Fritz Reck-Malleczewen
Die Siedlung Unitrusttown
Fritz Reck-Malleczewen

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»Ich bin ein alter Römer . . .«
                        Hamlet V/II.

Die Generatoren heulen Tag und Nacht, Sommer und Winter . . . wievielmal mag so ein Pünktchen an einem dieser Schwungräder wohl schon den Umfang des irrsinnig gewordenen Erdballes durchmessen haben, seit Eucalypto zur Siedlung Unitrusttown, zum Zentrum der Welt geworden ist? Und wenn man diese Wegstrecken gar ausrechnet für alle diese gigantischen Kraftanlagen . . . wenn man sie alle aneinanderreihen wollte, die Jahresreisen dieser Riesenräder . . . man käme am Ende gar bis zum Großen Bären hinauf, der noch immer unentwegt auf die Menschen niedersieht, obwohl er doch vielleicht schon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Pulver zerstiebt ist . . .

Und siehe: zwischen diesen Kraftwerken stehen nun schon die Kühlanlagen – für die flüssige Luft, die man hinunterblasen wird, wenn man erst einmal auf hohe Temperaturen stößt in dem Höllenpfuhl. In diesem offenen Riesenkrater von dreitausend Metern Durchmesser und zweitausend Metern Tiefe. Und in seinen Boden erst wird man dann die Schächte für die Kessel treiben bei vierhundertundfünfzig Celsiusgraden . . . einen wahren Eiskeller wird man hinunterblasen müssen, um dort arbeiten zu können!

Die Bohrer rasseln und fressen die Erde mit ihren Riesenschnauzen. Zuerst, im vorigen Jahre, nach denkwürdigen ersten Spatenstichen, waren es nur elf, binnen eines Monats waren 63 es sechsundzwanzig – nun ist das ganze Feld, die ganze Ebene von der ehemaligen Kirche bis zur Stadt bedeckt mit diesen Vampiren.

Ja, diese Lawsonschen Höllenmaschinen, in denen immer nur zwei Mann sitzen, und die doch Tag für Tag ein Loch in die Erde fressen, so groß wie ein vierstöckiges Haus! Beim ersten Versuch stehen die Eucalypteser kritisierend herum. Da kommt so eine Bestie angefahren auf Schienen . . . es ist ein Eisenwagen, der an seinen Armen ein merkwürdiges Ding, gewissermaßen ein Bündel von eisernen Schweinsrüsseln sitzen hat. Da thront hoch über diesen Schweinsrüsseln in seiner Kabine so ein dürftiger Amerikaner mit faltigem Jockeigesicht und einem Knabenkörper, bewegt den Hebel . . . und nun fängt es zu rasseln an da innen in dem Eisenleib. Und plötzlich steigt eine Riesenwolke auf von Staub und Dreck, daß alles beiseite stiebt, und dann sieht man, daß es seine eiserne Schnauze ganz tief in die Erde steckt: tiefer und tiefer wie ein Hund, der nach Feldmäusen gräbt. Und dann klingt eine Glocke, und der zweite Kerl auf dem Wagen drückt seinerseits auf den Hebel: vollgefressen wie es ist, hebt sich das Ungetüm, gleitet schwerfällig auf seinen Schienen hin zu dem Eisenbahnzug . . . puh, speit es mit einer zweiten, einer noch schrecklicheren Dreckwolke seinen Fraß wieder aus. Zwei große Eisenbahnloren hat es vollvomiert mit Geröll und pechiger Erde . . . in den fünf Minuten, die das alles gedauert hat, ist ein Loch gefressen, so groß wie das Haus des einstigen Großbauern Marzabotto, wenn man sich noch besinnt auf dieses denkwürdige Haus. –

Ja, binnen eines einzigen Jahres haben hundert solcher Rüsselschweine die ganze Humusschicht fortgefressen, und schon stehen für die Felsarbeit die Sprengbohrer bereit: diese wundervollen Maschinen, die man dem Javaner Sumida verdankt 64 . . . die ihre zehn Bohreisen in den Fels treiben wie in ein Butterstück eine glühende Nadel . . . die Ladung und Sprengung automatisch besorgen und binnen zwei Minuten zehn Kubikmeter kompakten Gesteines in Staub verwandelt haben. Vorwärts stürmt die Arbeit – wie sollte es anders sein, wenn die ganze Intelligenz, die ganze Brachialgewalt der Erde eingespannt ist in dieses Riesenwerk?

Tag und Nacht heulen die Generatoren . . . in Eucalypto hier, in Japan, auf Sumatra und in Ecuador heulen sie . . . nur die nordamerikanische Station ist noch in Vorbereitung. Ein Zehntel aller auf dem Erdball aufzutreibenden Mannsbilder . . . die Hälfte seines Kapitals ist dem gigantischsten aller Projekte dienstbar – Elihu Grant, wie eine Riesenspinne im Zentrum seiner Antennennetze sitzend, durchkämpft Börsenschlacht auf Börsenschlacht, saugt dieses lächerliche europäische Kapital, das anfangs noch schwächliche Abwehrkämpfe ficht, zu einem leeren Beutel aus, verheert ganze Arbeitsmärkte, schafft durch Absorbierung der besten Kräfte in allen Erdteilen einen Arbeitermangel, daß nach Grants Willen alle Industrien um Gnade bitten. Er läßt sich, um den schwammig und fett gewordenen Körper aufzufrischen, alle zwei Stunden von seinem farbigen Lakaien mit Eau de Cologne bürsten, verschluckt ganze Apotheken, um dieser verfluchten Schmerzen Herr zu werden, rast mit seinem silberschimmernden Aeroplan wie der Fliegende Holländer der Weltwirtschaft hin und her zwischen New York und Europa und Ostasien.

Ja, so wirbeln die Turbinen, reißen die Bohrer die alte Erde auf wie einen hohlen Zahn. In Bale auf Sumatra kommandiert Hoogstraaten, dieser Epikureer mit dem dröhnenden Lachen, der sich einen ganzen Harem grüner Tonkinesinnen hält und seinen Schmerleib in Sänften herumschleppen läßt 65 wie ein römischer Prätor. Er entwickelt sein sprichwörtliches Glück: nirgends unvorhergesehene Felsschichten, nirgends die Einbrüche unterirdischer Fluten, die in Südamerika die Arbeit so verzögern . . . allenthalben gleichmäßiger Schlamm, in den Hoogstraaten sich einwühlt wie ein Rüsselschwein. Und wenn es in Ecuador langsamer geht, als man vorhergesehen, so erledigt doch in Korea der Doctor Sumida sein Bauprogramm mit asiatischer Pedanterie: beinahe auf die Stunde erreicht er die vorgeschriebenen Bauziele . . . keinen Tag zu früh und keinen zu spät . . . in den Bureaus von Unitrusttown stellt man die Hypothese auf, daß der kleine, bebrillte Japaner überhaupt kein Mensch, sondern eben der unabänderliche Bestandteil des Planetensystems ist.

Ja, und trotzdem bleibt Eucalypto die Musterstation, gerade wegen der Bauhindernisse und wegen ihrer Ueberwindung lehrreich für die anderen. Bei tausend Metern stößt Lawson auf einen Morast, der die Maschinen verschlammt. Er bläst flüssige Luft hinunter, bis dort unten alles zu einem Eisblock erstarrt ist, und kann nach einem Monat wieder in solidem Gestein arbeiten. Es gibt einen harten Kampf mit Wassereinbrüchen und Gasquellen, die plötzlich hervorschießen und eine ganze Schichtmannschaft auf den Boden werfen: ein Ruck an dem großen Ventil, das den Zustrom der Arbeitskräfte nach dem Krater regelt . . . ein paar Einheitskreuze mehr auf dem Friedhof von Unitrusttown . . . die Arbeit stürmt weiter. Trotzdem bleibt Lawson wie alle Gebieter über große Mittel musterhaft ökonomisch im Einsatz seiner Kräfte, er schont durch meisterliche Methoden das Menschenmaterial, wo es sich nur schonen läßt . . . für alle Stationen wird sein Verfahren vorbildlich, schichtweise die Kratersohle zu vereisen und bei erträglichen Temperaturen sich hinunterzuarbeiten.

