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Dritter Teil

1
Hernach

Ich bin allein.

Der Verschwind-Franzl von Berry soll uns verpetzt haben. Zwiefeniggl ist verhaftet worden, von Franz weiß ich gar nichts.

Vielleicht hängen sie schon irgendwo in der Gegend, aufgedunsen, zerhackt und zerfleischt, zerwaschen vom Regen und von der Sonne gebraten, vertrocknet, eingeschrumpft, schwankend im Wind wie ein geräucherter Hering, der sich langsam um seine abgeknackste Achse dreht.

Ich bin die Nacht durch gelaufen. Nun, da es hell wird, verfliegen meine Ängste wie die windgejagten, rauchgrauen Wolken. Der nüchterne Tag malt das trübe Licht seiner müden Regenlaune auf die zerweichte Straße, die Sonne kämpft sich durch, das feucht glitzernde Land lächelt wie ein Kind, dem die Tränen an schmutzigen Backen hängen. Fabrikschlote rauchen geschäftig, die arbeitsfrohe Dreschmaschine summt am Dorfeingang, wie ein fiebriger Dunst fliegt der Heustaub auf; und wie ein sehnsüchtig trunkener Schrei hängt ein Eisenbahnpfiff lang' nachhallend in der blauen Luft.

Franz, wo bist du?

Als dann an einem Spätnachmittag im November der betrunkene Kerl mit dem alten Damenhut auf dem Kopf im Nebel stand, mußte ich wieder lachen. Ich blieb stehen und sah mir die Marke an.

»Schwer geladen, was?« fragte ich – und das Entsetzen fuhr mir durch alle Knochen wie ein Blitzschlag.

Und schon fiel er mir um den Hals und zuckte so seltsam.

»Mir kommt vor, du bist größer geworden?« meinte ich.

Und da lachte er und lachte, ein schreckliches, nicht endenwollendes, krampfhaftes, hysterisches Lachen. Ich hielt ihn und streichelte ihn: »Nicht doch, nicht doch, Franz, nicht mehr lachen, komm, beruhige dich!«

»Ja, ich bin größer geworden, haha – oje! o weh, o weh! größer oder kleiner, wie man's nimmt, man hat mich in die Länge gezogen, ein bißchen gedehnt, dreimal. Am neunzehnten Juni, am dreiundzwanzigsten Juni, am zweiten Juli, dreimal. Merke dir das Datum, es sind Unglückstage. Er hat mich doch erwischt, der Lump –«

Hohl und leer, schief und krumm, das Gesicht voll Kratzer und Ausschlag, elend, zerbrochen und verrenkt, ein geschlachtetes Kalb, stand er da, vom Husten geschüttelt und verbogen.

»Was hast du bloß für ein Hütchen auf?« fragte ich.

Er nahm ihn herunter und betrachtete ihn geistesabwesend. »Ach, es war nur wegen dem Regen –«

An dem Arm, den ich hielt, spürte ich, wie mager er war, es war ein bloßer nackter Knochen. Wir kamen unsäglich langsam vom Fleck. Wenn wir in dem Tempo weitermachten, dann kamen wir grad recht zum Jüngsten Tag. Aber was half es; wenn er mir zusammenbrach, dann saß ich da. Zum größten Glück besaß ich ein paar Groschen. Zum Essen für ihn und für zwei Betten im ersten Wirtshaus am Weg konnte es grade reichen.

Es war bald erzählt.

»Im Juni brachten sie mich nach Meung-sur-Loire, ziemlich tief hinunter. Frankreich ist ein unterirdisches Land! Schöne Mausefalle: du tappst im Finstern und saust auf einmal einen fünfzig Meter tiefen Schacht hinunter. Unten sind spitze Eisenpfähle, damit du auch einen Halt hast, wenn du ankommst. Ich wie eine Maus still und ruhig tagelang auf einem Fleck. Dann schauten sie nach, ob ich noch da bin, oder ob ich mich vielleicht ›selbst gerichtet‹ habe. Ich war aber leider noch da. Sehr unangenehm. Ich flog ein paar Stockwerke tiefer hinunter, die Dinger sind ja unter der Erde höher als in der Luft, in einen Steintrichter. Stein, Stein, nichts als Stein. Kein Licht, kein Tag, kein Feuer, keine Zeit, kein Laut. Du zerrinnst zu Wasser und erfrierst zu Eis. Ich am Boden in der Pfütze, greife mit den Fingern herum in Gewürm und Dreck. Es war kein Loch im Boden, das Ding war ja selbst nicht größer als ein Teller. Was wollte ich sagen – ja, die kleine Folter also, dreimal hintereinander, und dann Todesurteil. Gesagt habe ich es ihm richtig, dem Moralbanditen, denn mir war nicht mehr angst, daß ich noch davonkommen werde. Es wäre mir ja eigentlich lieber gewesen, denn was soll ich so noch anfangen. ›Mit allem Blut des Jahrhunderts gemästeter Brotverdiener!‹ schrie ich ihn vor den Beamten an, ›wenn ich hin bin, wird dir mein Gestank in deinen Burgunderzinken steigen, damit du eine Ahnung vom Jenseits kriegst, du verkalkter Faßstöpsel! Die Aasfliegen, die an meiner Leiche knabbern, sollen dir in deine vereiterten Adern kriechen, brokatner Lump, du, du privilegierter Lasterpächter!‹ Aber das Lachen ist mir vergangen, sie haben mich zu Hackbraten gewalkt. Kannst dir denken, daß ich erledigt war.«

»Und wie bist du herausgekommen?«

»Was weiß ich – der König, wie heißt er? Der Herzog von Bourbon geht zu ihm und erreicht Strafaufschub. Gleich darauf stirbt der König. War besser, vielleicht hätten sie ihn wieder 'rumgekriegt. Der neue wird gekrönt, kommt durch Meung und läßt alles aus dem Loch, was stehen kann. Am zweiten Oktober. ›Sie bleiben da!‹ heißt es, ›Sie können nicht gehen!‹ ›Ich kann gehen!‹ sage ich und krieche auf allen vieren heraus. D'Aussigny wird sich ja nicht schlecht geärgert haben. Zwei Tage lang liege ich hinter der Mauer – wenn der eine Ahnung davon hat, läßt er mich mit der Mistgabel erstechen. Wenn ich nicht draufgeh', mache ich ein Gedicht auf den König, ein großes Werk nur für ihn. Vielleicht werde ich noch gesund. Solange ich litt, bin ich nicht gestorben, es kommt erst hintennach. Der Tod kommt auch erst nach dem Leben.«

Ich zog Franz aus, mein Gott, was für ein Gestell. Der Heiland am Kreuz war ein gutgenährter Viehhändler dagegen. Ich wickelte ihn ein wie ein Kind und blieb bei ihm, bis er schlief. Leichenflach lag er da, ohne Atem.

Auf den Zehenspitzen schleiche ich hinaus. Da schreckt er auf, schreit und schreit, fürchterlich, ich halte mir die Ohren zu, ein Hustenanfall würgt ihn zum Zerreißen. Und dann schäme ich mich, knie an seinem Lager und bleibe bei ihm.

Was tun? Wie ihm Erholung verschaffen, Ruhe, Pflege, Essen und Sonne? Wer, wo, wie?

Wer die Welt durchschaut hat, kriegt Lust, sie an allen Ecken anzuzünden wie einen Heustadel.

Aus seiner Tasche waren ein paar bekritzelte Fetzen gefallen. Ich hob sie auf: eine Ballade ›Epistel an meine Freunde‹. Ein Gedicht, überschrieben: ›Diskurs zwischen dem Herzen und dem Körper‹. Und dieses Rondeau:

»Laß seine Wimpern ewig ruhn,
Herr, gib ihm das ewige Licht,
Ihm, der Dich schaut aus Dreck und Trübe,
Der nie noch einen Halm besaß,
Der kahl ist, bartlos, totenblaß
Und nackt wie eine abgeschälte Rübe,
Herr, laß ihn ruhn!
Saukalt davonghaut in sein Elend,
Fußtritt in Arsch, wie einem Hund.
Er fragt: Was wollt ihr mir denn tun?
Man wollte ihn nur nicht verstehen –
Herr, laß ihn ruhn!«

2
Guten Abend, guten Abend!

Mit Zwiefeniggl war es aus, Montpipeau hatte ihm den Kragen gebrochen. Es war nicht weit hin, wo er hing, und so wollten wir ihm doch guten Abend sagen.

»Einen Vorteil hat diese Art von Beerdigung,« sagte Franz »man braucht keinen schwarzen Frack anzuziehen!«

Es regnete. Kurz vor Sonnenuntergang kamen wir an. Aber da hingen zwei, pitschnaß, und tropften wie gewaschene Anzüge. Welcher war unser Freund?

Wir zogen den Hut und verbeugten uns: »Guten Abend, Herr Universitätsprofessor, guten Abend! Wie stehen die Geschäfte?«

Der Baum ächzte.

»Schlecht, sagt er!«

Die Raben pickten wie die Spechte, die zwei Schädel sahen aus wie Fingerhüte.

Wo ist jetzt deine hübsche Stimme, du zärtlicher Sänger? Und deine kühne Stirnlocke? Sie hängt ihm verklebt herunter wie das schmierige Ende eines zerfransten Schiffstaues.

