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Erster Teil

1
Der einzige Mensch

Im Dezember bin ich von Berlin zurückgekommen. Es war acht Uhr oder neun Uhr morgens. Ich greife in die Tasche: noch drei Mark. »He, Auto!«

Der Nebel, der den Kohlendunst von den Dächern auf die Straßen herunterdrückt, sickert durch die Ritzen der Wagentür. Ich wische mit dem Ärmel über die Scheibe. Es ist noch nicht Tag. Es scheint überhaupt nicht Tag zu werden. Die Straßen ausgestorben, kein Mensch geht irgendwo, kein Fuhrwerk begegnet uns, kein Verkehr, kein Pulsschlag und Atem. Nur schmutzige Schneereste, bleiern schimmernde Regenpfützen in den Asphaltlöchern, eine tote Stadt, eine steinerne frierende Leiche.

Im Zug habe ich einen langen Brief an Anna geschrieben und dabei so geheult, so geheult, zum Schämen. »Ist Ihnen jemand gestorben?« fragte mich die Dame, die mir bis Halle gegenüber saß. »Ja,« sagte ich. »Wenn Sie fürchten, naß zu werden, können Sie ja den Regenschirm aufspannen.«

Und jetzt war ich wieder in der toten Stadt, hinter deren rußigem Nebel keine Zukunft ist, wieder allein mit meiner Lumpenwirtschaft und meinen Pfennigsorgen.

In dem holpernden Karren sah mich niemand; ich knickte zusammen. Trocken glühten meine ausgebrannten, immer noch nach Erlösung dürstenden Augen.

Nun, das geht niemand was an. Ich stieg aus, und ein Mann, der aus einem Auto steigt, muß eine nachlässig sichere, herrschaftliche Haltung haben, muß immer gut aufgelegt sein und zu jedem freundlich guten Tag sagen.

Ich zerrte den elefantisch plumpen und schweren Lederkoffer, den mein Freund mir geliehen hat, ein Erbstück von seinem Urgroßvater, wie einen Mühlstein über die grausam ächzenden vier Stiegen hinauf.

Da ist das kleine Atelier wieder, vollgestopft mit Gerümpel, das mir Gott sei Dank wenigstens nicht gehört, seit Monaten nicht geheizt, das große Fenster von Eisblumen blind. Das verrußte Ofeneck hat die Hauswirtin mit dem Maurerpinsel überschmiert und den Schmutz ein wenig durcheinandergewischt. Sehr liebenswürdig von ihr. Überwischt, aber es schimmert noch durch. Acht Monate Miete rückständig. Schimmert durch.

Ich lasse mich häuslich fröstelnd auf einen Stuhl nieder und überlege.

Zwei Maggiwürfel, ein halbes Pfund Staubzucker, mehr Staub als Zucker, ein kleines Häufchen Kohlen und einen großen Haufen Schulden. Der Anzug ausgefranst, der Hosenboden durchsichtig, wie der Wandanstrich, wie die Höflichkeit der Geschäftsleute, wie ein Beefsteak im Grand Hotel, durchsichtig wie das ganze Leben. Der Hausherr grüßt mich nicht mehr, seit er weiß, daß ich mit der Miete im Rückstand bin. Alte Bilderrahmen sind noch da zum Einheizen, alte Manuskripte zum Nachschüren. Das Bett ausgebaucht wie eine Hängematte. Das Gas abgesperrt, das Licht abgesperrt. Wie alt ist mein Anzug eigentlich schon, wann habe ich ihn denn eigentlich erstanden? Ich weiß es nicht mehr, wie alte Leute manchmal nicht mehr genau wissen, wann sie geboren sind. Er ist eine Art historisches Kostüm. Ein Rest Kerze ist auch noch da, eine blaue. Ich habe eine Schwäche für blaue Kerzen.

Ich werde verschwinden!

Eine Zeitlang werde ich bei Freunden und Kameraden essen, jeden Tag bei einem anderen, werde herumbetteln, pumpen, schmarotzen, mich langweilen wie ein Floh auf einer Leiche, und endlich abhauen. Adieu!

