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Am Stilfser Joch.

Wenn man den prächtigen Paß der Finstermünz auf der Straße von Innsbruck nach jener Oase des milden italienischen Himmels inmitten der rauhen Winternatur der Alpen, nach Meran, hinter sich gelassen und von jener Wegscheide des Inn und der Etsch dem schaumbedeckten Bett der letzteren in ihrem wilden Fall nach Süden folgt, nähert man sich bald den eisigen, mit ewigem Schnee bedeckten Wänden des mächtigen Ortler, dieser höchsten und gewaltigsten Berggruppe Tirols.

3902 Meter hoch erhebt sich in einer öden, das Ende der Welt genannten Alpenregion der Ortler in Gestalt einer dreispitzigen mit dem ewigen Eise bedeckten Pyramide, die zum erstenmal der Passeier Gemsenjäger Johan Pichler bestieg.

Über diese Alpenwand, die Deutschland von der Lombardei, den untern Vintschgau oder das obere Etschthal in Tirol von der lombardischen Provinz Sondrio, dem Veltlin oder oberen Addathal, Jahrhunderte oder vielmehr Jahrtausende lang gleich einer Felsenmauer schied, die nur der kühne Fuß des Schmugglers oder des Jägers aus schwindelndem, tausend Gefahren ausgesetzten Fußweg überschritt, hat der Ingenieur Donegani unter Kaiser Franz I. von 1820-25 mit Überwindung ungeheurer Schwierigkeiten die höchste und ihrer Gletscherscenerieen und Fernsichten wegen interessanteste fahrbare Kunststraße der Alpen angelegt.

Dominichini und Porro führten den kühn ersonnenen Plan aus. In hundert Windungen steigt die Straße an der gewaltigen Bergwand des Ortler empor, die Gletscher unter sich lassend, und windet sich durch riesige Galerieen und Felsenbauten bis zur höchsten Höhe des Stilfser oder Wormser Jochs, um dann in die Lombardischen Ausläufer der Alpen nach Bormio hinabzusteigen, nach Lecco am Comer-See zu führen und so Innsbruck und Mailand zu verbinden.

Der Reisende, der den trotz der prächtigen Kunststraße gefährlichen aber lohnenden Übergang über das Stilfser Joch wagen will, wandert von dem romantischen Postflecken Mals, über dem die Schneewände des Ortler zu hängen scheinen, auf dem Weg nach Meran weiter, bis zwischen Glurns und Kyrs die Straße das Etschthal verläßt und sich rechts hinauf windet nach Trafoi und den Madatsch-Gletschern bis zu einer Höhe von 8662 Fuß.

Wenn man die prächtigen Brücken unterhalb Trafoi überschritten und das kleine Dorf hinter sich hat, steigt man zu jener Felsenwand, oder vielmehr zu jenen Felsenwänden empor, welche der Mund des Volkes »das Ende der Welt« genannt hat, weil hier jedes Weiterschreiten unmöglich scheint.

Aber der Mensch hat zwischen diesem Geschiebe von Fels und Wald und Eis mit hundert Umwegen sich dennoch einzudrängen gewußt, rastlos vorwärts strebend, hier seinen Weg gleich dem schmalen Gang der Gemse an eine Klippe hängend, dort in der Tiefe der Felsen selbst verschwindend, bis er jenseits derselben wieder zum reinen Licht der Sonne emporstrebt.

Zwischen Trafoi und der Höhe des Jochs, die in ewigem Schnee und Eis liegt, steht in einem kleinen Bergwinkel auf einsamer Matte ein kleines Haus, fern und geschieden von aller Welt; denn ein breiter Bergspalt, den nur der Schnee des Winters überbrückt, scheidet es von der Straße, und wie ein Adlernest sieht es der Reisende auf seiner kleinen Halde an der Bergwand hängen.

Aber großartig und erhaben ist die Aussicht von dem Vorplatz des kleinen, gegen Sturm und Lawine sich unter den Schutz der Wand schmiegenden Häuschens. Alle Herrlichkeiten und Schrecknisse Tirols umfaßt hier der Blick.

Wenn die scheidende Sonne im Sommer die Wände des Laafer vergoldete und auf die Spitzen des mächtigen Ortler ihre wunderbaren Rosenreflexe warf, dann sah der auf den Galerieen des Berges dahinziehende Reisende vor der Thür jenes Hauses drüben am Berghang einen alten hochgewachsenen Mann in der Tiroler Landestracht sitzen, mit weißen Haaren und weißem Schnauzbart, die kurze Tiroler Pfeife rauchend, und vor sich hinstarrend über das prächtige, majestätische Bild.

Selten nur, sehr selten begegnete ein Wanderer, ein Vetturin mit seinen klingelnden Maultieren oder der Boote, der mit seinem Kraxen die Bedürfnisse des Jochwirts und des kleinen Militärpostens aus den Thälern hinauf nach dem kleinen Wirtshaus im ewigen Schnee oder dem Mautamt von San Maria trug, auf der Heerstraße der hohen Greisengestalt und wechselte mit ihr mit einer gewissen Ehrerbietung das »Grüß di Gott!« denn zu einem weitern Austausch eines traulichen Plausch ließ es das ernste, ja fast finstere Wesen des Alten nicht kommen. Es müßte denn vielleicht ein Fremder ihn nach dem Namen dieser oder jener Spitze, eines Ferners oder sonst einer Auskunft des Weges gefragt haben. Willig, aber kurz erteilte er sie dann und ging eine kurze Strecke Weges mit dem Wanderer, als Gegendienst ihn fragend, wie es jenseits der Berge aussähe im Lande Österreich, und ob der Kaiser auch Herr aller seiner Feinde sei? Dann kurz, oft mitten im Gespräch, abbrechend, warf er den Stutzen, den er stets auf seinen Gängen trug, über die Schulter, wünschte eine »Glückliche Reis'« und bog von der Heerstraße ab, den steilen Abhang am Gestein hinauf oder hinabsteigend mit der Kraft und Gewandtheit eines jungen Mannes.

Die hohe Greisengestalt schritt so fest und männlich, als hätte die Zeit keine Gewalt an ihr gehabt, und doch mußte der Mann über die Siebenzig hinaus sein. Es war ein offenes, biederes, ehrliches Gesicht und das schwarze Auge, jenes welsche Erbteil des echten Tirolers, blitzte zuweilen auf, so frisch und fest, als sähe es den Gemsbock vor der Mündung des Stutzens. Für gewöhnlich aber blickte es traurig und finster unter den buschigen weißen Brauen.

Der Greis trug die alte gute derbe Landestracht, ohne jegliche Zier oder Neuerung, und merkwürdig erschien dem Fremden, der sie näher betrachtete, nur der Umstand, daß auf seinem Brustlatz an starker Schnur zwei Medaillen hingen, deren Gold und Silber durch den schwarzen Flor hindurch schimmerte, der sie umhüllte. Jede Frage danach wies der Greis kurz und streng ab.

Solche Begegnungen aber waren, wie gesagt, nur selten, und selbst den wenigen Bewohnern der Gegend war er kaum mehr bekannt, als den über das Joch ziehenden Fremden. Für gewöhnlich waren seine Gänge nach den wildesten, einsamsten Stegen gerichtet, wo er sicher war, niemandem zu begegnen.

Doch wohnte der alte Mann nicht etwa allein. Der Reisende, der ihn vor seinem kleinen, aber reinlichen und ordentlichen gehegten Hause die Pfeife rauchend oder mit irgend einer ländlichen Verrichtung beschäftigt, sitzen sah, bemerkte oft eine hübsche kräftige Frauengestalt im kurzen Tiroler Rock mit Mieder und Hut bei ihm auf dem Vorplatz des Hauses, das für den Ruf und die Verständigung der menschlichen Stimme zu weit fast seitab gelegen, doch noch immer nahe genug war, um ein scharfes Auge oder den neugierigen Gucker des Fremden erkennen zu lassen, daß die Frau noch jung, etwa vier- bis fünfundzwanzig Jahre, und von jener Schönheit und Reinheit der Linien und Formen war, die man nicht selten unter den Tiroler Frauen trifft, ehe Wetter und Arbeit sie schwinden machen.

Die junge Frau – denn daß sie eine solche war, bewies der kleine Bube, der häufig an ihrer Schürze hing und später sich in seinen Spielen um das Haus tummelte – hatte übrigens die Natur und den Charakter des Greises; so emsig und rührig sie auch um diesen und in der Wirtschaft war, zu der eine nahe kleine Alm gehörte, hatte doch noch keiner das helle silberne Lachen einer jungen Frau vernommen, und eine stille resignierende Trauer lag über dem ganzen Wesen des Weibes.

Ein Knecht, schon bei Jahren, vervollständigte den kleinen Haushalt.

Die Bewohner von Trafoi wußten wenig von der Familie. Vor etwa neun Jahren war der alte Mann, den die junge, damals schwangere Frau ihren Großvater nannte, aus dem untern Tirol in die Gegend gezogen und hatte das Grundstück erhandelt. Bei den Thalbewohnern hieß er der Soldaten-Nazi, denn man wußte nur, daß er in den Tirolerkriegen gefochten, und daß der Mann seiner Enkeltochter im italienischen Feldzug gefallen war. Im Grunde kümmerten sich auch die Dorfbewohner, die sich schon zu Welschtirol zählten, wenig um den Deutschen, der stets that, als verstände er keine Silbe von den melodischen Klängen der Sprache, die jenseits des Bergjochs geredet wird. Der alte Mann hatte bei seiner Ankunft dem Leutepriester zu Trafoi ein reichliches Geschenk für sein Kirchlein gegeben, und regelmäßig wiederholte sich die Gabe an einem bestimmten Tag im Jahre, am 9. November. Der Priester, ein würdiger alter Mann, der die Familie offenbar in seinen Schutz genommen und jede müßige Neugier von ihr abwandte, las dann in einer kleinen, einsamen Hochkapelle eine Seelenmesse, der die Familie andächtig beiwohnte.

Alljährlich, zur Herbstzeit, entfernte sich der Knecht auf eine Woche und nahm seinen Weg über Meran durchs Passeierthal. Wenn er zurückkehrte, trug er einen Beutel mit schwerem Geld. Der Soldaten-Nazi mußte also nicht arm sein, denn er bezahlte alle Bedürfnisse, die das kleine Anwesen nicht aufbrachte, in blanken Zwanzigern und Gulden, und das genügte dem bekanntlich etwas goldgierigen Charakter des Welschtirolers Im übrigen war der Knecht noch unzugänglicher und mürrischer als sein Herr, und hatte sich bei einer oder zwei Gelegenheiten als ein wackerer Raufer gezeigt, der stets zu einem Ringen bereit war.

Als der Knabe älter wurde, brachte ihn die Mutter in die kleine Gebirgsschule, die der Vikar selbst hielt. Doch hielten die Kinder der Gebirgsleute auch mit dem Knaben ziemlich wenig Umgang, denn der Bub hatte keineswegs den milden, freundlichen Charakter seiner Mutter, sondern erwies sich zum Bedauern des frommen Lehrers bei gar manchen Gelegenheiten rachsüchtig und boshaft.

Das war alles, was man von der einsamen Familie wußte, wenn ja einmal auf sie die Rede kam. – – –

Es war ein trüber, nebliger Januartag.

Der Morgen und Mittag waren schön und sonnig gewesen, der Frost hatte überall die Wege fahrbar gemacht, und der Knabe, den der strenge Wille des Großvaters beizeiten an Anstrengung und Verachtung der Gefahren gewöhnt hatte, war mit dem Knecht hinaufgestiegen zum Jochwirt, um einen Brief dahin zu bringen, den die Mutter geschrieben.

Zum erstenmal nämlich hatte am Morgen des Tages der Postreiter einen Brief für die Familie gebracht, der ihm vom Posthaus in Sankt Maria drüben überm Joch mitgegeben worden.

Der Brief, den der Greis sich von seiner Enkeltochter hatte vorlesen lassen, und dessen schwarzes Siegel eine Todesbotschaft verkündete, hatte großen Eindruck auf ihn gemacht. Jetzt lag er auf dem breiten Tannentisch neben der Blechlampe vor dem Greise, der mit aufgestütztem Arm dabei saß und finster auf das Papier niederschaute, als könne er die Zeilen des Briefes lesen.

Der Poststempel, den derselbe trug, lautete »Salzburg«. Am Herdfeuer saß die junge Frau, mit dem Stricken wollener Socken für den Knaben beschäftigt.

Aber ihr Geist schien wenig bei der Arbeit, denn oft ließ sie das Strickzeug in den Schoß sinken, wandte das Gesicht nach dem kleinen, von den außen an der Wand aufgespeicherten Holzstößen tief umrahmten Fenster und horchte ängstlich hinaus.

Dann wieder richtete sie ihr bekümmertes Auge auf den alten Mann und hing mit inniger Teilnahme an seinem durchfurchten Antlitz.

Es war bereits acht Uhr abends.

Mit dem Untergang der Sonne hatte sich das Wetter mit jener Schnelle geändert, die bekanntlich selbst bei dem heitersten Sonnenschein, den Tiroler des Thals nie ohne Regenschirm über Land gehen läßt.

Eine Wand von dichten Nebelwolken hatte sich von den Spitzen des Ortler niedergesenkt und bald die ganze Gegend in ihren naßkalten Schleier gehüllt, der sich von Zeit zu Zeit in ein dichtes Schneegestöber auflöste.

In einzelnen Stößen, die einander immer rascher und stärker folgten, begann der Föhn sich zu erheben.

Das Herz der Mutter ertrug die schweigende Sorge nicht länger. Die junge Frau legte das Strickzeug nieder, stand auf und ging zur Thür der Hütte, die sie öffnete.

Der Wind fuhr mit gewaltigem Stoß herein und hätte ihr die Klinke beinahe aus der kräftigen Hand gerissen, während er ihr die eisigen Spitzen des Schnees ins Gesicht schlug.

Aber sie hielt sie fest und horchte hinaus durch Wind und Schnee.

Nichts ließ sich von der Straße her vernehmen, als das eigentümliche Rauschen des Schneetreibens.

»Heilige Mutter Gott's!« sagte sie endlich, die Thür wieder schließend, »Nönl, lost Ös Großvater, hört Ihr nit des rüche Wetter, und der Bros Bros: Ambrosius. is draußen und kehrt noch immer nit zurück!«

Der alte Mann achtete nicht auf die Worte. Er sah immer noch starr auf den Brief.