»Er hat immer noch eine ›bestrickende‹ Haltung!« sagte Franz.

»Es tut einem fast leid, daß man nicht an seiner Stelle hängt!«

»Ach nee, man muß die Sympathien nicht zu weit treiben.«

»An sich wäre ja gegen das Sterben nichts einzuwenden, wenn man nur nicht immer gleich tot wäre!«

»Schau' mal nach – vielleicht hat er noch ein paar Sous in der Tasche! Er war sonst sehr freigebig.«

»So siehst du aus, die hat der Henker schon längst versoffen.«

3
Alles gut

O ihr Tage meiner Kindheit,
Nun dahin auf immerdar –

Wedekind

Wir trabten auf der Straße und spürten die taufeuchte Morgenluft auf der Haut. Franz, sonderbar vergnügt, summte in einem fort, bald im Tenor, bald im Diskant, bald im Brummbaß:

»Alle Vögel sind schon da,
Alle Vögel, alle!
Amsel, Drossel, Fink und Star
Und die ganze Vogelschar,
Alle Vögel sind schon da,
Alle Vögel, alle!«

Es war ziemlich irrsinnig.

»Was singst du denn da für schlüpfrige Liedchen?«

Er verstummte wie ein Vogel auf dem Baum, an dem man vorbeigeht.

»Wenn es etwas wärmer wäre, möchte ich mich niedersetzen und träumen. Erinnerst du dich noch an die Kinderschaukel beim Hasenwirt, an diese grün angestrichene Holztruhe? Langsam geht sie hin und her – die verrosteten eisernen Stangen pfeifen – hin – zurück, hin – zurück – Es ist Sommer, ganz still, nur die Hühner gackern. Und manchmal schreit der Pfau auf der Mauer, und dann wird es noch stiller.

Was haben wir aus unserem Leben gemacht, Hans!

Weißt du noch, wie ich als Lausknirps der Pechkragerin zwei Tauben gegripst habe, eine für mich, eine für dich. Sie erwischte grad noch meinen Hut und schrie: ›Den holst dir auf der Polizei!‹ Ich werde ihn wohl nicht mehr holen.

Ein Leben, aufgegangen wie die erste Sonne, und untergehend wie die letzte der Nächte. Was bleibt übrig? Einige wenige heiße Verse für einige wenige heiße Herzen. Gestern fiel mir ein, daß mein Roman verlorengegangen ist, spurlos verschwunden. Der realistische Roman, wie ihn Regnier getauft hat!«

»Er war so realistisch, daß er in das Leben, aus dem er kam, wieder zurückgegangen ist!«

»Ja, die Köchin wird ihn zum Anheizen hergenommen haben.

Wenn mir der Onkel, mein Pflegevater, mein Mehr-als-Vater, die Haare gestutzt hat und dabei sagte: ›Sünden, Nägel und das Haar – wachsen fort das ganze Jahr‹ – da habe ich gelacht! Ich konnte leicht lachen, ich habe nicht gewußt, daß Sünden und Nägel noch wachsen, wenn du kein Haar mehr hast. Oder wenn er am Sonntagmorgen hereinkam und sagte: ›Franzli, stand uff, die Spatza murra!‹ Wie warm schien die Vormittagssonne auf den Boden. Beim Waschen habe ich mich immer auf den warmen Fleck gestellt. Die Blumenstöcke am Fenster waren wie auf tiefblauem Grund gemalt. Eine Fliege summte, und auf der Gasse ›murrten‹ die Spatzen –

Nicht lange, dann haben wir auf die Spatzen geschossen.

In dem Gärtchen hinter der Notre-Dame sehe ich mich spielen. Wir waren wie Blumen in unseren bunten Kittelchen. Aber mit sechs Jahren fingen wir zu fischen an und liefen zum Beerensammeln. Und was haben wir gesammelt, was haben wir herausgefischt?

Ob nicht die ganze Menschheit ihre Kindheit für immer verloren hat? Betrachte unsere Schulkameraden: die einen verdorben, gestorben, die anderen in Stellungen, Ämtern, Würden und Geldern. Wenn du ihnen den Rücken drehst, zeigen sie mit dem Finger auf dich. Ob sie noch Kinder sind? Vielleicht schaut es in ihnen böser aus als in uns. Sag' mir eins: glaubst du, daß wir noch Kinder sind?«

Er sah mich an, als erwarte er sein Todesurteil.

»Ich möchte wissen, was sonst!«

Seine Augen wurden sonderbar, er schlug den Blick nieder. »Dann ist alles gut –« murmelte er.

Wir sprachen längst von etwas anderem, und ich fragte irgend was.

Und er, geradeaus schauend, immer wieder: »Dann ist alles gut!«

4
Das Große Testament

Um jene Zeit –

Wo war um jene Zeit das Leben und seine Verführungen, Geld, Sorglosigkeit, Genuß, Musik, Wirbel und Frauen, Verliebtheit, Küsse, Liebkosung und Lachen, Glück und Triumph, wo? Verschneite Felder und die vom Nebel ins Unendliche verlängerte Landstraße – wo war das Leben?

Um jene Zeit dichtete Franz sein ›Großes Testament‹, das Gedicht seines Lebens, das beginnt:

»Und als ich hinstarb, dreißig Jahr',
Der Schanden tiefste trank –«

Das Leben war in ihm!

Er ging den Versen nach, die ihm nachgingen, und blieb allein, wenn er melancholisch war wie einer, der sein Leben schon bei seiner Geburt verwürfelt hat, wenn ihn das Gefühl von der Eitelkeit aller Dinge erdolchte, wenn er die Wandelbarkeit des Glücks sah, die verhängnisvolle Gewalt der Liebe und den Tod, der auf das menschliche Fleisch wartet wie der Jude auf abgelegte Kleider, wenn er der Dankbarkeit gegen seinen Mehr-als-Vater Ausdruck gab, der ihn aus tausend Schlammasseln herausriß und sanfter zu ihm war als eine Mutter, die ihr Kind aus den Windeln wickelt, wenn er seinen armen Leib der Mutter Erde testierte und den Würmern vermachte, die freilich nicht viel an ihm zu nagen haben werden, und sein überirdisches Ich der Ewigkeit.

Und er kam zu mir, wenn er lustig war, und rechnete mit allen Feindschaften, Freundschaften und Liebschaften ab; wenn er lachte und beißende Rache nahm und mit tödlichem Spott zustach, dann lachte ich mit und machte mit; dann fielen uns wunderbare Wirtshauswitze ein, dann sahen wir Paris, seine Spelunken und die darin verkehrten, die Literaturboheme und die Diebesbörse, die Kunstdirnen und Kunstluden und die ›ehrenhaften Bürger‹, die sich unter sie mischten, getrieben von dunklen Trieben und gezogen von dunklen Geschäften. Dann malten wir die Nachtlichter, mit denen wir unser Leben vertan haben, den Blitz des gestohlenen Schmucks im Dunkeln und die Schatten der Gehenkten, die in unserem Gelächter geistern.

Wir lebten – für die Poesie, und leben immer wieder für sie. Für sie haben wir alles ertragen, ihr allein gedient, ihr allein alles geopfert und alles und uns selbst untergeordnet. Sie ist unsere Spielerei, unsere Arbeit, unser Daseinszweck, unser Geschäft und Gewerbe, das wir genau so energisch und fanatisch, ebenso einseitig, unerbittlich, verschlagen und rücksichtslos verfolgen, wie andere das ihre, unser Glück und Unglück, unser Leben und Tod.

Und dann ordnet er sein Begräbnis an. Kommt zur Beerdigung, sagt er, wenn der Glöckner den Strick zieht – der mit dem zinnoberroten Anzug! Von allem, was ich geliebt habe, wurde ich weggeworfen wie ein alter Wischlappen. An der Liebe bin ich gestorben. Aber vor dem Abkratzen trinken wir noch einen Schluck vom Billigsten, weil wir uns keinen Besseren leisten können –

Seine schönsten Balladen und Gedichte flocht Franz in das Testament ein: das rührende Gebet zur Jungfrau Maria, das er für seine Mutter gemacht hat; die verzweifelten furchtbaren Klagen der schönen Heaulmiere; die Ballade der Liebestollen: ›Beneidenswert, wer frei davon‹; die Ballade auf den seligen und weinseligen Staatsanwalt Jean Cotard; die Ballade vom angenehmen Leben; die von den Frauen von Paris, die den schönsten Schnabel von allen haben; die von der dicken Margot; die schöne Lehre an die verlorenen Kinder; die Ballade ›Nichts für ungut‹, und die berühmte: ›Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr?‹

Es gelang ihm, das Werk zusammenzufügen.

Er trug ein Bündelchen Papier bei sich, es war sein ganzes Hab und Gut.

Es war sein ganzes, noch einmal gelebtes, elendes, hundsgemein dreckiges und immer zünftiges und fideles Leben.

5
Der Sinn der Liebe

Wir liegen auf der Wiese, das Gras überwächst die ganze Welt. Die Insekten taumeln und summen, in ihrem Tanz rast die Zeit. Wir versinken in Einsamkeit.

Franz hält eine Nadel von einem Halstuch in der Hand. Er hat sie im ausgehöhlten Schuhabsatz versteckt gehabt. Er wiegt sie auf der Hand, als ob er ihr Gewicht prüfte, legte sie ins Gras und schaut sie lange an.