Und so habe ich es gemacht. Ich habe alle Freunde abgeschnuppert, bis es ihnen zu dumm geworden ist und mir auch. Ich habe in den Kneipen ankreiden lassen und bin in dem warmen, verstänkerten Qualm herumgehockt, bis man mich freundlichst ersucht hat, aufzustehen. Ich habe mich untertags nicht mehr aus dem Haus getraut und bin nur mehr nachts fortgeschlichen. Ich ging zum Tanzen, trank den Leuten den Wein aus und zahlte nirgends einen Pfennig. Ich markierte mit geflickten Hosen den Kavalier und lebte von einem Stück steinharten Brot. Ich zerbrach mir den Kopf, wie man ohne Geld eine Gasrechnung zahlen kann. Wäre mir einer begegnet und hätte gesagt: ›Geh mit zum Stehlen!‹ – mit Freuden, aber leider ist mir keiner begegnet. Es wird wohl nicht mehr lang dauern, dann finde ich die Genossen schon, die ich brauche. Ich schüttete mir drei, vier Flaschen Sekt, die nicht mir gehörten, in meinen Magen hinein, der seit drei, vier Tagen leer war, also war Platz genug. Ich schleppte meinen Leichnam nach Hause und zog mich am Stiegengeländer mit beiden Armen hinauf, schwer, langsam, schnaufend wie ein Blasbalg. Ich stand nicht mehr auf und drehte dem Kalender mit seiner grinsenden Tagesziffer vom vorigen Jahr den Rücken zu. Wenn es klingelte, blieb ich mäuschenstill und wagte nicht zu schnaufen; oder ich pfiff einen ganz gemeinen Schlager, damit sie sich recht ärgern. Tagelang habe ich mein Bett vergessen. Ich ging nicht mehr heim und existierte nicht mehr. Oder ich blieb im Bett und existierte auch nicht mehr. Ich hatte diese Welt, diese Dreckwelt, verlassen. Ich schlief vor Hunger ein und wachte vor Hunger auf. Ich sah im Kaffeehaus nach, was für ein Tag ist. Ich blieb auf der Straße liegen wie ein bespritzter Balken von einem Neubau. Und ich ging zu meiner armen Mutter und ließ mir einen Teller Suppe und zwanzig Pfennige für Zigaretten geben.

Ob die Leute mich grüßen oder nicht, ob sie lachen oder hinterrücks über mich schimpfen, was geht's mich an. Ich verachte sie, diese Gummibälle meiner Gedanken, ich jongliere mit ihnen, und wenn ich nicht an sie denke, sind sie überhaupt nicht vorhanden, denn sie sind nur Scheinwesen. Der einzige, mit dem ich mich unterhalten kann, ist mein Freund Villon, der einzige, der mich versteht, und der einzige, mit dem ich lebe. François Villon ist ein Kerl, der sich sehen lassen kann. Ein Gauner, Bazi, Spötter, Leutauslacher und Ausschmierer, und dabei ein Hanskasperl und Luftikus, so was gibt es nicht mehr. Ich habe mich so in ihn vergafft, daß mir alle Menschen noch mehr piepe sind, wie sie es mir schon immer waren; der paßt mir grad, der sitzt mir wie angemessen; alle anderen können mir am hellen Tage gestohlen werden. Ich weiß, wo ich hingehe: nach Paris, nach Tours und Angers, nach Blois und nach Poitou. Vielleicht auch nach Montpipeau, warum nicht, kitzliche Geschichte, aber das reizt mich ja grade. Und dann nach Meung-sur-Loire, auweh zwick, aber das muß eben auch sein. Ich weiß nicht, wo überall hin, eben bis zu Ende, bis zum Schluß und bis es aus ist. Sehr einfach. Hat er den Weg zu mir gefunden, werde ich den zu ihm nicht fürchten.