»Er is hingeworden,« sagte er endlich, »wie a rechtschaffener Mann werden soll, geacht und bedauert vom ganzen Land, und der Kaiser in seiner Hofburg hat sicher a Thrän' g'habt für den Joachim Haspinger, den Pater vom Iselberg Der Pater Joachim Haspinger, der Gefährte Hofers und Speckbachers, starb zu Salzburg am 12. Januar 1858. I wollt', i wär' an seiner Stell'!«

»Nönl, Nönl, war plauscht Ös for Frevel da! Wenn Gott der Herr die Heimsuchung über uns g'schickt, so müssen wir's tragen mit der Heiligen Hilfe und dem feinen Gewissen. Es thut nit gut, deß Ös aufruhrt die bösen Gedanken in der schlimmen Nacht, wo das Schneeschild Die an die Felsen gewehten dicken Schneemassen, die leicht herabstürzen. begraben kann jeden Augenblick mei Kind!«

»Unkrautl vergeht nit,« sagte der Alte unwirsch. »Der Bu ist alt g'nug, um a Bissel Geschniebe Schneegestöber. nit zu fürchten, und der Kölbl Kölbl: Koloman. is bei em. Aber a Mann wie den Jochem krigt das Tirolerland nit wieder, und wenn die Ferner ewig stehen.«

»Der Großohm is zweiundachtzig Jahre gewest, Nönl,« klagte die junge Frau, »des is a sauberes Alter, und Gott der Herr hat jedem Menschenkind sa Grenz' gesteckt. Aber der Bros is a Kind und's hat das Lebe vor sich, und es is nit fein, deß Ös so fuchtig Zornig, heftig. von ihm red't, wo mi das Herze is zusammenschnürt vor Angst.«

Sie hatte sich wieder hingesetzt und die Hände im Schoß gefaltet. Der alte Mann war aufgestanden, strich mit der Hand über die Stirn und ging einigemal in dem kleinen Raum auf und nieder.

Dann trat er zu seiner Enkeltochter und streichelte ihr freundlich die Wangen.

»Sei ruhig, Nandl, und rehr rehren – weinen. nit. Der Kölbl kennt das Gebirg', und wenn er schaut hat das Nebelwetter, wird er mit dem Bu im Wirtshaus am Joch geblieben sein bis morgen früh. Nehms nit bös, wann i wieder hab a mal mei alte Sekten, Launen. der Brief aus Salzburg, der uns gemeld't hat, wie der Ohm so selig hingeworden im Herrn und in so großer Ehr vor aller Menschheit, hat mir's wieder ang'than und die alten Wunden im Herzen wieder aufgerissen, deß sie bluten aufs neu. I kann halt nit vergessen, deß der Name Haspinger g'schändt is worden durch mei eigen Blut!«

Die junge Frau oder das Mädchen schmiegte sich an die hohe Gestalt des Greises.

»Nönl,« sagte sie tröstend, »hat nit der Franz sei Schuld g'büßt mit dem Leben, und kann a Menschenkind mehr thun für seine Sünd', als daß es in Reu und Buß sei Leben giebt?«

Der Greis blickte finster vor sich hin.

»Des Haspingers Blut a Verräter an seinem Kaiser,« sagte er dumpf, »und seiner Tochter Kind …«

Er brach ab, aber die junge Frau vollendete sein Wort.

»Sprecht's aus, Nönl, was meiner Mutter Kind is geworden! A geschwächte Dirn, auf die ehrliche Leut mit Fingern zeigen, und die nit sagen kann, wer ihres Bu sei Vater is! Jesus Marie, was hab i than, deß i solch Schand derleben mußt!«

Der alte Mann hatte sich seiner Enkeltochter genähert, die – einen Augenblick die Besorgnis um das Kind der Schuld und des Grams vergessend – ihr Gesicht schluchzend in die Schürze barg.

»Rehr nit, Nandl, i waaß, deß du ka Schuld nit hast an des Unglück und rein bist wie a jungfräuliche Dirn. Der Herrgott im Himmel hat's halt zulassen, um uns zu strafen für unsern Stolz auf des Haspingers Namen. Hab i nit deshalb dort im Stubbayer Thal verkauft meines Vaters Haus, auf dem die Haspinger gesessen, wie die Urkund sagen, von der Maragarete Maultasch her, und bin fortgezogen mit dir ans fernste Gegrenz vom Land Tirol, wo uns niemand kennt und niemand von unsrer Schänd nit weiß! I trag mei Kraxen voll Unglück, was der Herr mir g'schickt, und werd's Haupt niederlegen mit Jammer und Leid; so trag denn du auch das deine, und mög' der Herr mit denen zu Gericht gehen, die all den hantigen Jammer gehäuft auf unser Herz!«

Die junge Frau beugte sich weinend nieder auf seine Hand.

»Aber Fluch dem schiechen Schiech – böse. Wicht, der all das Leid gebracht auf ehrliche Lüt. Mög mir der Herrgott die Gnad' geben, deß der Schurke, eh i hinwerd, kommt in mei Näh' vor mei Stutzen, und i will nit selig werden und die Herrlichkeiten der himmlischen Heerscharen schauen, wenn i nit …«

»Halt ein, Nönl! er is der Vater von mei Kind!«

Der Greis wollte eine zornige Verwünschung aussprechen, als ein seltsamer, schrecklicher Ton ihn unterbrach.

Er klang durch das Heulen des Sturmes wie ein entferntes gellendes schauriges Hohngelächter, wie jene tolle Freude des Wahnsinnigen, der seiner Fessel entsprungen.

»Ho ho! hi ho! Juchhei! Der Teufel is da! der Teufel kommt! hoiho!«

Und ein kreischender gellender Jodler, wie ihn die Sennen an schönem Sommerabend von den Bergwänden im Echo zurückgellen lassen, klang näher durch den Wind.

Die junge Frau wurde totenblaß und sank in die Knie. »Jesu Marie, des is der Teufels-Toni, des bedeutet a Unglück! Mei Kind! mei Kind!«

Der Greis war nach dem Stutzen gesprungen und riß ihn von dem Pflöcken an der Wand.

»Is der z'nichte Dörcher Dörcher – Vagabond, Nichtsnutz. wieder im Weg? – Dei Bub is sicher, dem thut er nix, 's is einzige Wesen im Gebirg, mit dem der Unhold verkehrt, denn gleich und gleich kommt stets zusammen, aber mit irgend a armen Wandrer auf der Straß richt er Unglück an, daß er en in die Tiefe lockt!«

Und mit der Kraft der Jugend sprang er zur Thür und riß sie auf. »Halt das Feuer auf, Nandl, daß sie's sehn, wenn sie in Not sind! Wo ist der Hallunk, daß i ihm an's auf den Pelz brenn!«

»Thu's nit, Nönl,« bat die junge Frau, die eifrig beschäftigt war, das Feuer und Licht gegen die hereinstürmende Windsbraut zu schützen, »'s es a von Gott geschlagener Mann, und Ös wißt, 's giebt a Unglück, wer sich mit em einlaßt!«

»Ho hi ho!« klang es gellender als vorher durch den Schneewirbel, »der Teufel ist da! Ora pro nobis! ora pro nobis! in nomine domini – schießt! schießt! Hau, hau!«

Der alte Mann hob den Stutzen, und sein Schuß krachte durch den Wind. Aber er hatte eben nur in die Luft gehalten, um den Unhold zu schrecken.

»Gebst Ruh, Teufels-Toni!« schrie der Alte hinaus in das Wetter, »oder so wahr mir die Heil'gen gnädig sein sollen in mei letzte Stund, die nächste Kugel is für dich! Hoiho! Is a Christenmensch drüben in Not, so komm er hierher unter Dach!«

Er schritt rüstig hinaus in das Schneetreiben und wiederholte den Ruf.

Dieser mußte in der That von Menschen gehört, oder in den einzelnen Pausen des Schneewirbels der Feuerschein des Hauses gesehen worden sein, denn es antwortete von der Straße her, ein schwacher Ruf.

»Um des Himmels willen! kommt einem armen Reisenden zu Hilfe in der Not! Ich hab' die Straße verloren und versinke im Schnee!«

»Die Leiter her, Nandl, das Pummerl und a Feuerbrand!« schrie der Alte mit mächtiger Stimme zurück nach dem Haus.

Die gleiche Not mußte schon öfter gekommen sein, denn das Mädchen eilte wenige Augenblicke nachher aus dem Hause, vor ihr her in munteren Sprüngen ein kräftiger Haushund, der einen Bündel Stricke im Maul schleppte, während sie selbst eine 12 Fuß lange, leichte Leiter trug und mit der Linken einen großen brennenden Span von harzigem Holz, mit Pech getränkt, in die Höhe hielt, dessen Flamme dem Schneetreiben widerstand.

Der alte Mann, auf den Instinkt der Hundes vertrauend, ließ diesen voranlaufen. »Such, Tyras, such!«

Er selbst folgte ihm rasch auf dem Fuß, einige Schritte hinter ihm das mutige Weib.

Zwischen dem Hause des Tirolers und der Straße senkte sich, wie erwähnt, eine breite Kluft nieder, die für gewöhnlich jeden Zugang von daher versperrte und nur im Winter durch die Schneemassen gefüllt und überbrückt wurde.

Der Reisende, der so unglücklich in das Schneetreiben geraten war, hatte wahrscheinlich in der Entfernung das Licht in dem einsamen Hause bemerkt und war darauf zugeschritten. Wie sich ergab, hatte ihn der Ruf des Unholds, der unter den Bergbewohnern vom Joch bis zu den Passeier- und Ötzthaler Gletschern seit Jahren mit dem Namen des Teufels-Toni bekannt war, verlockt und ihn von dem schmalen Pfade des gefrorenen Schnees in die Wehen getrieben, wo er gänzlich zu versinken in der höchsten Gefahr war.

»Halt Ös a Augenblick fest, Mann, Gott der Herr schickt Hilf. Gebt Antwort, deß i waaß, wo Ös seid!«

»Hier! hier! ich versinke!«

Der Hund sprang vor, ließ die Stricke fallen und schlug an.

»Bleib zurück, Nandl, so lieb dir dei Leben is!« schrie der Alte. »Er steckt in der Franzosenkluft! Gott der Herr erbarm sich seiner Seel, wenn er schon über den Fels gerutscht! Die Leiter her!«

»Nönl, Nönl, nehmt Enk in acht!«

Dem Mädchen war die Gefährlichkeit der auf dieser Seite in jähem Absturz wohl 150 Fuß abfallenden Bergspalte bekannt, in deren Tiefe zur Frühjahrszeit die Gerinne der Hochwasser rauschten, und die von alters her die Franzosenkluft genannt wurde, weil bei dem Überfall einer französischen Eskorte durch die Tiroler Schützen vor länger als fünfzig Jahren die Leichen der Feinde da hineingeworfen worden waren.

Der alte Mann hatte die Leiter ergriffen und, dem Instinkt des treuen und klugen Tieres folgend, nahte er sich rasch aber vorsichtig der Stelle, wo der Hund noch immer laut bellte.

»Wo seid Ös, Fremder?«

»Hier, hier! aber ich kann mich nicht mehr halten ich muß loslassen!«

»A Augenblick noch! Haltet ums Leben fest, denn wenn Ös sinkt, is ka Rettung nit mehr! Unter Enk is alles Tod und Finsternis!«

Trotz des Schneegestöbers orientierte sich der Greis mit raschem, sicherem Blick.

Er wußte aus Erfahrung, daß die verräterische Schneedecke über der furchtbaren Kluft gleich dem Bogen eines Gewölbes hier etwa sieben Meter dick war, und daß, wer durch sie hindurch brach, rettungslos verloren sein mußte.

Die Kluft, oder vielmehr der Bogen, der sie überbrückte, war hier etwa zwölf Schritte breit, ein Hinüberreichen also nicht möglich. Der festgefrorene Weg, der aber am Ende der Spalte in schmalem Gang hinüberführte, war viel zu weit entfernt, als daß er den Umweg hätte machen und noch zu rechter Zeit dem Verunglückten hätte zu Hilfe kommen können.

Trotz der Finsternis konnte er mit dem an sie gewöhnten Auge des alten Gemsenjägers zwischen dem Schneegestöber hindurch auf der anderen Seite der Schlucht einen dunklen Körper erkennen, der aus dem weißen Grunde hervorragte. Es war ihm im Augenblicke klar, daß der Fremde gleich am Rande der gefährlichen Brücke eingebrochen sein mußte, sich aber an den zähen Zweigen der hier wuchernden Laatschen, jener eigentümlichen Decke der Hochgebirge festgehalten hatte. Was er aber anfangs nicht begreifen konnte, das war ein zweiter schwarzer Körper, der etwa drei Fuß über dem Versinkenden hockte und sich hin und her bewegte.

Die Natur desselben sollte ihm jedoch sofort klar werden.

»Ho – ih – oh! ins Franzosenloch! ins Franzosenloch! Recomanda animam tuam in manus dei!«

»Herr Gott! der verrückte Unhold!«

»Helft! rettet, er häuft den Schnee auf meinen Kopf!«

»Teufels-Toni! fort, oder ich schieß' dich über'n Hauf!«

Der Irre lachte höhnisch auf. »Hast den Stutzen nit, Nazi, hast in die Luft geschossen! Hoho! ins Franzosenloch! ins Franzosenloch!«

Einen Moment nur stand der alte Mann ratlos, dann raffte er all die Energie eines Kriegers zusammen, und wie der Blitz fuhr ihm der einzige Weg der Rettung durch die Gedanken.

»Festgehalten, Mann, a Minute noch, und wenn der Teufels-Toni sein Schlimmstes thut!«

Im selben Moment hatte er auch das Ende der Leine in das Halsband des Hundes geknotet und die Leiter weit über die Schneebrücke geworfen.

»Faß ihn, Tyras, faß!« rief er und zeigte nach der dunklen Gestalt des Verrückten, der unter gellendem Hohngeschrei nach dem Verunglückten mit den Füßen stieß und versuchte, ihm die erstarrten Hände von den haltenden Wurzeln loszureißen.

Der Hund, ein großes, kräftiges, langhaariges Tier von der St. Bernhard-Rasse, bellte mit jenem eigentümlichen Instinkt, den alle Hofhunde gegen Bettler und Vagabonden zu besitzen scheinen, heftig wider den bezeichneten Gegner und sprang auf die Leiter zu und über die Schneedecke hinweg.