»Was machst du da?«

»Man hat so grenzenlos geliebt!«

»Und da hast du aus Liebe eine Busennadel mitgehen lassen?«

»Ohne Rest und Rückhalt habe ich mich hingeworfen, ohne Vorsicht, ohne Denken, ohne Bedenken, ohne Erfahrung und ohne Angst. Man ist verströmt, verblutet. Alle Dinge waren mit einbezogen und erleuchtet, nichts war geringfügig. Ich war in einen Hut von Catha so verliebt wie in ihr Lächeln, in ihren Handschuh so vernarrt wie in ihre Hüften. Ihre Stimme war mein Frühstück, der Duft ihrer Haut mein Abendessen, beim Anblick ihrer Schriftzüge habe ich mich beruhigt, mit dem Gedanken an ihren Schuh schlief ich ein, bei der Erinnerung an ein Wort von ihr wachte ich auf. Alles war sie, es gab nichts, was nicht sie war. Ich hätte mich in irgendeine vergaffen können, die eine ähnliche Handbewegung machte wie sie. Und alles umsonst und alles vergeblich! Das menschliche Schicksal: alle haben für die Liebe alles verloren!«

»Du wirst dich deswegen nicht ändern,« sagte ich und spie meinen Grashalm aus. »Aber im Augenblick schlage ich vor, die Busennadel zu verkaufen!«

»Ja komm, versaufen wir sie!«

Ächzend erhoben wir uns.

6
Mord und Selbstmord

Das Unglück wollte es, daß damals auch noch alle Drehorgeln, Grammophone und automatischen Klaviere den übelberüchtigten Gassenhauer kratzten und zu Tode draschen:

» Ah, qu' il était beau mon village
Mon Paris, notre Paris!
«

ein Schlager, der Franz die dicken Tränen in die Augen trieb. Er war die langweiligen schnurgeraden Landstraßen, die Kohlgerüche und Düngerparfüms satt und die um neun Uhr ausgestorbenen Dorfgassen und stinkleeren Kneipen und die ganze Herumtanzerei ohne einen anderen Ausweis als einen Messerstich in der Visage, und das Mit-den-Hühnern-zu-Bett-Gehen, wenn man kein Bett hat.

Und so walzten wir also los auf die große Schöne, das ›grannig Mokum‹, wie der Walzbruder sagt.

Wann hatten wir in Paris Glück gehabt? Immer war alles schief gegangen, immer waren wir in dieser grausamen Menschenmühle unter die Räder gekommen, immer war uns, wenn wir uns um die käufliche Gunst dieser geschminkten Welthure beworben hatten, unser dummes Herz im Wege gewesen. Tausendmal haben wir dieses Herz weggeworfen wie einen schmutzigen Geldschein, haben es selbst bespuckt und mit Füßen getreten, und doch haben wir es nie verlieren können, dieses blöde, einfältige, unnütze Herz, das rätselhaft und geheimnisvoll ist wie der gotische Dom, in dessen dämmernder Tiefe das blutrote ewige Licht brennt.

Das sollte aber jetzt anders werden. Wir waren Ruinen der Liebe, aber wieder aufgerichtete, renoviert und wieder bewohnt von gesteigertem Lebenshunger und vervielfachter Raserei. Die Zeit, da man die ganze Nacht lang seine verliebte Nase in ein parfümiertes Seidentüchlein steckt, war hinter uns. Wir waren gediente Soldaten der Liebe und keine Anfänger mehr, wir besannen uns auf unser Können, gaben aller Sentimentalität den Laufpaß und wurden noch sentimentaler, kündigten aller Verliebtheit, um noch mehr zu lieben, und bereuten alle sündhafte Schwachheit, um nur noch männlich und stark zu sündigen. Wir pfiffen auf die Weiber und hatten mehr denn je, wir verachteten sie und schauten sie nicht an, und sie schauten uns nach und achteten uns; wir nahmen nichts ernst und wurden ernst genommen, wir warfen sie weg, und sie liefen uns nach, wir waren kurz angebunden, und sie hängten sich an wie Kletten und Ketten, uns waren alle egal, und wir waren allen wichtig, sie genossen uns wie Kaviar, und wir schmierten sie aufs Bett wie die Butter aufs Brot. Wir standen über der Sache und waren die Herren Tag und Nacht, liebten junge und alte, Jungfrauen und Frauen, Witwen und Waisen, Mutter wie Töchter, Langhaarige und Kurzhaarige, Große und Kleine, Schwarze oder Blonde, ob katholisch oder protestantisch, reich oder arm, verführten dem Ehemann die Frau, dem Verlobten die Braut, dem Verliebten die Verliebte, dem Freund die Freundin, brachten alle Familien auseinander und alle Verwandtschaften durcheinander, holten von der Hochzeit die Neuvermählte weg, und kannten uns selbst nicht mehr aus. Alle kamen sie zusammen wie ein Knäuel, samt Männern, Vätern und Müttern, alle bereit, sich gegenseitig lebendig aufzufressen, und wir standen da und sagten: »Wünschen Sie meinen Kopf? Bitte, hier ist er!« Aber keiner wollte ihn, sie nahmen ihre Weiber oder ließen sie und gingen. Wir nahmen sie einzeln und gruppenweise mit, tauschten sie nach Wunsch oder verwechselten sie aus Zerstreutheit, bereiteten drei gleichzeitig vor und brachten ihre Namen durcheinander, nahmen die, bei der wir für einen anderen warben, selbst und überließen die, bei welcher wir uns bewarben, anderen, poussierten die, die uns nicht interessierten, und interessierten uns für die, die wir nicht poussierten, fingen bei der Falschen an und landeten bei der Richtigen und umgekehrt, ließen uns treiben, wo wir trieben, und führen, wo wir verführten.

»Geteiltes Weib ist halbes Leid, nimm mir das Pferdchen ab!«

»Leg' sie zu den Akten!«

Unser Ruhm kam uns noch zu Hilfe. Sie schätzen dich ja erst, wenn du in aller Mund bist. Vorher, wo du doch derselbe warst, nur frischer, unberührter und unverdorbener, da sahen sie dich nicht, und doch wäre es nur dann der Mühe wert gewesen. »Das ist doch der, der die Ballade von den Liebestollen gedichtet hat?« sagte jetzt jede blöde Gans mit leuchtenden Augen. »Das ist der berühmte Vagabund! Ja, das sieht man, der geht, als ob die Welt ihm allein gehörte!« Und zwei Dutzend verliebte Seufzer flogen uns nach. »Er ist ein erwachsener Lausbub, zu niedlich!« sagten die sittsamen Bürgerfrauen, wenn ich nachts die Fenster einwarf, und wurden rot dabei, denn sie wollten sich auch gern einmal ihr Fenster einwerfen lassen. Waren wir höflich, dann galten wir für bescheiden, waren wir wegwerfend, dann hieß es: »Was für ein liebenswürdiges Lächeln!« Wir ließen uns nicht auf Nebensächlichkeiten ein, waren in zwei Minuten dreimal heiß und viermal kalt, heuchelten Empfindungen, die wir nicht besaßen, konnten uns nicht vorstellen, was sie empfanden, und sagten das Gegenteil, nannten die Dummen gescheit, die Klugen weise, die Häßlichen nett und die Hübschen schön, schworen ewige Liebe und Treue, stürzten auf die Knie vor einer Köchin und ließen Baronessen ohne Gutenachtgruß auf der Straße stehen, spielten den Treuen und den Untreuen, den Gewaschenen und den Harmlosen, karessierten die Kalten, bis sie heiß wurden, waren eisig gegen die Hitzigen, peitschten die Temperamentlosen auf, dämpften unsere Beteuerungen bei den Skeptischen und übertrieben sie bei den Leichtgläubigen, waren liebenswürdig gegen die Groben und trocken gegen die Servilen, raffiniert bei den Unerfahrenen und gerissen bei den Raffinierten, hatten alle Charaktere und keinen.

Meint ihr, unser Herz war tot? Nein. Wir ließen es nur zu Hause, wie einer seine goldene Uhr daheim läßt, damit sie ihm nicht geklaut wird, und sich dafür eine aus Eisen einsteckt.

Wir schwebten in der traumhaftesten Trunkenheit, im verzweifelten Taumel, im Verbrennen übersteigerter Kräfte, im Sinken und Fliegen, Sichfallenlassen und Treiben, wie ein Stück Holz vom Wirbel in die Tiefe gerissen und wieder von der Hochflut getragen und gewiegt wird. Und magisch angezogen wie Mücken und Nachtfalter vom grellen Licht, tanzten die Weiber in den Glanz unserer Entschlossenheit: uns auszulöschen und im Erlöschen aufzusprühen wie Raketen.

Lolie kam nach Paris. Und ich ließ Franz im Stich und ging zu ihr.

Was ist der beste Freund gegen ein liebendes Weib?

Ich spüre sie in meinem Pulsschlag, geheimnisvoll fließt ihr Blut in meinem. Wie oft habe ich mich bei diesem dreckigen Leben, wenn ich allein war, aufs Bett geworfen und geschrien: »Lolie, ich mag nicht mehr, ich leg' mich zu dir!« Und sie hat mir klar und deutlich geantwortet: »Ja, komm nur, mein Hündchen!« und hat mir ihre Hand auf meinen heißen Kopf gelegt wie einen kühlen Verband. Und das hat niemand gesehen und weiß niemand, auch sie nicht.