»Fränzchen,« sage ich, »wir ziehen aus, wir lassen den Möbelwagen kommen. Der mit Rechnungen gepflasterte Boden wird heiß. Gehst mit? Du bist ja auch noch schneidig beinander. Wie ein überdressiertes und unterernährtes Zirkuspferdchen! Es hilft nichts, wir müssen uns dünn machen. Die Gläubiger lauern wie ein Rudel Schakale auf den Augenblick, wo sie dir die Fetzen aus dem Fleisch reißen können, sie fallen über das Aas her, bevor es seinen letzten Luftschnapper gemacht hat. Wir sind ausgemergelte Soldaten des Lebens. Wir müssen aufpassen, daß uns die Hitze nicht niederwirft, oder die Kälte. Die anderen, du weißt ja, stolpern weiter, fiebrig und schläfrig, keiner dreht den Kopf um. Sie wollen und dürfen ihr eigenes Los nicht sehen.«

Totenstille. Ich bin auf einmal so müde. Mein Freund ist verschwunden. Eben war er noch da, stand neben mir, ich hörte seine rostige, verräucherte Ausruferstimme, spürte seine harte Hand auf meiner Schulter. Verläßt er mich? Geht er nicht mit?

Das letzte Kerzenstümpchen ist herabgebrannt, das letzte Feuerchen ausgelöscht.

Ich wickle mich in meine zerrissene Decke.

2
Alte Anekdote!

Steigt aus, ihr Feiglinge!
Vor euren Augen liegt Paris!

Rimbaud

Die Lola ist ein herrliches Frauenzimmer. Sie hat mir fünfzig Mark geschenkt, damit ich nach Paris fahren kann. Es gibt noch opferfähige Seelen. Fünfzig Mark. Na schön, ich bin eben nicht mehr wert.

Ich drücke meine Nase an die dunstbeschlagene Scheibe: Lichter, nichts als Lichter. Ein brennendes, stechendes, vorüberblitzendes, erlöschendes und immer wieder aufzischendes Meer von Lampen und Sternen. Schwarze Häuser, im Dunkel aufhuschend, schauen dich sonderbar an und verschwinden wie Raben. Wir müssen gleich da sein. Fanatisch fahrplanmäßig überdonnert der D-Zug Kurven und Weichen, die Wagen stiegen, krachen, schwanken und springen. Und immer wieder Lichter und Lichter.

Halt! –

»Noch ein Kognak, Leute! Ich muß noch marschieren.«

»Bei dem Regen?«

Lang bin ich gegangen, wie spät wird es sein? Da ist die schwarz auf den Montparnasse hinaufkriechende Rue Saint-Jacques, da die Brotkastlgasse, die Sankt-Severin-Straße, die Kurzzipfelgasse und andere Halsabschneiderwinkel, das ganze uralte schiefe und krumme Viertel. Gib Obacht, daß dir nichts auf den Kopf fällt! Man kann hier zwar ruhig gegen Morgen allein spazieren gehen und verworrene Aussprachen an die abgebröckelten Hausecken halten, warum nicht. Aber es ist immer ganz gut, wenn man auf irgendeine unerwartete Frage aus dem Dunkel auch die passende Antwort bereit hat.

»Franz, wo bist du?«

Das frage ich. Aber nichts rührt sich. Eine Algerierin, das Kleine an der kakaobraunen Brust, huscht vorbei, barfuß, ihre Katzenaugen funkeln. Ein zerlumpter kleiner Schmutzian klammert sich ängstlich an ihren weiten Mantel. Da und dort kriechen obdachlose Bettler, Krüppel, Blinde, alte Weiber, Papiersammler und Kehrichtschnüffler im Finstern wie die Ratten.

»Franz!«

Aus dem Schatten der Mauer tritt ein Polizist. »Er wird schon schlafen, Monsieur, besuchen Sie ihn lieber morgen!«

Ich erwache und sehe mich stehen, durchnäßt und übernächtig. Eintönig rieselt der Regen, eine letzte Laterne schimmert im schwimmenden Asphalt.

Nur immer weiter gehen und sich von dem einförmig mechanischen Takt der Schritte tragen lassen, begleitet vom Echo aus Winkeln und Ecken.

Hallo, eine Kneipe und noch Licht! Hineinspaziert!

Zwei Bauarbeiter schauen mich an und tuscheln. Was wollen sie? Ich halte mir eine Zeitung vor die Nase, um besser hören zu können.

