder, mit Schaufeln, Protzstangen und Holzstücken, die man von den Geschützblendungen abreißt.

Doch Schar auf Schar dringt in das Innere der Bastion ein und das Regiment Praga wird geworfen.

Die 5. Division unter de la Motterouge hat ein schwierigeres Terrain, als die Stürmer des Malachof, doch steht sie bald in geschlossenen Massen in der Front der Courtine und nimmt im Anlauf die Batterie von 6 Geschützen de la Poterne, die den Malachof flankirt. Während die Kanoniere die Geschütze vernageln, dringt die Infanterie gegen die zweite Verteidigungslinie vor. Das Kartätschenfeuer der Russen schmettert die Spitzen der Kolonnen und ganze Reihen nieder, aber Nichts hemmt ihren Lauf. Sie ersteigen die Brüstungen, die Kanoniere werden an ihren Stücken erschlagen und die zweite Linie ist erobert, das 11. Regiment dringt bis an die Tore der Vorstadt.

Die Division Dulac hat im ersten Anlauf den kleinen Redan – die (Turm-)Bastion II. – genommen, trotz des furchtbaren Kartätschen- und Musketenfeuers, das Regiment Olonetz zurückgeworfen, einen Teil der Geschütze vernagelt und bereits die zweite Verteidigungslinie und den Uschokowaja-Grund erreicht, der kurz zur Rhede führt. Aber hier wirft sich den Eingedrungenen der Major Jaroschewitz mit einem Bataillon des Regiments Bzelofersk entgegen und drängt sie mit dem Bajonett bis über die Brustwehr zurück.

Das Glück der Schlacht wendet sich, die Russen sind nur überrascht, nicht überwunden. Die Zurückgedrängten sammeln sich unterm Schutz der Reserven. Zwanzig bespannte Feldgeschütze fliegen herbei und eröffneten ihr Feuer, die Batterien des Nordufers werfen Bomben in die Kolonnen, die drei Dampfer Wladimir, Chersones und Odessa lagern sich in die Kilenbucht und schleudern einen Tod und Verderben sprühenden Kartätschenhagel auf den Feind. Die französischen Brigaden wanken, sie wenden sich – vergebens suchen sie sich am schnell verrammelten Eingang des Redan zu halten, – dann in den Gräben, – erst an der ersten Linie der Courtine machen ihre Verfolger Halt. Hier formieren sich die Franzosen auf's Neue, abermals wirbeln die Trommeln zum Sturm und der Kampf um den Redan beginnt zum zweiten Male. General Saint-Pol fällt, General Bisson ist schwer verwundet, wiederum wanken die Angreifer, als die Reserve-Brigade Marolles und zwei Grenadier-Bataillone der Garde unter Pontèves zu Hilfe eilen. Für einen Augenblick sind nochmals die Parapets und Batterieen des Redans in den Händen der Franzosen.

Aber die Russen wissen sehr wohl, daß der Verlust des Redan die Möglichkeit eines Rückzuges über die Schiffsbrücke in Frage stellt. General-Major Sabaschinski mit drei Regimentern der 8. Infanterie-Division wirft den Feind zurück, drei Mal wiederholt sich der Angriff, drei Mal müssen die Franzosen unter dem furchtbarsten Feuer weichen. Die Generale Marolles und Pontèves, der tapfere Führer der Garden, dem Pelissier den blutigsten Posten versprochen, opfern ihr Leben, sämtliche Führer der Kompagnieen der Linie sind gefallen – es bleibt nichts übrig, als der rascheste Rückzug nach dem Graben der Courtine.

Das Schlüsselburger Jäger-Regiment findet die Arbeit bereits getan und wendet sich gegen die Franzosen, auch dort den schnell errungenen Sieg zu behaupten, vergebens rasseln, von Bosquet's letztem Befehl herbeigerufen, die an der Viktoria-Batterie aufgestellten Feldgeschütze über ein Terrain heran, welches das Feuer der Russen vollkommen beherrscht, protzen im heftigen Kugelregen ab, der binnen wenig Minuten zwei Dritteile der Offiziere und Mannschaften niederwirft, und beginnen ein Feuer, das endlich die Kriegsdampfer nötigt, sich zurückzuziehen; – die Schlacht ist auf dieser Flanke verloren und die Division de la Motterouge vermag, nachdem auch der Führer der Garde-Reserven, General Mellinet, verwundet ist, sich nur kurze Zeit noch in der Ersten Enceinte der Courtine zu halten.

General Dülac hat das Kommando an Stelle Bosquet's übernommen, der durch eine schwere Wunde endlich genötigt ist die Kampflinie zu verlassen und sich auf einer Tragbahre nach der Lancaster-Batterie bringen zu lassen. Auch auf der linken Seite der Stadt sind die Franzosen nicht glücklicher. Der Hauptsturm auf die Zentral-Bastion mißglückt, trotz der Aufopferung der Offiziere und Soldaten, ein Angriff der Mast-Bastion wird unmöglich, jeden Augenblick demaskieren die Russen neue Batterieen, Flatterminen zerreißen den Boden unter den Füßen der Stürmenden; die Generale Breton und Rivet fallen, General Trochü wird schwer verwundet, die Fremdenlegion fast vernichtet und de Salles muß den Befehl zum Rückzug geben in das Innere der vorgeschobenen Waffenplätze. Der russische Ober-Kommandant, General Graf Osten-Sacken überzeugt sich selbst von dem Sieg der Seinen auf dieser Seite und eilt dann hinüber zu der Stelle, wo sich das Schicksal des Tages entscheiden muß.

Das ist der Malachof!

Die Zuaven und die algierischen Jäger haben bei dem Angriff auf die Batterie Gervais das Jäger-Regiment Großfürst Michael zurückgedrängt, der Zuave Lebrigaud ist der Erste auf dem Wall und wird schwer verwundet von seinen Kameraden zurückgetragen. Die Franzosen haben sich auf dem verschütteten Graben festgesetzt und schießen durch die Embrasüren, aber das Kostrana'sche Jäger-Regiment eilt der Batterie zu Hilfe, die Kanonen der linken Seite des großen Redan vertreiben die Angreifer von der Batterie Gervais; ein Befehl Mac-Mahons ruft sie zur Unterstützung der Franzosen im Malachof.

Da diese sich hier festgesetzt, geben um 12 Uhr drei Raketen aus der Viktoria-Batterie den Engländern das Zeichen zum Angriff auf den großen Redan. Sie haben eine breite Fläche aus ihren Trancheen zu überschreiten und das Kartätschenfeuer der Russen decimiert ihre aufgelösten Reihen. Die Anstalten der Engländer sind so schlecht getroffen, daß sie kaum 1500 Mann zum Sturm entwickeln, während ihre Reserven untätig in den Laufgräben bleiben. Nur wenige übersteigen die Brustwehr und versuchen, die Faschinen auf den Backen der Embrasüren anzuzünden; das Wladimir'sche Regiment, Anfangs zurückgedrängt, aber bald unterstützt durch Kompagnien der Regimenter Kamtschatka und Jakutsk, wirft die Briten mit dem Bajonett zurück, und das Feld mit ihren Leichen besähend, fliehen diese nach den Trancheen zurück.

Die Schlacht ruht auf dem linken Flügel der Franzosen und auf der Stellung der Engländer, nur um den Schlüssel von Sebastopol, um den Malachof, wird mit gesteigerter Wut gekämpft.