66 Ja, solch ein Vulkan ist Lawson mit dem unveränderlichen, dürren Gesicht und dem optimistischen Lachen des großen Jungen. Und wenn seine Haare schlohweiß geworden sind vor der Zeit . . . Ja, weswegen sollte es in solch gigantischem Plan nicht Dinge geben, die eben Wagnisse bleiben und in schlaflosen Nächten als Sorgen am Lager sitzen, als Geier mit scharfen Schnäbeln und harten Krallen?

Und dann ist man während des zweiten Winters im Südquadranten des Riesenkreises wirklich dicht über der endgültigen Sohle angekommen . . . im Frühling vielleicht schon wird man auf dieser Seite mit dem Bohren der Kesselschächte beginnen können. Ein Dezembermorgen ist gekommen um die Weihnachtszeit, eine neblichte Spätnacht mit einer für diese Breiten unangebrachten schlammigen Schneedecke und einer Dunkelheit, die jede Hoffnung auf Licht und Sonne ausschließt für immer. Der Flammenschein des Kraters klettert hoch hinauf in den Nebel, der Feuerschein der Hölle rötet weit hinaus das Land . . . hinaus bis zur Neustadt, wo sich eine ganze Kolonie von Bars, Kasinos für Ingenieure, von Einheitsvillen und Spielhöllen und Kinemas und Vaudevilles angesiedelt hat . . . wo eben das Alhambratheater aus London gastiert und wo Cecily Burgeß, die in eben diesem Theater sentimentale Harfenlieder singt, sich von ihrem Freunde verabschiedet: John Palmer . . . Silk-Jonny genannt wegen der unabänderlichen Eleganz seines Arbeitsdreß . . . Ingenieur bei der siebenten Sprengsektion im tiefsten Pfuhl der Kraterhölle, fünfundzwanzig Jahre alt, eben von der Hochschule in den Krater gewechselt, obwohl man eigentlich lieber Architekt geworden wäre . . . nun, lassen wir das . . .

Und Cecily Burgeß, die zwar nicht mehr im Kostüm ist, sich aber doch noch immer bemüht, wie Mignon auszusehen – 67 Cecily Burgeß löst nun ganz sanft Jonnys Arm von ihrem Nacken: »Fünf Uhr, und nun muß Jonny wohl zur Schicht fahren!«

Und sie fühlt im Dunkeln Jonnys Armband und streift es bedächtig ab und hält es gegen das Laternenlicht und sieht plötzlich, wenn überhaupt wie Mignon, so jedenfalls wie eine höchst erwerbstüchtige Mignon aus: »Und das da könnte Jonny mir wohl eigentlich schenken . . .«

Und gehorsam streift Jonny das Armband ab und den Ring mit dem grünen Stein dazu: der große Gott verzeihe ihm seinen bisherigen Mangel an Galanterie . . . alles soll Cecily haben . . . Andenken an Jonny . . . Silk-Jonny for ever . . . Nun, und wenn heute der Schnee noch tauen sollte, so wollen sie heute am Nachmittag nach Jonnys Schicht mit dem Motor nach San Ginepro hinunterfahren.

»Ja, aber nun muß Jonny doch wirklich in den Krater . . .«

Aber Jonny versichert, daß der Teufel den Krater holen solle, auf der Stelle und für alle Zeiten . . . und plötzlich schlingt er noch einmal in seiner sinnlosen Jungenverliebtheit seine Arme um Cecily Burgeß und reißt sich los und wirft den Motor an und schnurrt hinaus zur Schicht.

Lange Gassen mit den kleinen Einheitshäusern von Unitrusttown . . . ein trübes Licht schon hier und da und aus offenen Fenstern der Dunst der Schlafzimmer . . . Wollustlaute und das Zanken unsichtbarer Paare, das gespenstisch in die Nacht gellt . . . die Laterne eines Chinesenbordells und ein Quäkermissionar, der einem Betrunkenen beisteht . . . trostlos alles und unsäglich häßlich und ohne Seele. Hinunter dann in der Kabine den Frack . . . im Bade die Müdigkeit der durchschwärmten Nacht abgespült, den Dreß an . . . in einer 68 halben Stunde steht Jonny, seine Crew erwartend, vor der Förderhalle. Noch ist es halbe Nacht. Die Dampfwolke, die nun seit achtzehn Monaten über dem Krater steht, gezeugt von der Katzbalgerei der Kühlanlagen mit der Höllenglut dort unten, schleicht sich langsam durch den Nebel, steht als grüner Wolkenpilz über dem Krater, verpestet mit ihrem Hauch von Phosgen und Kohlenoxyd und allen tellurischen Höllengestänken die Luft bis zum Meere hinab und läßt die leichte Schneedecke schmelzen ringsum zu einem hoffnungslosen Urdreck.

Und die Rohre der Kühlanlagen, unaussprechlich häßlich, klettern die Hänge hinab und verlieren sich im Nebel . . . der tiefe Donner einer Sprengung aus dem Abgrund . . . die Signale der Bohrmaschinen, grün und rot und rot und grün in ewigem Wechsel . . . diese Wagen der Paternosterwerke, die die Hänge emporklimmen, ihr Geröll in die Eisenbahnloren entleeren und wieder hinunterreisen in unabänderlichem Wechsel . . . alles ist häßlich und grau und sinnlos vor allem, vollkommen sinnlos . . .

Man ist nun doch müde von dieser Nacht, man hat Haarweh. Es erhöht keineswegs Jonnys Laune, daß Percy Prentice ihm den Tagesbefehl bringt, den jeder Krateringenieur für seine Schicht mitbekommt: Minimalleistung siebenhundertundfünfzig Kubikmeter Geröllförderung, nicht weniger, Herr . . . soundso viel Zentner Sprengstoff sind auf Station II zu empfangen . . . von dem neuerdings beobachteten Gas »Grünbande alpha 123« sind möglichst Proben mitzubringen . . .

Jonny liest, lacht unmotiviert, ballt den heiligen Tagesbefehl zusammen, wirft ihn Percy Prentice an den Kopf: three cheers for Lawson... three cheers für das neue Gas und die grüne Spektrallinie alpha 123. Hat es etwa einen Sinn, ein Loch in die Erde zu graben, um hinterher mit den 69 gewonnenen Kräften Zelluloidpuppen für Babys und Gummigötzen für Kruneger zu fabrizieren? . . . Es sind keine Damen dabei, Prentice, und man kann es laut sagen . . . i am sick of this nonsense . . . zum Speien ist der ganze Krater . . .

Prentice lacht nur: schließlich weiß man, daß Jonny der tüchtigste Kerl in Unitrusttown ist, und daß jeder Katzenjammer ein Ende hat. Und Prentice beginnt zu erzählen: daß oben im Konstruktionsbureau nun ein Peruaner sei, der Salz in seinen Kaffee tue und zum Smoking ein farbiges Hemd und weiße Bordschuhe trage, daß in Jack Paramores okkultistischem Zirkel neuerdings ein Geist namens Hobby aufgetaucht sei, und der Geist sage, daß Silk-Jonny ein verliebter Esel sei.

Aber Jonny denkt an ganz andere Dinge: an das Forellenwasser, das er im vorigen Jahre, im letzten seiner Freiheit, in Schottland durchfischt hat, wo ganz goldglänzender Glimmerschiefer in der Sonne blitzte; und an die Arbeitselefanten, die er in Indien gesehen . . . diese herrlichen Tiere, die sich am Morgen pünktlich auf die Minute zur Arbeit einfinden aus dem Walde und genau die Mittagspause der menschlichen Arbeiter einhalten und wiederkommen auf die Minute wie der gewissenhafteste Arbeiter. Daß es keinen Sinn habe, die Natur zu verwüsten, und daß es vor allem keinen Witz habe, sich in die Hölle zu begeben, statt mit Cecily nach der See zu fahren und platte Steine über das Wasser zu werfen . . . zu so ungehörigen Gedanken versteigt sich Jonny und läßt Prentice schwatzen und schluckt an einer nie gekannten Schwermut und starrt hinunter in das Grau.