»Weißt du, wie der aussieht!«

Pause.

»Kennst du Louis onze, der in Amboise gehaust hat? In Plessis-lez-Tours ist er verreckt. Dieser Ludwig hat nicht sterben wollen, er hat gemeint, für ihn gibt es ein Kräutchen! Na also gut, und da war ein Dichter, der die Zukunft voraussagen konnte. Warum nicht, wer gescheit ist, kann auch ein wenig vorausschauen. François Villon, der Dichter, hatte ein paar Dinger gedreht und war zum Tode verurteilt worden. Der Ludwig läßt ihn kommen: ›Sagen Sie mal, verehrter Freund, wie lange werde ich leben?‹ Der Villon antwortet: ›Einen Tag länger als ich, Seigneur!‹ – Daraufhin hat ihn der alte Schuft begnadigt.«

»Gut. Gut.«

»Und so wie der ausschaut, so stelle ich mir den Villon vor. Der könnte er sein!«

Ich spürte, wie sich die Blicke der beiden auf meine Zeitung hefteten, als wollten sie sie durchbohren. Ich legte die Zeitung hin. Sie schauten mich an.

Nun ja, eine Anekdote, eine Legende, so wahr, wie Legenden eben wahr sind.

Ein angenehmes Gruseln mischte sich in meine Grübelei wie ein rascher Wechsel von Frost und Wärme. Ich war ja auch bis auf die Haut naß, hatte vier oder fünf Absinth hinuntergegossen und war zu müde, um noch aufzustehen. Hoffentlich kann ich meine Zeche noch zahlen, dachte ich. Und wenn nicht, nun dann eben nicht. Jedenfalls bleibe ich sitzen. Es wäre wirklich nicht der Mühe wert, sich noch ein Bett zu suchen, selbst wenn ich es bezahlen könnte. Und ich habe so ein Gefühl, als müßte noch was passieren. Ich kann mir zwar nicht recht denken was …

3
Besser wie drüben

Ich weiß nicht, wie der Mann an dem verrosteten Blechtischchen hereingekommen ist. Er saß ohne Getränk da und rührte sich nicht. Ich sah ihn auf einmal, aber außer mir scheint ihn niemand bemerkt zu haben. Er war barfuß, und es war nicht gerade warm in dieser Nacht, zerlumpt, grau bestoppelt, halb nackt, alles in allem unnahbar abschreckend.

Das könnte der Villon schon eher sein! denke ich. Ein Bettler, ein entlassener Sträfling. Ein fürchterlicher Schädel, glatt poliert, die Schläfen von einigen grauen Strähnen umwuchert wie von verdorrten Grashalmen, das Gesicht bärtig, aber ohne Augenbrauen, mumienhaft vertrocknet, die Augen unsichtbar, tief in beschatteten Höhlen. Ein Kopf wie eine alte Rübe, die man nach dem Regen aus der klumpigen Erde zieht, ein Totenschädel auf einem lebendigen Körper. Wie sonderbar hell das dunstige Licht auf der übermäßig hohen Stirne schimmert. Und außerdem, gestehe es nur, außerdem ist er dir ein wenig ähnlich, ziemlich ähnlich sogar! Nur daß seine Haut zerfressen ist, von Hunger, Laster, Krankheit, aber das wird meine auch bald sein, daß in seinem verkniffenen Mund, der einen Strohhalm hält, kein einziger Zahn mehr ist, aber mir wachsen ja auch keine mehr nach, daß ein giftiges, süß und billig stinkendes Parfüm von ihm hergeht, und daß an seinem rauhen, nackten Hals im nächsten Augenblick eine Ringelnatter hochkrabbeln und aus seinen Augenhöhlen Würmer kriechen werden –

Nun ja, noch zehn Jahre, dann wird zwischen uns beiden wenig Unterschied mehr sein. Er ist nur das, was ich bin, mehr als ich selbst! Und dann noch fünf Jährchen –

Oder ist da vielleicht nur ein Spiegel?

Guter Witz, ich mußte lachen.