Der Zuaven-Unteroffizier Lihaut hat die ihm vertraute Fahne auf der Stelle verteidigt, auf der er sie aufgepflanzt, – von 42 Büchsen- und Musketenkugeln zerfetzt, aus fünf Wunden blutet der Held, und dennoch wankt und weicht er nicht von seinem Posten. Um ihn haben sich die Kameraden gesammelt und stürmen gegen den Feind; Oberst Collineau, der Kommandeur des Regiments, ist am Kopfe verwundet, aber die Russen sind bis an die Kehle des Werkes geworfen, wo sich rasch die algierischen Truppen in einem Verhau festsetzen.

Jetzt stürmen die Russen wieder heran, Graf Wassilkowitsch, der heimtückische, boshafte Mann, schlägt sich wie ein Held im Innern der Bastion in der Nähe des alten Turmes, auf dem die Schützen postiert sind und ein gefährliches Feuer unterhalten. General-Leutnant Chruleff selbst stellt sich an die Spitze des Regiments Ladoga und stürmt gegen die Kehle der Korniloff-Bastion; er wird in diesem Augenblick verwundet. General-Major Lisenko übernimmt das Kommando und fällt, schwer getroffen, im Eingang der Redoute – General-Major Juseroff läßt sich an der Spitze der andringenden Regimenter töten – General-Leutnant Martineau wird schwer verwundet – vier Mal stürmen die Kolonnen der Russen, das Bollwerk Sebastopol wieder zu erobern – vergebens! – immer neue dichte Massen der Franzosen stürzen sich in die eroberte Bastion, die Brigade Vinoy, – das dritte Zuaven-Regiment, der Rest der Reserven – Mac-Mahon selbst übersteigen den Wall, zu seinen Füßen wird der tapfere Oberst de la Tour du Pin von einem Wurfgeschoß zerrissen; man kämpft mit dem Bajonett, mit den Zähnen, mit der Faust, der Fuß gleitet auf Strömen von Blut und Bergen von Leichen!

In den Trümmern des ehemaligen Kurgan des Malachof, die durch das krenelierte Erdwerk und die soliden Blendungen eine kleine Festung im Innern der Bastion bilden, kämpft mit Glück ein junger russischer Offizier mit etwa 60 Mann, darunter zwei Greise, der Eine in der Tracht der Kosaken, der Andere von riesiger Gestalt in dem Rock der Druschinen. Auf diesen Kurgan stützten sich die letzten Kämpfe der Russen, in seiner Nähe verteidigt General-Major Wassilkowitsch noch immer die Batterie nach der Seite des Redan. Das mörderische Feuer aus den Schießscharten dieser kleinen Bollwerke erregt die Aufmerksamkeit des Generals Mac-Mahon und er befiehlt dem Obersten des dritten Zuaven-Regiments, sie und die Batterie zu ihrer Seite zu nehmen. Auf die Letztere stürzt sich die Masse – ein Säbelhieb des Colonel verwundet den alten Feind, der ihm gegenübertritt, Graf Wassilkowitsch, von den Seinen geführt, wird mit dem Rest der Russen bis an die Kehle der Bastion gedrängt.

Er erhebt sein Tuch – er winkt hinüber nach dem Kurgan, auf dessen Brustwehr der Greis in der Druschinen-Tracht mit einem Kanonenwischer die stürmenden Zuaven niederschlägt.

Der Alte sieht das Zeichen – er springt zurück – durch die breit von einer Kanonenkugel zerrissene Blendung sieht man ihn mit der Rechten eine Lunte schwingen, mit der Linken eine Steinplatte zur Seite werfen.

Da stürzt sich eine jugendliche Gestalt, die bereits aus zwei Wunden blutet, zwischen ihn und die Oeffnung und sucht ihn zurückzudrängen; gleich einem Kinde schleudert sie der fanatische Alte zurück, er hat das Zeichen gesehen, das ihm der Graf gegeben, und will sein Versprechen erfüllen; er beugt sich vor, er hebt die Lunte – da – im letzten Augenblick reißt der junge Offizier das Pistol aus dem Gürtel, und sein Schuß streckt den Alten zu Boden. Sein eigenes Blut hat Michael, den Tabuntschik, getötet und den Mord des Kaisers gerächt. Der Hand Iwan Oczakoffs entfällt das Pistol, sein Auge trifft den Vicomte auf der überstiegenen Brustwehr, den seine Tat gerettet, und er verliert das Bewußtsein, während die Zuaven die letzten Verteidiger des Kurgan hinaustreiben zu Wassilkowitsch's flüchtiger Schar.

Die Sappeure stürzen sich auf die Oeffnung, deren Quader der Tabuntschik gehoben, und entdecken einen Luntengang in die Tiefe, – ihre Schaufeln und Aexte reißen quer vor dem Kurgan die Erde auf und finden noch zwei elektrische Drähte: – das untere Gewölbe des Kurgan ist mit 40 000 Kilogramm Pulver gefüllt, und die Lunte des Roßhirten hätte glorreich die Schreckenstat seiner Jugend gesühnt, wenn die Liebe nicht triumphiert hätte.

Hinter der Kehle der Bastion entspinnt sich ein neuer Kampf zwischen den verfolgenden Franzosen und den Russen, deren Verstärkungen zu einem letzten Versuch herandringen. Dem von zwei Soldaten zurück geführten General-Major Wassilkowitsch begegnet eine eben herbei eilende Kompagnie des Schlüsselburger Jäger-Regiments – Spielwerk der Hölle: – an ihrer Spitze Iwan Oczakoff, dessen Tat im Malachof er eben verflucht. Der Verwundete stürzt auf ihn zu: »Verräter, wo kommst Du her, ich sah Dich blutend sinken im Malachof nach Deiner schändlichen Tat?« – »Im Malachof, mich? ich focht am Redan!« – »Lügner, Dich selbst oder Dein Ebenbild – –« Der junge Offizier faßt ihn an – wie ein Blitz zuckt es durch seinen Geist, die Worte, die Annuschka, die Erinnerung an die Schwester, die er im Drang der Gefahr ganz vergessen – die Erinnerung an sein Ebenbild im Lager am Sapun, dessen Worte ihn zuerst geweckt aus der geistigen Nacht – eine Schlußreihe von Gedanken in einem Augenblick – »Allmächtiger Gott – Iwanowna an meiner Stelle!« Der Graf starrt ihn einen Augenblick an, auch ihm wird mit Blitzesschnelle alles klar: »Verflucht sei die Metze, die, um ihren Buhlen zu retten, Rußlands Sieg geopfert hat!« – Blutiger Schaum stürzt aus seinem Mund, während Iwan Oczakoff ihn von sich stößt und davon stürmt.


Auf seinem Arme hatte der alte Kosaken-Häuptling den jungen Offizier des Kurgan aus den Leichenhaufen getragen und lehnt ihn in einem Winkel der Bastion an die Wand, beschützt von Méricourt und dem Sergeant-Major Fabrice. An der Seite des Bewußtlosen kniet Nini, die Marketenderin, seinen Kopf auf ihrem Schoß – sie reißt, schreiend vor Angst und Schmerz um den geliebten Flüchtling, ihm die Uniform auf – eine volle, üppige, blutüberströmte Frauenbrust quillt ihr entgegen, enthüllt sich allen Blicken! – »Barmherziger Gott – Iwan – Iwanowna!« tönt auch hier der Schrei des Colonels – – da rast es herbei, die Menschenwoge der Franzosen, geworfen auf dem äußern Abhang der Bastion und die tapfern Feinde dringen ihr nach durch die Kehle des Werks noch ein Mal in das Innere des Malachof! Ein Schlachten, ein Würgen ringsum! An der Spitze seiner Jäger stürmt Iwan Oczakoff auf die weichenden Zuaven, – das Auge der Marketenderin trifft auf die bekannte Gestalt, das bleiche Gesicht; sie fährt empor: – »Das ist der Rechte! Jean! Jean, zu mir!« Da knallen die Büchsen der russischen Jäger – da schlagen die Kugeln ein in die Haufen der Franzosen – ein einziger, herzzerreißender Schrei, und auf die Stelle, wo Iwanowna's Haupt in ihrem Schoß gelegen, stürzt mit zerrissener Brust tot die treue Marketenderin. Über den jugendlich schönen Leib hinweg wogt und stürmt der Kampf; der alte Jessaul hat den Augenblick benutzt, den Körper Iwanowna's über seine Schulter geschwungen und ist mit ihm in den Reihen der Seinen verschwunden.