Dann beginnt eine Sirene zu heulen da unten im Nebel, tief und stark wie ein tausendfach vergrößerter Bullockfrosch. Eine zweite antwortet und fünf andere . . . urplötzlich beginnt dieser ganze Kranz von Kühlstationen, Kraftanlagen und 70 Förderhöllen unisono zu brüllen wie eine irrsinnige Mammutherde: Schichtwechsel, Zeit zum Einsteigen.

Und aus dem Nebel zieht Jonnys Crew heran: die Somali, die für die Maurerarbeiten dort unten in der Hölle bestimmt sind und denen fünfzig Celsiusgrade nichts anhaben können . . . große, prachtvolle Leute, geschlossen marschierend mit dem Vorarbeiter an der Spitze. Und mit den heimatlichen Kriegsliedern, die sie singen, fährt endlich ein Zug morgenfrischer Männlichkeit in diese verfluchte Melancholie.

Und Sachsen kommen mit gemütvoll bemalten Paartöpfen in der Hand . . . Nigger aus der Union, die gleichberechtigte Rasse spielen und einen wahren Exhibitionismus treiben mit den handgroßen, blutroten Kokarden der »Industrial workers confederation of the world«, und dürre, rassereine Amerikaner, die doch ihr Englisch abscheulich verwässert sprechen wie ein Spülwasser gewordenes Idiom. Und kleinrussische Zementeure aus Maroslaw kommen und rotblonde Mineure aus den Kohlenbecken der Pikardie und gigantische Lastträger endlich, Chinesen mit den typischen Totenkopfaugen und dem Blick, der von Hautabziehen und Blenden weiß und allen asiatischen Henkerkünsten. Das ganze Proletariat der Welt, schließlich doch geeint durch schmutzfarbige Kleider und das Einheitsgesicht des Maschinenmenschen und den Blick abgründigen Hasses, der die beiden Ingenieure streift.

Jonny steigt ein. Es geschieht schon auf dem Förderwagen, unmittelbar vor dem Anspringen der Maschine, daß er seinen geliebten Höhenmesser losnestelt und ihn Percy Prentice hinhält: gutes Werk, beste englische Arbeit . . . als Andenken zu behalten an ihn . . . an Silk-Jonny . . . Ja, farwell . . .

Prentice starrt abwechselnd auf den andern und auf dieses Geschenk, das beinahe schon das letztwillige Vermächtnis eines 71 Sterbenden bedeutet. Er begreift nun, daß Jonny wirklich total verrückt geworden ist, bückt sich, knetet einen Schneeball und schickt ihn Jonny mit einem Fluche nach: der Teufel hole diese Todesahnungen, diese altindische Resignation . . .

Aber Jonny ist nun schon zu tief mit seinem Förderwagen, der Ball fährt hinaus in das bodenlose Grau. Und Percy Prentice geht stirnrunzelnd hinauf ins Bureau und erzählt, daß Silk-Jonny verrückt geworden ist, komplett und definitiv verrückt.

Die Zahnräder klinken sich in die Schiene; ruckweise und ganz langsam, um sich an den steigenden Luftdruck zu gewöhnen, versinkt man in diesem Ozean von Grau. Noch grüßt ein wenig die schwache Brise, die in der Oberwelt geht, man unterscheidet auch wohl noch undeutlich die Dinge ringsum: Maurer, die den Hang auszementieren und an den Steilwänden hängen wie felsnistende Vögel . . . eine Gruppe Journalisten, die von einem Ingenieur die erste Horizontale entlanggeführt werden . . . ein aufwärts stampfender Wagen, der wie ein Leviathan in maßloser Vergrößerung auftaucht aus dem Nebel mit seiner Besatzung . . . die eben abgelösten Leute hängen, verbraucht wie unbenützte Marionetten, an dem Wagen, winken müde Grüße herüber und verschwinden wie Gespenster in der Wolke.

Dann hat man die ersten tausend Meter über sich. Der steigende Druck beginnt in den Arterien zu hämmern, der Schweiß läuft in der steigenden Glut in unaufhörlichem Rinnsal in die Augen, die Gesichter verzerren sich in unerklärlichem Mißbehagen, verstummt sind die Lieder, die Gespräche schrumpfen zusammen zu schmierigen Flüchen. Der Nebel, mit der steigenden Glut zu einem fast greifbaren Medium der Qual geworden, sperrt jeden ein in eine ungeheure Einsamkeit, in der man nur sich selbst sieht, Geräusche hört, ohne etwas zu sehen: 72 ganz in der Nähe die Detonation einer Sprengung hinter undurchdringlichen Schleiern . . . die heulenden Interferenzen gespenstischer, unsichtbarer Bohrmaschinen . . . von einem unsichtbaren Sprecher plötzlich ein Zotenwort, aus ungeheurer Entfernung vielleicht von der Rundung der Wände hierhergeworfen und in dieser Einsamkeit doch beinahe greifbar in seiner Obszönität. Die Fahrt ist traurig . . . es ist die Fahrt durch die Dämpfe des Styx . . . das letzte Stationsgebäude auf der Kratersohle taucht auf.

Man hat die Sprengmittel gefaßt, die Leute, durch die Gasmasken in eine Herde vorweltlicher Beutelratten verwandelt, treten an; der Schweiß läuft über die perlmutterfarbenen, nackten Leiber wie Juniregen über ein fettiges Bleidach. Die Kühlventile auf den Stationen schlagen hin und her und heulen . . . man kann keinen Fuß weit sehen, man stolpert über das harte, mit den grünen Kristallresiduen der Sprengungen bedeckte Geschröf auf den Arbeitsplatz zu.

»Hurerei mit euch!« schreit es aus dem Grau – die alte Crew, die man um genau drei Minuten zu spät ablöst. Die Leute, totenblaß, die nackten Körper gesprenkelt von den bituminösen Dreckspritzern wie eine Herde Dalmatinerhunde, stolpern vorbei. »Tais ta geule!« schreit es diesseits zurück im Vorübergehen. Mürrisch torkeln die andern weiter, langsam, bizarr wie die eines riesigen Elefanten tauchen die Umrisse der Bohrmaschine aus dem Nebel.

»Rasch mit euch, wenn es euren Flossen beliebt!« Das ist der Sprengmeister Pleggit, der mit Worten gerne den starken Mann spielt. Die Mineure, die weiter südlich dicht am Hang, wo die Sprengbohrer nicht mehr Platz finden, die letzten Blöcke beseitigen, sammeln sich knurrend, rücken ab, sind nach drei Schritten nicht mehr zu sehen.

73 »Gelump, verrecktes!« schreit Jacquelin, Nummer I bei der Bohrmaschine . . . er zerrt an dem Leerlaufhebel, den sein Vorgänger bei der abgelösten Schicht überdreht hat. Der Elektriker Ronquerolles, der sich mit dem Schraubschlüssel an dem Gleiswechsel zu schaffen macht, verletzt sich die Hand mit dem abgleitenden Werkzeug, wirft es in seiner Wut Newland vor die Füße. Jonny geht vorüber nach der Seite der Mineure zu und erzeugt durch sein flüchtiges Erscheinen Arbeitsfanatismus für zwanzig Sekunden. Dann klingt Sing-Sang durch den Nebel: die Somali, die gleich hinter der Bohrmaschine den Kratergrund ausmauern und mit ihrem Vorarbeiter an der Spitze auf ihren Platz marschieren . . . ohne Gasmasken, splitternackt die riesigen Leiber . . . eine Schar Gladiatoren, die die Arena betritt. Ronquerolles, der Elektriker, erzielt stürmische Heiterkeit, indem er sich dort, wo sie passieren, in den Weg setzt und zur Verhöhnung des farbigen Mannes mit sorgenvollem Gesicht einen sich lausenden Affen nachahmt. Die Neger würdigen Europa keines Blickes und verschwinden singend im Grau.