Ich frage sie nicht, wo sie war, sie kann tun und lassen, was sie will. Sie hat ein Dutzend oder mehr Freunde, die sie alle sehr säuberlich in ihrem gescheiten Köpfchen nach ihrem Wert und Unterschied sortiert wie ein Juwelier verschiedene Steine und Schmuckstücke. Was kümmert's mich, wenn sie mich liebt. Kann ich mich ihretwegen von allen Menschen lossagen? Auch sie übt die gleiche Nachsicht und Großmut, wenn nur ihr Herz ihr sagt, daß ich sie nicht verlasse.

Aber Franz? Er hat keine, zu der er zurückkehren kann, und darum treibt er es um so toller. Selbst seine Untreue scheint noch Treue zu sein.

Treue wird immer als eine große Tugend hingestellt und ist doch weiter nichts als ein großes Glück.

Er war bei einer Wahrsagerin, die aus seiner Hand las, es sei nur eine einzige große Liebe eingezeichnet, und die läge hinter ihm. Er kann mittendrin verstummen und zum Fürchten düster dasitzen.

»Ich habe kein Glück mit Frauen –« sagt er dann.

Und wenn ich ihn, nachdem er vierzehn Tage lang nichts gegessen hat, frage, was er lieber haben will, etwas zu essen oder ein Weib, dann sagt er natürlich: ein Weib!

7
Sic me servavit Apollo

Man hatte uns entgegenkommenderweise eine windgeschützte Unterkunft im Gerichtsgefängnis eingeräumt, damit wir uns ein wenig erholen können.

Zu den Verhandlungen gegen Villon wurden wir teils als Zeugen zugezogen, teils lief ganz Paris hin wie zu einer Theatervorstellung.

Der Richter humpelt auf zwei Krücken herein, nimmt Platz und übergibt die Stützen seiner Persönlichkeit dem Gerichtsdiener, der sie mit ehrfürchtiger Verbeugung entgegennimmt, als empfinge er das Szepter Karls des Großen. Der alte Paragraphenschuster stülpt die Brille auf die Neese und wühlt wie ein Maulwurf in einem Schmöker, in dem die Gerechtigkeit schwarz auf weiß ein für allemal festgelegt ist, bis zur nächsten Gesetzesänderung, so daß er sie nur herauszulesen braucht.

»François Vision, Sie sollen dem Fleischermeister Schneidhack einen Viertelzentner Schinken entwendet haben. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Entschuldigen Sie, daß ich geboren bin, es wird nicht wieder vorkommen!«

Das Publikum grinst.

»Wir haben uns daran gewöhnt, daß Sie ein Spaßvogel sind, Villon. Antworten Sie, wie es sich gehört!«

»Geh zu, Alter, was habe ich damit zu tun, wie der Mann sein Fleisch los wird! Ich mische mich nicht in fremde Geschäfte, ich habe meine eigenen.«

Alles schmunzelt.

»Nach ihrem Vorleben ist Ihnen diese Tat sehr wohl zuzutrauen!«

»Aber natürlich, cher Monsieur! Sie wollen nur den Beweis haben. Na ja, ich lasse manchmal eine Kleinigkeit mitgehen, wenn es gar nicht mehr anders geht, aber ihr seid Richter Tag für Tag und Tag und Nacht – wer ist nun der schlimmere von uns beiden?«

Klatschen und Beifallsgewieher, der Richter wird zornig, aber Franz dreht sich zum Publikum um: »Ruhig da hinten, ja! Ich komme gleich mit die Keule!«

»Angeklagter, Sie werden ersucht, sich zu mäßigen. Wenn Sie auch ein berühmter Poet sind, das Gesetz kümmert sich nicht um Ihre Privateigenschaften. Warum stellen Sie Ihre Begabung nicht in den Dienst der Allgemeinheit und der Öffentlichkeit, so würden Sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen.«

»Meine sehr verehrten Herren, ich werde die Öffentlichkeit länger beschäftigen als Sie!«

»Es wäre besser gewesen, Sie hätten Ihre Fähigkeiten in den Dienst des Staates gestellt, statt Verbrechen zu begehen!«

»Und wer gibt mir die Garantie, daß ich im Dienste des Staates keine Verbrechen zu begehen brauche?«

Villons Antworten können manchmal unbequem sein. Das Publikum tobt wie bei einem Aktschluß, der alte Geißbock, wütende Blicke auf die Zuschauerbänke schleudernd, blättert nervös in seinem Kochbuch, bis man ihm seine Skier reicht – die Verhandlung wird abgebrochen, und Franz wirft ihm eine Kußhand nach.

Unsere Unschuld stellte sich heraus, was in der Juristensprache so ausgedrückt wird, daß es ›an genügenden Schuldbeweisen fehle‹.

Eines Abends bummelten wir durch die Rue Saint-Jacques, an einigen Advokatenkanzleien vorbei. Wir waren zu fünft und ein wenig angestochen und trieben unser Gaudium.

»Mein Kleiner muß Advokat werden,« sagte Franz in ein Fenster hinein, »er hat noch nie ein wahres Wort gesprochen!«

Beim Gerichtsschreiber Schlagbock blieben wir wieder stehen. Einer schrie hinein: »Dem Gefühl nach hat der Mann recht, sagte der Advokat, da drückte ihm einer einen Scheck in die Hand.«

Auf solche harmlose Scherze hin erlaubten sich die Tintenkulis, uns zu beleidigen, worauf der Strickbeis-Roge durchs Fenster spuckte und der Sergeant Moustier einen nassen Pflasterstein auf ein Schreibpult schmiß. Darauf kamen die Schreiber herausgestürzt, vermehrt durch Hausknechte und andere geistig zurückgebliebene Domestiken, um ihre lädierte Ehre zu rächen, alle bleich vor Wut und schlechter Verdauung. Kaum hatte Franz den mit dem Stein gefragt, was er mit seinem Briefbeschwerer wolle, da ging eine Hauerei los, gegen die der Weltkrieg eine mechanisch-chemische Geschäftsangelegenheit war. Auch wenn einem dabei nicht alle Zähne knapp über der Wurzel abgeschlagen, alle Knochen kompliziert gebrochen und alle Adern nach innen oder außen zum Verbluten gebracht werden, war es schon genug, dieselben Wirkungen an anderen hervorgebracht zu sehen. Einer oder einige müssen in ihrem Rausch die Käsmesser gezogen haben, denn sofort beim Zusammenrumpeln ließen sich zwei Feinde in der charakteristischen Haltung zu Boden, die niemand nachmacht, außer er befindet sich noch zwei Schritte vor seinem letzten Augenblick. Im übrigen ließ mir mein Partner, ein gutgebauter Landschurke, nicht viel Zeit zu Beobachtungen, sondern drang auf mich ein, als wollte er meine Familie bis ins letzte Glied ausrotten, bis er dank meiner Tapferkeit auf dem glatten Pflaster ausglitt, mit seinem auvergnischen Hinterkopf wie ein Prellbock gegen die Hausmauer rannte und in einer malerischen Pose lehnen blieb wie eine Lazaruskulptur.

Alles war mit irrsinniger Geschwindigkeit vor sich gegangen, die ganze Schlacht hatte keine zwei Minuten gedauert, und schon hatte jeder für einige Zeit genug, und ein paar für immer. Schon sammelten sich Leute an, und schon waren wir verschwunden. Ich erreichte etwas außer Atem unseren alten Geheimkeller in der Brotkastlgasse, der Wirt sah, was los war, schubste mich hinunter und schloß alle Türen hinter mir. Ich war vorläufig in Sicherheit, schnitt meinen rechten blutdurchtränkten Hemdärmel ab und der Symmetrie wegen den linken auch, und verbrannte sie.

Langsam sickerten Nachrichten zu mir hinunter. Strickbeis, Moustier und Robin der Schwelger waren verhaftet worden, und später holten sie auch noch Franz, der so unvorsichtig gewesen und zu Onkel Willi geflüchtet war. Wir dachten uns zwar nicht viel dabei, er würde sich auch diesmal herauswinden, wenn er nicht gerade des Totschlags überführt wurde. Aber es kam anders. Ein neues Stadtoberhaupt war ans Ruder gekommen. Der vorherige Präfekt hatte Villon gekannt und ihn immer ein wenig individuell behandelt, denn daß er ein Berufsverbrecher war, konnte man nicht sagen, er hatte nur das Pech, überall dabei zu sein, wo er nichts verloren hatte. Der neue Präfekt, aus der Provinz herversetzt, hatte seinen Namen noch nie gehört und kümmerte sich den Deubel darum, wer er war. Er sah aus den Akten allerhand Belastendes von früher, und daß dieses üble Individuum erst vor kurzem das Gefängnis verlassen hatte. Und so machte er in einem Anfall von Aufräumungswahn und Reinmachewut, wie sie neue Beamte leicht überfällt, kurzen Prozeß und verurteilte ihn, nach einigen vorausgegangenen Tierquälereien, versteht sich, zum Tode, weil's gleich ist!

