Fritz Reck-Malleczewen
Die Siedlung Unitrusttown
Fritz Reck-Malleczewen

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Der Pfad, der vom Meere kommend sich durch die verdorrte Basilicata windet und den kahlen Apenninenhang hinanklettert . . . wer hat ihn wohl ausgetreten, den Pfad? Uralte, längst vergessene Völker sind ihn entlanggezogen lange vor der Gründung der ewigen Stadt; die bei Cannae zermörserten Römerreste verloren hier die rostmorschen Speerspitzen und Hufeisen, das ganze vielfarbige Gesindel der Völkerwanderung hat sein Gestein hübsch sauber gewaschen mit seinem Blute . . .

Nun aber ziehen ihn, von der See, von San Ginepro heraufkommend zum Dorfe Eucalypto hinauf ganz andere Gestalten: kleine, verhutzelte Männchen mit Zahnbürstenbärten unter der Nase und einem Papageien-Italienisch – aus dem Norden, aus Sachsen, aus der Polackei oder vom Monde her sind sie gekommen, und alles Land bis zum Gebirge wollen sie kaufen: was sie im Sinne haben mit den dürren Wiesen und schwefelsauren Weinbergen?

Der Häusler Parenti an der Ginepreser Straße kommt als erster dran: einhundertfünfzig Lire für die morsche Hundehütte! Man kann dafür einen grünroten Hut aus Spartelgras, ein Samtjackett, einen dressierten jungen Fuchs kaufen, man wandert mit allen Schätzen davon . . .

Der Bauer Balboni, der Müller Aglietto, der von jeher lieber geangelt als gemahlen hat, der Gemeindeälteste mit seinem verschuldeten Besitz, der Gastwirt . . . alle, alle greifen nach den neugeprägten Pfundstücken, kleiden sich in San 35 Ginepro neu und farbenfreudig ein: ein grüngestrichener Patentfischkasten, ein neues Grammophon, eine Orgie beim Sciutto unten zum Schluß . . . in alle Winde fliegt das Geld, man kann schließlich auch als Ziegelarbeiter dieses Leben beschließen.

Die kleinen Männchen mit dem Kakadu-Italienisch reißen das Land an sich, der Notar Digerini unten in der Stadt hat gute Tage. Als sieben Achtel des Dorfes Eucalypto verschluckt sind, donnert von der Kanzel Don Bernardo, daß man zugleich mit dem Lande auch seine Seele an den Unglauben verhandle, im nahen Kloster San Giorgio weigern die feudalen Mönche den Verkäufern die Absolution. Da der Großbauer Marzabotto unter diesen Umständen nicht verkaufen will, so kommt ein herrlicher, großer, bartloser Fremder . . . auf einem riesigen Automobil kommt er gefahren und hält bei dem Kloster San Giorgio. Am nächsten Sonntag hat Don Bernardo einen neuen Lackhut, einen seidenen Regenschirm, man erzählt sich, daß das Kloster die eingestürzte Haupthalle neu bauen wolle. Da Don Bernardo nach einer Woche auch ein nagelneues Goldgebiß statt der verfaulten Zahnstummel hat, so verkündet er laut und deutlich, daß auf den Werken der Fremden Gottes Segen ruhen werde, das Kloster San Giorgio vergibt nun alle Sünden: man darf verkaufen, so viel man will.

Der Großbauer Marzabotto, er, unter dessen Torbogen Cesare Borgia auf seiner Flucht den letzten Becher auf italienischem Boden getrunken hat, er hat etwas von dem Amerikaner gehört, der all das Land braucht, er wird die Konjunktur nützen. Zwei Wochen läßt er sich von diesen Fremden umbuhlen, als Ehre rechnen sie sich's an, ihn in ihren Automobilen umherzufahren . . . das Leben des Großbauern Marzabotto wird nun in alle Ewigkeit so weitergehen mit Gelagen und Automobilfahrten. Als man ihn schließlich so weit hat, 36 wie man will, verlangt er, der es diesen fremden Eseln schon zeigen wird, nur fünfhundert Lire für den ganzen Hof, im übrigen aber Aktien, Aktien und nichts als Aktien. Als man ihn fragt, was für Aktien er denn wolle, gibt er es diesen Stotterern aber gehörig: Aktien für zehntausend Lire hat er verlangt, Aktien sind ihm als fortschrittlich Denkendem die Hauptsache – was gibt es da noch zu fragen, was für Aktien man haben wolle?