»Nimm deinen Grind fort, Wanzenschnauze!« schreit Jacquelin von seinem Führerstand, die Hand am Hebel, Ronquerolles zu, der direkt unter der Klaue des Baggers steht. Der Bohrbagger beginnt zu heulen . . . höher und höher . . . der Rüssel tastet durch den Nebel. Eine Wagenlast . . . zwei . . . fünf . . . der Leviathan frißt und läuft mit seinem dreckschwangeren Eisenbauch zu dem Paternosterwerk, dreht sich und geht zurück und frißt von neuem. Die Gespräche verstummen, die Gesichter verzerren sich unter den dicken Stirnadern. Ein orangenes Licht bei der Sprengsektion leuchtet trübe auf . . . »Schuß«, kommt der langgezogene Ruf . . . »Schuß«, antwortet es aus dem Nebel. Nackte Gestalten springen von 74 allen Seiten wie Hasen bei der Treibjagd auf, springen in die Deckung, liegen dort nebeneinander mit gespannten Gesichtern, bis das Gebrüll der Detonation sie erlöst. Da reckt sich dem Nebel zum Trotz ein grünliches Riesending auf, steht ein paar Sekunden wie ein Baum mit stotzigen Ästen, fällt um: nun regnet es Pech und Schwefel aus der Gaswolke und alle Parfüms der Teufelsapotheke, überschüttet das daliegende Menschenvolk mit pulverisierter Lava und pechigem Dreck, verstopft Augen und Nase, daß die Gesichter grimassieren in grimmiger Atemnot.

»Satansdreck . . . Mistloch . . .« Der Slang aller Sprachen erstickt in der verpesteten Luft. Auf geht es wieder und weiter . . . wie sollte sie sich weiter drehen, die Mühle, die der Teufel selber dreht? Die überhitzten Körper schreien nach Kühlung und frischer Luft, die Herzmuskeln galoppieren . . . Jeder weiß es, daß er nach ein paar Jahren dieser Höllenarbeit erlegen ist. Was soll man tun? Die Glieder tun mechanisch ihren Dienst, jedes Denken ist unmöglich für diese vergifteten Hirne . . . man führt nur diesen aussichtslosen Kampf gegen diese ekelhaften Schweißbäche, die die Augen brennen. Man spricht nichts mehr, man hört nur noch das Geheul wütender Menageriebestien, wenn es durchaus einen Fluch, eine Warnung, ein Signal für den Nachbar geben muß . . . man würde in der namenlosen Ueberreizung ihm statt dessen am liebsten das Messer in den Leib stoßen, wenn man ein Messer hätte. Man ist im Zustande eines Menschen, den der Bademeister eines Dampfbades in dessen heißester Zelle für ein paar Stunden eingeschlossen hat . . . Ja gewiß, was aber will die Qual dieser, die ja wenigstens im Freien arbeiten, gegen das Schicksal der Mineure da unten im Fels?

Dort an den Rändern der Hänge nämlich, wo die 75 Kreiselbohrer nicht mehr Platz finden, muß man sprengen . . . Zwanzig Fuß sind die Sprengstollen in den Berg getrieben, die Leute, die da unten die Kammern für das Ekrasit ausmeißeln, stecken in Dachsröhren . . . gerade so weit sind diese Röhren, daß der Körper eben Platz hat. Ganz weit hinten ist ein Schein von dem zu sehen, was man Tageslicht nennt hier unten . . .

In der zweiten Hälfte dieser Schicht nun geschieht es, daß der Mineur Ilja Fomitsch Gontscharow, der am äußersten Südende neben dem Vorarbeiter Chutberson an der Flügelkammer für die große Sprengung im allertiefsten Schlunde dieses Felsloches geduldig Meißelhieb neben Meißelhieb setzt – ja plötzlich also geschieht es, daß über Ilja Fomitsch Gontscharow der Berg, der ihm an sich nur eine Handbreit Spielraum gewährt, sich ganz langsam senkt. Der Mineur, an eine losgelöste Einzelplatte glaubend, stemmt den gekrümmten Rücken, um es zum raschen Herabstürzen nicht erst kommen zu lassen, gegen den Fels, spürt plötzlich mit dem Instinkt des untertags Arbeitenden, daß sich hier etwas anderes, Schrecklicheres vorbereitet, fühlt noch im Vorwärtsschnellen den verzweifelt rudernden Arm des Vorarbeiters Chutberson, schiebt in der eigenen Todesangst blitzschnell sich an die innere Wand der Kammer, fühlt trotzdem, wie die Felsplatte unaufhaltsam und langsam sich auf seinen Rücken legt. Es tut nicht sehr weh, es ist nur das schreckliche Gefühl, daß es einen zerdrückt auf eine fürchterliche, unabänderliche Weise. Das Licht ist erloschen mit einem Schlage, Gontscharow fühlt Blut aus seinem Munde strömen, er kann nur mühsam Luft schöpfen und nur ein wenig den rechten Arm rühren, er ist eingeschlossen vom Fels und wird sterben nach Gottes Willen – was aber ist doch das für ein Tier, das da neben ihm so brüllt? . . . 76 Höre, Iljutschetschka, wie ein Stier heult es, wenn er den ersten Schlag mit dem stumpfen Ende der Axt bekommen hat und sich in den Tod noch nicht schicken will!

Der Mineur Ilja Fomitsch Gontscharow, der einmal Unteroffizier der kaiserlichen Chevaliergarde war, zitternd selbst vor Todesnot wie jedes Gottesgeschöpf in seiner Lage, sucht mit aller Kraft Ordnung in das durch die Ereignisse verwüstete Hirn zu bringen: Arbusow hat ihm einmal einen kleinen, weißen Hund namens Suk geschenkt . . . der Sprengmeister Pleggit hat ihn mit dem Verluste eines Schichtlohnes bestraft, weil er sich einmal eine Sprengpatrone gestohlen hat . . . irgendwann vor hundert, vor zweihundert Jahren ist er zum Bohren der Flügelmine mit einem baumlangen Menschen in den Berg gekrochen . . . mit . . . nun strenge gefälligst dein Gedächtnis an, Iljutschetschka . . . Ja doch, es ist Chutberson gewesen, und es muß also wohl Chutberson sein, der da neben ihm geschlachtet wird und nicht sterben will.

Selbst eingeklemmt, wie er ist, tastet er mit dem freigebliebenen rechten Arm seinen Sarg ab, findet einen Kleiderfetzen . . . Fels und heiße Kieserde . . . hier aber wird es weich, hier liegt Chutberson, bis zum Brustkorb eingezwängt unter dem Fels . . . hier ist sein Hals, hier heult es so . . . »Nun, mein Lieber, mußt nicht heulen, mußt nicht . . .«

Er zieht mit einem Wehlaut die Hand zurück: Chutberson hat in der ungeheuren Qual nach seiner Hand geschnappt, er hat ihm bis auf den Knochen in den Finger gebissen. »Mußt nicht,« schreit Gontscharow ihm durch das Todesgeheul zu, »mußt dich drein finden, Bruder . . . machst es dir doch so schwer!«

Aber Chutberson brüllt. Er, der stärkste Mann in Unitrusttown, der im vorigen Jahr den Schwergewichtsnigger Ismael Kennedy geworfen hat, hat wirklich die Lungenkraft eines 77 Stieres. Es ist ein unartikuliertes Todesgebrüll, in dem alle anderen Geräusche untergehen würden, wenn es andere Geräusche gäbe in diesem schrecklichen Sarg. »Nun,« sagt Gontscharow und tastet vorsichtig nach Chutbersons Kopf, »nun, so sei doch schon still . . . kannst es ja nicht ändern . . .«

Er hält plötzlich inne, er hat etwas gehört: Stimmen vielleicht von draußen . . . ach Gott, ja, sie haben ja solch einen Apparat für solche Fälle . . . vielleicht, daß sie dennoch Hilfe bringen! Und Gontscharow wartet geduldig, denkt an das Lager in Kurtenhof, wenn die Düna das Eis so plötzlich abwarf mit silbernen Lauten und der Frühling über Nacht kam und man die jungen Remonten zum Zureiten hatte . . . oh, nun fühlt er doch, wie auch ihm die Tränen kommen . . .