Die Decke, die das Gewicht eines Mannes nicht getragen hätte, trug den leichteren Hund.

Der Wahnwitzige stieß, als er so plötzlich einen Feind auf sich gehetzt sah, mit dem er gewiß schon oft in den Häusern der Bauern unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, ein Zetergeschrei aus, ließ sein Opfer los und floh eilig durch den Schnee davon.

»Steh, Pummerl!«

Der Hund, der bereits zwei oder drei Schritte über den jenseitigen Rand der Schlucht hinaus gesprungen war, blieb gehorsam stehen und begnügte sich, dem Flüchtigen nachzubellen.

»Jetzt, Mann, schickt a Stoßgebet zu Eurem Schutzheil'gen,« sagte der Greis, »und faßt die Leine mit einer Hand und schlingt sie Enk um den Arm. Sie liegt grad über Eurem Kopf! – Habt Ös gethan?«

»Gott lohn's Euch! aber es ist zu spät! ich versinke!«

»Kourasch, Kourasch, Fremder! Hierher, Nandl! Helf mi ziehen! Seht, daß Os die Leiter derwischt!«

Der Alte hatte in der Pause des Schneewirbels bemerkt, daß der Verunglückte richtig nach der Leine gegriffen und sie erfaßt hatte.

»Drauf, Tyras, drauf! faß den Dörcher!«

Der große starke Hund sprang wieder vorwärts und spannte den Strick. Je mehr die Last, die sich jetzt an diesen gehangen, ihn zurückzog, desto kräftiger strebte er vorwärts.

»Jetzt, Fremder, dorst, seht zu, daß Ös am Strick Enk rüberhelft. Wenn Ös die Leiter habt, seid Ös sicher!«

Das Mädchen war herbeigekommen, noch glimmte und sprühte die Pechfackel und warf ihr schwankendes Licht über die Scene, da der Wirbelwind, der den Schnee durch die Luft fegte, wie um Atem zu schöpfen zu einem Stoß, gerade nachgelassen. Während der alte Mann fortwährend den Hund aufmunterte, vorwärts zu gehen und so die Leine festzuhalten, sahen die beiden, wie der Fremde wirklich die Geistesgegenwart gehabt hatte, den Strick zu erfassen und sich an diesem über die Schneedecke fortzuziehen.

Wenn er auch wiederholt in derselben einsank, half doch der Strick die Last seines Körpers tragen, und es gelang ihm endlich, die Leiter zu fassen.

Der alte Tiroler stieß einen hellen Triumphruf aus, überließ dem Mädchen jetzt, den Hund zu halten und warf sich platt auf den Boden, um hinübergreifend das diesseitige Ende der Leiter zu fassen.

Es gelang dem Verunglückten, mit Aufbringung aller Kräfte, nach dem Erfassen der Leiter, sich auf die letzten Sprossen zu werfen. Der Greis begann sie mit der sehnigen Kraft, die ihm trotz des Alters und Kummers noch immer geblieben, langsam zurückzuziehen.

»Jetzt, Nandl, ruf den Tyras zurück, wir brauchen ihn nit mehr, und hilf mir den Schußbartl herüberzieh'n, der sich so unvorsichtig in die G'fahr gewagt!«

Das Mädchen gehorchte, doch hörte der Hund erst auf den Ruf des Alten selbst und kam dann rasch über die gefährliche Brücke zurückgesprungen. Unterdes war es dem Tiroler und seiner Enkeltochter glücklich gelungen, die Leiter mit dem darauf lastenden Körper herüberzuziehen, und ein Freudenruf des Mädchens verkündete, daß die Rettung geglückt. Während der alte Tiroler sich mühte, dem Erstarrten zu helfen, sprang der Hund munter bellend und wedelnd an ihm empor, als freue er sich des Anteils, den er an der Rettung gehabt.

»Auf, Mann, rückt Enk zurecht! der liebe Gott hat Gnad' g'habt und Enk das Leben gerettet. Jetzt g'schwind, daß Ös ans warme Feuer kommt!«

Der Fremde hatte sich mit seiner Hilfe emporgerafft, er versuchte zu sprechen, aber er brachte nur einen gurgelnden Ton hervor, hob die Arme in die Luft und stürzte wie ein Trunkener schwerfällig wieder in den Schnee.

»Er is halt damisch,« sagte der Alte. »Die Kälte und die Angst haben ihn z'nicht gemacht, und die Haxen wollen ihn halt nit tragen. Spann das Pummerl vor die Leiter, Nandl, wir wollen ihn bis zum Haus schleifen.«

Er legte den bewußtlosen Körper auf die Leiter, befestigte ihn darauf und spannte mit der Leine den Hund davor. Die junge Frau griff mit an, und so wurde der Verunglückte nach dem Hause des Greises gezogen.

Es war, als habe das arge Wetter nur darauf gewartet, daß ihm seine Beute entrissen war, denn der Sturm legte sich, noch ehe sie das Haus erreicht, gänzlich, mit der Plötzlichkeit, die im Hochgebirge die Witterungswechsel begleitet, und es trat vollständige Ruhe ein, ja durch die sich teilenden Wolken brach hell der Mond.

Der alte Tiroler und das Mädchen schüttelten an der Thür die Schneelast ab, dann schleiften sie den bewußtlosen Mann auf der Leiter in den Küchenflur.

»Jetzt, Nandl, blas 's Feuer an,« befahl der Alte, »indes i seh', was mit dem Mann zu machen is. Mach a Lager für ihn z'recht, denn wir werden ihn zu Bett bringen müssen.«

Während die junge Frau in die Kammer ging, um wollene Decken zu holen, hatte der Alte den Bewußtlosen von der Leiter losgemacht und ihn von Schnee und Eis möglichst gesäubert. Als das Mädchen zurückkehrte, fand es ihn gedankenvoll neben dem Körper stehen, den er ans Herdfeuer getragen.

»Dacht' mir's wohl, daß er irgend a Dörcher oder sonst so a Dalk sein mußt',« sagte der Tyroler, noch immer den Fremden beschauend, »denn a ehrlicher Mensch treibt sich nit bei Tag im G'birg herum. 's ist a Laninger, Nandl, seiner Kleidung nach z' schließen, aber des is gleich, s'is a Christenmensch, und wir müssen unsere Pflicht thun, um der Mutter Gottes willen!«

Das Mädchen hatte sich der Gruppe genähert und betrachtete neugierig den fremden Mann.

Er war offenbar, wie der Alte richtig erkannt, ein Landstreicher, einer jener wandernden Kesselflicker und Hechelkrämer, die ein Teil des österreichischen Kaiserstaats hinaussendet, aus der Heimat, um im deutschen Reich, ja weit über dessen Grenzen hinaus jahrelang Not und Ungemach zu ertragen und ihr Leben auf das kümmerlichste zu fristen, bloß um einige Dukaten zusammenzusparen und dann mit dem unter Lumpen sorgsam verborgenen Schatz nach der Heimat zurückkehren und ein kleines Stück Land kaufen zu können, auf dem der Arme sich dann mit der seiner harrenden Liebsten, die unter der Zeit im Herrendienst gestanden und längst selbst die Blüte der Jahre verloren hat, ansiedelt.

Der Slowake war noch immer ohnmächtig. Die nasse Halina um seine Schultern, der ärmliche aber doch nicht zerrissene Anzug, der jedem Kinde in Deutschland bekannt ist, und das Bund mit Drahthaken und Ringen an seinem Gürtel bewies sein elendes Gewerbe, wenn auch sonst dessen Zeichen und Vorräte fehlten und wahrscheinlich, gleich wie sein Hut, draußen im Schnee liegen geblieben waren. Hals und Brust waren halb offen und zeigten seine Abhärtung gegen Wind und Wetter, oder seine große Armut, die sich keinen besseren Schutz zu verschaffen vermocht, als ein dünnes wollenes Tuch.

Unter dem Tuch hervor blitzte und funkelte es wie ein Feuerstrahl bei den Bewegungen der Flamme auf dem Herde.

Der Unglückliche schien noch nicht alt, vielleicht zwei- oder dreiunddreißig Jahre, soviel sich an dem von Wind und Wetter gebräunten und von der Not abgemagerten Gesicht erkennen ließ, das trotz dieser Hagerkeit die Spuren großer, männlicher Schönheit zeigte, wie sie nicht selten jenen armen Söhnen des armen Landes eigen sind. Lange Haare von glänzendem Schwarz fielen in wüsten Strängen um sein Antlitz, das von der Kälte und der überstandenen Todesangst ganz blutlos erschien.

Plötzlich kreischte das Mädchen laut auf!

»Nönl! Nönl! um des heiligen Antoni willen, seht Ös nit, wer dös is?«

»Wer soll er sein? a fremder Dörcher is, der im Wetter derfroren!«

Das Mädchen hatte sich bereits neben den Körper niedergeworfen, rieb die krampfhaft geballten Hände des Unglücklichen und benetzte sein Gesicht mit ihren Thränen.

»O Nönl,« klagte sie, »daß Ös den halt nit wieder erkennt! Der Herr Matthis is's, der Student aus Wien, der so treulich zu uns gestanden in unsrer Not bis zu des Franzel sei Todesstund, a's mir geschieden sind am Strandl vom Donaufluß!«

Der alte Mann beugte sich nieder, um den Ohnmächtigen genauer anzusehen. »Straf mi Gott, Nandl, Du kannst halt recht hab'n. Aber Gott im Himmel, wie schaut der Bu aus! Es muß ihm halt bitterlich schiech gegangen sein! Aber was is dös?«

Er hatte im Bemühen, den Kopf des Verunglückten empor zu heben und ihn in eine bessere Lage zu bringen, wieder das Blitzen und Funkeln unter dem nassen Hemd und Tuch bemerkt und, das letztere beiseite schiebend, einen Ring in die Hand bekommen, der an einer Schnur von Pferdehaar um den Hals des Slowaken hing.

Der Ring war ein einfacher starker Goldreif, der, à jour gefaßt, einen ziemlich großen kostbaren Stein trug.

Dieser Stein war ein strahlender Diamant.

Obschon der ehrliche Tiroler nichts von dem wahren Wert des Steines verstand, sah er doch leicht so viel, daß der Ring sehr wertvoll sein mußte, und zusammen gehalten mit dem ärmlichen Aussehen des Mannes, der ihn besaß, mußte sich natürlich der Verdacht regen, daß er nicht auf ehrlichem Wege dazu gekommen.

»Schau, Nandl,« sagte der alte Mann, ohne jedoch in seinen Bemühungen um den Erstarrten nachzulassen, »i glaub halt jetzt selber, daß es der Wiener Student is! Aber was i hier seh, dös g'fallt mer nit von ihm und s'sollt mer leid thun, wenn er auf unrechte Weg in seiner Armut g'kommen wär!«

»Schämt Enk, Nönl,« erwiderte unwillig das Mädchen. »I will a körperlichen Eid leisten, daß der Matthis a ehrlicher Bursch is und ka Dieb nit. 's is vielleicht von seiner Liebsten, denn deß er das Ring'l lieb und wert hält, das beweist, deß er's um seinen Hals trägt wie i noch immer das Gottesaug' vom Franz. Aber dös geht uns halt nit an, und unsre Pflicht is, ihm zu helfen in seiner Not, wie er uns g'holfen hat. Heili Antoni! er kommt halt wieder zu sich und kriegt a Röt ins G'sicht.«

In der That begannen, von der Wärme des Feuers und den Bemühungen der beiden Tiroler angeregt, die Lebensgeister des Erstarrten sich wieder zu heben, eine leichte Röte kehrte auf das hagere Gesicht zurück, seine Brust hob sich, und endlich schlug er die Augen auf und setzte sich aufrecht.

Die unsicheren Blicke des Slowaken irrten einige Augenblicke in dem behaglich erwärmten Raume umher, und von der lustig flackernden Flamme auf das gefurchte Gesicht des alten Mannes, von diesem auf das noch thränenfeuchte Antlitz der jungen Frau, das trotz des schmerzlichen Eindrucks, den der Anblick des Ringes auf sie gemacht, doch von aufrichtiger Freude strahlte.

Mathias, denn es war wirklich der unglückliche Student, das Geschöpf und Opfer der brutalen Lüste der Gräfin Martha Törkyöny, der vor 9 Jahren so mutig den Weg der Armut und Buße betreten, führte wie träumend die Hand an die Stirn.

»Wie ist mir denn? bin ich denn nicht gestorben im Eis und Schnee, von der Hand des dräuenden Alpengeistes hinabgeschleudert in die Tiefen der Gletscher, um meine Sünde und Schmach zu büßen? Oder hat Gott der Allmächtige endlich Mitleid mit meiner Reue gehabt und mich versöhnt in sein Himmelreich aufgenommen, daß ich sie wiedersehe, die ich liebe – Nannette – den alten Mann – die arme Schwester, die der Wolf zerriß – und sie, die ich kenne …«

Er schaute wild umher, als suche er noch andere Gestalten, als die beiden vor ihm, dann drückten seine Augen plötzlich Schreck und Entsetzen aus, und er starrte nach einer Ecke des vom Herdfeuer nur halb erhellten Raumes.

»Da, da, da ist der Furchtbare wieder, der Fluch, der sich an meine Ferse geheftet, verfolgt mich, ich muß hinunter, hinunter, ohne sie wieder zu sehen im Leben!

Hilfe! zu Hilfe!«

Er sank noch einmal halb ohnmächtig in die Arme des jungen Weibes, während der Greis, zugleich durch das Knurren des Hundes aufmerksam gemacht, in der Richtung sich umblickte, in der der Slowake eine Erscheinung zu sehen geglaubt.

»Ho ho! ha ha!« klang es aus der dunklen Ecke, Ihr werdet doch den armen Toni nicht schlagen und von den Hunden zerreißen lassen, wenn er zur Hochzeit kommt? Grüß Di Gott, Nazi, grüß Di Gott! Ora pro nobis! ora pro nobis! Der jüngste Tag ist da, und die Toten stehen auf! Der Sandwirt will nit mehr bleiben auf dem steinernen Grabe zu Spruck und schwenkt die Fahn am Passeyr! Hurra! es lebe der Kaiser, nieder mit den Franzosen! sie sollen im Tiroler Winter erfrieren, der Lefèvre und der Vizekönig! Bald ist der Tag, wo auf den Wällen von Mantua die Schüsse knallen! Erbarmen mit dem armen Teufels-Toni, den so schrecklich friert! A Stück Brot dem armen Toni, und keine Hunde nit! Hurra! morgen hält das Nandl Hochzeit und den Bu bringt's gleich mit!«

Der Alte griff wild nach einem Feuerbrand im Herd und schleuderte ihn gegen die Ecke. »Kobold tückischer! wie kommst Du hier herein in mein Haus?«

Wimmernd und flehend kroch jetzt aus dem Winkel eine merkwürdige Gestalt, die eben so viel Grauen wie Mitleid erregen mußte.