Nein, in der armen Bude war kein Spiegel. Alte verregnete Kleider, zerfetzte Plakate, ein paar eingerahmte, von Fliegenschmutz überkrustete Photographien an der schmierigen Wand, das war alles.

Ich trank aus.

Ich war nicht betrunken. Ich befand mich nur in dem angenehmen Vorstadium, in der leichten und freien Verfassung, in der man aus dem schweren und leeren Tag entsprungen ist wie aus dem Gefängnis und in der man alles Normale, Vernünftige und Richtige ein bißchen von der Seite, ein wenig schadenfroh betrachtet –

Der Fremde saß da wie eine wurmstichige Holzfigur, immer noch ohne Getränk. Er konnte sich nichts kaufen, oder wollte nichts.

»François Villon!« sagte ich halblaut, »bist du aus dem Grab gekrabbelt, um mich zu empfangen?«

Zum erstenmal bewegte sich der Moderkopf, ganz unauffällig. Das kurze Zwinkern mit den Augen hieß: komm raus!

Ich warf mein Geld hin, stand auf – das Blechtischchen war leer. Auch die zwei Arbeiter standen auf, als wollten sie etwas sagen, aber ich war schon draußen.

Der Mond schoß im schnellsten Tempo wie eine elektrische Signalscheibe aus schwarzen Wolkenballen in durchsichtige, fahlgrüne Dunstfetzen.

Da war er ja, mein Freund, an der Ecke bei dem Bäckerladen. Er hatte einen ziemlich wilden Filzdeckel auf, von dem eine abgeknickte Fasanenfeder nach hinten hing, und am Bauchriemen eine verrostete Kette mit einem kleinen Messergehänge. Ich wollte den Mund aufmachen und irgendwas sagen, aber die Finsternis war so sonderbar drückend und atemraubend, der Wind fegte daher wie ein heißer Wirbelsturm, als ob es irgendwo einen Gasometer zersprengt hätte – ich fuhr herum, ich fürchtete mich. Rächt sich die Natur wegen der Vergewaltigung, wird sie Schwefel und Ammoniak, Pech und Teer und Explosionsblitze auf mich niederlassen, wird der Boden auseinanderreißen, die Erde, der ich einen Toten gestohlen habe, sich auftun und mit Feuer herauspeitschen? Ganz Paris ist unterminiert, ein Maulwurfshügel, ein Ameisenhaufen, nichts als Tunnels, Schächte, Kanäle, Keller, unterirdische Bahnhöfe und Aufzüge, Verließe, Gänge, hunderttausend Röhren, Drähte und Leitungen, lauter gefesselte Teufel, die nur auf die Stunde der Freiheit und Rache warten. Ein flackerndes Licht schoß am Himmel lang und losch wieder aus, oder fiel irgendwo hinunter. Es war, als ob Frösche jammerten in sumpfigen Wiesen, Totenstimmen, Seufzer, Gelächter; war das nicht ein Friedhof hinter mir da, diese Mauern? Natürlich, man sieht ja deutlich die steinernen Gruftgiebel, die herüberschauen. Die Bäume biegen sich und schlagen mit schwarzen Flügeln, der Wind stöhnt verzweifelt, etwas Schweres taumelt herab und klatscht laut auf wie große verfaulte Blüten, ein leichter heißer Regen tropft auf die verdursteten Blätter – auf einmal große Helligkeit, ich pralle zurück, ein Bersten und Prasseln von zerspellten Ästen und spritzenden Steinen, und nun der gräßlich harte Donnerschlag, die Fenster klirren, losgelöste Ziegel pfeifen durch die Luft und schmettern hinter mir aufs Pflaster. Aber der Regen ist schon wieder versiegt, tiefe Rauchwolken jagen sturmschnell, majestätisch brummt und warnt der Donner hinter dem Häusermeer.

Die Luft roch nach gemähten Wiesen oder nach den Pflanzen des Friedhofs. Der Mond schwamm in den freien Himmel und leuchtete stärker.

Mein Freund stand da, ein wenig gelangweilt, wie mir schien.