»Mußt nicht, Freundchen, mußt nicht.« Um sich selbst zu trösten, beruhigt Gontscharow von neuem seinen schreienden Gefährten. Die große Bauernhand, die über Chutbersons Haar streicht, macht es wohl, daß der Vorarbeiter ruhiger wird; das Heulen geht in ein Stöhnen über, man fühlt, wie der Körper Chutbersons geschüttelt wird unter einem verzweifelten Weinen. »Es hat mich zerrissen . . . zerrissen innerlich, sage ich dir . . . ich bin nur noch ein Stück Mist!«

Und wieder streicht die Hand des Todesgefährten über Chutbersons Kopf: »Mußt dich nicht selbst beleidigen, höre doch . . . mußt nicht.«

Wieder unterbricht er sich. Er meint die Stimme des Sprengmeisters Pleggit gehört zu haben, dort draußen, jenseits des Sarges. Sie haben ja wirklich solch eine Maschine da für diese Fälle . . . Ja, aber dennoch werden sie zu spät kommen; man hat vielleicht das Bitterste des Todes auch schon geschmeckt . . . nun ja, man muß sich in jedem Falle darein finden, dann ist es wohl leichter.

78 Und wieder tastet des Russen Hand nach dem andern, der nun still wie ein armes Kind über sein eigenes Elend weint . . . er, der große Chutberson, der gewaltig ist wie eine Steinplatte: hier ist sein Rücken, hier hat es ihn getroffen und ihn zerrissen . . . mußt also behutsam sein mit ihm, Iljutschetschka . . .

»Ja, sieh, mein Bruder, mußt denken, daß andere auch den Tod geschmeckt haben um Christi willen. Als Jesus am Kreuze hing . . .«

Da geschieht es, daß der Vorarbeiter Chutberson den Kopf, den einzigen Körperteil, den er noch bewegen kann, aufrichtet: »Fahr zur Hölle mit deinem Jesus . . . verstehst du mich!« Und als wollte der Vorarbeiter und Boxerchampion Chutberson seinen ganzen Haß hinausschreien gegen diesen Gott, der seine Kinder verläßt in ihrer bitterlichen Todesangst sechstausend Fuß unter der Erde, beginnt er wieder zu brüllen . . . zu brüllen wie ein gefesselter Stier. Der enge Raum gellt unter diesem Gebrüll, alle Geräusche der da draußen gehen unter, der Wahnsinnige bedeckt mit seinem Geifer den Kameraden.

»Ich will nicht sterben . . . will nicht . . . will nicht!«

»Mußt nicht,« sagt Ilja Fomitsch Gontscharow, obwohl der andere ihn ja doch nicht hört, »mußt nicht . . . Aber wenn es dir gut so ist . . . nun, Gott wird dir, wie ich meine, auch so gnädig sein. Als Jesus am Kreuze hing . . .«

Und übertönt vom Gebrüll erzählt er weiter: ». . . kam ein schwarzer Vogel, saß auf der linken Hand, hackte in des Erlösers Nagelwunde. ›Weißt du, Gottessohn, daß es Gott nicht gibt?‹ Stieß der Kriegsknecht die Lanze in des Erlösers Leib. Schrie Jesus auf: ›Mein Gott . . . mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹ Kam ein anderer Vogel, hatte helle 79 Flügelchen, saß auf des Erlösers anderer Hand. ›Hat niemand Gott je gesehen, so haben alle doch deine Liebe gesehen. Gibt es Gott nicht, so gibt es doch Jesus. Gelobt sei Jesus . . .‹ Und Jesus starb, und Jesus ward begraben, stand auf am dritten Tag, ist wahrhaftig auferstanden.«

Der Vorarbeiter und Schwergewichtsmeister Chutberson brüllt. Der ehemalige Kürassier Ilja Fomitsch Gontscharow erzählt weiter von Christus und seinem Sterben . . . die Lippen bewegen sich noch . . . Ilja Fomitsch schläft ein.

* * *

Silk-Jonny hat auf der Station seine Jonrnaleinträge gemacht, er gönnt sich eine Zigarette, er gähnt, blättert eine Minute in der Broschüre, die der ehemalige Premier Seiner Majestät Sir Edward Grey dem wichtigen Problem des Angelns mit der künstlichen Fliege gewidmet hat. Der Apparat schrillt: der Sprengmeister Pleggit meldet, daß zwei Leute im Berge liegen.

Jonny hat plötzlich keinen Katzenjammer mehr. Die Station II ist um ihren Arzt zu bitten, die Träger sind zu alarmieren mit ihren Bahren. Silk-Jonny fliegt wie ein Hirsch zur Sprengstelle mit seinen übernächtigten Gliedern. Gerade hat man Chutberson gefunden . . . man hat einfach dem Bohrerkabel nachgegraben . . . nur von dem Russen, über dem die weiche Erde offenbar noch ein zweites Mal nachgegeben hat, fehlt vorderhand jede Spur. Chutberson liegt bewußtlos da, er ist klein geworden wie eine Puppe: das ist es – es hat ihm das Kreuz gebrochen. Der ehemalige Schwergewichtsmeister wird ein paar Jahre noch sein Leben im Rollstuhl fristen, in dem man ihn wie ein Baby trockenlegt . . . pfui Teufel ja . . .

80 Die Leute stehen umher, starren auf die eingebündelte Mumie, der kleine Ridal, der als Kraterneuling dergleichen nicht gewöhnt ist, bekommt einen Weinkrampf. »Machen Sie gefälligst schnell damit«, sagt Silk-Jonny zu dem Arzt; er kann es nicht verantworten, daß der Verletzte da ihm seine ganze Crew demoralisiert. Aber dann, als endlich die Träger mit den Bahren aus dem Nebel kommen, schickt plötzlich von der anderen Seite der Teufel den Propagandachef Torp mit seinen Pariser Journalisten her. Das hat nachgerade noch gefehlt! Silk-Jonny, der sich keinen Augenblick von dem Hilfsstollen von Gontscharow fortrühren kann, schaut sich wütend um nach der Gruppe. Da sind sie mit ihren gewichsten Bärten und Löwenmähnen, mit den Chemisettes, die der Nebel zu nassen Beuteln deformiert hat . . . sie beäugen den bewußtlosen Chutberson wie eine tote Ratte: »Ah, voilà un vrai héros du travail!«

Dann wendet sich der im Samtjackett, der wie ein Künstler aussieht, an die herumstehenden Mineure, reicht mit spitzen Fingern Zigaretten herum, wie man im Zoologischen Garten dem Elefanten Kuchenstücke reicht. »Was euch betrifft, meine Jungen . . . ihr befindet euch wohl, wie?«

»Merde!« schreit Loustalot und spuckt nach der ausgestreckten Hand. »Weiter die Herren,« sagt Torp rasch, »wir haben noch viel zu sehen heute.«

Im Davongehen erzählt Loustalot, wie sie im großen Kriege in der Pikardie so einem Frauenzimmer, das in Hosen als Berichterstatterin in die Schützengräben gekommen sei, die Hosen befeuchtet hätten . . . ah, auf die allernatürlichste Weise befeuchtet . . . Loustalot spuckt aus vor Ekel.