Franz hätte meiner Meinung nach eher einen Orden für Pechvogelabenteuer verdient; und mir wurde es in meinem unterirdischen Appartement langsam ungemütlich; ich schämte mich schon, daß ich noch nicht zum Tode verurteilt war, gab aber die Hoffnung, es doch noch so weit zu bringen, nicht ganz auf – unbedingt sicher war ich da unten auch nicht. Aber ich wollte heraus, mich stellen und ihn entlasten und wenn alles schief ging und Lolie sich die Haare ausriß.

Was ist ein liebendes Weib gegen einen treuen Freund?

Aber jeder unserer Genossen war überzeugt, daß er sich retten werde. Sie warnten mich vor Narreteien, die niemandem nützen und allen nur schaden konnten, und stellten mir über der Falltüre einen Wachtposten vor die Nase hin.

In dieser Zeit ging der Vierzeiler, den Franz angesichts seines nahen Endes verfaßt und herausgeschmuggelt hatte, von Mund zu Mund, obwohl er weder höflich noch fein ist.

»Ich bin der Franz, geboren in Paris,
Bei Pontoise, ich hab' kein Glück:
Ich mess' mit einem Klafterstrick
Am Hals, wie schwer mein Hintrer is.«

Das war etwas für Paris! Ganz Paris lachte. Mit diesen vier Zeilen war die ganze Welt lächerlich gemacht und er selbst mit. Die ganze menschliche Gesellschaft, die mit tierischem Ernst daranging, den lustigsten Burschen des Jahrhunderts umzubringen, und sich auch noch einbildete, damit etwas Gutes zu tun, alle, Richter, Advokaten, Polizei und Bürger, Kaufleute, Priester, Fürst und Militär, was waren sie anderes als eine Bande stocksteifer Narren in einem Karnevalszug, was ihre Einrichtungen, Gesetze und der ganze mechanistische Schwindel ihrer Existenz anderes als ein von Irrsinnigen entworfenes Faschingsprogramm!

Ach Franz, du großer kindischer Spötter, du bist und bleibst unverbesserlich!

Mit dem wird der liebe Gott seine Not haben! hieß es. Kann man dem frechen Kerl bös sein? Soll so ein lustiger Kunde umgebracht werden, acht Tage vor dem Verhungern? Der beste Geist Frankreichs? Der französischste Franzose? Dann ist es Zeit, daß man ganz Paris mit einem Strick am Mond aufhängt!

»Nur Apollo kann mich retten!« sagte Franz. Und er versuchte das letzte Mittel und dichtete, immer lustig, wenn auch mit einem kleinen unbehaglichen Gefühl im Bauch, das sich bei der Aussicht auf ein rabenumkrächztes Gerüst, von dem ein paar verrostete Ketten herunterbammeln, leicht einstellt, dichtete eine Bittschrift an den Magistrat, die er seinem Gnadengesuch und Einspruch gegen das willkürliche Urteil beilegte, nicht ohne die Behörde bis in den Himmel hinauf zu preisen und zu rühmen – die merken ja nischt. Ein Kunstwerk ist diese Berufungsballade gerade nicht, aber das war auch nicht ihr Zweck. Die Kunst ist nun einmal eine etwas leicht oder überhaupt nicht bekleidete Dame, die, würde sie sich so, wie sie ist, im Rathaus vorstellen, bei den sehr moralisch veranlagten Herren vom grünen Tisch wenig Achtung und Erfolg einheimsen.

Da aber Franz, soweit ihm Zeit dazu blieb, ein echter Dichter war und blieb bis zum letzten Schnaufer, dichtete er auch noch etwas anderes: die niederschmetternde Grabschrift und Ballade der Gehenkten, in der er mit schauerlicher Hellsichtigkeit seinen gehenkten Körper den Verfluchungen der Zeit und den gefräßigen Schnäbeln der Vögel ausgesetzt sieht, zerlöchert wie ein Schweizerkäs, und die in der rührenden Bescheidenheit seiner Zerknirschung und Klage immer wieder endet in die flehende Schlußzeile: »Und bittet Gott, er möge uns verzeihn!«

Wir hielten alle den Atem an. Im November war er verhaftet worden – und am fünften Januar wurde das erste Urteil aufgehoben und in zehnjährige Verbannung aus Paris umgewandelt.

Zehn Jahre Verbannung, auch kein Spaß – Gott verläßt die Seinen nicht!

Man hatte ihm die Freiheit wiedergegeben, etwas viel Freiheit –

Diese Gerichtsleute können ihrer verbrecherischen Natur keinen Zügel anlegen. Wen sie nicht umbringen können, den wollen sie wenigstens verbannen.

8
Le poète vagabonde

Drei Jahre nach unserer Flucht lief in den Kinos von Brüssel ein Film unter dem Titel › Le poète vagabonde François Villon‹. Ich zerrte Franz hin: »Hast du Töne?«

»Laß uns hineingehen, es kennt uns ja niemand. Wir zahlen unseren Eintritt und aus.«

Unvergeßlich bleibt mir, wie wir hineingingen. Er, der gefürchtete Apache vom Quartier Moelenbeck, wurde auf einmal unsicher und kindisch. Ich führte ihn an der Hand. Es ist zwar finster im Kino, ein finsterer Ort manchmal, aber gefürchtet habe ich mich deswegen noch nie da.

Da sahen wir also, daß der König Ludwig ein persönlicher Freund von Franz war, was wir früher hätten wissen sollen, dann wäre es uns besser gegangen. Und Catherina, die auf einmal Lottchen hieß, war gleich gar ein Mündel des Königs, da schau' her! Es gab da viele komplizierte Verwicklungen, die ich nicht ganz verstand, in fürstlichen Familien geht ja immer alles drunter und drüber. Wenn man sich vorstellt, daß sogar d'Aussigny, der Bischof, dem allerdings nichts heilig ist, Catha heiraten will, dann kann man sich schon denken, wie es zugeht. Aber der König legt sich dann doch wieder drein, wie es halt das tägliche Leben so mit sich bringt, und gibt sein Käthchen dem Franz zur Frau – – –

»Geheiratet soll ich ooch noch haben?« sagte Franz. »Herrschaft, da bin ich aber doch froh, daß ich da nicht dabei war!«

Ich hatte ihn schon am Anfang verhindern müssen, daß er die Flimmerleinwand in Fetzen schoß. »Mach' keine Sachen,« sagte ich, »wir sind hier nicht in Wildwest. Was hat es schon für einen Zweck, Photographien niederzuknallen!«

Und dann lachte er, hielt sich das Zwerchfell, sank zusammen, stöhnte und flehte: »Mensch, hilf mir – ich geh' kaputt – au, oh, mir tut alles weh – ich bin erledigt –« Und schließlich lachten wir alle, die ganzen Reihen vor und hinter uns. Das Personal schritt ein, ich schlug mich mit den Leuten herum, und er lachte und lachte, es war schrecklich.

»Entschuldigen Sie bitte,« sagte ich, »er ist krank. Verzeihen Sie die Störung, ich schaffe ihn schon hinaus!«

Und ich mußte ihn halb tragen.

Er trocknete sich die Augen.

»Der Spaß war sein Geld wert, weißt du! Aber ich will dir etwas sagen: ich bewundere diese Filmmacher, es müssen grandiose Gauner sein. Von denen könnten wir allerhand lernen. Welche großartige Gabe, beim Publikum für keinen Groschen Geschmack und Verstand vorauszusetzen und alles zu vermeiden, was das Geldverdienen stören könnte – die kaltblütigsten Schwindler der Welt. Die Gockelbrüder, die auch manchen Groschen verdient haben, sind romantische Schwärmer dagegen. Die Kerle haben wirklich Format: denke an diesen Berg von Lüge, von dem sie leben, und doch kannst du ihnen nichts Unrechtes nachweisen – es grenzt ans Wunderbare. Siehst du, das ist das, wonach ich mein ganzes Leben getrachtet und was ich nie erreicht habe! Wir sind zu nichts gekommen und sind doch keinen Augenblick vor der Polizei sicher – sie erreichen alles und stehen vor aller Welt makellos da. Man muß als Spitzbube auf die Welt kommen, erlernen läßt sich das nicht. Nur der vollendete Gauner steht als ehrlicher Mann da, wir halben sind immer Lumpen. Ich überlege, ob ich bei der Bande nicht ankommen könnte!«

»Und was tun?«

»Zum Beispiel, so eine Rolle spielen wie den Villon!«

»Du bildest dir wohl ein, sie machen den Film deinetwegen noch einmal!«

»Na, dann eben eine andere Gaunerrolle.«

»Das kann jeder Schauspieler, der jeden Abend im Hotel ordentlich zu Abend speist, besser wie du mit deiner ausgehungerten Weltanschauung!«

»Ich gehe zum Film, ich werde mich vorstellen!«

»Alles Gute! Als Ausgeher wirst du sicher eingestellt werden!«

Er sagte nichts mehr.

Das tiefere Wesen unserer Zeit scheint er doch noch nicht so recht zu begreifen.

9
Herbst

Die Kühe verschwanden von den Weiden, und die abgemähten, regennassen Wiesen schmückten sich mit dem blassen Lila der Herbstzeitlosen wie eine alternde Frau, die keine kräftigen Farben mehr wagt. Im Sommer, wenn die Stalltüren die ganze Nacht offen standen, war es kein Kunststück, in den Stall zu schleichen. Jetzt aber waren Tür und Tor verrammelt, der Bauer begann seinen Winterschlaf.