Am nächsten Tage hat er sie, er hat fünfhundert Lire in der Tasche, er legt sie in einer Uhr, einem perlgrauen Ueberrock, einem steifen Hut und einem riesigen Gelage an, bei dem er Tafelmusik haben muß und als großzügiger Mann diese Fremden regaliert. Da er am nächsten Tage doch schon ein wenig Geld braucht, so wird er auf der Bank eine der Aktien verkaufen – wie, ist dieser Lümmel von einem Kommis närrisch, daß er zu lachen wagt über einen Mann wie Marzabotto? Ein süßlich-höflicher Chef wird gerufen, die Aktien der vor zwei Jahren verkrachten Banca Commerciale Neapolitana sind momentan dreimal so viel wert wie eine Zündholzschachtel . . . zehn Lire im ganzen also, wenn's gefällig ist?

Marzabotto begreift, er stürzt zu dem Chef der Fremden, der leider nicht zu sprechen ist; es hilft ihm gar nichts, daß er die Frau des Advokaten Digerini, der das alles verbrieft hat, mit dem Doktor zu schlafen bezichtigt und sie eine »solche«, ja, eine Hure nennt, es hilft ihm nichts, daß er auf der Präfektur, wo er weinend auf den Knien liegt, an die Inschrift seines Torbogens erinnert, unter dem doch Cesare Borgia . . .

Man wagt es, zu lachen über diesen Torbogen, den Stolz von Eucalypto . . . in Ordnung sei der Vertrag . . . bitte, der Hof sei mit fünfhundert Lire schon sowieso überzahlt . . .

Marzabotto legt die zehn Lire für seine Aktien am gleichen 37 Abend in dem bewußten Hause der Witwe Bubbola in Naturalien an . . . in der nächsten Woche schon sieht man den König von Eucalypto, wie er in seinem lächerlichen Stadtrock für achtzig Centesimi am Tage den Geometern, die seinen ehemaligen Grund vermessen, die Meßstange hält.

Denn hinter den Agenten sind diese Geometer gekommen . . . zweihundert, dreihundert wohl, das ganze Land bis zum Walde drüben ist voll von ihren bunten Pflöcken. Und hinter ihnen rückt schon am folgenden Tage eine ganze Bataillon fremder Arbeiter an, graue Menschen in schmutzfarbigen Kleidern . . . Polacken sind darunter und Engländer und sogar ein paar wirkliche Neger, und Lastautomobile und eselbespannte Wagen mit Brettern und Dachpappe führen sie mit sich, und das alles ist doch schließlich nur die Vorhut. Ein General, ein Arbeitergeneral ist da unter ihnen mit gewickelten Beinen und einem höchst lächerlichen Korkhelm und einer Kommandostimme . . . »Puh,« sagt der General, und die mitgeführten Bretter werden binnen drei Tagen zu einer Holzbaracke, und wo er nur seine Notdurft verrichtet, da steht gleich ein ganzer Camp von solchen Buden da. Eine Kantine vor allem ist fertig mit leuchtenden Plakaten für Kaugummi und Zigaretten, von einer Badeanstalt raunt man, und sogar eine transportable Kirche wollen sie in den nächsten Tagen aufstellen, und vermutlich haben sie sogar ihren eigenen zerlegbaren Gott mitgebracht, diese heillosen Fremden!

Ja, da stehen nun diese übriggebliebenen Menschenkinder von Eucalypto wie eine Schar verregneter Hühner um den Camp. Vom dritten Tage an sind die Fremden in der Überzahl, sie nehmen die Brunnen für sich allein in Anspruch, sie verpesten mit den fortgeworfenen Eingeweiden ihrer Schlachttiere die Luft, sie belästigen die Weiber . . . beim Caserio oben 38 hat es in dieser Nacht die erste Prügelei gegeben. Das ganze riesige Landgut des Barons haben sie nun auch schon an sich gerissen, die Botenfrau Nanna erzählt, daß sie in Metaponto unten einen Damm ins Meer zu schütten begönnen, daß sie sogar eine Eisenbahn hinauftreiben wollen bis hierher nach Eucalypto!