Da kracht es und hebt es sich, als wollte die Erde sich gegen den Himmel bäumen, als wären ihre Grundvesten gelöst, dichte Rauch- und Staubwolken wälzen eine Nacht in den hellen Tag, Trümmer, zuckende Glieder fliegen umher – beide Heere stehen entsetzt und glauben den Malachof in die Luft geflogen und Tausende in seinen Werken und den Reduits begraben.

Allmählich sinken die Staubwolken, der Malachof steht, hoch von seinem Wall flattert noch keck die Trikolore, – nur die Batterie de la Poterne an der Flanke der Courtine und der Bastion ist gesprengt, das Pulvermagazin durch die brennenden Faschinen entzündet worden.

Einen Augenblick noch stehen erschüttert die Gegner – aber schon haben sich die Franzosen gesammelt.

Neue Massen der Sieger des Malachof stürmen heran – die Russen werden geworfen und retirieren in dunklen Haufen aus der Kehle der Bastion, die rasch mit Faschinen geschlossen wird – auch der letzte Versuch ist gescheitert – der Malachof verloren.

General Osten-Sacken erkennt, daß die Wiedernahme der Bastion eine Armee kosten würde – er beschließt, seinen geheimen Instruktionen gemäß, den Sieg auf allen anderen Punkten und die Erschöpfung des Feindes zu benutzen, um die Südseite der Stadt zu räumen, die nach dem Verlust des Malachof nicht mehr zu halten ist. Er befiehlt daher dem General-Leutnant Schepelieff, ohne einen Angriff auf die Kornilowski-Bastion weiter zu versuchen, den Feind daran zu verhindern, von dort in die Stadt zu debouchieren, und bis zur Nacht die zerstörten Gebäude auf dem nördlichen Abhang des Hügels zu halten.

Aber nur ein Trümmerhaufe soll in die Hände der Feinde fallen, wie vor 43 Jahren nur die Brandstätte von Moskau den Cohorten des ersten Napoleon überlassen ward.

Von 5 Uhr ab ist der Kampf nur noch durch die Artillerie unterhalten worden. Bei Eintritt der Dämmerung bemerkt man die dunkelen Kolonnen der Russen über die Schiffbrücke von der Nikolaus-Bastion nach der Sievernaja in ununterbrochener Reihe ziehen. Im Innern des Malachof sind, bereits durch Menschenhände herbeigeschafft, acht Coehorn-Mörser zur Beschießung bereit, mehrere russische Geschütze wieder in Stand gesetzt und General Thiry, der Chef der Artillerie, gibt den Befehl, die Brücke zusammen zu schießen.

Aber nur wenige Schüsse fallen, als ein Adjutant des Generalissimus herbeistürmt und den Befehl überbringt, das Feuer einzustellen und den Rückzug der Russen nicht weiter zu hindern. Graf Lubomirski hat sein Versprechen gehalten, und Pelissier, ihn verwünschend, alle Verfolgungen aufgegeben. Ohnehin wäre sie kaum möglich gewesen, denn Explosion auf Explosion zeigt, wie der abziehende Gegner seine Verteidigungswerke, seine Pulver-Magazine und Gebäude, so wie er sie verläßt, in die Luft sprengt. Rote Flammenmassen wirbeln an hundert Punkten zum Nachthimmel empor. – – –

Doch die ersten Schüsse auf der Brücke haben noch einige Opfer gekostet. Vergebens hat Annuschka, die junge Wittwe, nach der Sievernaja zu gelangen versucht, um den ihr anvertrauten Brief zu bestellen. Truppen füllen die Brücke – sie eilt zurück zum Fort Paul – aber kaum hat sie es erreicht, so verbreitet sich die Nachricht, daß die Franzosen den Malachof genommen haben und in die Stadt dringen. In Todesangst, während Nursädih sich zu folgen weigert, ergreift sie das ihr anvertraute Kind und stürzt auf die Straßen, die zur Brücke der Südbucht und der westlichen Stadt führen, als ein Name mitten in den drängenden Haufen der Soldaten und Bewohner ihr Ohr erreicht: »Meyendorf – Kapitän Meyendorf!« Sie faßt die Hand des Offiziers – sie fragt ihn – er ist der Gesuchte und sie übergibt ihm den Brief, indem sie um seinen Schutz bittet. Aber die Massen trennen sie wenige Augenblicke darauf und vor dem Hagel der Kugeln flüchtet Annuschka unter den Vorsprung eines Hauses, wo ein abgesprengter Stein ihre Stirn trifft und sie bewußtlos und blutend niederwirft.

Kapitän Meyendorf hat noch keinen Augenblick gefunden, den ihm so dringend übergebenen Brief zu lesen; erst als die Kolonnen über die Brücke zur Sievernaja ziehen, benutzt er einen günstigen Augenblick, ihn zu öffnen. Noch hat er die ersten Zeilen kaum überflogen, als ihn der Splitter einer der vom Malachof geworfenen Bomben am Kopfe trifft. Er fällt dicht zur Seite des Oberstkommandierenden – sein letzter Laut ist ihr Name – dieselbe Stunde hat sie vereinigt im Himmelreich!


Es ist Nacht. Der Riesenbrand des Nikolas-Fort zeigt, daß die Pontonbrücke bereits abgebrochen worden – von Zeit zu Zeit noch fliegt ein Pulvermagazin in die Luft – die Zahl der gesprengten beträgt fünfunddreißig.

Zehntausend Leichen – darunter 4 russische und 5 französische Generäle – decken das Schlachtfeld. Jede der beiden Parteien zählt überdies eine gleiche Anzahl Verwundeter oder Vermißter. Von der französischen Garde, die ins Gefecht gekommen, ist die Hälfte getötet und verwundet. An einzelnen Stellen, vor dem Redan, an der Kehle des Malachof, liegen die Leichen zu Hügeln getürmt.

Während die Artillerie und das Genie arbeitet, Batterien zu errichten und die Befestigungen herzustellen, tragen die Soldaten die Leichen in Haufen zusammen und die Chirurgen verrichten bei Fackelschein ihre blutige Arbeit.

Ein Mann, erschöpft, hat diese verlassen und tritt zu einer Gruppe an den Ruinen des Kurgan. Ein Zuaven-Burnus deckt einen am Boden liegenden Körper – es ist Nini's Leiche, deren kalte Hand winselnd Minette, die kleine Katze des Sergeant-Major leckt. Der Alte selbst sitzt kummervoll neben der Marketenderin – sein Arm ist zerschmettert und erst flüchtig verbunden, aber er will die Tote nicht verlassen, bis die Kameraden am Morgen sie holen.