Und wieder fingen wir Grillen. Nicht solche, die man mit dem Grashalm aus dem Erdloch kitzelt, und auch nicht mehr solche, die man, aus dem Hinterhalt vorspringend, am Kragen packt – wir fingen jetzt Grillen in unserem Hirn. Der Herbst ging uns nahe, das letzte Aufleuchten aller Dinge und Gedanken, das Lebenwollen um jeden Preis, das doch nichts nützt. Um vier Uhr stand die Sonne schon so tief, daß es ein Jammer war. Welch kurzer Tag, welche lange neblige Nacht! Wie geduldig und dankbar hielt alles still unter dem letzten milden Schein. Kaum ist er verblaßt, hustet der Wind hohnlachend durch die entblätterten Zweige und zerrauft und zerrupft sie, sie neigen sich einander zu und wackeln mit den Köpfen, schwermütig über die rücksichtslose Zerstörung, trostlos über den unbarmherzigen Himmel.

Ich schrieb mir ein paar Verse vom Hals:

»Die Äste schwanken leer im Wind,
Ich schwanke zwischen Hoffen und Verzweifeln.

Ein Blättchen zittert noch am Zweig,
Ich zittere vor meinem Schicksal.

Der Weg durchschneidet Hang und Feld,
Durchschneidet mein gequältes Herz.

Feucht blinkt der Weiher aus dem Grund,
Mein Auge feucht, wohin es sieht.

Ein Zweig liegt abgebrochen da,
Zerbrochen liege ich am Rand des Lebens.«

Franz las das Gedicht.

»Das Leben ist unendlich, aber daß wir nicht mehr dabei sein werden, das will geschluckt sein. Wie viele Mädchen denken in diesem Augenblick an nichts als an den ersten Kuß! Wo es nur alles herkommt, dieses schlanke, feste, weiche oder pralle Fleisch? Und es wird immer da sein, immer. Wie viele schöne Frauen jetzt in der Sonne am Meer liegen, wie viele kleine Mädchen auf den Fahrrädern ihre Röcke in die Höhe strampeln – irgendeine müßte doch dabei sein, die dich dafür entschädigt, daß eines Tages alles aus ist – wo ist sie? Vielleicht heißt sie Catha –«

Wir schwiegen. Die Luft war mit hundert Prozent Wehmut getränkt. Und aus seinen Augen, aus den Bubenaugen dieses vom Leben zerstörten, ausgewitterten Gesichtes, aus diesen immer gleich jungen Augen, die im Verhältnis zu dem tollen Kerl, dem sie gehörten, immer noch ein wenig zu jungenhaft in die harte Welt schauten, las ich genug.

Ein Bauer fuhr vorbei mit einem Wagen voll Gerümpel. Wir fragten, ob wir aufsitzen dürften, er brummte was, und wir schwangen uns hinauf. Es war dem Stoffel nicht recht. Er sah ja, daß wir nichts hatten, und wo der Bauer nichts profitiert, ist nichts mit ihm zu wollen. Der wüste Ruch gab uns keine Antwort und knabberte Kürbiskerne, ohne uns nur einen einzigen anzubieten. Wir hatten keine Lust, dem sauren Heringsgesicht lange Gesellschaft zu leisten. Aber wir wollten ihn wenigstens noch ein bißchen ärgern.

»Der Kerl fährt sich aber ooch einen Stiebel zusammen!« sagte ich, als der Wagen ein wenig schwankte.

Franz kritisierte seinen Hut: »Was hat denn der Mann für eine Melone auf dem Kopp?«

»Sie haben da wohl Pegasusn selbst vorgespannt?« sagte ich, »an dem kann man ja mehr Hüte aufhängen, als eine Pariserin in ihrem ganzen Leben braucht!«

Und Franz: »Ich will eine Klosettbürste fressen, wenn der Renngaul schon einmal ein Korn Hafer gesehen hat!«

Der Bauer steckte alles ein und verzog keine Miene. Der Wagen bog aus dem Wald. In der Ferne sah man einen Ort, eine winzige, blaß in den Morgen gehauchte Silhouette. Wir sprangen ab.

»Guten Morgen, alter Dadderich«! schrien wir ihm nach. »Gib acht, daß sich dein Araberhengst kein Bein verstaucht! In zwei Stunden sind wir da, daß du uns ein ordentliches Frühstück zurechtmachst! Und komm bald heim, deine Alte wartet schon mit dem Besenstiel!«

10
Der fünfte Akt

In Saint-Maixent in Poitou gelang es uns, einen lang gehegten Plan zu verwirklichen. Wir machten dem Abt, einem gemütlichen alten Herrn, der an unseren Späßen Gefallen fand, den Vorschlag, ein kleines Theater aufzustellen, um den Leuten mit lustigen Possen die Zeit zu vertreiben und dazwischen hinein Passionen, Mysterienspiele und andere erbauliche Stücke vorzuführen. Der Abt ließ uns in der Nähe der Unratablagerung einen Platz anweisen und gab uns die Erlaubnis, bei den Ortsbewohnern die notwendigen Sachen zusammenzufechten, Bretter, Balken, Pfosten, Latten, alte Leintücher, Decken und Wagenplanen, Vorhänge, Teppiche und Fetzen samt Motten, gebrauchte Kleider, Hüte, Waffen und Kostüme, Stricke, Werkzeuge, Farben, Nägel, Kerzen, ausrangierte Kochtöpfe, Kübel, Laternen und zerbrochene Stühle, und was eben zur Errichtung einer Schmierenbühne mit angrenzendem Junggesellenhaushalt brauchbar ist. Wir schliefen in einem kleinen Zelt, entwarfen den Grundriß von Bühne und Zuschauerraum, zogen Schnüre, steckten Pflöcke, trieben Pfähle ein und sägten Bretter für Bänke und Boden. Dach, Wände und Türen machten wir aus Säcken, Decken und Tüchern. Die Maixenter Jugend, die sich vor unserem Neubau versammelte, wurde zum Zugreifen und Mithelfen angestellt und angeleitet, fehlende Gegenstände herbeizuschaffen. Einige flinke Bürschchen hätten am liebsten das ganze Dorf ausgeplündert, um unseren Haderntempel um so rascher erstehen zu sehen; sie wären bereit gewesen, dem Bürgermeister den Sessel unter dem Sitzfleisch wegzustibitzen, wenn wir es gewünscht hätten. Aber wir verlangten nichts Unrechtes, um die Kundschaft, die uns noch lang genug ernähren mußte, nicht schon am ersten Tag zu verscheuchen.

»Nur nicht stehlen!« ermahnten wir sie. »Ehrlich währt am längsten!«

»Und wer nicht stiehlt, der hat nichts!« ergänzten die leichtsinnigen Bürschchen.

Auch später hatten wir in der Dorf- und Straßenjugend nicht die schlechteste Stütze dadurch, daß wir sie bei Massenszenen als Engel und Teufel, Räuber, Soldaten, Pagen, Diener und Volk mitwirken ließen.

Nach zwei Wochen war unsere Kiste im gröbsten zusammengeflickt und provisorisch fertig gemacht, um dem ungeduldigen Publikum am Sonntag eine erste Vorstellung geben zu können. Die letzte Nacht vor diesem schwierigen Tag bastelten wir noch an dem Schild herum, das über dem Eingang prangen sollte und in etwas windschief geratenen Buchstaben die Aufschrift trug:

 

Mysterien- und Moralitäten-Theater
Direktor: François Villon
Regisseur: Cherpens Binscham

 

Für den, der nicht lesen kann, war es gut genug. Daneben sollten wir noch Rollen studieren, aber mir blieb vor Aufregung und Schwachheit nicht ein Wörtchen im Gedächtnis hängen.

Sein Leben lang hatte Franz nichts anderes werden wollen als Schauspieler und Stückemacher; warum war nie etwas daraus geworden? Weil eben alles schief gegangen war.

Die Bühnenkunst, die so lebendig wie vergänglich ist, war für ihn das einzig Wahre. »Ich schrieb, weil mir kein anderer Ausweg geblieben ist,« er schlug einen dicken rostigen Nagel durch eine Latte, die natürlich entzweiging, »aber glücklich hat mich das Tintenwerk noch nie gemacht.«

Er hatte eine solche Menge von Schwänken, Komödien, Szenen und Farcen im Kopf, daß er ein Theater zwei Generationen lang mit Premieren hätte versorgen können. Aber es wäre vernünftiger gewesen, die Eröffnung noch eine Woche zu verschieben, hätten die Gassenjungen, unsere Reklame, es nicht schon ausposaunt, daß wir spielen. Wir kamen weder zum Schlafen noch zum Essen. Es war zwar nichts zu essen da, womit der Gedanke versöhnte, daß wir, selbst wenn etwas da wäre, doch nicht Zeit zum Essen hätten. Es fehlte vorn und hinten und an allen Enden, alles ging drunter und drüber. Zu unserem Schrecken sahen wir schon Stunden vor dem Beginn eine Menge neugieriges Volk unsere Bude belagern. Franz schloff in einen roten Soldatenrock, an dem ein Ärmel fehlte, was er dadurch gutmachte, daß er den Arm, mit weißen Lappen umwickelt, zu einem verwundeten machte. Dann blies er in unser Mehl, das aber eigentlich dazu bestimmt war, eine Mehlsuppe zu kochen, sobald wir Fett haben würden, und bemalte sich die Lippen mit Ziegelstaub und die Augenbrauen mit Wagenschmiere. In diesem wilden Aufzug setzte er sich an die Kasse, eine leere Kiste, vor der ein Faß mit einem durchlöcherten Fußteppich als Tisch stand; und ich, ähnlich geschmückt und angestrichen, rührte daneben die Trommel, das heißt, hieb auf einen alten Blechkübel ein, als wollte ich ihn in lauter Moleküle zerschlagen. Wir wußten noch nicht, was wir spielen sollten, und ließen einstweilen alles herein, was bezahlte, denn was man hat, hat man. Viele zahlten mit Lebensmitteln, und es waren bei Gott so viele Leute gekommen, daß uns um unseren Flohzirkus angst und bange wurde. Wir sahen, daß wir bald an eine Vergrößerung denken mußten. Vorläufig genügte es ja, wenn man die hintere Wand herausriß, aber erst, nachdem alles bezahlt hat.