Immer zahlreicher werden sie, wie Heuschrecken, ein aufgewühlter Ameisenhaufe ist das Dorf, und noch immer rücken von allen Seiten neue Bataillone her – wer aber ist es, der vor Jahrtausenden jenen Felspfad zum Gebirg hinauf ausgetreten hat?

Seht, dort oben ist das Land noch unberührt, wenn man dort oben steht, sieht man auf große, grüne Wiesen, die der angestaute Bach bewässert, eine Büffelherde weidet, und ganz weit drüben raucht, halb versteckt in den Kastanien, das Haus. Matteo Malphigi wohnt hier, den kein Mensch kennt, weil er nie seinen Grund verläßt, weil er nach allgemeiner Ansicht seine beiden taubstummen Kinder mit seiner leiblichen Schwester gezeugt hat, weil sein Land überhaupt ein unheiliger Ort ist, weil dort in den Nächten abnehmenden Mondes die langen Züge der deutschen Ritter geistern, die man vor sieben Jahrhunderten hier erschlagen hat, und der Pflug holt noch immer ihre braunen Schädeldecken herauf.

Dennoch, seht nur: einer dieser geschäftigen Götter des Handels und der Beredsamkeit . . . gerade dieser da mit dem kirschroten Gesicht und dem fetten Hintern fährt eines Tages mit seinem Motorrade den Weg hinauf, er fährt zu Matteo Malphigi, er fährt die beiden taubstummen Geschwister an, die Arm in Arm vor dem schmierigen Hause sitzen und seine Frage nach dem Bauern schlechterdings nicht beantworten können. Er flucht, als sei er schon der Herr hier, er stellt 39 schließlich den Alten, der mißtrauisch den Weinberg herabkommt: her mit dem Hof . . . brauchen alles . . . zahlen gut . . . müssen bis morgen alles haben.

Matteo Malphigi läßt, ohne ein Wort zu sagen, die beiden Metzgerhunde los, er wirft dem Dicken, der mit Müh und Not sich zu seinem Rade rettet, die Axt nach. Der Dicke höhnt von weitem, daß er den Hof ja doch bekomme, und schnurrt davon.

Der Alte denkt schon am Abend nicht mehr daran, er geht zu seiner Herde hinunter: Preise steigen . . . die beste Herde in der ganzen Basilicata . . . die einzigen Wiesen bis zum Meere . . . es ist gut.

Aber am Morgen des vierten Tages, als er nach den Fischreusen sehen will, findet er den Teich leer. Mit aufgetriebenen Bäuchen liegen die erstickten Barben im Schlamm, verbreiten schon Aasgestank in der Frühhitze. Malphigi geht bedächtig bachaufwärts: richtig, dort oben, wo die Fremden dem Baron seine überschuldeten Jagdberge abgekauft haben, sind die braunen Hemden dieser Arbeiter zu sehen . . . sie graben an einem neuen Bachbette; da ihnen die drei Quellen oben gehören, so können sie den Bach gegebenenfalls auch in das Tintenfaß der Richter von Stigliano leiten . . . Matteo Malphigis Wiesen werden jedenfalls in einem halben Jahre so trocken sein wie die Mönchsmumien drüben in der Klostergruft von San Giorgio . . .

Gerichte . . . Gesetze . . . mit solchen Kindereien hält sich Matteo Malphigi nicht auf, er denkt an das Nächstliegende: ein Messer, eine Axt . . . alles übrige wird sich von selbst finden.

Er geht bedächtig nach Hause, verbindet der kranken Henne das Bein, bedient sich des Weihwassers, fällt über einen 40 unsäglich schmierigen Teller mit Ziegenkäse her, frühstückt ausgiebig, schickt die beiden Geschwister mit ihrer Bordeleser Brühe in den Weinberg hinauf, steckt zu sich, was er braucht, und sieht urplötzlich wieder diesen dicken Fremden vor seinem Hause halten: jawohl, schön Wetter heute . . . ein bißchen zu trocken für die Wiesen unten . . . zweitausend Lire für den Hof, keinen Fünfer mehr . . . der Notar warte längst . . .

Er kommt durchaus nicht weiter: der alte Werwolf da ist in ihn hineingerannt mit einem einzigen, ungeheuern Satze, der Dicke hat wohl instinktiv nach der Pistole gegriffen, er hat sie nicht mehr aus dem Futteral gebracht; er hat das krumme Winzermesser des Bauern im Magen sitzen, er kugelt samt dem Rade auf den Düngerhaufen, der feiste Mensch verfällt in wenigen Augenblicken zu einer Puppe, er starrt mit den trübe gewordenen blauen Schweinsäuglein in den ehernen Himmel Gottes hinauf.