Inzwischen suchen sie fieberhaft nach Gontscharow, von dem alten Gang der Mittelsappe aus suchen sie nach ihm. 81 Seht, da liegt Silk-Jonny, dem der ganze Krater vor einer Stunde noch so unaussprechlich gleichgültig war, liegt am innersten Ende des Sappenganges, hat gerade so viel Platz wie ein Dachs in der Winterröhre, hat über und neben sich dieses weiche Geröll, das hier zwischen den einzelnen Platten steckt und jeden Augenblick auf ihn niederkommen kann . . . hat hinter sich den engen Gang, in dem die Leute aneinandergepreßt wie Büchsenfische liegen, diesen Gang, aus dem es kein Entrinnen gibt, wenn der Berg herunterkommt auf Silk-Jonny. »Vorwärts, meine Jungen, meine braven Jungen . . .« Er ist nicht frei von Todesfurcht, dieser elegante Silk-Jonny – wer an seiner Stelle wäre es auch? Die Hände prüfen zitternd den Druck des Gerölls, wenn er mit dem Brecheisen ein neues Loch gewühlt hat . . . ab und zu schweifen die Gedanken hinauf in die Oberwelt zu Sonne und Licht. Aber stärker als die Todesangst ist diese andere . . . die Angst, den verlorenen Mann da im Stiche zu lassen, die Angst, nicht als Gentleman zu bestehen in einer entscheidenden Stunde . . . »Ja, ja . . . vorwärts, meine Jungen!«

Die Leute hinter ihm arbeiten schweigend und verdrossen. Gewiß, wenn der Berg nachgibt, so ist als erster Jonny verloren, und Jonny hat mithin die größere Gefahr. Aber hat es denn überhaupt einen Sinn, für diesen Russen, der ja doch längst tot ist, sein Leben auch an einem Kleinen nur einzusetzen? Sie halten, während sie den schmalen Gang erweitern, den Jonny bohrt, nicht Schritt. Materot, aufsässig wie alle diese Pikarden, raunzt bei jedem Griff; jedesmal, wenn das lose Gestein hinausbefördert wird durch den Gang, drückt sich einer der Leute . . . draußen hört man noch immer den kleinen Ridal jammern.

Kurz vor halb zehn Uhr, nach zweistündigem Graben, sieht 82 Silk-Jonny, daß es eigentlich keinen Sinn hat, weiter nach Gontscharow zu graben. Er selbst ist vollkommen erschöpft, er kann nicht mehr viel hergeben. Er sieht nach der Uhr: es fehlen noch fünf Minuten an vollen zwei Stunden . . . gut, man gibt sich also noch diese kurze Frist. Und da eben geschieht es, daß er hinter dem Block, den er eben entfernt hat, ins Leere fährt und dann endlich etwas anderes faßt als Dreck und Stein: eine Hand, eine große, schwielige Menschenhand, und dort – nun jubelt etwas auf in dem blasierten Silk-Jonny – dort fällt das Licht auf ein blasses Menschenantlitz. Wir haben Gontscharow . . . tot oder lebend . . . Gott sei Dank, daß wir ihn haben!

Materot, der hinter Jonny liegt, arbeitet sich an seine Seite, beide leuchten sie den Raum ab. »Tot«, sagt Materot und faßt in die Höhle hinein . . . in jedem Falle aber wird man die Platte fortrücken müssen, die über Gontscharow liegt. »Und außerdem«, meint Materot und schnüffelt mißmutig herum, »hat es Gas hier.«

»Geh zum Teufel!« schreit Jonny und ruft Pleggit vor, der als Sprengmeister sich nicht wie Materot drücken kann. Pleggit kommt, schnüffelt ebenso wie Materot nach etwas, was Jonny seit einer Minute genau so gut spürt. Pleggit legt immerhin das Brecheisen an . . . he hopp . . . nun wird man die Platte leicht fortrücken und Gontscharow ohne weiteres herausziehen können.

Aber in demselben Augenblick, wie sie das Geröll dort von der Platte fortgeräumt haben, scheinen die Lampen plötzlich durch einen verfluchten Farbnebel . . . pfui Teufel ja . . . solch ein Gemisch von Rosa und Grün, daß es einem übel davon werden kann.

»Gas!«

83 Arbusow, der hinter Pleggit liegt, spürt bereits diesen Höllenbrodem, der blitzschnell durch den Stollen kommt, und wer von den hinter Arbusow Liegenden das Gas nicht spürt, der spürt die Panik.

»Gas!«

Couthon wirst sich über seinen Nachbar Brooke, zwängt sich über ihn hinweg durch den engen Raum, alle drei, Arbusow eingeschlossen, schieben Newland vor sich her dem Ausgange zu. Es gibt, während die Hintersten immer wütender andrängen, ein immer erbitterteres Ringen um die Passage, die Körper verkeilen sich in dem engen Ausgang . . . von hinten, mit dem Bohrer auf die Köpfe der Nachbarn einschlagend, drängt der vor Angst halb irrsinnige Materot nach, bis mit einem Male der Menschenpfropf wie aus dem Kanonenrohr die Kugel durch den Ausgang fliegt. Loustalot, der sich längst in Sicherheit gebracht hat und bei den Bahrenträgern wartet, sieht die Bescherung, rast sinnlos vor Angst in den Nebel hinein, stößt auf die Bohrmaschine: »Gas!« Die Leute springen sofort herab von den Eisenbalken . . . Jacquelin hat sofort die Sirene mit dem Notsignal in Bewegung gesetzt . . . mit einem Schlage hetzt auch hier alles hinaus in den Nebel auf die Station zu.

Bei der Sprengsektion sind es vorerst nur Loustalot und Ridal, die ausgerissen sind, die anderen stehen mit finsterem Gesicht vor dem Stollen. Silk-Jonny kommt totenblaß hervorgekrochen aus dem Loch, kämpft nun auch schon mit einem Stickhusten: »Wer hilft Gontscharow heraustragen?«

»Va donc tout seul si ça t'envie!« Das ist Materot. Die andern starren mürrisch zu Boden, keiner will eine Hand rühren für den Kameraden da im Berg. Man täte unrecht, sie feige zu schelten ein für allemal . . . der Mensch ist ein 84 Held heute und eine Bestie morgen . . . es ist mit keinem anders nach meinen Erfahrungen.

»Gas . . . dort!« Der Teufel hat das Wort erfunden, der nämliche Teufel, der heute überall seine Hand im Spiele hat bei dieser unglückseligsten aller Schichten. »Gas!« Man starrt nach dem Stolleneingang, aus dem dick wie Eiter – es kann einem schlecht werden von der Farbe allein – ein grünrosa Schwaden quillt, sich schwer und schlierend in der unbewegten Luft auf den Boden lagert.

»Keiner geht . . . keiner ohne meinen Willen!« Trotzdem gibt es kein Halten mehr in dieser Panik. »Verreck allein . . .« Diesmal ist es Couthon, der an Silk-Jonny vorüber will, ihn beiseite schiebt und im nächsten Augenblick am Boden liegt, getroffen von einem dieser rohen englischen Hiebe, mit denen der liebe Gott eine langschädelige Herrenkaste ausgestattet hat zur Bändigung des Pöbels.

»Einen nehme ich mit . . . einen von euch sicher!« Nun hat Jonny die Pistole frei . . . man weiß, daß es sich nicht empfiehlt, sich ihm zu nähern. »Einen nehme ich mit!« Die Sirene des Bohrers nebenan, tausendfältig beantwortet von allen Seiten aus dem Grau, heult in dieses drückende Schweigen. Der einzelne stemmt sich gegen die Menschenmauer, sieht in das vielköpfige Angesicht des Ungeheuers. Der einzelne da ist vielleicht ein liebenswerter Mensch mit Erbarmen im Herzen und Opfermut und Fähigkeit zu leiden – die demoralisierte Masse, das ist das Biest, die Engstirnigkeit, der große Plattfuß in Gottes Garten . . . die Canaille. Jonny könnte heulen vor Wut.