Es war eine vom Alter und Leiden verkümmerte und verkrümmte Gestalt, das Gesicht hohläugig und eingefallen, nur Haut und Knochen, wie der ganze Körper. Ein langer weißer, von Schmutz und Eis starrender Bart hing ihr bis auf die Brust, eben solche wirre Haare, die wahrscheinlich seit einer Reihe von Jahren nie mehr Kamm oder Schere gesehen, flogen um das verwelkte Gesicht, aus dem nur zwei große, starre Augen mit jenem unheimlichen Ausdruck hervorleuchteten, der die Abwesenheit des Verstandes verkündet. Der Mann konnte siebenzig, achtzig Jahre alt sein, in dem elenden Zustand, in dem er sich befand, war es unmöglich, dies zu beurteilen, aber die Zähigkeit seiner Lebenskraft mußte sehr groß sein, weil er all die furchtbaren Leiden der Winter in den Hochgebirgen schon viele Jahre lang in diesem Zustand ertragen hatte.

Denn die Kleidung, die er trug, war keineswegs geeignet, ihn auch nur einigermaßen gegen die Unbilden der Witterung zu schützen. Sie bestand aus den dürftigsten Lumpen, durch Faden und Strickenden zusammengehalten; um die Beine und Füße hatte er Ziegenfelle gewickelt, und das einzige Stück, was ihm einigermaßen zum Schutz und zur Erwärmung dienen konnte, war ein großes Bärenfell, an dem noch Kopf und Klauen niederhingen, und das er wie einen Mantel um die Schultern trug.

Die Bewohner von Trafoi erzählten sich, der Wahnsinnige habe den Bären, von dem das Fell herrührte, selbst in einem furchtbaren Kampf mit dem großen Knotenstock, oder vielmehr der Keule, die er auf seinen Wanderungen trug, getötet, in einem jener wilden Felsenthäler des Madasch, die sonst nie eines Menschen Fuß betritt, und deren Höhlen den Bären des Engadin zum sicheren Winterschlaf dienen.

Man wußte, daß der Teufels-Toni in jener unzugänglichen Einöde, aus der er die Bären vertrieben, sich eine Hütte von Felsstücken und Holz erbaut hatte; kühne Gemsen- und Adlerjäger hatten sie von der Höhe der Felsenmauer liegen sehen, aber niemals hatte ein Mensch gewagt, in den furchtbaren Abgrund hinunterzusteigen und die Behausung des Wahnwitzigen näher zu untersuchen. Obschon niemand recht die Herkunft und Vergangenheit des Wahnwitzigen kannte, zeigte doch der Umstand, daß er eben so gut italienisch wie deutsch sprach, daß er aus Welsch-Tirol herstammen mußte, und die vielen Floskeln lateinischer Gebete, die er in das tolle Zeug, das er sprach, hereinmischte, ließen allgemein glauben, daß er ein aus irgend einem Kloster entflohener und wegen seiner Sünden des Verstandes beraubter Mönch sei.

Das Haus des alten Haspinger, so finster und drohend ihm auch der Hausherr, der einen ganz besonderen Widerwillen gegen den Verrückten zeigte, gewöhnlich begegnete, war eines der wenigen im Gebirge, in denen er zuweilen einsprach, wenn der Hunger ihn allzusehr trieb, ja, für das er eine gewisse Vorliebe zu haben schien; denn er lauerte oft in den Felsen und hinter den Laatschen-Gebüschen verborgen, bis er den alten Mann mit seinem Alpstock hatte seine einsamen Wanderungen in das Hochgebirge antreten sehen, und kam dann plötzlich zum Vorschein, um einen Topf Milch oder ein Stück Brot von der jungen Frau zu erbetteln. Namentlich auf den Knaben derselben schien er es abgesehen zu haben, und so sehr auch die junge Mutter diesen Umgang zu verhindern suchte, konnte sie es doch nicht ganz verhüten, daß der Bube, als er älter wurde und in die Berge lief, häufig mit dem umherschweifenden Verrückten zusammentraf. Ja, das Mutterherz schrieb es gerade diesem Umstand zu, daß das Kind einen so trotzigen boshaften Charakter zeigte.

Durch diese Umstände war es auch erklärlich, daß der Verrückte, während Nazi und seine Enkeltochter so eifrig mit dem Verunglückten und seiner Wiedererkennung beschäftigt waren, sich in den Hausflur hatte schleichen können, ohne daß Tyras, der wachsame Haushund, sich mit mehr als einem unwilligen Knurren dem widersetzt hätte.

» Misericordia! misericordia ad Dei gloriam! Den armen Toni hungert, den armen Toni friert! Der Teufel ist mächtig in ihm! Kyrie eleison! Kyrie eleison!«

Er winselte, wie ein Hund, ahmte dann dessen Bellen nach und pfiff dazwischen wie die Gemse oder das Murmeltier, wenn es auf den Hochalpen spielt und seinen Gefährten anzeigt, daß Gefahr im Anzug. Dann schnellte er plötzlich empor, schlug die Hände zusammen und sprang in tollen Sätzen umher.

»Teufels Unhold,« zürnte der Alte, »willst Ruh geben, oder i hetz den Tyras im Ernst auf Dich. Schaust nit, daß der arme Mann, den Du hast ins Franzosenloch stürzen wollen, ganz z'nicht is? Wie kannst Du wagen, in mei Haus z'kommen nach solcher Unthat?«

Der Verrückte schlich vorsichtig an den in drohender Haltung am Tisch stehenden Greis heran und hob sich auf den Zehen, als wollte er ihm etwas ins Ohr wispern.

»'s is wegen des Fratz des Brosi,« sagte er laut, »er is droben im Posthaus blieben, bis die Schneeschilder und dös Geschniebe die Straß frei lassen! Der Bu hat den Teufels-Toni g'schickt, sei Mueter Nachricht zu geben!« Dann fügte er leiser hinzu: »Aber, alter Nazi, der Teufels-Toni wär selber g'kommen, denn der Teufel is los, und sie reden frantsch auf den Bergen. Puff! puff! i hab's g'hört, wie sie geplautscht haben davon, zehn Jäger vor! Feuer! Paff – da liegt er! Hurra der Andres ist tot – er wird niemals mehr dös Josele schießen lassen!«

»Unhold! was soll die wahnwitzige Red'?« der alte Tiroler hob drohend die Hand.

»'s isch der zwanzigste bald,« fuhr der Irre fort, »i weiß es, wenn auch mei Kopf z'nicht is, für was zähl' ich die Kieselsteine aus dem Bach alle Jahre in meiner Hütt' im Gebirg'? Drum müssen alle hinwerden zur Sühn, die den Andres derschossen, und i will sie all ins Franzosenloch bringen mit samt ihrem roten Gold. Der Joachim Haspinger, der Kap'ziner Patter wird mir helfen dazu!«

»Narr! Der Haspinger is tot! laß ihn in Frieden in seinem Grab ruh'n und verunglimpf' sei Gedächtnis nit, daß Du sei Namen im Mund führst!«

Der Irre lachte höhnisch und legte die Finger auf die Brust des alten Mannes.

»Hoho! bugia! bugia! Lüge! Lüge! Der Teufels-Toni weiß es besser! Wenn auch der Rotbart tot is, sei Vetter, der Nazi lebt noch immer und wird mit dem Tirolerland gegen die Franzosen ziehen! Nazi Haspinger, Haspinger, Nazi Haspinger, hurra! die Franzosen kommen, und sie haben den Sandwirt derschossen!«

»Schurke! wer hat Dir Unhold das Geheimnis geratscht? i schlag' Di z'Boden, wenn der Nam' noch a mal über Dei Lippen kommt!«

Er hatte die Hand erhoben, aber seine Enkelin fiel ihm in den Arm. »Um der Heil'gen willen, Nönl,« bat sie, »leg' nit Hand an den Unglücklichen, deß 's Dir nit zum Fluch wird! Geh zu dem Herrn, er is zu sich g'kommen und will mit Dir sprechen! I red' unterdes mit dem armen Z'nichten und will hören, ob er wahr plautscht, deß er den Brosi g'seh'n und den Kölbl!«

Sie schob den Greis nach der Seite des Feuers, wo in der That jetzt der Slowak auf einem Schemel saß, noch blaß und erschöpft, aber doch mit vollem Bewußtsein, und übernahm es, den Verrückten durch freundliche Fragen und durch Brot und Milch auszuforschen, ob er wirklich den Knaben gesehen.

Der Slowak streckte dem alten Mann die Hand entgegen. »Gott im Himmel in seiner Gnade,« sagte er noch zweifelnd, »so wäre es denn wirklich – Ihr selbst hättet mich gerettet und ich hätte, gerad' im Augenblick, wo ich glaubte, daß alles für den armen Wanderer zu Ende auf dieser Erde, eben die gefunden, die noch einmal zu sehen ich mich sehnte!«

»Pfieti Gott, Herr Matthias,« meinte schnell umgestimmt der Alte und drückte dem Geretteten herzlich die Hand. »So seid Ös dös wirklich? Aber wo kommt Ös her in dem schiechen Wetter? und, nehmt's nit schlimm, in dem Aufzug da?«

»Es ist das Kleid meines Standes, seit jenem Tage her, das Kleid meiner Sühne und Buße! Schon vor Jahresfrist trieb es mich in das herrliche Tirol, um Euch doch einmal wiederzusehen, nachdem ich in Wien am Sterbelager des braven Döllinger gestanden und von ihm erfahren hatte, wo ich Euch zu suchen habe, aber vergeblich fragte ich im Stubbayer Thal und durchwanderte das ganze Land, nirgends konnte ich erfahren, wo der brave Nazi Has …«

»Still,« unterbrach ihn finster der Alte. »Nennt den Namen hier nit, er liegt begraben im Stubbai, und i möcht' nit, deß der Unhold dort bestätigen hört, was der Teufel selber ihm verraten haben muß; denn nur wenige wissen hier, daß wir dem Namen so unschuldig Schande gemacht. Aber was plautscht Ös? is der Schwager Hans wirklich hin?«

»Er starb in meinen Armen am 10. Mai des vergangenen Jahres, und ich suchte Euch und die Mamsell Nannette, um in die Hände der rechtmäßigen Eigentümers das zurückzulegen, was der Sterbende in seiner Gutmütigkeit mir aufgedrungen. Gott sei Dank, der den armen Matthias wenigstens so lange erhalten, daß er denen, die er liebt, beweisen kann, daß er ein ehrlicher Mann ist. In der Hallina dort …«

Der Alte unterbrach ihn nochmals mit einem Wink. »Plautscht nit weiter, Herr, laßt mich erst den da fortschaffen! Was thust mit dem Brief, Teufels-Toni? laß liegen, was Di nit angeht!«

Es war der jungen Frau gelungen, von dem Verrückten durch allerlei Hin- und Herfragen herauszubringen, daß er wirklich den Knaben Ambrosi mit dem Knecht des Hauses droben in dem Wirtshaus auf dem Joch gesehen und von ihm gehört hatte, daß er die Nacht dort zubringen wolle und des drohenden Wetters halber erst am andern Morgen zurückkehren werde. Der Wahnwitzige schwatzte aber zugleich so wirres und tolles Zeug von Reisenden und Franzosen, von Verrat und Tod durcheinander, daß das Mädchen nicht klug daraus zu werden vermochte und sich begnügte, Wein, Brot und Käse auf den Tisch zu schaffen und ihm reichlich davon vorzulegen.

Während der Tolle mit der Gier des Heißhungers die Speisen verschlang und das große Glas Wein hinunterstürzte, waren seine Augen auf den Brief gefallen, den der greise Besitzer des Hauses vorhin gelesen, und er hatte ihn mit der Ungeniertheit seines Zustandes zu sich gezogen und wandte, selbst trotz des Zurufs des Alten, kein Auge davon.

»Willst Du gepanscht sein, Schläge haben. infamigter Dörcher?« zürnte der Greis, indem er unwillig den Brief ihm mit Gewalt wegriß und ihn in die Tasche seiner Jacke steckte. »Was schnüffelst in ander Leut' Geheimnis und schreist's nachher dem welschen Volk in den Bergen aus? Fort mit Di in den Stadl, wo ich aus Christenbarmherzigkeit Di für die Nacht a Lager gönnen will.«

»Er is ganz z'nicht und a fieriger Putz,« Böser Kobold. fuhr der Alte gegen seinen lieberen Gast fort. »In sa Tück und Bosheit treibt er's allen Leuten schlimm und hat auch Ös gesucht ins Verderben zu stürzen, der Unhold. Aber die Mutter Gottes und der heili Antoni haben's zum besten gewandt und er is doch nu einmal a Mensch und i kann ihn deshalb nit nausstoßen in Wind und Wetter!«

Der Mann sah ihn an, die Speise und der Wein, die er genossen, hatten dem zusammengeschrumpften elenden Körper sichtlich wohlgethan, und eine leichte Röte zeigte sich auf seinen hohlen Wangen. Seine Augen funkelten bedeutsam unter dem weißen wirren Haar, als habe er ein wichtiges Geheimnis zu verkünden.