Der Alte läßt ihn ruhig verzappeln . . . sieh mal, ganz schwer läßt sich das Messer herausziehen! Er geht hinein, schleift es sorgfältig, kommt mit einem Zuber zurück, zieht dem andern das Bargeld aus der Tasche, reißt ihm die Kleider herab, beugt sich über den nackten Leib: Gekröse, Leber . . . Lunge, Herz . . . alles liegt da im Menschen genau so beieinander wie beim Schwein! Er wühlt den Toten tief in den Dünger hinein, fällt in einer ganz rätselhaften Wut plötzlich mit der Axt über das Rad her, zermörsert es, so gut es geht, wirft es samt den Kleidern in die trockene Zisterne und wälzt dicke Ballen Mist darüber. Dann schleppt er den Zuber mit den Eingeweiden und dem schwappenden Blut zu den Schweinen, sieht befriedigt, daß sie gut fressen . . . Ja, nun ist es Zeit, die Kühe zu füttern und nachzusehen, was die beiden Taubstummen am Weinberge oben angerichtet haben.

41 Am nächsten Tage schleicht er, Pistole und Messer des Toten in der Tasche, zum Hügelkamm, späht hinunter nach Eucalypto: nichts rührt sich. Sogar die Leute bei den Quellen sind verschwunden, es ist unerfindlich, wo sie geblieben sind. Der Alte, der sich nie mehr als einen Tag vorher sorgt, nimmt an, daß es nun immer so bleiben werde, kittet mühsam den Bachdurchstich, sieht, daß seine Wiesen wieder Wasser bekommen, und geht todmüde nach Hause.

Vor dem Abendessen, gerade als die beiden Geschwister die Schweine auf den Hof gelassen haben, hört er Hufschlag unten auf dem Wege. So ein Fremder mit einem Glase vor dem Auge . . . die Pest hole ihn . . . glotzt ihm ins Fenster, Karabinieri, bewaffnete Fremde zu Pferde und zu Fuß sind auf dem Hofe, dort oben in den Weinbergen sogar sind welche zu sehen.

Das Haus ist umstellt, man kann nicht hinaus. Der Führer tritt ein, ohne zu fragen, erkundigt sich nach dem Verbleib dieses fetten Schweines von neulich, er will das Zimmer sehen, die Schlafkammer, Keller, Boden . . . man würde ihn genau so schlachten wie den andern, wenn der Hof nicht voll wäre von diesen Froschgesichtern.

Der Führer blitzt den Alten durch das Glas an: finde man etwas . . . er weist mit dem Kopf nach den Gewehren, die sie auf dem Hofe zusammengesetzt haben. Sie suchen noch eine Weile, im Keller graben sie und sogar im Garten.

Dem Alten erstarrt nun doch das Herz in wütender Todesangst . . . ach was, die Zisterne ist ja doch bedeckt mit Dünger, sie werden ja doch nichts finden. Der Führer, wütend über den Mißerfolg, sammelt seine Leute; es wird nun gleich alles wieder in Ordnung sein.

42 Aber siehe da: gerade als der Zug sich in Bewegung setzt, ist es einer von diesen Karabinieri, der schreit:

»Ecco...«

Der Zug hält, die Leute erstarren vor Grauen: die Schweine wühlen jauchzend im Düngerhaufen, sie haben die Witterung vom vorigen Tage aufgefunden . . . besudelt und geschändet ragt dort aus dem Mist dieser arme, nackte Fuß des Toten heraus!

Der Führer bleibt eiseskühl, starr und hart sticht dieses verdammte Auge mit dem Monokel.

»Zur Mauer!«

Matteo Malphigi muß nach alter Sitte sein Grab graben, in der allerbesten, fettesten Erde muß er es graben . . . seine Weinreben reißen diese Fremden aus dem Boden, um die Arbeit zu beschleunigen. Er arbeitet munter darauf los: gut hat es trotzdem getan, dieses fremde Schwein zu schlachten . . . man wird ganz gut liegen hier. Er empfängt seine Kugel mitten in einer Berechnung, was sein Tod den andern kosten möge mit diesem lächerlichen Aufgebot und den zwanzig Schüssen für ihn allein. Die Taubstummen, deren armes Hirn erst bei den Salven etwas von dem bemerkt, was sich hier ereignet, stieben heulend davon und sehen vom Weinberge aus, leise klagend wie junge Hündchen, die Flamme aus dem Dache ihres Hauses schlagen.