Es ist höchste Zeit, daß ihm, der verfolgt ist vom Pech heute, Hilfe kommt. Gestalten tauchen im Nebel auf . . . vier, acht, immer mehr . . . die Neger, die auf das Sirenengeheul nach 85 der Station ziehen, langsam und in guter Ordnung, wie es ihnen befohlen ist.

»Seht auf die Neger . . . benehmt euch als Briten!« Das ist es, dieses Wort, das die Menschheit sondert in Paria, die das Vorrecht haben, sich als Paria schlecht zu benehmen, und in auserwählte Insulaner, die zur Haltung und Würde verpflichtet sind.

»Behave yourselves as Britons« Und plötzlich ist die ganze Gesellschaft in Briten und Nicht-Briten gespalten, plötzlich schreit einer auf den andern ein, und der lange Newland versichert, daß er jedem den Schädel einschlagen werde, der sich Silk-Jonny ungebührlich nähere.

»Wenn ich es sage, werdet ihr gehen . . . nicht früher!« Er hält die Neger an, er läßt sich, wie es sich gehört, von der ganzen Gesellschaft die Marken abgeben: nur vier fehlen an seiner ganzen Crew . .  zwei Ausreißer und eben die beiden Verunglückten. »Wer hilft, Gontscharow bergen?«

Es meldet sich der Somali Joseph M'Boma, mit ihm noch zwei verheiratete und mithin unbrauchbare Sprengmeister . . . die übrigen zucken die Achseln. Silk-Jonny schickt die Sprengmeister fort und behält nur den Neger bei sich, dann entläßt er die anderen. »Canaille«, sagt Jonny und hat nun wirklich Tränen der Wut im Auge.

Und nun schnell hinein zu Gontscharow! Aber wie sich Silk-Jonny nach dem Stolleneingang umdreht, dreht sich plötzlich blitzschnell das ganze Weltall, die Kraterwand, der Neger M'Boma, der liegengebliebene Pickel des Mineurs Loustalot in der entgegengesetzten Richtung um ihn in einem Wirbel, vor dem er die Augen schließen muß. Und nun tanzen vor ihm grüne und rote Feuerbälle, eine unnennbare und nie gekannte Angst um den Atem greift nach seinem Herzen . . . 86 ah, das ist wohl schon dieses verfluchte Gas, das er als einziger von allen zu lange schon geatmet hat . . . diese verfluchte Zyanverbindung, gegen die alle Giftgranaten des Weltkrieges harmlose Parfümflaschen gewesen sind!

Hoch den Kopf, Jonny, die Masken auf und dem Teufel ins Antlitz gehauen! Derselbe Teufel aber hat seine Hand heute im Spiel überall: und wenn auch der Neger da schon seinen schönen, neuen und bislang unbenützten Gashelm aufgesetzt hat, so gestattet die Lage keinen Zweifel an der Tatsache, daß Jonnys Maske auf der Station liegengeblieben ist.

Was um Gottes willen soll man tun? Gontscharow liegt im Stollen . . . diese Canaille da hat ihn ganze zehn Minuten aufgehalten . . . das Gas, das so schwer und giftig sich auf dem Boden lagert, ist der Tod . . . der klägliche Tod einer vergifteten Ratte. Es ist Vorschrift für die Krateringenieure, daß sie bei jedem derartigen Vorfall das eigene Leben hinter das des letzten Arbeiters stellen . . . man wird bezahlt dafür, bitte sehr . . . man wäre außerdem durchaus kein Gentleman, wenn man Gontscharow im Stiche ließe . . . was soll man tun?

Der Neger M'Boma löst die Frage, indem er seine Maske abnimmt und sie Silk-Jonny hinhält – was ist denn ein armer Nigger wert vor einem solch großen, weißen Herrn? Da ist der weiße Herr plötzlich sich ganz klar darüber, was er zu tun hat: »Setz' auf . . . Vieh . . .«

So weit ist die Unverschämtheit dieser Paria schon gediehen, daß ein Farbiger, ein halber Gorilla, es wagt, edelmütig zu handeln an einem weißen Herrn und Briten! »Setz' auf, sag' ich dir!«

Der Neger gehorcht, knickt zusammen in seiner ganzen Nichtswürdigkeit. Es ist alles in Ordnung. Hinein in den 87 Stollen ohne Maske und heraus mit dem Manne da drinnen . . . alles Weitere wird sich finden! Der Neger mit seinem schützenden Helm kriecht als erster hinein, Jonny mit dem größtmöglichen Vorrat an frischer Luft in den Lungen folgt, es muß gehen! Die Augen brennen, der Schwindel ist doppelt widerlich in dem Dunkel des Stollens. Verzweifelt schnell kriecht man vorwärts, um nicht atmen zu müssen, man erreicht glücklich den Verlorenen da drinnen . . . so, nun hat man seine Hand gefaßt, und nun gelingt es ihnen wirklich, den schweren Körper zurückzuschleifen. Ein paar Meter freilich nur, und so weit noch ist dieser pestige Stollen, und das Herz klopft so verzweifelt, nach Sauerstoff schreit das Blut . . . man kann nicht mehr, man muß atmen!

Man tut ein paar tiefe, hastige Atemzüge. Widerlich süß ist das, was man da atmet, widerlich wie der Brodem einer Narkose. Das Herz beginnt zu gehen mit schrecklich schmerzhaften Schlägen, die Arterien hämmern durch das schmerzende Hirn . . . man kann es nun nicht mehr . . . das Tier ist doch stärker als der Gentleman . . . in jähem Entsetzen läßt man den bewußtlosen Gontscharow fallen und flüchtet ins Freie zurück.

Seht, da liegt der elegante Silk-Jonny in einer widerwärtigen Trunkenheit, wagt nicht, weil ihn dieser abscheuliche Schwindel sonst anfaßt, die Augen zu öffnen, muß sich dennoch übergeben . . . ein Brite vor den Augen eines Negers! So liegt er ein paar Minuten in völliger Erschöpfung, wacht auf, fühlt sich wohl ein wenig leichter, hat aber eigentlich alles vergessen in seinem vergifteten Hirn: Cecily Burgeß . . . vergessen . . . der Krater . . . vergessen . . . alles vergessen . . . was wollte man in Teufels Namen hier? Was sollte man doch . . .?

Richtig: ein Mineur namens Gontscharow ist verloren, man 88 darf ihn nicht liegenlassen. Komm her, Nigger, geh zum Tank dort bei der Kühlschlange und begieße Silk-Jonny mit Wasser.

Der Nigger geht. Der Tank ist leer. Das Wasser ist verdampft. Man begießt sich mit dem kleinen Vorrat an Eau de Cologne, den man mit sich führt, die Stirn . . . nun geht es ein wenig besser. Man richtet sich auf . . . man fühlt sich benommen, und das Herz geht wie ein leerlaufender Motor. Aber das alles ist nun verhüllt von einem seltsamen Rausch . . . bei Mac Linton, der vor zwei Monaten von dem gleichen Gase geholt worden ist, soll es geradeso gewesen sein . . . das ist übrigens gleichgültig . . . man muß wieder hinein in das Loch dort und Gontscharow holen.

Und seltsam: nun geht es doch ganz gut. Man taumelt zwar hin und her beim Kriechen durch den Stollen und zerschlägt den Kopf an dem rissigen Gestein. Dafür ist man jetzt so betrunken, daß man diese grünrosa Sauce unbekümmert in vollen Zügen einatmet: heraus um jeden Preis mit Gontscharow . . . sieh her, Nigger, nun haben wir es doch geschafft!

Gontscharow liegt, von M'Boma gebettet, auf der Tragbahre; er wäre für keinen zu erkennen, der ihn vorher gesehen hat, so sehr hat das Gas ihn verunstaltet. Gontscharow schläft, er liegt schnarchend da, er blinzelt ein wenig mit den Lidern, als man seine Stirn mit Eau de Cologne begießt.