Neben ihm, an die Trümmer des Kurgan gestützt, steht Bourdon, der Sergeant, unverletzt im dichtesten Kampfgewühl, die Augen finster, tränenleer auf den Körper zu seinen Füßen gerichtet. Kolonel Méricourt spricht mit Jussuf, dem Mohren; – er ist mehrfach, aber leicht verwundet, und nach dem Zurückführen des Regiments, dessen Kommando er dem einzigen unverletzten Kapitän übertragen, in den Malachof zurückgekehrt.

Welland, der trotz seiner schimpflichen Entlassung seine Pflicht als Arzt erfüllt hat, reicht dem Freund die Hand, er hat bereits den größten Teil der Ereignisse des Tages erfahren. Der Kolonel bittet ihn, einem jungen Russen seine Hilfe angedeihen zu lassen, den Jussuf, durch die Nennung seines Namens aufmerksam gemacht, an der Kehle des Werkes aus den Leichenhaufen hervorgezogen. Es ist Olis, der Kosak Iwans, oder vielmehr Iwanownas, der an der Seite des jungen Fürsten als letzter seiner Brüder gefallen ist. Der Arzt erkennt bald, daß menschliche Hilfe hier vergeblich ist, und sucht nur den Tod des Armen nach Kräften zu erleichtern. Man hat ihn neben Nini gebettet.

Dann erklärt Jussuf, der Mohr, seinem Herrn den Entschluß, in die brennende Stadt hinabzusteigen, deren Wege er kennt, und bis zum Paul-Fort vorzudringen, wo – wie ihm der Sterbende beschrieben – die Schwester und die Fürstin gewohnt. Eine drängende Ahnung der Seele treibt den Vicomte zur Begleitung an, auch der Arzt erbietet sich dazu, nachdem er sich einige Augenblicke erholt. Russische Soldatenmäntel, um sie im Innern der Stadt unkenntlich zu machen, sind leicht herbeigebracht von den zahllosen Leichen. Als die Gesellschaft das Werk verläßt und Méricourt die ausgestellten Posten mit dem Paßwort befriedigt, gesellt sich stumm, aber entschlossen, Sergeant Bourdon zu ihr.

Es ist ein furchtbarer Gang. In der Nähe der Schlachtfelder Leichen auf jeden Schritt: zwischen Trümmern und verstreuten Kugeln, demontierten Geschützen und Munitionskarren schreitet man vorwärts in ein Chaos der Zerstörung. Aber die russische Armee scheint verschwunden, nur die dunklen Gestalten einzelner Marodeurs schleichen umher, schmerzliches Stöhnen eines Verwundeten und Zurückgelassenen dringt hier und da an ihr Ohr. Brennende Magazine beleuchten von Zeit zu Zeit ihren schaurigen Weg – der Donnerschlag einer aufgesprengten Batterie auf der Westseite zeigt ihnen, daß der Feind wenigstens noch tätig ist in der aufgegebenen Stadt.

So – im Schutz der Dunkelheit oder der grellen Feuersbrunst, der allgemeinen Verwirrung und Zerstörung, die nicht nach Freund und Feind fragen läßt, und in der bergenden Verhüllung ihrer Platschschs – gelangen die kühnen Männer, in den Abhängen an der Schifferbucht sich haltend, in die Nähe des Paul-Forts. Der Umstand, daß es noch nicht gesprengt oder angezündet, beweist ihnen, daß man es noch nicht gänzlich aufgegeben, daß noch menschliche Wesen darin sind. Jussuf schleicht sich voran, die Gefährten in einem Versteck zurücklassend; bald kehrt er wieder, er ist auf keine Gefahr gestoßen, nur auf entsetzliches Leid – und winkt, ihm zu folgen.

Sie gelangen glücklich in den ersten Hof und durch diesen in eine Höhle der Verwesung und des Jammers, in die Lazarette.

Von allen Schrecken des Krieges, die sie erlebt, ist dieser Anblick der schrecklichste, herzbrechendste. Lange Reihen von Verwundeten, mit Toten, ja bereits Verwesenden abwechselnd, haben als rettungslos Zurückbleiben müssen – faulende und verfaulte Körper in ihrem letzten Todeskrampf, dicht an einander gedrückt – ohne Beistand, ohne Pflege, die einen auf der Diele, die anderen auf elenden Bettstellen oder blutgetränkten Strohbunden, aus denen ekle Flüssigkeit sickert. Die Mauern, das Dach des Saales von Bomben gespalten – liegen sie da, die Unglücklichen – viele noch lebendig, während die Maden bereits an ihren Wunden nagen; andere halb wahnsinnig vor Schmerz und Leiden, haben sich dem Eingang zugewälzt, um der Hölle zu entrinnen, und deuten sterbend, um einen Tropfen Wasser flehend, auf ihre Todeswunden. Der beengende Leichengeruch, dieser Gestank von brandigen Wunden, verpestetem Blute, verwesendem Fleische ist grausenhaft über alle Begriffe, selbst der Arzt, der die türkischen Lazarette an der Donau gekannt, schaudert in tiefstem Grauen – Méricourt verhüllt sein Gesicht. »All' dies unsägliche Elend – für welchen Zweck?!« – Endlich gelangen sie in den zweiten Hof – zu der Reihe der kasemattierten Wohnungen. Sie wagen es nicht, einige der wenigen, still und verdrossen umherwandernden Gestalten anzusprechen, um sich nicht zu verraten – Stube auf Stube durchsuchen sie – alle sind leer, oder die Bewohner stumm – auf ewig.

Endlich deutete der Arzt auf ein Licht, das aus dem Gitterfenster einer Mauer leuchtet – man findet die Tür und öffnet sie – ein leiser, monotoner Gesang, eine jener Totenklagen summt ihnen entgegen, die melancholische Melodie der Steppenvölker des Ostens; – sie treten ein: auf einem Feldbett ruht eine halb verhüllte Gestalt, zu ihren Füßen schläft ein kleines Mulattenkind, eine schwarze Frauengestalt kniet daneben, und am Kopfende murmelt der Jessaul, Iwan, der Steppenteufel, seine Totengebete. Der Schein einer Lampe fällt auf das Gesicht der Gestalt auf dem Lager, auf die hellbraunen Locken um das bleiche Gesicht, die festgeschlossene Lippe, das volle Kinn, den entblößten Frauenbusen – es ist Iwanowna, und der Kolonel stürzt an ihre Seite und bedeckt die kalte Hand mit Küssen.

Noch eine andere Szene hat sich im gleichen Augenblick ereignet; – von dem Bruder, der sie emporhebt, gleitet der tränenschwere Blick des armen Mohrenmädchens auf den deutschen Arzt. Da stammelt sie seinen Namen, reißt sich los von dem Bruder und streckt jenem das schlafende Kind entgegen. Er zaudert, er sieht sie mit verwunderten Blicken an, bis sie, mit der Linken das Kind an ihre Brust gepreßt, ihm in dem Strahl der Lampe die andere Hand entgegenhält; auf dem vierten Finger der schwarzen Hand glänzt ihm der Granatreif, das Geschenk seiner Schwester, entgegen, den er der Unbekannten gegeben, die in der süßen Nacht von Madara sein Lager geteilt.

Die Wahrheit überkommt ihn mit überzeugender Gewalt, und er drückt Weib und Kind an die Mannesbrust.