Ach, Zwischenfälle sind das – kann ein Mückenschwarm vielleicht eine Kanonenkugel aufhalten? Noch immer neue Arbeiterbataillone, immer mehr, immer mehr . . . gibt es denn überhaupt so viel Menschen auf Gottes Erde? Zwei Monate erst sind sie im Lande, und schon kann niemand Eucalypto so recht erkennen: die Mühle ist längst verschwunden, der Bach ist abgeleitet, er fließt dort irgendwo in einer langweiligen 43 Zementrinne. Alle Weinberge diesseits der Kirche sind abrasiert . . . weiß der Teufel, wo sie geblieben sind; die Fremden haben sie einfach davongefahren auf ihren Feldbahnen. Zwei Monate sind sie erst hier, und schon reicht der Schienenstrang vom Meere herauf bis hierher, ihre Züge schleppen alles heran, was sie brauchen, der Krämer Zanichelli, der doch ein Fortschrittlicher ist, hat ganz vergebens für sie ein Schaufenster brechen lassen und die blinden Scheiben mit Kautabak und Johannisbrot garniert.

Ja, alles ist hübsch glatt geworden in dieser neuen Stadt Unitrusttown, wie Eucalypto nun heißen wird: kaum daß die Geometer die Straßen abgesteckt haben, da sind schon neue Teufelskerle da, die die Häuser nur so hinspucken. Sie machen nicht, wie altmodische Leute, Fundamente, sie stellen da so eine Bretterform hin, gießen irgendeine graue Sauce hinein – da steht schon ein ganzes Haus da mit Türen und Fensterlöchern, ein Heer von Tischlern hängt Normaltüren und Normalfenster ein, kaum daß die Maurer fort sind. Sie kriechen der See zu mit ihren Häusern, sie füllen die ganze Ebene an, eines sieht genau so aus wie das andere . . . Ja, wird man sie denn auch unterscheiden können voneinander?

Aber seht nur: was bereitet sich dort auf der Höhe, wo man wirklich bis zur See hinunterschauen kann, für ein neues Wunder vor? Dort baut man nicht so rasch, man legt mächtige Fundamente; nicht billige Häuser werden hier gegossen – es wird ein Palast, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hat! Das Schloß wird es für den Herrscher über alle diese Tausende von fremden Männern – der Heilige Vater in Rom wird armselig wie ein Korallenfischer wohnen neben diesem da! Und als die Fundamente fertig sind, die eigentlich so groß sind wie der Grundriß einer kleinen Stadt, siehe, da keucht die 44 Bahn von San Ginepro mit ganz merkwürdigen Lasten herauf . . . Ja was denn nur? Steine und nichts als Steine – alles solch schmierige Trümmer, man weiß nicht, was das werden soll!

Nun, schließlich löst sich das Rätsel: Elihu Grant – nun kennen schon die Schulkinder in Eucalypto den großen Namen – Elihu Grant hat einen Palazzo in Florenz gekauft. Stein für Stein bringt er ihn hierher; jeder Stein hat seine besondere Nummer; es gibt da solche bebrillte Deutsche, die genau wie bei einem Zusammensetzspiel wissen und auch Buch darüber führen, welcher Stein zum andern gehört . . . Ja, sogar die Ziegel der Schornsteine werden genau so liegen wie einst in Florenz.

Das ist das einzige, womit in Eucalypto die Leute nicht einverstanden sind: ist dieser Grant so arm, daß er ein altes Haus sich kaufen muß?

Ja, das ist aber auch das einzige, was man in Eucalypto auszusetzen hat an Elihu Grant. Da diese Fremden so lasterhaft sind, wie nackte Schweine tagtäglich zu baden, da sie wie Angehörige der Herrenkaste graue Anzüge am Sonntag tragen, Fußball spielen, in ihren Saloons sitzen, da ihre Mägen so fein sind, daß sie nur Konserven zu sich nehmen können, und da selbst das, was sie an höchst irdischen Resten hinterlassen, auf eine erheblich vornehmere Verdauung schließen läßt . . . Ja, ist es da ein Wunder, daß man sich in Eucalypto bemüht, es ihnen gleich zu tun in allen Stücken?