»Glaub's nit, Nazi,« sagte er flüsternd, »der Rote is nit tot, wenn sie's auch tausendmal schreiben vom Amt! Die Tiroler stehen auf, sie werden ihn brauchen, bald, bald, denn i sag' Dir, Nazi, die Franzosen kommen, und dann muß der Rotbart das Kreuz tragen vor dem Landsturm her, mit dem Gamsbart und der Kapaun- und der Pfauenfeder auf dem Hut, wie am Berge Isel und an der Brixener Klaus bei Mittewald am Eisack! Denn i leid's nit, daß der Wassermann Paul Wassermann, der tapfere Chorherr von Neustift, der nach dem eigenen Geständnis des berühmten Kapuziner-Paters Joachim Haspinger bei dem großen Tiroler Aufstand, im Jahre neun, mutiger und aufopfernder als er, das Kruzifix den Tirolern in den Kämpfen an der Eisack und bei Aischa voraustrug, und als ihn der Marschall Lefèvre frug, wo er das Kriegsführen gelernt, begeistert dem Herzog das Kruzifix zeigte mit der Antwort: »Der hat's mich gelehrt!« es thut, und i selbst kann das Kreuz nit anruhren, oder der Teufel holt meine Seel'! Dös ist der Paktum, den er mit mir macht, wenn er des Nachts zu mir kommt und mit mir spricht. Sire! le peuple tirolien confiant dans la bonté, la sagesse et la justice de votre Altesse impériale remèt par nous, ses organs, sa sorte entre vos mains.« Der Anfang der berüchtigten Unterwerfungsadresse an den Vizekönig von Italien.

»Was soll dös Geschnack, dös a Christenmensch nit versteht,« zürnte der Alte. »Wenn i nit wüßt, deß der teuflische Verräter sei verdienten Lohn gekriegt und beim Teufel in der Hölle schmort, könnt man sich schieche Gedanken machen. Aber viel besser magst sicher selber nit wesen sein, und daher hast auch die unglückliche Wissenschaft. Fort mit Di in den Stadl, wenn D' die Nacht nit auf dem Schnee schlafen willst.«

Der Verrückte hatte, ohne auf die zürnende Rede zu achten, vor sich hin gemurmelt. » Le grand Napoléon et son digne fils seront désormais les protecteurs du peuple tirolien!« schloß er laut, »i sag' Dir, Nazi, die Franzosen sind da, i hab' sie selbst g'hört droben auf dem Joch, und sie werden kommen wie der Schneesturm. Sie haben den Andres dermordet, nit der Joseli, nit der Joseli, wie die Leut' lügen! Wenn Du klug bist, hilfst sie mir, ins Franzosenloch werfen, sonst trinken sie Dir all den Leitenwein aus, der doch an alten Körper so wohl thut!«

Er griff nach der Flasche und setzte sie an den Mund. Der Hausherr ließ ihn sie ruhig leeren, denn er hoffte, der Bergwein werde den Unhold betäuben und ihn in desto festeren Schlaf versenken. Dann aber drängte er ihn mit Ernst und Drohungen nach der Tenne und dem anschließenden Stadl, und verließ ihn nicht eher, als bis er in dem warmen, hier aufgestapelten Heu lag.

Als er in den Küchenflur zurückkehrte, fand er das Paar am Feuer sitzen, den Slowaken die Hand des Mädchens in der seinen. Ihr freundliches, von dem Zug der stillen Trauer nicht entstelltes Gesicht, war von glühendem Rot bedeckt, ihr Busen wallte heftig. Es war, als kämpfe sie mit einem Geständnis, das doch nicht über ihre Lippen wollte.

»Nandl, Nandl,« sagte gutmütig der Greis, »was bischt Du doch für a ranziges Assel, Faule Weibsperson. deß Du hier sitzt und planzederst Unnützes Zeug schwatzen. und nit für den Gast sorgst, der's dechter so nötig hat. Schlein Di Madel, und hol' mei alten warmen Joppen herbei, deß der Herr Matthias ihn anziehen kann. Bring' a Fleisch, wenn's im Haus hast und a guten Bodenwein a und a Gewürz, deß der Gast a warmen Wein in den Leib kriegt, dös wird ihm gut thun.«

Das Mädchen sprang hurtig auf und entzog sich mit dem raschen Schaffen und Walten der Verlegenheit, auf eine Frage zu antworten, die der ehemalige Student an sie gestellt hatte. Sie flog so rasch und behäbig umher, daß man hätte meinen sollen, die fixe Dirne von sechzehn Sommern vor sich zu schauen, als die sie vor zehn langen und traurigen Jahren nach Wien gekommen war. Villafranca. II. Band, S. 217.

Dem Gast aber schien gleichfalls durch die Worte des Alten eine Last von der Brust genommen, die ihn vielleicht schwerer gedrückt, als die Schneemassen, die vorhin der Verrückte draußen am Franzosenloch auf ihn gehäuft. Im Gespräch, während der Großvater den Wahnwitzigen zur Ruhe brachte, hatte er den Glauben zu verstehen gegeben, daß sie gewiß längst glücklich verheiratet sei.

Als der Greis nun von dem Dirndl sprach, war unwillkürlich die Röte der Freude und Überraschung in sein Gesicht geschossen, und die Bewegung von der, der sie galt, nicht unbeachtet geblieben.

Der Hauswirt ließ ihm nicht viel Zeit zu weiterem Nachdenken, sondern rief ihn zu dem Tische, den seine Enkelin unterdes rasch mit kaltem Fleisch, Käse und einem Kruge heißen Bodenweins besetzt hatte.

»Die Joppe, Dirndl, die Joppe!«

Das Mädchen hatte aus der Kammer eine alte warme Joppe des Tirolers geholt und brachte sie dem Slawonier.

»Werft dös Züg fort,« meinte der Alte, »es is nix für Enk und paßt nit z'sammen. Der Mensch soll in seinem Stand bleiben und sich nit schlechter machen, als er is. 's is nur a Sekten von Enk, deß Ös wie a Dörcher und Laninger im Land herumlatscht, und i leid's nit weiter. Ös habt dem Nazi Haspinger beigestanden in seiner Not, und Ös sollt bei ihm verbleiben und sei Brot teilen, so lange es währt, wenn Ös wollt.«

Der ehemalige Student griff verlegen nach der nassen zottigen Bunda, die Nandl ihm von der Schulter nahm.

»In dem schlechten Kleidungsstück,« sagte er nicht ohne Befangenheit, »ist etwas für Sie, Herr Haspinger. Deshalb suchte ich Sie auch durch ganz Tirol, und ich danke Gott, der Sie mich finden ließ, um eine Pflicht zu erfüllen, ehe mein trauriges Leben zu Ende geht.«

Er griff nach dem Messer, das vor ihm auf dem Tisch lag, um langsam die Nähte des groben Mantels von Halinawolle aufzutrennen.

Plötzlich fielen Goldstücke, blanke schimmernde Dukaten auf das saubere Leinentuch des Tisches.

Der Alte und das Mädchen sahen staunend zu, wie sich der goldene Regen mit jedem Augenblicke vermehrte und zum blinkenden leuchtenden Haufen anschwoll.

Noch zwei andere Augen, von keinem der drei bemerkt, funkelten unheimlich nach dem Schatz.

Es war der Wahnsinnige, der sein Gesicht droben tief im dunklen Hintergrunde des Flurs, wo der Heustadl an diesen stieß, durch die Spalten zweier Bretter drängte.

»Gold,« murmelte er, »o rotes Gold! so schön und rot wie jenes, was der Herzog mir gab, als der Andres …« Seine Worte verloren sich in dumpfes Geflüster, seine Finger krallten sich wie die Klauen des Lämmergeiers zwischen die Fugen, als könnten sie die Bretter auseinander reißen und ihm den Weg zu dem Schatze bahnen.

»Heili Antoni,« sagte endlich das Mädchen, die Hände zusammen schlagend. »Des is ja a Schatz, wie ihn die heili Mueter zu Einsiedl kaum hat!«

»Und mit all dem Gold,« fragte wiederum mißtrauisch der Alte, »seid Ös gereist wie a Dörcher durchs Land? I will doch hoffen, daß Ös a rechtmäßiger Weis' zu dem vielen Gold gekommen seid?«

»Es ist nicht mein Eigentum, es gehört …«

»Wem?«

»Ihnen, Herr Haspinger, und der Mamsell Nannette dort!«

»Plauscht nit französisches Zeug, Mann,« sagte unwillig der Greis; »das Dirndl ist ka Mamsell und heißt Nandl auf gut tirolerisch. Aber platzedert ka Zeug nit, was hab' i mit dem Geld zu schaffen?«

»Es ist der Nachlaß Ihres Schwagers Döllinger,« sagte hastig der Slowak, »es müssen zweihundert Dukaten sein, und hier – hier …«

Er riß eilig die Naht weiter auf und holte ein Päckchen, sorgfältig in Wachsleinwand geschlagen, hervor. »Nehmen Sie, Herr Haspinger, es sind zehntausend Gulden in Banknoten!«

Der Alte starrte ihn an. Die allen Tirolern eigene Liebe zum Gelde kam unwillkürlich bei ihm ins Spiel. »Zehntausend Gulden? i wußt zwar, daß der Hans a Geld hatt', dochter hätt' i mei Lebtag nit geglaubt, deß es so viel g'west.«

»Er ist immer ein sparsamer Mann gewesen, Herr Haspinger, und die Hausmeister in Wien stehen sich gut. Vielleicht hat er auch in der Zahlenlotterie gewonnen, ich weiß, daß er zuweilen setzte. Ich bitte, nehmen Sie, es ist bis auf den Kreuzer alles, was vorhanden war!«

Es war eine gewisse Hast und Unsicherheit in dem Wesen des ehemaligen Studenten, als er das Geld so dringend dem alten Tiroler zuschob.

Plötzlich legte das Mädchen die Hand auf den Goldhaufen und die Banknoten.

»A Augenblick, Nönl,« sagte sie mit bestimmtem Ton. »I denk', mer müssen doch annerst zuerst den Herrn Matth's frag'n, ob der Ohm Döllinger das ganze Gut a uns vermacht hat?«

»Es gehört Ihnen, Nandl, Ihnen und Ihrem Großvater!«

»Dann müßt doch sicherlich a Papierl drüber da sein, Nönl, und dös müßt mer zuvor doch schau'n!«

»Ich habe keine Papiere,« sagte verlegen der Slowak, »aber so wahr ich ein ehrlicher Mensch bin, es ist das Erbe des braven Döllinger und gehört Ihnen!«

Das Mädchen sah ihm scharf ins Gesicht.

»Gutt, Herr Matth's, ich will's glauben, deß es dös Geld vom Ohm is. Aberst schwört Ös bei der Mueter Gottes, daß der Ohm es af uns alleinigt vermacht hat!«

Der Slowak schlug hocherrötend die Augen zu Boden. »Ich versichere Sie – das Wenige, was ich brauche …«

Der alte Mann stand auf und trat hochaufgerichtet vor ihn hin.

»Das Nandl hat recht, Herr Matth's,« sagte er fest und ernst. »I will wissen, woran i bin. Antworte Ös, wie a ehrlicher Mann und nit wie a Patscher, der a Lüg' macht. Hat der Hans sei Gut uns vor Gericht und durch Testament vermacht?«

»Das nicht, Herr Haspinger, aber …«

»Bleiben's bei der Sach', Herr! Hat er Enk anders den Auftrag gegeben, dös Geld mir und dem Nandl zu bringen?«

Matthias schwieg.

»Antwort, Mann, wenn i glauben soll, deß Ös a ehrlicher Bursch' seid! Wie kommt Ös zu dem Geld?«

Der Bruder der unglücklichen Hanka zögerte immer verlegener und unruhiger, aber die Hand des alten Mannes lag schwer auf seiner Schulter.

»Gebt Antwort, Herr, deß mer nit Schieches von Enk denken müssen, deß Ös am Ende gar …«

Der Slowak richtete plötzlich den Kopf empor.

»Halt, Herr Haspinger, denken Sie nichts Schlimmes von mir. Das Geld ist ehrlich empfangenes Gut, aber« –

»Nun?«

»Ich kann es unmöglich behalten!«

»Nit behalten? so gehört Enk das viele Geld!«

Der Mann hatte aus der Brieftasche, die er in seiner Ledertasche trug, ein zusammengefaltetes Papier genommen und hielt es dem Tiroler hin.

»Wenn es denn einmal sein muß, lesen Sie!«

»Les Du, Nandl! Du weißt, ich bin nit sehr gelehrt!«

Das Mädchen hatte rasch das Papier entfaltet und überflogen. Sie stieß einen Ruf der Freude aus. »Schaut, Nönl, i wußt es ja, daß Ös den Matth's unrecht verschörgt habt! Dös ist halt a richtig Testament von Ohm Döllinger, und aus Dankbarkeit für sei treue Pfleg' in der Krankheit hat er dem Matth's all sei Geld und Gut geschenkt in aller Form Rechts!«

»Es war so wenig, was ich für ihn gethan, die gewöhnlichste Schuld der Dankbarkeit. Er hat mich gegen meinen Willen und meine Bitte zum Erben eingesetzt, aber ich gelobte mir sofort mit einem heiligen Eid, daß das Gut an die rechten Erben kommen solle. Und so hab' ich die sonstige Habe des würdigen Mannes verkauft und Sie seit dreiviertel Jahr unablässig gesucht. Gott sei Dank, der Sie mich endlich finden ließ! Und hier nehmen Sie das Gold, denn es brennt in meiner Hand, bis es in die seiner rechtmäßigen Eigentümer kommt!«

»Da sei der Herrgott vor,« sagte der Greis, »deß i Di, mei Sohn, um a Vierer Eine kleine Teilungsmünze. bring' von dem, was Dir rechtmäßig g'hört! Der Hans hat wohl gethan, deß er sei Erb' Dir vermacht, denn i und das Nandl brauchen sei Gut nit. I selber aber bin in Dei' großen Schuld, von damals her, als Ös mi so treu gepflegt in der wüsten Kaiserstadt, as mir so verhutzelt im Kopp war; so bleibt bei uns, Herr, und Lieb und Treu sollen Enk nimmer fehlen!«

»Wie? Vater Haspinger, Sie wollten mich wirklich aufnehmen, den armen mit dem Fluch seiner Geburt beladenen Slowaken, der mißbraucht und ausgestoßen von aller Welt, mit dessen Leben und Seele das schändlichste Spiel getrieben worden, und der nichts hat als seine Buße und Reue?«

»Der Herrgott im Himmel weiß halt am besten, wie er's leiten thut,« sagte feierlich der Alte. »Es is kaner in der Welt, der sich rühmen mag, daß er ohne Schuld sei und der allein es gewest, den haben sie ans Kreuz g'nagelt. Schlag' ein, mei Sohn, wenn Du bei uns bleiben willst, Du sollst mei wahrer Sohn sein, und der Franz mit seiner Reu' im Himmel wird sich freuen, wenn er's sieht. Und was halt die da betrifft, sie wird Dir a wahre Schwester sein, und mehr, wenn Du willst!«

Der Alte hielt ihm die Hand hin, das Mädchen lehnte unter Thränen der Freude, den ersten seit vielen langen Jahren! ihren freundlichen bittenden Blick auf den Mann ihrer stillen Liebe gerichtet, das Haupt an die Schulter des Greises.