Die Totenklage des Jessaul ist verstummt; flammenden Auges, Angst, Entzücken in allen Zügen, reißt der Kolonel den Freund aus den Armen der schwarzen Sklavin zum Lager Iwanownas – und legt seine Hand auf den Marmorbusen, den so eben seine Lippen berührt. Der erfahrene Arzt fühlt sofort den leisen Schlag des Herzens, das noch pulsierende Leben. Sein Wink entfernt die Anwesenden, mit Ausnahme Nursädih's, und seine geschickte Hand beginnt sofort die Untersuchung der Wunden, die nur unvollständig verbunden sind. Nursädih erzählt ihm, daß der alte Jessaul die Fürstin bis in das Fort gebracht, daß Iwan, ihr Bruder, in rasender Leidenschaft all' ihre unendliche Aufopferung vergessend, mit einem Fluch sie dem Tode überlassen, weil sein Ebenbild Schmach auf seinen Namen gehäuft und der Rettung des Feindes die Rettung Sebastopols geopfert habe, – und daß sie, erschüttert mit gebrochenem Herzen, wieder in jene tiefe Ohnmacht gefallen, die die Unkundigen für den erlösenden Tod gehalten haben.

Nach kaum zehn Minuten kann der Arzt dem Freunde die Versicherung bringen, daß keine der Wunden des hochherzigen Mädchens tätlich ist, daß nur der starke Blutverlust ihren gefährlichen Zustand veranlaßt hat. Eine rasche Beratung der Männer folgt: die Möglichkeit einer Rettung Iwanowna's liegt in ihrer Entfernung aus dem Fort und man beschließt sie zu versuchen. Eine Tragbahre ist rasch aus dem Lazarett herbeigeschafft und von liebenden Händen geordnet. Der Jessaul, dem der Kolonel durch Nursädih volle Freiheit, zu gehen und zu kommen, zugesichert, will die nicht verlassen, die er so lange bewacht. Er und der Mohr nehmen die Trage, an deren Seite der Arzt und der Kolonel sorgsam wachend gehen, während Nursädih voran den nächsten Ausweg aus der Stadt zeigt, ohne das Lazarett nochmals zu berühren, und der Zuaven-Sergeant den Rückzug deckt. Die Hand des allmächtigen Gottes ist über ihnen in den Gefahren der brennenden Stadt, der explodierenden Minen, und als die erste Morgendämmerung über den Höhen von Inkerman dämmert, sind sie bereits im Schutz der französischen Posten.

François Bourdon, der tapfere Zuave, ist nicht allein, auf seinem Arm trägt der Tapfere ein junges Kind, dessen leises Wimmern ihn auf dem Wege durch die Straßen unter die Halle eines halbzerstörten Hauses gelockt und das der leicht zum Mitleid bewegte Soldat aus den Armen einer blutbedeckten erstarrten Frau genommen. Er bringt das Kind dem Regiment, als Ersatz für die jetzt tote Schwester!


Es ist wiederum Mittag – auf dem Malachof-Hügel sitzen drei Männer, ernst und düster auf die zerstörte Stadt, auf die blaue Reede schauend, von der die mächtige Kriegsflotte des Pontus, der Stolz Rußlands verschwunden ist, verbrannt, versenkt in die Tiefen des Meeres, das sie so lange beherrscht. Noch dampfen und rauchen die Ruinen der Stadt, noch donnert in langen Zwischenpausen eine einzelne Explosion und von den Nordforts herüber dröhnt von Zeit zu Zeit ein warnender Schuß.

Einzelne Haufen plündernder Soldaten sind bereits in die Vorstadt hinabgestiegen, aber noch wagen nur wenige, weiter vorzudringen, obgleich man die Stadt jetzt vom Feinde verlassen weiß.

Tausende sind beschäftigt, weite Gräber zu graben, in denen die erbitterten Gegner friedlich neben einander schlafen sollen, bis ein anderer Trompetenstoß sie weckt – zum ewigen Weltgericht. Man muß eilen mit den Leichen, denn die Sonne des Südens brennt verwesend, und giftige Fliegenschwärme umsummen bereits die Toten.

Am Fuße des Malachof-Hügels, zu Füßen der drei Männer, graben Zuaven ein einzelnes Grab – an dessen Seite harmlos ein zweijähriger Knabe spielt. Es ist Nini's Grab, und die Hand des Bruders bettet sie in den Schoß der Erde. Wie Kinder schluchzen die bärtigen, wilden Gesellen, die gleichmütig tausend tapfere Kameraden an ihrer Seite fallen sahen.

Die Augen der drei Männer am Hügel schweifen über die Gräber und über die Trümmer – suchend und suchend – vielleicht bis der Tod sie selbst nimmt. Der eine hat auch den Liebling vor wenig Stunden in die Erde gebettet – er schaut jetzt nach dem letzten seiner Enkel, welches der weiten Gräber vielleicht ihn birgt – denn allein ist Fürst Iwan aus dem Kampfe zurückgekehrt. – Der alte Pole an seiner Seite sucht den einzigen, den Knaben seines Herzens, und sein greises Auge sieht hinüber nach den Felswällen der Sievernaja, als könne es sie durchdringen und erkunden, ob sie den Geretteten bergen? – Der dritte – der stolze Baronet, schaut mit gefalteten Händen, mit unstätem, verzweifelndem Blick auf die riesigen Trümmer- und Todesstätten und ahnt nicht, wie nahe ihm das Ersehnte, wenn die strafende Hand Gottes den Schleier von seinem Auge nehmen wollte.

Drei Männer – Männer im Sturme des Lebens! – die ihr Teuerstes verloren, und zu ihren Füßen die Gräber und die Trümmer Sebastopols!


Die letzte Rose von Charlottenhof.

Zwei Jahre fast sind verschwunden seit der Einnahme Sebastopols, – Frieden sind geschlossen, neue Bündnisse erregen die Welt, der Osten stürzt mit Gewalt in die Kultur des Westens und reißt die fest gebauten Schranken zweier Jahrhunderte nieder.

Die Dynastie der Napoleoniden ist legitimiert durch Visiten und Gegenvisiten, es hat ein Heer von Sternen geregnet, Frankreich hat seinen Sohn, und der Hat-Humayum hat alles beim Alten gelassen. Unter der Asche Italiens lodert die Revolution, und am Ganges zieht das Gericht der Vergeltung herauf für die prahlerischen Wucherer mit dem Blute der Völker.

Was ist anders? – Ein großes Herz fehlt in den Reihen der Gesalbten, und viermalhunderttausend ordinäre Menschen deckt die orientalische Erde!!! – –


Die sonntäglichen Extrazüge haben Tausende müßiger, vergnügungssüchtiger Berliner nach dem Paradiese von Sanssouci befördert, von dem sich der königliche Monarch von Preußen nur den kleinen Raum der oberen Terrasse mit der Sterbestätte seines großen Ahnen bewahrt. Wenn das Leben und Wohnen irgend eines Hofes der Welt öffentlich und dem Volke gehörig ist, so ist es das des königlichen Hauses der Hohenzollern. Der König von Preußen ist ärmer als der geringste seiner Untertanen, denn er hat in der Tat kaum ein eigenes Haus.

Dieser schöne Zug von königlichem Sozialismus zeigt sich durch die ganze erhabene Familie. Fremde und Einheimische erzählen, daß der ritterliche Prinz von Preußen mit dem beau ideal eines künftigen Regenten, dem Prinzen Friedrich Wilhelm, geduldig vor der Tür von Babelsberg, ihrem herrlichen Schlosse gewartet haben, indeß das Publikum neugierig und indifferent ihre Arbeits- und Schlafkabinette beschaute. Eben so hindert auf Sanssouci die dünne Schnur vor dem Zugang der oberen Terrasse nicht den Blick in die Häuslichkeit des mächtigen Fürsten.