Sie drängen sich in die Werbebureaus des Amerikaners, die Angehörigen der ehemaligen Oligarchie von Eucalypto, sie schätzen sich glücklich, das Vieh für die Fremden herbeitreiben zu dürfen, sie betrachten es als einen Vertrauensposten, wenn sie oben in den Weinbergen beim Felssprengen beschäftigt 45 werden. Die bunten Kopftücher der Weiber, die kurzen Jacken der Männer verschwinden, am Sonntag ist man ein Gentleman und trägt eine grasgrüne Krawatte zum schmutzfarbigen Anzug, langsam erlernt man dieses verniggerte amerikanische Englisch, man erlebt die Höchstmomente des Daseins, wenn man mit den anderen in den Bars Couplets brüllt, deren zweifelhaften Text man einstweilen noch nicht versteht . . .

Ja, so verschlingt Elihu Grant das alte Nest, es wäre somit alles in Ordnung, wenn nicht immer irgend etwas die Ruhe stören wollte.

Da ist zum Beispiel diese Nicoletta, die Tochter des Schulmeisters . . . ist sie nicht schön wie der aufgehende Morgen mit ihren sechzehn Jahren und dem »Benedictus«, das sie bei den Sonntagsmessen gesungen hat – ein Stolz des Ortes, wie das Marienbild in der Kirchenwand?

Da ist ferner der Sprengmeister Jeffries, der so stark ist, daß er einem lebenden Büffel das Genick brechen kann . . . ist es ein Wunder, daß Nicoletta sich an ihn hängt, mit grünseidenen Strümpfen auf seinem Schoße in den Saloons sitzt und die Songs mitkrächzt? Nein, nun singt die Nicoletta nicht mehr das »Benedictus« . . .

Und endlich ist da der Doctor Schirwind, der Sanitätschef aller Grantschen Unternehmungen: er hat eine Badebaracke für die Einheimischen gebaut, er mutet ihnen das Laster des täglichen Bades zu, er hat mit Stirnrunzeln konstatiert, daß vier Prozent der Belegschaft fieberkrank sind, und er hat den verwilderten und umherstreunenden Herden der Bauernhöfe den Tod geschworen, weil sie mit ihren Stechfliegen die Seuche verbreiten. Und da der Doctor Schirwind nicht nur den Tod der umherirrenden Büffel, sondern auch die Liebe der Menschen zu organisieren gewillt ist, so hat er ein großes Haus für 46 »solche« gebaut, ganz wie das der Witwe Bubbola in San Ginepro, nur eben weit vornehmer mit Spieluhren aus Polisanderholz und Plüschmöbeln und Insassinnen, die für die Bedürfnisse aller Rassen eben aus allen Weltteilen verschrieben werden.

Wie nun, steht denn die Welt stille? Am Portiunculasonntage . . . keiner sagt es, wo er da die Nicoletta, die der Sprengmeister Jeffries längst verabschiedet hat, gesehen habe. Genug . . . am nächsten Tage sieht man sie, angezogen wie eine »solche«, mit einem Dirnenlachen unter den Weibern, die zu einem peinlichen Termin vom Sheriff aufs Amt zitiert worden sind – nein, nun ist es einfach ausgeschlossen, daß die Nicoletta je wieder das »Benedictus« singen wird! Am nächsten Tage aber, das ist das Allerpeinlichste an der Affäre, fehlt bei der Schicht der Sprengmeister Jeffries. Er fehlt dort auch am zweiten, dritten und zwanzigsten Tage. Es hilft zu nichts, daß man auf und unter der Erde nach ihm sucht, es hilft nichts, daß man die Tümpel unten an der Straße durchfischt und sogar die großen Halden rostiger Konservenbüchsen umwühlt, die das alte Bachbette verstopfen. Es hilft auch nichts, daß man oben beim Kneipenwirt Caserio, wo sich alle fremdenfeindlichen Elemente von Eucalypto treffen, die sieben oder zehn Gäste verhaftet, vor allem auch den Pietromano, den ehemaligen Liebhaber der Nicoletta, festsetzt. Einer schwört den anderen frei . . . alle sind am kritischen Tage nachweislich in San Ginepro gewesen . . . der Sprengmeister Jeffries bleibt verschwunden in aller Ewigkeit, und sein Verschwinden bleibt ungesühnt.