»Ungemütliches Wetter!« sagte ich.

Er zeigte auf die Kneipe, vor der wir waren, und dann auf die dunkle Mauer des Père Lachaise hinter uns: »Immer noch besser hier als dort!«

Und jetzt sah ich auf einmal im Mondlicht die Aufschrift auf dem Blechschild, das über dem Eingang der Spelunke hing und ein wenig im Wind wackelte:

 

 CAFÈ 
 ESTAMINET 
 On est mieux 
 ici qu' en face! 

 

4
Hokuspokus

Als ich François meine Zigaretten hinhielt, schaute er zuerst die Zigaretten an und dann mich.

»Was ist denn das für ein Zeugs?«

Ich steckte mir eine an. »Ein Betäubungsmittel, Nikotin, Gift zum Aufpulvern. Allgemeine Gewohnheit bei uns, wir können sonst nicht leben.«

Ich sog den Rauch tief in die Lunge und stieß ihn aus wie ein Auspuff.

»Ein neues Laster also, her damit!«

Er zündete an. Den ersten Zug mußte er mit einem Hustenanfall bezahlen. Er schien mich zu bewundern, daß ich es ohne Husten konnte, aber ich machte ihn darauf aufmerksam, daß das nur anfangs so ist. »Man gewöhnt sich dran. Später wird der Husten chronisch, außerdem kriegt man gelbe Finger, schwarze Zähne, zappelige Nerven, einen Herzfehler und Arterienverkalkung. Aber zur Desinfektion und für den Magen ist es sehr gesund.«

Wir waren in ein anderes Loch gegangen, ins ›Café zur Zwetschge‹, eine Scheune, schwarz wie eine Kohlenhandlung, mit zwei aus alten Brettern zusammengenagelten Tischen und einigen leeren Petroleumfässern als Sitzgelegenheit. Über unseren Köpfen hing das Heu, auf dem der Wirt schlief, von der rissigen Lehmwand herunter. Wir trommelten ihn heraus. Er linste uns schief an. Wir sähen so aus, meinte dieser schiefe Blick, als wären wir fähig, seine Hütte für eine Flasche Schnaps als Brennholz zu verkaufen.

Trotz der ziemlichen Mengen Alkoholgiftes, das ich mir in dieser Nacht einpumpte, war ich so frisch, als hätte ich Quellwasser getrunken. Auch Franz sah jetzt weniger abschreckend aus, gelb zwar, fahl, ein bißchen chinesisch, aber doch jünger und straffer. Am Mund hatte er eine unschöne Narbe von einem Stich oder Schnitt.

»Zwanzig Jahre,« sagte ich, »sind heute nacht von mir abgefallen wie eine alte Tapete von einer feuchten Mauer!«

»Wir werden andauernd jünger, wie es scheint. Wenn wir so weitermachen, sind wir morgen noch gar nicht geboren!«

Der Patron erzählte von seinen Erlebnissen als Kolonialsoldat in Afrika und schnitt pfundig auf. Wir horchten nur halb hin. Es wurde hell, zwar nicht in unseren Köpfen; aber mir war in dem blauen Lichtschein, der in die arme Scheune hereinsickerte wie in den Stall von Bethlehem, seltsam wohl. Es ist zwar nicht schwer, mich glücklich zu machen, weil ich es schon bin. Ein Schluck Wein, ein schöner Tag, der Blick einer Frau, die den Kopf umdreht, jede Kleinigkeit kann mich in ein Paradies versetzen. Aber das größte Glück bleibt doch, daß man für das Lächeln seines Freundes sein Leben hingeben kann. Ich wurde recht sentimental, nannte Franz Freund, Bruder, Glücksbringer, Poet, Gauner, Bazigsicht, und gab ihm einen Kuß.

Er schaute vor sich hin. Seine Augen erinnerten an gewisse Bilder von der Mutter Maria, in deren Herzen sieben goldene Dolche stecken und der eine sehr genau und mit einem hübschen Glanzlicht gemalte Träne aus dem Augenwinkel kollert.

Die häßliche Narbe an seinem Mund war jetzt nicht mehr zu sehen.