Die Kunstschätze und die herrlichen Anlagen des Parks haben heute nicht allein die Menge nach der zweiten Residenz des Königs gezogen. Erhabene Gäste weilen dort, – Namen, auf welche die Welt schaut, eine hohe Frau, jedem Preußenherzen teuer in ihrem Witwenschleier, wie einst unter dem Blumenkranz des Mädchens und unter der Krone des größten Reiches der Welt; – ein Fürst, der eine halbe Erde, sein Erbe reformieren will und den Raum zu dem Versuche findet von der Weichsel bis zum chinesischen Meer, vom Nordpol bis zum Fuß des Ararat, – ein Prinz, der sich im Schlachtgewühl von Inkerman den Lorbeer geholt, den er jetzt in den Myrtenkranz der Braut schlingen will. – – –

Das schöne militärische Fest des Mittags, dem der ganze Hof beigewohnt, ist vorüber, die höchsten Herrschaften haben sich einen Augenblick zurückgezogen, die Hitze hat auch das Publikum vertrieben, und nur einzelne Gruppen von Damen und Herren, meist in reichen Uniformen, bewegen sich in den duftigen Schatten der riesigen hundertjährigen Orangen in den vergoldeten Bronzelauben, während die Wässer der herrlichen Cascadenfontänen über ihr Marmorbecken nieder rauschen und aus dem Meer grüner Baumgipfel der Strahl der Riesenfontäne seine Perlen in die Lüfte streut.

Auf einer der zierlichen Gitterbänke von Gußeisen sitzen zwei Damen, eine ältere mit festen, aristokratisch stolzen Zügen, das Auge beweglich und doch so sicher, die zweite jung, zierlich und elegant gebaut, zu dem hellblonden Haar und der etwas matten, feinen Miene passend. Eine Dritte, imponierend durch ihren Wachs, mit dunklem Auge die Gruppe überblitzend, stützt leicht die Hand auf den Kasten des nächsten Orangenbaumes.

Vier Herren stehen im Gespräch um sie gruppiert, nur einer davon ist in Zivil, die drei anderen tragen Uniform. Der erste von ihnen ist ein hoher Offizier und schon sehr alt, aber von ungebeugter, martialischer, kavaliermäßiger Haltung. In dem kleinen, von Falten umgebenen Auge, das scharf umherblickt, liegt ein gewisser, gutmütiger Humor, er spricht langsam und mit dem Ausdruck eines, der zu befehlen gewohnt ist.

Der zweite ist ein Garde-Artillerie-Offizier in der vollen, stattlichen Mannesblüte. Sein frisches Äußere imponiert, seine Bewegungen sind die der höchsten Gesellschaft und stellen seinen Nachbar in Schatten, der, obgleich in einer glänzenden russischen Garde-Uniform, die junge breite Brust mit Orden bedeckt, doch zuweilen zeigt, daß das Feldlager und Schlachtgewühl ihm ein gewohnterer Boden, als das Parket eines glänzenden Hofes. Sein interessantes, männlich schönes Gesicht ist eine Verschmelzung slavischer und deutscher Züge.

Der Herr im schwarzen Zivilfrack, auf der Brust eine Reihe von Orden, unter denen das Hohenzollernkreuz ein Herz deckt, das mit jedem Gedanken, mit Wort und Tat auf diese Anerkennung seines Königs ein Recht hatte, zeigt ein gewisses Embonpoint, jene solide Beharrlichkeit geistreicher Genußmenschen. Für die letztere Eigenschaft spricht das runde, kräftige Kinn, für die erstere das blaue, klare und doch scharfe Auge, die rastlose Beweglichkeit dieses höfischen, gemütlichen Proteusgesichtes, das halb Spott und Humor, halb sinnenden Ernst zeigt, ewig wechselnd im Ausdruck nach der Stimmung und dem Stoff, mit dem sich sein Geist augenblicklich beschäftigt.

Der fortschreitende Geist der Zeit hat nicht allein die Völker, sondern auch die Höfe der Fürsten geläutert. An Stelle der Grumbkow's sind Männer wie Humbold getreten, das schönste Zeugnis für den erhabenen Standpunkt Dessen, der ihnen das Vertrauen seiner Mußestunden zugewendet.

»Sie sind uns noch immer den Scherz schuldig, Prinz Kraft,« sagte die sitzende Dame mit dem strengen Ausdruck, »über den unser Hofrat so viel gelacht. Mon Dieu, wäre er nicht für unsere Ohren?«

»Warum nicht, meine gnädigste Gräfin,« erwiderte der junge Offizier. »Ich überbrachte die telegraphische Depesche von Wien, die für morgen die Ankunft Ihrer Majestät der Königin von Griechenland meldet; Seine Majestät meinten heiter scherzend: Das Hotel zum schwarzen Adler wäre in diesem Sommer das besuchteste von ganz Berlin.«

»Wenn Ihre Majestät, die Königin von Griechenland kommt,« bemerkte mit leichter Satyre die hohe Dame am Orangenbaum, »so werden wir Gelegenheit haben, zu erfahren, ob Ihr Herr Caraiskakis oder Grivas noch am Leben, lieber Hofrat?«

»Es ist doch recht abscheulich von Ihnen,« sagte die junge Blondine, »daß Sie das arme Marketendermädchen so grausam sterben lassen. Sie sind sonst ein so herzensguter Mann und lesen uns manchmal so liebe, komische Dinge, daß ich gar nicht begreife, wie Sie so grausam sein können.«

»Also Sie haben das Buch auch gelesen, ma chere!« sagte scharf die ältere Dame, »Sie läugneten es doch neulich auf das Bestimmteste.«

Das reizende Gesichtchen der jungen Baronesse überzog sich mit Rot. »Es fielen mir neulich einzelne Hefte bei meiner Schwester in Berlin in die Hände, deren Gemahl sich dafür interessiert. Die Beschreibungen der Schlachten sind wirklich – wie soll ich sagen, recht unterhaltend, namentlich, wenn man jetzt die Herren vor sich sieht, die darin mitgekämpft. Haben Sie nicht auch die militärischen Schilderungen recht interessant gefunden, Exzellenz?

»Verzeihen, Baroneß,« sagte der alte Feldmarschall trocken, »ich lese dergleichen Zeugs nicht. Ich begreife nicht, wie sich hier der Hofrat, seiner Zeit ein ganz verständiger Soldat, mit so nichtsnutzigem Geschreibsel befassen kann!«

Der Hofrat wehrte mit Hand und Mund. »Ich bitte Euer Exzellenz und Sie, meine gnädigsten Damen, auf das untertänigste, doch endlich Akt zu nehmen von meinem Protest. Ich werde doch gewiß nicht einen solchen Verstoß begehen, ein Buch zu schreiben, in dem allerlei lebende und verehrungswürdige Persönlichkeiten mit so frevelhafter Dreistigkeit behandelt sind.«

»Sie haben recht, lieber Hofrat,« sagte die ältere Dame, »ich traue Ihnen so etwas nicht zu, obschon Sie manchmal gewisse kleine Tücken noch immer nicht ablegen können. Nicht wahr, ma Comtesse, Sie sind auch meiner Meinung?«

Die schöne Dame am Baum klappte mit einem leichten ironischen Lächeln den Fächer zu. »Man hätte am Ende gar noch zu befürchten, selbst zur Staffage der Szenen des unbekannten Autors zu dienen!«