»Schaust, Nönl, ich hab' Dir's gleich g'sagt, daß der Matthis a braver Bu g'blieben, as Du dös blitzende Ringl auf seinem Brustlatz g'sehen!«

Der junge Mann hatte selig und gern die Hand erhoben, um sie in die des Tirolers zu legen und damit eine feste und glückliche Heimat sich zu gewinnen, als ihn dies Wort traf.

»Den Ring?« er zog die Hand zurück und faßte danach. »Gott im Himmel – ich hatte den Ring vergessen! Nein, Vater Haspinger, Nanette, Sie, die ich tausendmal mehr liebe, als mein Leben – lassen Sie mich! ich bin nicht würdig, in Ihrem Kreise zu leben und glücklich zu sein! Mein Schicksal ist allein die Reue und Buße. Mein Werk ist hier gethan, ich beschwöre Sie auf meinen Knieen, nehmen Sie das Geld, und lassen Sie mich fort, noch in dieser Nacht, sogleich – fort in die weite Welt, die meinen Kummer und meine Reue in ihrem weiten Raum allein verbergen kann!«

Das Mädchen sah ihn bestürzt an, und über das bisher so helle glückliche Gesicht flog ein dunkler Schatten.

»'Sisch alles wahr, was der Herr Matthis plautscht,« sagte sie betrübt. »Wer halt a Schuld af sie hat und a Unglück, der muß sie halt tragen sein Leb'lang und wenn er noch so gering davor kann!«

Sie zog den Zipfel ihrer Schürze zu den Augen und weinte. Das einfache gute Wesen dachte nicht an eine Schuld des Mannes, den sie seit zehn Jahren liebte, sondern an das Unglück, das sie ihre eigene Schuld nannte. Weder sie noch der alte Mann hatten je die demütigende, verächtliche Stellung begriffen, die der junge Student einst bei seiner sogenannten Wohlthäterin hatte einnehmen müssen.

Der Greis sah finster vor sich hin. »Wer Dir's ang'than, Dirndl, der wird's verantworten müssen, wenn der Herr droben im Himmel zu Gericht sitzt! Wenn er aber af Erben dem Nazi Haspinger vors Gesicht tritt, dann soll er erfahren, daß es noch a Straf giebt hier unten! Von Enk, Herr Matthis, aber hätt' i nit g'dacht, deß Ös dem armen Ding da sein Unglück so schlimm anrechnen würdet, denn niemand weiß so gut als Ös, deß sie nit davor kann!«

Der Slawonier sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Haspinger, Gott im Himmel weiß es, wie gern ich mir hier, bei denen, die ich so innig liebe, eine Stätte baute, und wie oft ich davon geträumt, an der Brust der großen Natur, in der Mitte guter und aufrichtiger Menschen die Flecken zu vergessen, die meiner Jugend aufgedrückt sind. Aber der Fluch, der mich belastet, treibt mich fort; denn selbst mit dem Bild dieser Reinen im Herzen und trotz der Buße, die mich selbst wieder rein und ihrer würdig machen sollte, konnte ich mich nicht frei halten von dem Fehl und der Sünde, und ich kann der Erinnerung daran nicht einmal fluchen!«

Der Tiroler schüttelte den Kopf, während Nandl noch immer still fortweinte.

»Nehmt's nit übel, Herr Matthis,« sagte er, »aber dös is gar aus, dös versteh' i nit, was Ös da plautscht von Eurer Schuld und von der Sünd'. Ös seid a g'studierter Mann, aber mer sind nur einfache Leut'. Das Nandl hat sich nit wegg'worfen und wird sich nit wegwerfen, und wenn das Unglück ihr passiert is mit dem Ambros, so is es Gott's Wille gewesen, wie mit dem Franz, weil i alter Mann zu stolz g'tragen hab' mei Haupt auf mei Namen im Land Tirol. Der Ambros …!«

Seine Worte, die dem Studenten so unverständlich waren, als dessen eigene Anklage dem Greise, wurden durch den langgedehnten melancholischen Ton eines Posthorns unterbrochen, der von der Straße herüber klang.

Zugleich donnerte es oben an der Stadelwand, wo der Verrückte zur Ruhe gebracht worden, heftig gegen die Bretter.

»Nazi! Nazi! lad Da Stutz'n, Mann, der Franzos is da! Hurra auf sie! es lebe der Kaiser und das Land Tirol! Ins Franzosenloch mit ihnen! ins Franzosenloch!«

»Is der Unhold schon wieder auf dem Gang?« sagte unwillig der Alte, indem er sich erhob. »Aberst er erinnert mi in der That an eins, dös i ganz vergessen in der Freud', Ös wiederzuseh'n, und dös a echter Tiroler niemals vergessen soll!«

Er ergriff das Gewehr, das er vorhin, den Wahnwitzigen zu schrecken, in die Nacht hinaus abgeschossen hatte, und begann es ruhig zu laden.

Die kleine Unterbrechung schien allen wohlzuthun in dem schmerzlichen und seltsamen Gespräch, das sich zwischen ihnen entsponnen hatte. Nur der Verrückte gab keine Ruhe, sondern klopfte fortwährend an die Bretterwand und schrie: »Die Franzosen kommen, die Franzosen kommen, Nazi! Der Teufels-Toni hat sie hierher g'führt! Nehm' Di in acht, Nazi, oder sie derschießen Di wie den Andres in Mantua!«

Unterdes hatten sich die Signale des Posthorns wiederholt immer lauter und wie es schien, von derselben Stelle kommend.

»Was brauchen die Tschoggl in solcher Nacht da zu fahren den schlimmen Weg,« sagte endlich ärgerlich der Greis. »Sie müssen's schleini haben, deß sie noch nach Trafoi wollen in dem Schnee! Willst Ruhr halten, Du verhutzelter Dörcher da oben, oder i komm mit dem Stecken raufer und werd' Dir's Maul stopfen!«

Die junge Frau sah schüchtern empor. »Vielleicht is gar der Bros mit dem Posthans,« sagte sie halb bittend halb fragend. »I will hinausgeh'n, Nönl, und schau'n, was der Praxer des Postmeisters will, des er so viel bläst.«

»Bleib Du hier,« meinte der Alte, »es wäre allerdings möglich, denn der Bu ändert leicht sei Sinn. Aber i will selber nachschau'n, was los is.«

Er nahm den Hut vom Flock, öffnete die Thür und trat hinaus. Auch der Slawonier hatte sich erhoben und wollte ihm folgen, aber die Hand des Mädchens legte sich schüchtern auf seinen Arm.

»Laßt den Nönl allein geh'n, Herr Matthis,« sagte sie bittend, »er is stark und ihm thut das Wetter nix. Aber Ös seid noch so schwach von der Not und …«

Sie hielt zögernd inne, während sie beide unter dem Vordach der Thür standen, dann sagte sie leise:

»Und i möcht' halt a paar Wort mit Enk reden, während der Nönl fort is. Aber laßt uns hinaustreten unter Gottes freien Himmel, da wird mer die Brust leichter werden, und i werd' von Herzen wegplauschen können.«

Sie traten beide hinaus in die Nacht, die mit dem raschen Wechsel der Gebirgswitterung wunderbar klar geworden war.

Der Mondschein lag hell über der wildromantischen Gegend und zeichnete auf den weißen Flächen mit seinen dunklen Schatten die Konturen der Berghänge und Schluchten ab. Hin und wieder traten aus der Schneedecke die mächtigen Felswürfel schwarz hervor, und drüben dehnten sich wie erstarrte Massen zwischen den riesigen Berghörnern die ewigen Gletscher. Ein leichter Frost war dem Schneegestöber gefolgt und in dem Strahl des Mondes blitzten Myriaden von Sternen auf den Schneewänden.

Es war eine jener Scenen erhabener Einsamkeit, wie sie so unendlich wohlthuend auf die menschliche Seele wirken und die stürmischen Wellen der Leidenschaften und der Schmerzen besänftigen. Überall hehre, majestätische Stille, keine Regung in der ganzen Natur. Nur dort unten, wo die prächtige Alpenstraße ihren weiten Bogen in die Nähe des einsamen Berghauses schlug, sah man eine dunkle Gruppe, Pferde und Wagen oder Schlitten, auf die der alte Tiroler rüstig losstieg den Berghang hinunter über die gefährliche Schlucht, während von Zeit zu Zeit noch das Signal des Postillons herüber scholl.

Der Slawonier stand eine Weile und schaute auf das großartige Bild um ihn her, das seinen mächtigen Eindruck auf ihn nicht verfehlte. Seine so tief erregte Seele begann sich zu beruhigen, und die Hoffnung auf die endliche Gewinnung von Frieden und Glück, der ja ein Menschenherz so schwer oder vielmehr nie entsagt, erwachte wieder. Er hatte in diesem mächtigen Bilde der Majestät des Winters um sich her fast vergessen, daß das Wesen an seiner Seite stand, von dem allein ihm Ruhe und Glück kommen konnte und von dem er doch durch eine so unendliche Kluft getrennt war.

»Darf i zu Enk reden, Herr, so wie mir ums Herz'l is?« fragte kaum hörbar das Mädchen.

Er faßte ihre Hand und drückte diese an seine Brust. »O wenn Sie wüßten, Nanette, wie gern ich Ihre freundliche Stimme höre, wie so oft ich mich in fremden Ländern, in Not und Elend danach gesehnt habe. Sie würden die Frage nicht erst thun. Es ist vielleicht der einzige Augenblick, den wir noch allein zusammen sind, so lassen Sie uns diesen nicht verlieren, sondern uns sprechen, wie es uns um das Herz ist.«

Das Mädchen erwiderte leise den Druck seiner Hand. »Is es denn wirklich wahr, Herr, deß Ös uns wieder verlassen wollt?« fragte sie.

Er sah einen Augenblick finster vor sich hin. »Es muß sein, Nanette,« sagte er endlich, »ich fühle, daß ich meine Buße leiden muß, daß ich Deines reinen Friedens nicht würdig bin.«

»I hab's wohl schaut und g'dacht,« sprach sie mit leiser Trauer, »wenn i's a dem Nönl nit hab' zugeben wollen, a's i das schöne Ringl g'sehn auf Eurer Brust, deß Ös a vornehmern und bessern Schatz habt, a's dös arme Nandl. Aber 's giebt halt viel Unglück in der Gottes Welt, i han's a derfahren, Herr Matthis, und vielleicht hat Enk dös Unglück a betroffen i Eurer Lieb', deß Ös sie ni heiraten könnt und in der Fremde Ruh' suchen müßt. Da denk' i halt, Ös wär't hier unter Freunden, die 's gut meinen und a'frichtig mit Enk, und wenn a nichts daraus werden kann mit dem, was der Nönl meint zwischen uns beiden, weil Ös verlobt seid, und i a unglücklich verachtet Ding bin, so will i doch Enk a gute treue Schwester sein und Enk pflegen, so lange es Enk hier g'fallen thut!«

Sie holte tief Atem nach der langen Rede, als freue sie sich, die Last vom Herzen los zu sein und stand, die Hände über die Brust gefaltet, mit treuherzig und bittend erhobenem Auge bangend vor ihm.

Der warme naive Ausdruck des Gefühls erschütterte tief den Mann. »Wie, Nanette,« sagte er fast heftig, »Sie könnten wirklich glauben, ich hätte eine andere geliebt als Sie?«

»'s mag vielleicht gewesen sein,« sprach das Mädchen, »a's i a jung saubres Dirndl war da unten in Wien, aber, da mi der Herrgott so gestraft und was dechter wieder mei Glück is, da is ka Red' mehr davon, und i hab' mer den Gedanken aus dem Sinn schlagen, wie Ös selber. Das Ringl –«

»Der Ring, ja, er ist es, der uns trennt, aber anders als Du meinst!« und er faßte wild nach dem Kleinod und wollte es von seiner Brust reißen. »Das Zeichen meiner Schuld ist er und des Frevels an Dir, die ich vom ersten Augenblick an geliebt! Und weil es mich mahnt, daß ich Deiner nicht würdig werden konnte mit all meiner Liebe und Reue, weil mein unglückliches Geschick mich immer wieder zurückgeworfen in die Schmach und Sünde, deshalb ist meines Bleibens nicht hier bei Dir, der Reinen, Unschuldigen, die niemals gefehlt!«

»O Herr,« schluchzte das Mädchen, »wie könnt Ös doch so hart mi verspotten, und Ös wißt doch recht gut …«

Sie verbarg in Scham ihr Gesicht in die Schürze. Er sah sie erstaunt an.

»Was wollen Sie damit sagen, Nanette?«

»Wenn i den Bros' lieb', i kann doch nit anders, und es is doch die Natur, die Gott jedem Menschen ins Herz gepflanzt hat!«

Er preßte finster die Hand an seine Stirn. »Sehen Sie wohl,« sagte er mißverstehend, »ich dachte es wohl, ich kann nicht hier bleiben. Was sollte ich hier und täglich sehen, wie Sie einen anderen lieben! Möge er dessen würdiger bleiben als ich! Möge er Sie recht glücklich machen, wie Sie es verdienen! und ich, ich will gehen, sobald der Morgen graut, aber vergessen, Nandl, werd' ich Dich nie, und Dein wird der elende Wanderer, der ärmste Sohn seines Volkes, gedenken, wenn er bald einsam und elend an irgend einem Feldrain sich zum Sterben hinlegt!«

Er wandte sich von ihr, um in das Haus zurückzutreten. Sie hielt ihn zurück.

»Was plauscht Ös, Herr? habt Ös denn nit verstanden, der Ambros …«

»Nun eben! Du wirst ihn heiraten und glücklich sein!«

»Aber der Bros – der Bros …«

»Nun?«

»Der Ambros ist ja …«

Der Ruf des alten Haspinger unterbrach sie. »Hierher, Herr, wenn's g'fallt,« sagte er. »Sie werden halt wenigstens a Obdach haben für die gnädige Frau, bis der Postillon die Leut' aus dem Dorf heraufg'holt hat!«

»Wir sind zufrieden, lieber Mann,« sagte eine scharfe hochmütige Frauenstimme, »wenn wir nur eine warme Stube und sichern Aufenthalt haben. Es soll Ihnen alles reichlich bezahlt werden. Versprich dem Postillon doppeltes Trinkgeld für die Leute, Ferdinand, damit sie sich eilen; Du weißt, daß es nötig ist!«

Der Ton der Stimme hatte wie ein elektrischer Schlag auf den ehemaligen Studenten gewirkt. Er starrte auf die ankommende Gruppe und trat dann hastig, von dem Mädchen sich losmachend, in das Haus zurück.