»Toller Kerl,« sagte ich, »jetzt wirst du auch noch rührselig!«

Er lachte. »Dummes Luder, du weißt nicht, was ich dir verdanke!«

Ich fiel ihm um den Hals, wir verloren das Gleichgewicht, plumpsten hin und kugelten herum wie die Heringstonnen. Der alte Haudegen wollte uns draußen haben, aber uns gefiel es ausgezeichnet da. Vielleicht haben wir auch ein bißchen auf der Erde geschlummert, denn am Nachmittag hatten wir uns so weit erholt, daß wir uns mit gegenseitiger Unterstützung auf die Beine helfen konnten. Der afrikanische Großvater kochte eine gezwiebelte Brotsuppe.

Wieder wurde es Nacht, wir fielen aus einem Rausch in den anderen, wurden dazwischen einige Male nüchtern und befanden uns zuletzt in einem Zustand, in dem – kurz, in einem Zustand. Ich lag im Winkel und kämpfte gegen das Gewicht meiner Augendeckel, die heruntersanken wie eiserne Rolläden. Plötzlich höre ich Franz schreien, fahre auf und sehe ihn gegen den Morgenhimmel ziemlich irrsinnige Gestikulationen ausführen. Ich verstand nicht die Hälfte von seinem Gefasel. Er hatte sich den zerrissenen Vorhang von der Geschirrstellage umgehängt und einen verbeulten Blechtrichter auf den Kopf gestülpt und fuchtelte mit einem Stück Holz in der Luft herum. Er schien zu dichten in seinem Suff, albernes Zeug, das man in solchem Zustand für witzig hält: »Gefährten und Gelehrte, Soldaten, Prälaten, Aktenschreiber, Schnallentreiber, schöne Weiber, Kegelschieber, Scherenschleifer, König, Ritter, Kronenträger, Pfaffen, Schnitter, Hurenjäger, Köche, Mägde, Bettelsuppen, Hallenweiber, Autohupen, Straßenräuber – allez, allez! Weiter, vorwärts, Regnier, Niggl, Theo, Willi, Weißhax, Sebald, Kleinhans, antreten! sag' ich, und du, Margot, dicke Nudel! du, laßt mir in Ewigkeit keine Ruh' – weg da!« schrie er den Wirt an, der ihn händeringend beschwor, ihm seine Bude nicht zu demolieren, denn jetzt fing er an, alles kurz und klein zu schlagen und, weil es in einem Aufwaschen hinging, auch auf den Wirt einzudreschen: »Weg, Thibalt, verfluchter Hund, husch, husch, husch, Judas, troll dich, ekelhafter Ratz –«

Und so ging das weiter. Der Patron flüchtete zu mir: »Mein Gott, helfen Sie mir! Er ist verrückt geworden!«

»Was machst denn, alter Esel!« rief ich aus meiner Ecke.

»Ha, die Burschen müssen antreten, einer nach dem andern, wie die Orgelpfeifen; daß du mir nicht unter die Finger kommst,« schrie er den Wirt an. »Bischof, Kreuzspinne, Kellerassel du –«

Er war sternhagelvoll, ganz von Sinnen.

Es war Tag geworden, ich hörte die Autos tuten, die Tramway klingeln und die Glocken der Pferdegespanne, was manchmal klingt wie Musik, oder es kam mir nur so vor. Der Lumpensammler sang sein melancholisches »Hoooodalump –,« der Hafenflicker blies sein Pfeifchen, andere Ausrufer sangen Petersilie und Zinnkraut in alten Choralmelodien aus; der Junge, der die Geißen durch die Gassen treibt, tutete auf seiner alten Blechflöte, und dann mischte sich noch das Morgengeläute der Notre-Dame darein, die wahren Engelsstimmen – das Mittelalter, dachte ich, das Altertum – in meinem Kopf ging alles drunter und drüber …

Wir waren so widerstandslos, daß uns der Alte auf seinen Schubkarren, mit dem er die Kartoffeln vom Feld holt oder ich weiß nicht woher, verfrachtete und fortfuhr, wenn ich nur wüßte wohin –


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