»Himmel! was denken Sie, meine Liebe, – eine solche Anmaßung! Ich schicke Ihnen morgen Ihr häßliches Buch durch meinen Diener zurück, Hofrat, ich mag es gar nicht zu Ende lesen; es war ohnehin unverantwortlich von dem Autor, wer der Herr auch sei, uns so lange mit dem Schluß warten zu lassen.«

»Ich traue Ihnen doch nicht, Hofrat,« sagte der Artillerie-Offizier, »die allgemeine Stimme hält Sie oder den Kabinettsrat für den geheimen Verfasser oder Faiseur, denn es ist unglaublich, daß einem der gewöhnlichen Herren von der Feder alle die Hilfsquellen und Mittel zu Gebote gestanden hätten, die offenbar zu dem Buche benutzt sind.«

»Auf meine Ehre, Durchlaucht«, beteuerte der Hofrat, »Sie tun mir Unrecht. Der Autor, wenigstens der, den ich dafür halten muß und den ich freilich das Unglück habe, zu kennen, war heute im Park. Ich sah ihn unter dem Publikum bei dem Fest.«

»Ei, und Sie zeigten ihn uns nicht? Sein Name?«

Der in die Enge getriebene Hofrat nannte nach einigem Sträuben, als die Hand der schönen Dame sich halb schmeichelnd, halb befehlend auf seinen Arm legte, den bescheidenen Schriftsteller-Namen.

Niemand zollte ihm weitere Aufmerksamkeit, als der Russe; mit der Gewöhnlichkeit eines Namens schwindet ja so häufig das Interesse an irgend einer bis dahin pikanten Erscheinung.

Der russische Kapitän bat den Hofrat, den Namen zu wiederholen, was dieser mit seiner einschmeichelnden Gefälligkeit tat. »Er wird vielleicht ein kleines Interesse für Sie haben, Herr von Potemkin, weil Sie ja selbst jene blutigen Tage so ehrenvoll mit durchgekämpft;« er deutete fein auf seine Orden. »Ja – es ist merkwürdig, ich erinnere mich sogar, daß Ihr in Rußlands Geschichte so berühmter Name in eine Szene an der Donau, ich glaube, bei der Verwundung des Generals Schilder, verflochten ist.«

»Ich stand allerdings bei Silistria und hatte bei Inkerman die Ehre, Seiner Kaiserlichen Hoheit bekannt und deshalb zu Höchstseinem Stabe befördert zu werden. Das Buch, von dem Sie sprechen, mein Herr, ist mir jedoch unbekannt und ich frage nur nach dem Namen, weil er der meiner verstorbenen Mutter ist. Sie war eine Deutsche und mein Vater lernte sie in dem Feldzuge von 1813 kennen.«

»Ihre gnädige Frau Mutter hat vielleicht Verwandte bei uns?«

»Ich weiß es nicht, meine Mutter starb sehr jung – man sagte mir später, an Heimweh. Ich habe nie von meinen Verwandten gehört und mein Kriegerleben hat mich auch von Jugend aus gehindert, danach zu forschen.«

Die Gesellschaft erhob sich, denn es zeigte sich eine Bewegung im mittleren Pavillon und aus den Laubgängen von der Seite der berühmten Mühle von Sanssouci her kam, von hohen Militärs gefolgt, ein majestätisch stattlicher Offizier in der Uniform eines preußischen Ulanen-Regiments. Der Feldmarschall ging ihm sogleich ehrerbietig entgegen.

»Bitte, bester Hofrat,« flüsterte im Vorübergehen die junge blasse Baronesse dem Zivilisten zu, »fragen Sie doch den Herrn, was aus der Fürstin Iwanowna geworden und ob sie sich wirklich noch bekommen haben?«


In der schattigen Allee, nahe der prächtigen und künstlerisch sinnigen Idylle, mit deren Namen ein mächtiger Fürst das Andenken seiner erhabenen Schwester feierte, und die in früheren Zeiten, als der unvergeßliche, heilig verehrte Vater noch die Krone trug, sein Lieblingsaufenthalt war, gingen zwei Männer spazieren, von einem blonden, kräftigen Knaben gefolgt.

Wir sind ihnen früher begegnet – auf der Rennbahn bei Berlin, dem Journalisten mit dem losen Mund und seinem Freund, dem Arzt, der damals nach Sebastopol ging. Er ist zurückgekommen aus den südlichen Steppen des russischen Kaiserreiches, wo er nach dem Fall von Sebastopol sich eine Existenz gegründet hat, um noch einmal die hochbetagte Mutter zu sehen und die Freundin, die treulich auf ihn, den längst in Rußland Verheirateten, in stiller unerkannter Liebe gehofft.

»Sagen Sie mir, lieber Freund«, fragte der Doktor, was ist aus der vornehmen Dame geworden, der wir damals zufällig einen kleinen Dienst erweisen konnten? – Besuchen Sie noch Ihr Haus, wohin der Herr Gemahl Sie eingeladen?«

»Der Graf ist vor etwa zwei Jahren gestorben und hat sie als reiche Frau zurückgelassen. Die Gräfin hat jedoch vorgezogen, die erneuerten Bewerbungen ihres früheren Verehrers zurückzuweisen, und statt am Kap der guten Hoffnung sich unter den Kaffern und Buschmännern anzusiedeln, sich mit einem hübschen an Kindesstatt adoptierten Mädchen auf eines ihrer Güter in Schlesien zurückzuziehen.«

»Lassen Sie mich etwas anderes fragen. Wollen Sie denn Ihr Buch nicht beenden? So viele der lebendigen Figuren, an denen der Leser so reges Interesse genommen, möchte man in ihren weiteren Schicksalen begleiten können.«

Der Journalist lächelte spöttisch, indem er dem Knaben, der neben ihn getreten, das blonde Haar aus der Stirn strich. »Warum denn alles immer erschöpfen bis auf die Hefe der Alltäglichkeit? Sind wir nicht schon Philister genug? Soll ich ihnen etwa erzählen, daß der deutsche Demokrat und seine schwarze Gattin von Mariams Todesgeschenk glücklich und zufrieden unter dem Schutz der despotischen Herrschaft des Doppeladlers in Odessa leben, die schwarze Frau ihrer Liebe und er in weitem Wirkungskreise geehrt und gesucht? – Sie selbst sind dem Paare ja dort begegnet und wissen, daß er den besten Teil erwählt; denn mit der Mohrin am Arm wäre in den Berliner Straßen ihm die löbliche Gassenjugend nachgelaufen und hätte ihn genarrt!«