Der Herr Direktor eröffnete die Matinee mit einstündiger Verspätung und einer Ansprache, in der er für sein junges, soeben vom Regen in die Traufe gehobenes Unternehmen – draußen ging ein Wolkenbruch nieder, und drinnen fing es auch schon zu tröpfeln an – um Nachsicht und Geduld bat, damit, was in der Gegenwart noch unvollkommen sei, in der Zukunft um so schöner heranreife, empfahl unser Theater der Gnade Gottes und dem Wohlwollen der Menschheit und schloß mit einer Danksagung an Seine Majestät den König, dem er die Konzession zu seinem Theater verdanke – was etwas übertrieben war. Aber er ließ nie eine Gelegenheit passieren, daß er dem König nicht für etwas dankte, das er nie von ihm bekommen hatte, weil er ihm nicht vergaß, daß er ihn aus der Hölle von Meung befreit hatte – und außerdem machte es sich ganz gut.

Den Ach- und Kracherfolg, den wir mit unserem Schwank ›Ritter Schnauzbart der Kühne‹ errangen – wir hatten das Ding eine halbe Stunde vor Beginn ausgedacht – verdankten wir einem Dutzend auf den Jahrmärkten aufgeschnappten Clownspäßen. Die Posse ist eine lustige Verspottung der schreimäulerischen Helden und Kraftmeier, die immer alles kaputt machen müssen, um bestehen zu können, und doch nur beim Kaminfeuer tapfer sind, nur auf der Bühne einen Feind umzubringen und nur auf dem Ball eine Frau zu berühren wagen. Zwei Ritter kämpfen um eine Dame, man sagt ihnen, daß sie, weil sie Nebenbuhler sind, sich duellieren müssen. Bedrängt und gehetzt von hinten, muß ich den Ritter Schnauzbart fragen: »Sind Sie satisfaktionsfähig?«

»Ja, leider!« antwortete er und weicht zitternd zurück.

»Dann gestatten Sie, daß ich mich verabschiede!« erwidere ich; und so weiter.

Alles war ohne Zwischenfall abgelaufen, nur daß es einer dicken Krämerin auf den Kopf geregnet hatte, so daß ich unter dem Spiel hinausgehen und einen Sack auf das Dach placieren mußte, worauf sich die Heringstante allmählich beruhigte. Mein tiefster Eindruck von dem Publikum, das sich da versammelt hatte, war der, daß es stank. Ich hatte schon am ersten Tag die Nase voll, aber was will man machen, wenn man nicht als Rentier auf die Welt gekommen ist. Zur Not war es bei der Dame Thalia zum Aushalten. Mairent lag in abgelegener Provinzsicherheit; wer uns auch aus dem Abgrund unserer Vergangenheit nachspechten mochte, in dieser Vermummung und Versenkung verloren sich unsere Spuren.

Wir brachten mit der Zeit Verbesserungen an, bauten die Wohnung aus Brettern vergrößert neben den Bühnenraum, und ersetzten unsere lose Lagerstreu durch Strohsäcke. Wir besaßen eine Glocke, einen bemalten Vorhang zum Aufziehen, eine echte Trommel, drei verrostete Degen, eine Trompete und eine selbstgemachte Mondscheinmaschine; ja sogar eine Frau, eine wirkliche lebendige Frau gehörte zu unseren Requisiten. Das Humpellieschen war eine nicht mehr ganz junge Dame ohne Zähne und mit einer Figur wie ein Sack voll Hirschgeweihe. Dafür verfügte ihr Töchterchen, ein elfjähriger Fratz, der schon kleine Rollen spielte und unsere mit unfreiwilligen Intervallen ausgestattete Drehorgel drehte, über eine hübsche, allzeit schmutzige Schnute, das prächtigste Gebiß und den gesündesten Appetit. Abergläubische Leute behaupteten, das Lieschen sei schon mit ihrem Holzbein zur Welt gekommen, aber deswegen vor Zeiten so flink gewesen wie irgend jemand mit zwei gesunden Beinen, sie hingegen beschwor bei allen Heiligen, der Fratz sei ihr Adoptivkind. Wie wir uns auch gegen diesen Familienzuwachs anfänglich gewehrt hatten, war es doch nicht falsch gewesen, den beiden Damen einen Extrasalon aufzustellen. Sie nahmen uns Arbeit ab und waren auch auf der Bühne zu gebrauchen. Und wo nichts ist, können ja zwei noch leicht mithungern.

Neben Mirakelspielen führten wir Hanswurstiaden und Narrenpossen auf, wie den Schwank vom ›Trallermax, Schmuligux und Ambaschour‹ und den ›Dialog vom Schlechtzahler und Windgähner‹, und manchmal gelang es Franz sogar, zwischen drei zweideutigen Witzen eines seiner Gedichte einzuschmuggeln.

Es mochte den Kindern, die uns umlagerten, sonderbar vorkommen, daß der Mann in geflicktem Hemd und zerrissenen Hosen, der auf dem Reisigfeuer neben dem Zelt eine Zwiebelsuppe kochte oder einen selbstgeangelten Fisch briet, genau dieselbe Stimme besaß wie Gottvater, wenn auch keinen Bart; oder daß die Stimme des Heiligen Geistes, der Holz kleinmachte, herüberrief: »Mensch, spar nicht mit dem Speck, heut ist Sonntag!«

Allem Fleiß und Ernst zum Trotz aber hätte ein unliebsamer Zwischenfall unser friedliches Unternehmen beinahe zugrunde gerichtet. Der Halspacker-Steffi, Schuster und Mesner von Maixent, weigerte sich, uns eine Schärpe und eine Stola zu leihen, welche zur Darstellung von Gottvater nötig waren. Wir versuchten alles im guten wie im schlechten, aber der halsstarrige Halspacker wollte uns nicht gefällig sein. Ein paar übermütige Bürschchen hatten sich hierauf als Teufel maskiert und den Mesner, als er auf seinem Maulesel vorbeikam, so erschreckt, daß sein Tier scheute und, sich vor Teufeln fürchtend, selbst wie der Teufel im Galopp davonstob. Der Mesner wollte abspringen, blieb im Steigbügel hängen und wurde von dem angstgehetzten Tier geschleift, bis es vor der Klosterpforte stehen blieb. Nachdem er einen Tag oder zwei hoffnungslos im Spital gelegen, war der Steffi an den Folgen dieser leichtsinnigen Rutschpartie gestorben.

Es fiel uns zwar nicht schwer, den Abt von unserer Unschuld an diesem Unfall zu überzeugen, aber unser öffentliches Ansehen war erschüttert, wir mußten uns besondere Mühe geben, die Gunst des Publikums wiederzugewinnen, und bereiteten unter anderem die Moralität ›Das französische Herz‹ vor, ein sehr schönes Stück, in dem Franz erdrückende Mengen von Edelmut angehäuft hatte. Ich spielte darin den ehrlichen Kapitän, und er den alten, buckligen, zahnlucketen Intriganten.

Der Tag der Aufführung war da, und ich vollführte mit Trommel und Trompete einen Lärm, als kündigte ich das Nahen des Jüngsten Tages an. Unsere Vorstellungen begannen immer noch mit großer Verspätung. Als Franz auf der Bühne ein losgelöstes Brett annagelte, nahmen die Leute die Hammerschläge für das Zeichen zum Beginn und johlten wie die Wahnsinnigen. Endlich waren wir soweit, da ging der Vorhang nicht auf. Ein Zuschauer hatte sich den Scherz gemacht, die Zugschnur an einem Pfosten anzubinden. Mitten unterm Spiel fiel es unserem Fratz ein, daß sie den Stuhl brauche, den einzigen, den wir besaßen, der aber in diesem Stück auf der Bühne notwendig war. Das Gezeter darüber in der Wohnstube war lauter als die Vorgänge auf der Bühne. In der Wut stieß Franz, während er spielte, mit dem Fuß nach hinten, um dem Humpellieschen zu sagen, daß sie ihren Schreihals beruhigen solle, durchtrat die Kulisse und blieb in ihr hängen, so daß wir ihn befreien mußten.