»Mère de Dieu« lallt Gontscharow und glaubt im Schlafe wohl, seine Kameraden aus der Pikardie vor sich zu haben, daß er seine paar französischen Brocken stammelt.

»Mother is there«, sagt Jonny. Das ist keine Weichherzigkeit . . . wo käme die wohl auch her . . . es ist die anständige Gewohnheit, gut zu tun in solchem Augenblick, nichts weiter.

89 Und nun, Nigger, spannen wir uns beide vor die Bahre und tragen Gontscharow zur Station . . . es muß gehen . . . unter allen Umständen muß es gehen!

Vor die Bahre sich spannend, denkt Silk-Jonny an Eaton-College, wo man sich, um die eigene Willenskraft zu stählen, als Junge zweizöllige Nägel in den Oberschenkel getrieben hat . . . man hat damals so etwas fertig gebracht, und folglich muß es auch jetzt gehen. Er geht, mit steifen Knien wie ein überpacktes Kamel geht er, stolpert ab und zu und rafft sich wieder auf, hört dieses unnütze Herz rasen und hat doch das Gefühl, daß es schon einem anderen gehöre . . . bemerkt das leere Zigarettenetui Marke Prince Albert, das man heute morgen fortgeworfen hat, und sieht gleich darauf einen Pflock, der den Rayon der Siebenten von dem der Sechsten trennt . . . noch hundert Schritte sind's zur Station.

Aber da, wie er ganz mechanisch die Schritte zu zählen beginnt, da faßt eine schreckliche Hand ihn an . . . eine Riesenfaust, die um sein Herz sich legt, daß er nicht mehr atmen kann. Und nun zum ersten Male spürt er, daß das die Todesnot ist, die große, schreckliche Not des Sterbens: die Bahre läßt er los, faßt mit einem Schrei nach dem Herzen und fällt nieder und zerschindet sich ganz jämmerlich auf dem scharfen Geschröf. Dann ist die Qual vorüber, und nur eine tödliche Schwäche bleibt. Wieder tanzen die roten und die grünen Feuerbälle, und wieder ist da diese schreckliche Riesenfaust, die ihn durch den Raum schlendert . . . man fliegt und fliegt und fliegt ins Unendliche hinaus.

Ein paar Minuten liegt er da mit geschlossenen Augen. Dann, als er sie öffnet, steht wieder dieser Neger vor ihm und macht Miene, Silk-Jonny auf die Arme zu nehmen. Man weiß, daß Joseph M'Boma ein treuer, starker Bernhardiner 90 ist, man ahnt trotzdem, daß man sich, weil sonst das britische Imperium in ernstliche Gefahr käme, nicht von ihm helfen lassen darf. Man besinnt sich wieder auf Gontscharow, der vor zweihundert Jahren in einem Sprengstollen verschüttet worden ist, man rafft sich ein letztes Mal auf und versucht, die Bahre zu heben . . . einmal hat ja alle Menschenqual ein Ende.

Der sterbende Mineur Gontscharow ist schwer . . . so schwer wie jenes berühmte Kind, das der Riese Christophorus durch den Bach trug, und siehe, da hing der ganzen Welt Jammerlast an dem Kinde. Dies ist das Finish, und man muß es versuchen, wenn man ein Gentleman bleiben will. Man bringt wirklich noch ein paar Schritte fertig . . . drei, vier . . . dann ist es zu Ende mit der Kraft. Man kugelt hin zum zweitenmal.

»Den andern zuerst.«

Es hat nun wirklich keinen Sinn, den Mineur Gontscharow, der inzwischen definitiv gestorben ist, als ersten da hinaufzutragen auf die Plattform der Station, wo es noch kein Gas gibt. Aber es kommt auch nicht darauf an, daß das, was man tut, einen Sinn hat. Sondern darauf kommt es an, daß es schwer ist und wehe tut.

»Den andern zuerst.«

Da kein britischer Herrenblick mehr da ist, um einen zuchtlosen Nigger zu bändigen, so nimmt Joseph M'Boma den kleinen Silk-Jonny, der sterben muß, damit ein unnützer Neger seine Maske und sein Leben behalten durfte . . . nimmt ihn auf seine Arme und trägt ihn die Stufen hinauf. Da liegt Jonny in einer Luft, die reines Ozon ist gegen diese grünrosa Pest da unten, liegt, ohne die Qual des Leibes noch zu spüren, und versucht mit Fingern, die nicht mehr parieren wollen, einen 91 Bericht auf einen Zettel zu kritzeln: große Buchstaben wie ein Klippschüler . . . weiß Gott, was er da schreibt . . . die Gedanken arbeiten weiter auf eine seltsame, ungehörige Weise.

Cecily Burgeß hat sehr schöne Beine, sie hat ein Engagement an die Alhambra in Melbourne . . . weiß Gott, auf wessen Motorcycle sie sitzen wird im nächsten Jahre . . .

Lawson hat weiße Haare bekommen . . . natürlich, er sorgt sich, wie er die Beobachtungsstände bei den Kesseln zustande bringen wird. Der ganze Krater ist ein Unsinn, zum Speien ist der Krater . . . es hat keinen Witz, mit ein paar Milliarden Pferdekräften Blechschachteln für Zigaretten Marke Prince Albert zu stanzen . . .

Einmal träumte man davon, Kathedralen zu bauen . . . Dome wie Westminster Abbey, obwohl es andererseits doch vielleicht unpassend gewesen wäre, beim Bauen so exzessiv seine Seele zu entblößen. Aber schön wäre es trotzdem gewesen, wenn man es gekonnt hätte . . . ach, unsäglich schön wäre es gewesen. Es hat etwas gefehlt dazu . . . man hat wohl keine Seele wie die Dombauer einst . . . es wäre auch sehr unpassend, eine zu haben. Man schläft.

Man schläft mit dem bekritzelten Zettel in der Hand. Später sieht man im Schlafe einen langbärtigen, alten Herrn, der sich um einen bemüht. Das ist wohl Gott.

Es wird wohl nur der britische liebe Gott sein, der niemals nach sechs Uhr abends einen farbigen Schuh tragen, nie im Reitanzug einen Golfplatz und nie im Golfdreß einen Pferdestall betreten wird . . . dieser britische Gott, der à la suite der Hochländerbrigade geführt wird und Generaladjutant Sr. Majestät des Königs von Großbritannien und Irland ist . . . dieser Gott, der selbst ein perfekter Gentleman ist. Vielleicht gibt es noch einen anderen Gott. Aber er ist schlafen 92 gegangen, und man muß sich begnügen unter den gegenwärtigen Umständen mit diesem hier. –

Der Nigger Joseph M'Boma, der sehr wohl weiß, was es zu bedeuten hat, wenn ein Menschenantlitz so unmenschlich edel wird, breitet nach heimischer Sitte dem armen, kleinen Silk-Jonny die Arme weit aus und dreht die Handflächen nach oben; zum Zeichen, daß Silk-Jonny nun willens sei, seine Seele den Göttern zurückzugeben.

Der alte, langbärtige Doctor O'Meara, der gerade Dienst hat und eine Viertelstunde später mit dem Rettungswagen eintrifft, findet einen seine Sterbegebete sprechenden, im übrigen aber ganz gesunden Somali und daneben den Ingenieur John Palmer mit einer schweren Gasvergiftung und in der letzten Agonie . . . immerhin ist es möglich, daß er noch eine Stunde lebt.

Wie sich das alles abgespielt hat, weiß O'Meara, dessen Großvater übrigens einst auf St. Helena dem großen Napoleon über die Todesnot hinweggeholfen hat, nicht. Auf dem Zettel, den der Sterbende selbstverständlich in der Verwirrung schon gekritzelt hat, steht nur, daß der Krater zum Speien sei, und daß alles keinen Sinn habe.

Jonny liegt da mit offenem Munde und einem traurigen Lächeln, das das eines enttäuschten Kindes ist. 93

 


 


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