Hier hatte unterdes während der Unterredung der beiden ein anderes Drama gespielt.

Der alte Tiroler hatte kaum den Flur verlassen und seine Enkelin war ihm mit dem Slawonier nachgefolgt, als sich oben an der Bretterspalte des Stadels wieder das verzerrte Gesicht des Wahnsinnigen zeigte.

Seine Augen blitzten gierig nach dem Tisch, in dessen halboffene Schublade der Alte vor seinem Weggehen einfach das Geld gestrichen hatte; dann lugten die funkelnden Augen sorgsam in allen Winkeln umher.

Als der Verrückte sich überzeugt, daß niemand mehr zugegen und selbst sein alter Feind, der große Hund, dem Hausherrn gefolgt war, faßten seine mit langen Nägeln klauenartig besetzten Hände in die Spalte der Bretter und rissen mit einer Kraft daran, die niemand dem elenden greisen Gerippe zugetraut haben würde.

»Gold!« murmelte er, »rotes Gold, i hab' es funkeln sehen, gerade wie damals, als der Herzog mich zu dem Tisch führte, auf dem es lag neben der Karte vom Gebirg mit dem roten Strich im Passeier Thal! Hu wie es blinkte und blitzte, und ein kurzes Wort, ein kurzer Weg! der Geizhals hat es verschlossen, der Nazi Haspinger, er ist schiech auf mich, weil ich dem blanken Offizier den Rat gab mit seinem Kind und sie sein Weib getroffen haben statt seiner! Der Narr – warum konnt' er nit reden! Der Franz Raffel hat's rascher gethan, als das Feuer an seine Fußsohlen brannte, und ich hatte mei rotes Gold und Mantua …« Er hatte, während er die Worte murmelte, heftig weiter gearbeitet; nur zuweilen unterbrach er sich, um zu lauschen, ob das Geräusch der aufgebrochenen Bretter etwa einen der Hausbewohner herbeiführe.

Aber der Slowak und das Mädchen vor der Thür des Hauses waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf das zu achten, was im Innern des Hauses vorging.

Endlich hatte er wirklich ein Brett losgebrochen, das Blut floß von seinen hageren Händen, aber er achtete es nicht. Mit einem kindischen Lachen drängte er sich durch die Spalte.

»Ha ha! wie er mocken wird, der Nazi Haspinger, wenn er den Vogel ausgeflogen findet, obschon er seine Riegel vor die Thür geschoben. Und mit dem Vogel sein rotes Gold!«

Er hatte sich herabgeschwungen in den Flur, der durch das Feuer auf dem Herd beleuchtet war und schritt, die blutigen Hände vorgestreckt, auf den Zehen, mit unheimlich funkelndem Auge nach dem Tisch.

»Gold! i muß es halt noch einmal sehen, es is lange her, daß i ka Gold mehr gefühlt habe! es is mei Gold, was thut der Haspinger mit, der Spitzbub! Es ist mein, i hab' es erkauft mit meiner Seel'! I bin der Teufels-Toni! ho ho!«

Er war an dem Tisch und hatte die Schublade aufgezogen, seine blutigen Finger wühlten krampfhaft in dem Golde.

»Es is mein, es is mein!« stöhnte er, »Franzosengold! i muß es dem Haspinger nehmen, denn der Nazi is a Verräter am Tirolerland, er holt die Franzosen herein! jetzt, in diesem Augenblick! Ins Franzosenloch mit dem schiechen Verräter!«

Er begann hastig das Gold in die Taschen seines zerrissenen Rocks zu stecken, durch die Löcher fiel es zum Teil wieder heraus. Als ihm das Paket mit den Banknoten in die Hände kam, riß er es auf, zuckte aber davor zurück und schleuderte es in die Herdflamme. »Ka Papier nit, ka Papier nit!« sagte er hastig, »dös Papier is nicht blank wie das Gold und das Blut is nit abzuwaschen von ihm! Gold! Gold!«

Er war mit dem Raube fertig, die rote Flamme beleuchtete mit zuckenden Schatten sein widriges Gesicht, wie er hastig, ängstlich umherschaute.

Sein Auge fiel auf den Stutzen, den der Greis in den Winkel gelehnt, als er von dem Horn des Postillons zu Hilfe gerufen wurde. Ein Gedanke zuckte ihm durchs wirre Hirn.

»I will die Adler schießen im Hochgebirg, den Franzosen-Adler! – wie damals der Nazi an der Stubbayer Wand – ad dei gloriam, ad dei gloriam!«

Er hatte den Stutzen erfaßt und sprang mit ihm davon, nach der Hinterpforte des Hauses zu, die er, kindisch vor sich hinlachend, leise wieder hinter sich schloß.

Es war kaum geschehen, als der Slawonier hastig eintrat. Sein braunes blasses Gesicht zeigte die Spuren großer Aufregung, er warf rasch einen Blick umher nach seiner Bunda und der kleinen Habe an Werkzeugen, die allein bei seinem Sturz in den Schnee gerettet worden. Dann schaute er sich um nach einem zweiten Ausgang, aber weniger vertraut mit der Bauart der Tiroler Häuser, als der Verrückte, konnte er sich nicht sogleich orientieren, und schon war das Mädchen an seiner Seite.

»Jesu Maria, was is Enk, Herr Matthis? Ös könnt doch nimmermehr fort in der Nacht! i leid's nit, in ka Fall!«

Er drängte sie von sich, denn an der Thür hörte man bereits die Fremden. Der Slawonier trat in den finstersten Winkel des Flurs und sank dort, als wären seine Kräfte erschöpft, nieder auf eine Bank.

»Kein Wort, Nandl! was auch geschehen mag, was Sie auch hören mögen, das Einzige glauben Sie, ich werde Sie lieben bis zum Tode!« – – –

Die Gruppe, die sich dem Hause von der Straße her über den schmalen Pfad der festen Schneebrücke genaht, bestand aus dem führend voranschreitenden alten Mann, der sich mit verschiedenen Reiseeffekten beladen hatte, und einem Herrn und einer Dame, beide in Pelze und Mäntel gehüllt. Trotzdem war im Mondlicht leicht zu erkennen, daß die Gestalt der Dame nur mittelgroß und voll war, kleiner als die ihres Begleiters, der die Reisemütze tief über Stirne und Ohren gezogen hatte.

Der Postillon folgte mit einem Nachtsack und Reisekorb, die er unter der Veranda des Hauses niedersetzte.

Tyras, der Hund, war bewachend bei dem Gefährt zurückgeblieben.

Der Hergang war einfach folgender gewesen. Reisende, die aus irgend einem Grunde die größte Eile hatten, waren von der Poststation auf dem Joch abgefahren und hatten glücklich dem Schneesturm bis hierher getrotzt. Nur unweit des einsamen Hauses des alten Tirolers war die Fahrt auf einen breiten Schneewall gestoßen, der die Windbahnen und Schneeschilder Windlawinen und Schneemassen an Felsen geweht. in dieser Ecke so breit und hoch aufgetürmt, daß nur ein einzelner Mann oder ein einzelnes Pferd sich durchzuarbeiten vermochte, aber unmöglich ein schweres Gefährt, ohne daß durch vieler Hände Arbeit der Weg wieder freigeschaufelt werden konnte.

Das hatte der Postillon auch den beiden Reisenden erklärt, die der bedeckte, aus einem auf Kufen gesetzten Kutschkasten bestehende Schlitten barg, und wie sehr auch der Mann schalt und wetterte, drohte und versprach, er mußte sich bald selbst von der Unmöglichkeit überzeugen und dem Vorschlag zustimmen, den der bergkundige Postillon machte.

Dieser bestand darin, daß die Herrschaften für ein paar Stunden ein Unterkommen in dem einsamen Hause in der Nähe suchen sollten, während er die Pferde einzeln, so gut und ungefährlich es ginge, durch die Schneewand oder den Abhang neben ihr vorbei zöge, dann hinunter nach Trafoi ritt und genügende Hilfe herbeiholte. Er gelobte, in längstens zwei Stunden mit zehn Männern zurück zu sein, die bald den Weg wieder freigemacht haben würden, und die Reisenden versprachen doppelte und dreifache Bezahlung für die möglichste Eile.

Darum hatte das Horn so dringend um Beistand gerufen, denn der Postillon getraute sich doch nicht, trotz der Mondhelle, allein den richtigen Weg über die Franzosenspalte hinüber zu finden. Als Haspinger hinüber gekommen zu den in Not Befindlichen, hatte er sofort den Rat des Postillons für den einzigen Ausweg erklärt, und so unangenehm ihm die Sache und namentlich der hochmütige herrische Ton der Reisenden auch sein mochte, sich mit der dem Tiroler Volk eigentümlichen Gutmütigkeit bereit erklärt, das Paar unterdes in seinem Hause aufzunehmen. Man hatte daher das nötigste Gepäck aus dem Schlitten genommen und mit sich getragen, während der Alte seinen getreuen Hauspummerl in dem Schlitten selbst einquartierte, um diesen zu bewachen.

An der Thür des Hauses stellte der Postillon sein Gepäck nieder, um so rasch als möglich wieder zu seinen Pferden zurückzukehren, und der Greis schaffte es in den Flur.

Dies war der Augenblick, als er mit der in Pelz, Capuchon und Schleier verhüllten Dame ins Haus trat.

»Bleibe einen Augenblick zurück, Ferdinand,« sagte sie auf Französisch, »um den Postillon auszuhorchen, ob der Mann hier auch sicher. Es ist zu nahe an der italienischen Grenze, um den Leuten zu trauen – Du weißt, welche Erfahrungen wir gemacht haben.«

Der Mann blieb, an dem Gepäck sich zu schaffen machend, zurück, die Dame trat in den vom Feuer durchwärmten und erhellten Raum.

»Schleun Di, Nandl, schleun Di,« sagte der alte Mann, »ös sind halt noch mehr Gäst' in der Nacht, aber mer konnten sie doch unmöglich draußen in der Not lassen. Ruhr' das Feuer an, und mach' a Warmes, denn die gnädige Frau wird's halt sicher bedürfen.«

Nandl war eilig und willig zugesprungen und half der fremden Dame den Pelz abnehmen, den sie auf einer Bank am Feuer zum Trocknen ausbreitete.

Die Dame löste selbst die Bänder ihres warmen Hermelin-Capuchons, behielt ihn aber noch auf.

So viel man in der halben Beleuchtung sehen konnte, war sie nicht mehr jung, in dem Alter zwischen vierzig und fünfzig, den letzteren näher als den ersteren, und trotz aller Künste der Toilette nur mäßig konserviert. Das Gesicht, soweit es die verhüllende Kapuze zeigte, war früher wahrscheinlich zart und fein gewesen, trug aber jetzt jene rote fleckige Farbe, die Frauen, die übermäßig allen Genüssen gefröhnt, in späteren Jahren trotz aller Mühe erhalten, und auch die breit gewordenen Formen der eher kleinen Gestalt sprachen für die Ursache. Dennoch lag in dem ganzen Wesen der Fremden etwas selbst für die ungewohnten Augen der Bergbewohner unverkennbar Distinguiertes, ein seltsames Gemisch von aristokratischen Gebärden und herrischem, ungeniertem dreistem Wesen.

Die Fremde trug, mit Ausnahme des Pelzes und der Kapuze, einen für die Reise, namentlich im Winter und über den rauhen Alpenpaß sehr wenig geeigneten Anzug; wäre der dicke indische Shawl, der ohne Rücksicht auf die Kostbarkeit um Hals und Hüfte geknotet war, nicht gewesen, die Kleidung der Dame hätte eher eine Toilette für elegante Gesellschaft genannt werden müssen, als ein Reiseanzug. Als sie den Shawl über der dicken, unschönen Brust lüftete, um das durch den Pelz etwa eingedrungene Schneewasser abzuschütteln, sah man, daß das hellseidene Kleid, dessen kostbare Garnierung achtlos zerdrückt und beschmutzt war, einen tiefen Ausschnitt trug. Am Halse funkelte ein wertvoller Schmuck, an dem Handgelenke zwei oder drei gleiche Armbänder, aber unter dem Shawl aus dem Gürtel des Kleides sah der zierliche Ebenholzgriff eines Mailänder Stiletts.

Sie hatte sich auf einen Schemel am Feuer geworfen und streckte sehr ungeniert ihre Füße dem Mädchen entgegen.

Sie waren mit groben wollenen Tiroler Strümpfen, die bis übers Knie reichten und über die Schuhe gezogen waren, bekleidet.

»Da Kind, zieh' mir das Zeugs da aus! sie sind ganz naß geworden und ich habe keine Lust nach noch mehr Schnupfen und Rheumatismus. Du kannst sie gleich behalten, ich habe sie von den Mägden auf der letzten Station gekauft, und Du sollst mir andere geben, ich werde sie gut bezahlen. Tummle Dich, Kind! mach Grog oder Glühwein, denn ich bin fast umgekommen in dem schändlichen Wetter und dieser Kälte! Dort in der Tasche steckt noch eine halbe Flasche Rum. Es ist ziemlich das einzige, was wir bei uns führen, aber Ihr werdet doch etwas Genießbares im Hause haben!«

Das Mädchen war vor ihr niedergekniet, um den geforderten Dienst zu verrichten, sie hatte die ungestüme abwehrende Bewegung nicht beachtet, die ihr Freund machte, um sie daran zu hindern. Er war unwillkürlich einen Schritt aus seinem dunklen Winkel vorgetreten, als wolle er sich zwischen die Tirolerin und die Fremde stellen, aber als er sah, daß es vergeblich war, kehrte er wieder in den Schatten zurück.

»Was mer im Haus haben, gnädige Frau, steht zu Dienst – 's freilich leider nit viel, aber 's gern gegeben. Jesu Maria, was haben Sie für a nasse Haxen gekriegt, und sind's doch gar nit gewohnt wie unsereins. Gleich soll's a Paar dicke warme Schuh' haben!«

Die Dame hatte die Bewegung des dritten Insassen des Zimmers bemerkt, der die Arme über die Brust gekreuzt, jetzt regungslos im Dunkel an der Wand lehnte. Sie zog ihr Lorgnon an goldener Kette aus dem Busen und sah hinüber.