Das Theater war überfüllt; beim zweiten Akt krachte die erste Bank zusammen. Wir hatten entlang der beiden Seitenwände zwei Leitern auf die Längskanten gestellt und verpflockt und mit darüber gelegten Brettern zu Bänken verbunden. Diese Leitern, die uns die Bauern geschenkt hatten, waren natürlich nicht mehr ganz neu. Nicht lange, dann brach unter dem Gekreisch der Stürzenden die zweite Bank zusammen. Wenn einmal ein Pflock reißt, dann geht es schon dahin. Franz spielte ruhig weiter. »Wenn sie lieber auf der Erde sitzen,« meinte er, »mir kann es gleich sein.« Erst als die dritte Bank krachend auseinanderbarst und die ganze Bude zu wackeln anfing, verließ er die Bühne, um nachzusehen, wer da Unfug trieb. Wir anderen Schauspieler warteten auf offener Bühne, bis er zurückkam, und spielten dann vergnügt weiter. Während einer ergreifenden Szene beklagte sich plötzlich eine alte Frau, daß ihre Nachbarin zuviel Flöhe habe, sie hielte es nicht mehr aus. Ihre Beschwerde führte zu einem Gezanke, das mindestens so schön war wie eine unserer Possen, nur daß das Publikum sie spielte und die Schauspieler die Zuschauer waren.

Alle diese Unterbrechungen gehörten dazu und konnten die Stimmung nicht stören. Franz war ein Schauspieler, der über den Weltuntergang weggespielt hätte, als ob nichts los wäre. Er konnte sich alles erlauben, von ihm nahm man alles hin, jedes Auge hing gebannt und gespannt an jeder seiner Bewegungen. In der großen Szene: der alte Gichtknochen will auf den Stuhl klettern, purzelt immer wieder herunter und würgt sich endlich auf dem Bauch liegend hinauf, steht zitternd oben und rückt mit seinem Stock den Uhrzeiger um eine Stunde vor, damit die Hinrichtung des jungen unschuldigen Leutnants eine Stunde früher stattfände; und wie er nun bei diesem teuflischen Streich plötzlich seine Schlechtigkeit einsieht und die Verderbtheit und hoffnungslose Erbärmlichkeit alles Menschlichen beklagt, aus der sich keiner mehr herauswinden kann – in dieser Szene riß er alles hin. Alles verstummte, alles war mäuschenstill; und die eben noch zu seinen halsbrecherischen Akrobatenstückchen herzzerreißend gelacht hatten, weinten jetzt – sie werden schon wissen warum.

Wir hatten für diesen Tag noch eine besondere Attraktion angekündigt, und darum auch soviel Publikum. Unser guter alter Abt hatte uns zum Dank für eine schöne Aufführung ein Ferkel geschickt, weil seine Sau einen guten Wurf gehabt hatte. Dieses Ferkel spielte in unserem Stück eine Rolle und wurde zwischen dem vierten und fünften Akt unter komischen Umständen über die Bühne gejagt.

Da war nun zu sehen, daß der Erfolg des Ferkels ein noch viel gewaltigerer war als der Franzens. Der Vorhang war schon lange zu, und immer noch quietschte und raste das Publikum wie verrückt. Wir guckten durch ein Loch in den Zuschauerraum: sie wollten sich nicht mehr beruhigen.

Franz schaute mich an mit seinem matten ironischen Lächeln. »Bestie!« sagte er leise …

Wir hatten schon manchmal daran gedacht, den ganzen Krempel auf einen Karren zu laden und im Herumziehen andere Gegenden mit unserer Kunst zu beglücken, wenn wir nur erst ein Pferd oder einen kräftigen Esel gehabt hätten. Als Esel waren wir ja zur Not noch selbst zu gebrauchen, nur kräftig waren wir nicht mehr.

Nun war es auch damit nichts.

Franz schickte den kleinen Fratz hinaus und ließ sagen, daß wegen des Umkleidens eine längere Pause eingeschaltet sei. Vorher mußte sie ein Liedchen singen.

Und wir kleideten uns um und verschwanden.

11
Bonsoir!

Mein Franz sieht bös aus. Er ist sehr gealtert, die Haut grau wie Sackleinwand und vom Schminken noch schlaffer und rissiger geworden. Seine Augen liegen erloschen in tiefen Knochenhöhlen, sein frecher, strenger und im Lachen doch so kindhafter Mund hängt mit tief gegrabenen Winkeln nach unten.

Wir waren aber auch so auf dem Hund, daß uns nichts mehr aufrüttelte. Wir gingen wie Schatten im Traum.

Wenn ich ein Stück Brot aß, dann schaute er weg, damit ich nicht auf die Idee kam, es vielleicht mit ihm zu teilen.

Ich habe ihn schon recht gern.

»Bist du krank?« fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern.

»Wir haben ja noch ein bißchen Geld, nicht viel, aber – Und schließlich muß es doch auch mal wieder aufwärts gehen.«

Ich glaubte selbst nicht daran.

Alle acht Tage, wenn wir genug zusammengefochten hatten, kehrten wir ein und genehmigten uns ein Bett.

Wir hatten eine halbe Stunde dagesessen, als er hinausging. »Ich komme gleich.«

Ich spürte eine sonderbare Unruhe, lief ihm nach und erwischte ihn.

»Wohin denn?«

»Schlafen.«

»Bleib halt noch ein bißchen sitzen!«

Er schaute weg. Und auf einmal begriff ich – – –

»Auf der Straße können wir auch nicht stehen bleiben, es ist kalt. Komm! Ein Gläschen! Einen Schnaps auf den Schrecken!«

Er gab nach. Franz ist kein Frosch, er bleibt immer der Alte.

Nach den ersten Schlucken wurde uns wärmer. Er schaute von Zeit zu Zeit auf die Wanduhr, wie einer, der ein Rendezvous hat –

»Ich geh' mit,« sagte ich. »Ich habe auch genug. Was soll ich allein da. Ich erwarte nichts mehr.«

»Du bist ein netter Kerl. Aber: man kommt allein und geht allein. In die Kiste begleitet dich niemand. Bei dir eilt es noch nicht. Du hast noch ein paar Jährchen abzubüßen!«

»Ich möchte wissen, was ich noch zu erwarten hätte. Du mußt doch zugeben, daß ich mein möglichstes getan habe!«

»Sie liebt dich! Das genügt, um dazubleiben.«

»Kann sein, das weiß man nie so genau. Aber selbst angenommen, es wäre so – und wat koof ich mir dafor?«

»Nur immer sachte, Hänschen, das Frage- und Antwortspiel wird bald zu Ende sein!«

Wir waren am Schluß unserer Weisheit angelangt und rissen Kalauer.

Das Dorf schlief, wir gingen aus den Häusern hinaus, zwischen den überwachsenen Steinmauern bis zu den offenen Weinbergen. Die Nacht war stockfinster und sternlos.

Er war schon einige Schritte ins Dunkel hineingegangen, ich sah ihn schon nicht mehr. Aber ich glaubte, sein Lachen zu sehen, als er noch zurücksagte: »Oder denkst du vielleicht, du bleibst übrig?« – – –

Ich muß wohl dann in dieselbe Wirtschaft zurückgegangen sein. Ich sah mich auf einmal vor einem Glas Bier sitzen, das ich mich nicht erinnerte, bestellt zu haben. Vielleicht hatte die Wirtin es mir einfach so hingestellt.

Es kam mir mit einemmal zu Bewußtsein, daß ich, wie lange schon, das Plakat anstarrte, das mir gegenüber an der Wand hing, dieses unmögliche Plakat mit den öden Worten: Liqueur Dubonnet. Die Wirtschaft war so leer und so schauderhaft ordentlich aufgeräumt, daß man sich fragte, ob der Aufenthalt hier vielleicht verboten ist. Man hatte das Gefühl, daß die leeren gemeinen Fabrikrohrstühle schadenfroh hinter dem letzten Gast dreingrinsen: Endlich! Den hätten wir hinausgeekelt!

Und so leer wie die Wirtschaft, so nichtssagend, ungastlich und trostlos war die ganze Welt, und ich selbst war genau so leer. Nichts war in meinem Hirn als Stühle, einer neben dem anderen, leer, glatt, kalt, und nichts als das unverrückbare Plakat mit seinen stupiden Buchstaben: Liqueur Dubonnet. –

Die Wirtin sagte etwas, ich glaube vom Zahlen, redete ziemlich lang, ich hörte nur das Geräusch davon. Natürlich, immer vom Zahlen – was geht's mich an, ich habe kein Geld, sie wird schon sehen, wie ich zahle, wenn ich beim Fenster hinaus türme. Aber vielleicht war es doch besser, wenn ich freundlich war. »Gewiß, Madame!« sagte ich; ich spürte, wie sich mein Gesicht zu einem gräßlichen Lächeln verzerrte, und dachte mir: rutsch' mir doch den Buckel 'runter! Aber plötzlich kam ich zu mir –

Was ist denn los? dachte ich, Mensch, benimm dir!

Die Frau wünschte mir gute Nacht, angenehme Ruhe, gute Erholung und Hals- und Beinbruch. Und ich dachte: du willst doch ebenso freundlich danken! Aber ich brachte nichts heraus als ein strohtrockenes, eiskaltes: » Bonsoir –«


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