»Aber Méricourt? Iwanowna?«

»Auf den hohen Berg-Ebenen des freien Daghestan soll ein Haus stehen, halb Palanka, halb Villa, das der Gattin Djemaladins, des verschollenen Tscherkessenprinzen gehört, die er sich geholt in sternenloser Nacht am Ufer des Kuban. Dort wohnt ein fremder Krieger mit seinem Weibe, – sie beide haben Namen und Glanz aufgegeben und mit der Vergangenheit gebrochen; er schwingt den Säbel nicht mehr für Ehre und Fürstengunst, sondern nur, wenn die Gefahr es heischt, für die heiligen Nationalrechte eines freien Volkes; sie vergißt im Arm der Freundschaft den undankbaren Fluch eines Bruders. Ob es Méricourt, ob Iwanowna, das Paar, von dem ich hörte – ich weiß es nicht! Was kümmern mich die Briefe an meinen Verleger, die nach ihrem Schicksal fragen. Wollen Sie die Badeliste von Kissingen lesen, – Sie finden vielleicht Fürst Iwan darin. Durch die französischen und deutschen Blätter lief schon im vergangenen Winter die artige Anekdote von dem Zuavensergeanten, der ein Kind in den Trümmern von Sebastopol unverletzt in den Armen einer blutbedeckten, anscheinend toten Frau fand und mit sich nahm. Eine trauernde Dame – so lautet die Geschichte der Zeitungen – steigt eines Tages, nachdem die Presse viel von dem kleinen Regimentsknäblein der Zuaven erzählt hat, in Begleitung von Freunden an der Kaserne der Rue de la Pépinière ab; sie fragt nach dem Sergeanten B …, man sagt ihr, der Herr Leutnant wohne in der Nachbarschaft. Die Besucher begeben sich dahin. Als die junge Frau in das bescheidene Zimmer des Offiziers tritt, sinkt sie ohnmächtig auf einen Stuhl; sie hat das Kind, das sie zu Sebastopol verlor, am Boden spielend erkannt. Leutnant B. erzählt einfach, was er getan, und indem er die älteren Rechte ehrt, bittet er nur um die Erlaubnis, den Kleinen von Zeit zu Zeit umarmen zu dürfen. Der Bericht fügt bei, daß der Knabe im Hotel der schönen russischen Dame mit dem französischen Namen bald Vater und Mutter haben würde! Sind Sie nun befriedigt?«

»Aber – – – –«

»Kein ›Aber‹, Freund, ich habe schon genug gegen das eigene Gefühl gesündigt. Da blicken Sie hin, ein Stück Geschichte aus der Gegenwart, das interessanter ist, als jede Romanfigur. Die Mütze ab, mein Junge, hier kommen Die, vor denen sie jeder Preuße zieht.«

Equipagen, gallonierte Vorreiter voran, die prächtigen Rappen des Trakehner Gestüts biegen in die Allee und halten vor dem Eingang von Charlottenhof. Ehrerbietig ziehen sich die Zuschauer in die Umgebung des berühmten Rosengartens der Villa zurück. Der prächtige Blumenflor ist zwar längst vorbei, die Hitze des Sommers hatte die Blätter vor der Zeit verdorrt, die Winde haben den Rest in die Lüfte zerstreut und blütenleer stehen die mit seltener Kunst gezogenen und gepflegten Stämme.

Nur an einem Zweig noch blüht in sich entfaltender Pracht eine dunkle Granatrose, gleich einem schimmernden Blutfleck auf dem grünen Gewand der Blätter. Herrlich ist ihr Kelch aufgetan, süß der Duft, der ihr entströmt.

In ehrerbietiger Ferne halten sich die wenigen zufällig Anwesenden, als die hohe Gesellschaft, aus dem grünen Rondell der prächtigen Villa tritt, den leeren Rosengarten durchwandelt. Eine Dame, in ihren Schleier gehüllt, die Farben ihres Kleides blau und weiß, wird von einem jungen, stattlichen Offizier geführt; der hohe Mann, den auf der Terrasse der Feldmarschall begrüßte, geht an ihrer Seite mit einer still freundlichen Dame sich unterhaltend, die selbst auf einem Thron den höchsten Ruhm der Frau genießt, daß nur bei Werken des Segens von ihr gesprochen wird. Ein ältlicher, etwas starker Herr von etwa 60 Jahren, in einfacher Uniform, promeniert, mit einem jungen, reizenden Mädchen plaudernd, voraus. Seine Stirn ist hoch, das runde, offene Gesicht voll Seelengüte und Würde, die von Kurzsichtigkeit und dem Bedürfnis, sich eines Glases zu bedienen, häufig zwinkernden Augen leuchten Humor und Geist. Der Herr bleibt vor der Rose stehen und betrachtet sie durch das Glas. » Ah magnifique! Sehen Sie einmal, schöne Nichte, ist das nicht deliciös! Noch so spät und so süperbe Entfaltung!« Er verweilt einen Augenblick, während der hohe Kreis weiter schreitet. Sein Auge fällt auf die Gruppe, die in einem Seitengang des Gartens steht – ein hoher, alter und ehrwürdig aussehender Mann von feiner, aristokratischer Haltung, an seiner Hand ein junges, reizendes Mädchen und neben ihnen ein schlichter, einfacher Arbeiter in kräftigen Mannesjahren, mit einer offenen Blouse und einem grauen Hut bekleidet, den er jetzt in der Hand trägt, und der mit einer preußischen Kokarde geschmückt ist, obschon der Mann etwas Fremdes in seinem Äußeren hat.

Die kleine Gesellschaft ist schon früher dem Arzt und dem Journalisten aufgefallen, wie sie jetzt dem hohen Herrn am Rosenbaum auffällt. Er winkt ihr näher zu treten, und der alte Mann, die Hand des Mädchens fassend, gefolgt von dem Handwerker naht sich mit ehrerbietigen Verbeugungen.

»Wer sind Sie? – Sie sind fremd hier?«

»Sire! Ich nenne mich Creuxdevent und komme aus dem neuen Kanton Neuenburg, Sie noch einmal zu sehen, ehe ich mein Haupt niederlege auf die Erde meiner und Ihrer Väter.«

Der hohe Herr scheint betroffen von der Auskunft, die er erhalten. Auf seinem Antlitz zeigt sich eine tiefe, schmerzliche Bewegung. Er sucht sie mit Gewalt zurückzudrängen.

»Ist das Ihre Tochter, Herr Graf?«

»Mein einziges Kind, Sire, ihre Mutter war aus der Familie Gélieu. Hätte Gott meine Ehe mit Söhnen gesegnet, Sire, so würden diese Sie um eine neue Heimat gebeten haben. Ich bin zu alt, um die gewohnte noch zu verlassen. Diesen Mann hier, den Milchbruder meiner Tochter, den Montagnard mit preußischem Herzen, begleiten wir auf dem Weg nach Schlesien, wo er sich anzusiedeln gedenkt.«

Wiederum zuckte es schwer und trübe über das Antlitz des hohen Herrn, seine Hand bricht unwillkürlich und achtlos die Rose von dem Strauch an seiner Seite. –

»Sire!« sagte der Greis, »leben Sie wohl! Möge Gott Sie und Ihr hohes Haus segnen, unser Herz bleibt das Ihre, auch wenn Ihr Premier nicht den preußischen Friedrichd'or für den neuenburger Groschen wagen wollte!«

»Schweigen Sie, Herr Graf!«

Der Greis beugt sich auf seine Hand und küßt sie. In die Augen des hohen Herrn steigt es trübe empor – ein Tropfen – ein kostbares, heiliges Naß fällt auf die Rose in seiner Linken; dann reicht er sie dem jungen Mädchen, und mit den Worten: »Nehmen sie, mein gnädiges Fräulein – zum Andenken, und bewahren Sie alle das meine – wie ich –« wendet er sich hastig ab und schreitet sichtlich bewegt seiner hohen Gesellschaft zu.

Der majestätische Offizier in der Ulanen-Uniform tritt ihm entgegen mit einem Blick nach jener Gruppe: »Immer freundlich und huldreich gegen die Damen, mein Oheim?!«

Ein schweres, trübes Lächeln liegt um den Mund des Herrn, als er den Blick zuerst auf der hohen Dame in Weiß und Blau ruhen läßt und ihn dann zu dem Fragenden wendet: »Verzeihung, mon neveu, daß ich Sie warten ließ. Ich tauschte eben die letzte Rose von Charlottenhof für das Vergißmeinnicht von Sebastopol!«


Ende.

 


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