» Fi donc, mein Kind! was habt Ihr denn da? ich glaube gar, ein echtes Exemplar von slowakischem Kesselflicker! Habt Ihr denn kein anderes Gemach, wo man wenigstens nicht mit solchem Gesindel zusammen ist, das in den Stall gehört?«

Die Tirolerin wurde blutrot bei dem ungenierten Schimpf, der dem Manne angethan wurde, den sie so sehr liebte. Eine Thräne stand in ihrem Auge, aber dennoch wagte sie nicht, der so hochmütig auftretenden Fremden ein scharfes Wort zu entgegnen.

»Wir haben halt nur das Zimmer neb'an, wo der Nönl schlafen thut, aber es ist wüst und kalt, doch wenn die gnädige Frau befehlen …«

»Laß nur! eine Cigarre thut dieselben Dienste und paralysiert die Atmosphäre. So, jetzt hol' Deine Schuh' und laß das Wasser kochen zum Grog oder Punsch!«

Die junge Wirtin eilte durch den Flur, die warmen Filzschuhe zu holen und ging dicht an dem Manne vorbei. »Laßt's Enk nit anruhren, was die Vornehme plauscht,« flüsterte sie innig, »sie weiß halt nit, wer Ös seid, und deß Ös bloß nit anders wollt!«

Während sie zurückkam und der Dame, die, wie sie mit Verwunderung sah, eine Cigarre qualmte, die warmen Filzschuhe anzog, war der alte Tiroler wieder mit dem Begleiter der Dame in den Flur getreten, worauf der erstere die Thür schloß.

»So, Herr, nu is alles in Ordnung, und Ös könnt hier in Ruh' die Rückkehr vom Simeln Simon. abwarten. Macht's Enk bequem und legt den schweren Mantel ab. Da neben der Frau is a schöner Platz, Enk am Feuer zu derwärmen.«

Der Alte verrichtete seinem Gast dieselben Dienste, wie vorhin das Nandl der Dame. Der Fremde warf den triefenden Mantel ab, und die große, sein Gesicht verhüllende Mütze und trat, ohne die Wirtsleute zu beachten, die Hände auf dem Rücken, ans Feuer, so daß er zu dem Tiroler gegen das Licht stand.

»Es ist sehr unangenehm, Martha,« sagte er französisch zu seiner Begleiterin, »dieser Aufenthalt hier! wenn wir verfolgt würden, noch ist nicht alle Gefahr vorüber!«

»Bah! Du bist ein Mann? wir haben die italienische Grenze hinter uns und sind hier in Tirol so sicher wie in der Statthalterei zu Innsbruck oder im Staatsministerium zu Wien. Wer sollte auf diesem Wege an unsere Verfolgung denken? Jeder wird glauben, wir wären längst in Verona oder Venedig unter dem Schutz guter Bajonette, statt in dem Winter der Hochalpen, wenn sie überhaupt schon die Papiere vermißt haben. Apropos, Du hast doch die Brieftasche?«

»Sie stecken sicher in meiner Brusttasche. Aber haben denn die Leute hier nichts, um uns ein wenig zu erfrischen und zu erwärmen? Es scheint miserabel armes Volk zu sein, und ich bin durchfroren bis auf das Mark meiner Knochen.«

»Der Grog wird sogleich fertig sein, dann kannst Du Dich erwärmen.«

»Mir will der Gedanke an den Offizier immer noch nicht aus dem Sinn, der den Grenzposten kommandierte. Ich glaube, der Bursche witterte den Grund unserer Eile und hätte uns am liebsten festgehalten.«

»Ach! ein österreichischer Offizier! wenn es noch ein Italiener gewesen wäre! Wie hieß er doch gleich, der Korporal nannte Dir ja den Namen.«

»Hauptmann Hartmann,« sagte der Reisende. »Ich sollte meinen, Du könntest doch wissen, daß unter den deutschen Regimentern ebenso gut Verräter sind, wie unter den italienischen und ungarischen. Die Turiner Propaganda hat ihre Anhänger überall durch das ganze Land. Ich wünschte, wir wären mit den Dokumenten erst sicher in Wien! Dies unerwartete Hindernis erschreckt mich! Du weißt, was auf dem Spiel steht, mit der Entdeckung eines solchen Geheimnisses sichere ich Dir die Herausgabe der Güter in Ungarn! Was war das?«

Der entfernte Knall eines Schusses hatte sie erschreckt.

»Was zum Henker, Alter,« fuhr der Fremde zu dem Tiroler fort, der mit dem Trocknen der Kleidungsstücke sich beschäftigte, »geht man denn in der Nacht bei Euch auf die Gemsenjagd?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ma sieht, deß Ös ka Gamsjäger seid, Herr. Wer würd' a Gams schießen zu a Zeit, wo sie ka Lot Fett auf'n Rippen ha'n. Aber i waß nit, wer der Dalk is, der zu annerst in dem Gebirg' schießt, wo die Schneeschilder und die Windbahn Die Windlawine. an allen Spitzen hangen! Na, Nandl, tummle Di und mach' den Herrschaften was Warmes. Maria Joseph, was stehst da, als wär'st im Kopf z'nicht, Dirn, und starrst auf den Herrn?«

Das Mädchen, das erst einen Augenblick vorher das Auge zufällig auf den Fremden gerichtet, der jetzt ohne Mütze und Hülle am Feuer stand und in demselben störte, stand in der That wie ein Bild aus Stein. Ihre Augen starrten auf den Mann, Furcht und Entsetzen spiegelnd, ihre sonst so freundlichen, ruhigen Züge drückten den höchsten Schrecken aus, sie war unfähig, eine Bewegung zu machen.

Wir haben bereits erwähnt, daß die Gestalt des Fremden mittlerer Größe war. Er mochte früher schlank gewesen sein, begann sich aber in dem reiferen Alter, in dem er stand – über die Mitte der Dreißiger – zu runden. Seine Gesichtsbildung war, obschon der jüdische Ursprung unverkennbar blieb, von eigentümlichem Schnitt, die Mitte zwischen Raubvogel und Schafbock haltend, die tierische Lüsternheit mit Grausamkeit und Indolenz vereinigend. Mit der Eigentümlichkeit der Gesichtsbildung harmonierte die fahle, unreine Blässe, der harte, hochmütige Blick des großen hellgrauen Auges und das negerartige wirre wollige Haar.

Der Fremde, den die Dame mit dem vertraulichen Namen Ferdinand genannt, und der demnach ihr Mann oder naher Verwandter zu sein schien, hatte sich eben niedergebückt und zog aus der Asche einige halbverbrannte Fetzen Papier, die er erstaunt betrachtete.

»Was zum Henker, Mann!« sagte er, sich zu dem Greise wendend, »seid Ihr Rotschild oder Sina, oder gar ein Stück von einem italienischen Briganten, daß Euch das Geld so leicht in die Tasche fällt, um mit Hundert-Gulden-Noten Euren Kaffee zu kochen?«

»I versteh' den Herrn nit!« meinte der Greis.

Die Dame streckte die Hand aus nach dem Papier. »Was ist's? zeig' her!«

Der Blasse reichte ihr eins der Papiere, das andere hielt er dem Tiroler hin.

»Da seht! Ihr könnt's nicht leugnen, es ist eine Hundert-Gulden-Note, halb verbrannt, aber noch deutlich erkennbar.«

Der alte Mann starrte einige Augenblicke auf den Rest des kostbaren Papiers, dann schlug er die Hände zusammen. »Heilige Mueter Gottes, dös is des Schwager Hansel sei Geld!«

Er sprang zu dem Tisch und riß die Schublade auf, in die er vorhin so unvorsichtig den Reichtum geworfen. »O heili Antoni! mer sei bestohlen! das Gold is fort und die Banknoten a! Zehntausend Gulden! Wo is der Dieb? wo is der Dieb?«

»Wenn Ihr solches Gesindel im Hause beherbergt,« sagte die Dame, unverschämt nach dem Slowaken deutend, »so könnt Ihr Euch nicht wundern darüber! Da ist der Beweis, daß der Diebstahl kurz vor unserer Ankunft geschehen und der Dieb gestört worden ist. Dort auf dem Boden liegen zwei, drei Goldstücke, die er in der Hast verloren hat! Nehmt ihn sofort fest!«

»Wen?«

»Den da! Ich wette, wenn Ihr ihn durchsucht, werdet Ihr wenigstens Euer Gold noch bei ihm finden!«.

»Dös is unmöglich, Frau, der Hoisal Hoisal – Hiesel: Matthias. is der Dieb nit! er kann es nit sein! Das hat der Teufels-Toni gethan, der nichtswürdige Dörcher – und richtig, da oben, da is er durchbrochen! Aber der Teufel soll den boosigen Dieb holen, der das Geld gestohlen hat, und i will verdammt sein, wenn i ihn nit …«

Der Slowake war langsam aus seiner dunklen Ecke bis zu dem Tisch vorgeschritten und legte seine Hand auf den Arm des zornigen Greises.

»Vater Nazi,« sagte er, »ein schlimmerer Dieb als der arme Tolle ist unter Eurem Dach. Der Teufels-Toni hat Euch nur das elende Geld genommen und ist sicher entflohen. Aber die Euch Euer besser Teil gestohlen, Euren Namen und den Sohn Eures Herzens, den Stolz Eures Alters, um ihn zum Verräter an seinem Eide zu machen, die sitzen ruhig an Eurem Herd!«

»Was wollt Ös damit?«

»Schaut Eure Enkelin an, Nazi Haspinger, und dann diese Frau. Haben zehn Euch das Gedächtnis geraubt, daß Ihr die nicht wiedererkennt, die Euren Enkel zum Verräter am Kaiser gemacht?«

Die Dame hatte sich in ihrem Sessel emporgerichtet, der Slowak stand jetzt im vollen Licht des Feuers, und sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie ihn erkannte.

»Matthias! Schamloser Knecht! Du hier? und Du wagst es, mir in den Weg zu treten? Ist das der Lohn für meine Wohlthaten an dem elenden Bettler?«

»Fluch ihnen! Hätt' ich zehn Leben, ich wollte sie alle hingeben, wenn ich ihr schmähliches Gedächtnis damit verwischen könnte! Aber selbst der Bettler, der ausgestoßene verachtete Slowak, den Ihr stolzen Magnaten so gern nicht einmal für einen Menschen halten möchtet, er würde sich scheuen am Herde des Mannes zu sitzen, dessen Sohn er kaltblütig gemordet. Diese Frau, Nazi Haspinger, hat schlimmere Thaten auf ihrer Seele, als der Mörder, der dem Strang des Henkers verfallen, diese Frau ist …«

»Still, Unglückseliger!«

»Diese Frau, die Ihr nicht wiedererkennt, ist die Gräfin Törkyenyi, der Ihr an jenem Abend in Wien die Beweise des Verrats entrissen habt, die mit ihm …«

Der alte Tiroler hatte schon beim Beginn der heftigen Anklage beide Hände an die Schläfe gedrückt, als wolle er alle seine Erinnerungen zusammenfassen, und starrte bald von dem einen zum anderen; seine braune furchenreiche Stirn begann sich zu röten, die Augen schossen unter den buschigen weißen Brauen einen drohenden Blitz hervor. Erst jetzt eigentlich hatte er die Fremden näher angeschaut, und die Erinnerung überkam ihn mit Gedankenschnelle.

»Die ungarische Gräfin?« stöhnte er laut auf, »dann is es der – der da …«

»Ihr Helfershelfer in jeder Schande, der Doktor Lazare, selbst Rebell, und dann sein Opfer verratend, der Mann, der Ihren Franz in den Tod schicken half, der Ihre Enkelin gefangen hielt!«

»Der Teufel selbst! Sakra! dann muß er sterben von mei Hand!« Mit einem Satz sprang der Greis nach dem Winkel, in den er den Stutzen gestellt, aber die ausgestreckte Hand faßte vergeblich, die tödliche Waffe war verschwunden. Einen schlimmen Fluch stieß der alte Mann aus, dann fuhren seine Augen suchend in dem Flur umher.

Diesen Moment hatte der Doktor benutzt, um einen kurzen Revolver aus der Tasche zu reißen und ihn auf den Tiroler zu richten.

»Zurück! wagt es nicht, mich anzurühren, oder Ihr seid des Todes!«

Das Mädchen hatte sich zwischen sie geworfen, sie streckte flehend beide Arme empor. »Nönl, um der gebenedeiten Jungfrau willen, begeh' ka Mord! Bedenk', so schlecht er is, er is doch halt der Vater meines Kindes!«

»Ihres Kindes?« Der überraschte, schmerzliche Ton der Frage hallte vibrierend wieder in ihrer Seele. Einen Augenblick sah sie zu dem Slowaken empor, der bleicher als der Bedrohte zurücktaumelte, dann barg sie schluchzend ihr Antlitz in den Händen.

»Schändlicher Bösewicht! deshalb eben sollst Du sterben!« Die Hand des alten Tirolers schwang die schwere Holzaxt, die sie ergriffen, wie ein leichtes Rohr, um das Haupt. »Werd hin in Deinen Sünden.«

In den entsetzten Ruf der Gräfin nach Hilfe mischte sich der Knall des Revolverschusses, im selben Augenblick ein halb unterdrückter Schmerzensruf, dann – – –

»Allmächtiger Gott, was ist das?«

Um das Haus krachte und brach es wie tausend Donner, die Mauern, die Balken schienen in ihren Grundfesten zu beben, der Boden unter ihnen zu schwanken und zu weichen und zu zittern, ein Schlag, als lösten sich tausend Kanonen zur selben Zeit, ein unwiderstehlicher Luftdruck, der alles Lebende zu Boden warf – dann tiefe Dunkelheit und eine entsetzliche Stille, nur von dem Knacken des Gebälks unterbrochen, als böge es sich unter einer entsetzlichen Last. – – –

»Jesu Maria! die Lawine! die Lawine!«

Die Lawine, von dem Schuß des Teufels-Toni durch die Lufterschütterung droben an den Hörnern und Hochwänden gelöst – ursprünglich ein Schneeball – im Rollen zum Berge wachsend, – hatte sie alle lebendig begraben.



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