Schade um einen Mann wie Jeffries, schade, daß man sich so bockbeinig gegen den Fortschritt verschließt in Eucalypto . . . was aber sollen diese rätselhaften Vorbereitungen oben bei der 47 Kirche? Und was ist wohl in den Verschlägen, die man dort oben aufstapelt? Oh, das sind die Teile des ersten Sprengbohrers, System Lawson . . . ganze Güterzüge mit solchen Höllenmaschinen warten unten am Meere, in einem einzigen Jahre wird man ein Loch damit bohren in die Erde bis zum Fegfeuer hinunter, viele, viele Kilometer weit . . . Ja, alles recht gut und schön, was aber sollen sie hier, in der Nähe der Kirche?

Seht, nun wird es auch den Fremdenfreundlichsten in Eucalypto zu bunt! Am Sonntag unterbricht man die Predigt Don Bernardos: Was wird aus der Kirche, was aus dem Friedhofe . . . wie, werden auch sie verkauft werden an die Fremden?

Der Pfarrer stottert ein paar Worte von Fortschritt und neuem Leben, alles verklingt in hundertstimmigem Wutgeheul; Steine fliegen zur Kanzel hinauf, man sieht schließlich Don Bernardo, wie er mit zerrissenem Priesterkleide, verlacht und mit Kot beworfen von seinen Firmkindern, über den Friedhof galoppiert und bei der Polizei der Fremden Schutz sucht.

Zwanzig Wachtleute in ihren lächerlichen Helmen erscheinen, werden mit Hohngelächter begrüßt und müssen Hiebe austeilen, ehe sie den Kirchenplatz besetzen können. Aber die Meßstangen der Geometer sind inzwischen umgeworfen, die Merkzeichen an den Mauern verwischt. Und das kleine Dorf harrt in wütender Unruhe auf die Dinge, die das Schicksal über seine Kinder verhängt hat . . . .

An. nächsten Tage erscheint in Eucalypto in einem feuerroten Automobil wie der Höllenfürst Elihu Grant. Der Präfekt der Kreisstadt ist erschienen, der Kommandant der Karabinieri wartet am Wagenschlag in seinem karmesinroten Frack auf wie ein dressierter Kakadu. Elihu Grant sieht alle diese Höflichkeitsbezeigungen der einheimischen Regierung mit 48 gerunzelter Miene: Blödsinn . . . Humbug . . . er stürzt in das Bureau des Unitrusts, das vorderhand noch in einer Holzbaracke untergebracht ist.

Die Sekretäre zittern, und Doctor Schirwind zittert, der große Lawson sogar ist in einiger Aufregung über die schlechte Laune seines Herrn. Warum sind die Bauten noch nicht weiter fortgeschritten? Weshalb hat Unitrusttown, wie Eucalypto nun endgültig heißen wird, noch keine Wasserleitung, keinen Vergnügungspark, keinen Kinderspielplatz, keine Volksbibliothek, keine alkoholfreien Lokale, keine Aufklärungskurse, die diese bunt zusammengekneteten Massen mit den großen Ideen des Kraterbaues bekannt machen sollen? Warum liegen so viel Malariakranke in der Baracke, weswegen sind, wenn sie an allem schuld sind, die umherstreunenden Büffel noch nicht ausgerottet, weswegen die Sümpfe noch nicht trockengelegt? Und vor allem, erstens, zweitens, drittens, weswegen ist noch kein einziger der Sprengbohrer in Betrieb?

Die Ressortchefs sind untröstlich, die Sekretäre verlassen, totenblaß und vollkommen erschöpft, mit ihren Diktaten diesen Napoleon. Zuletzt bleibt Lawson allein bei dem Gewaltigen. Hier sind zwei Projekte für den Schachteinstich: dasjenige in der Ebene vor dem Ort stößt auf härteres Gestein, das obere, das auf dem Platz der alten Kirche beginnen würde, findet günstigere Arbeitsbedingungen, stößt aber auf den Widerstand der Behörden und den Protest der einheimischen Bevölkerung. Und er hält Elihu Grant einen Stoß behördlicher Bitten und Proteste vor die Nase.

Grant brüllt auf: Proteste . . . Unpopularität? Jabber and nonsens... das Projekt für den Einstich in der Ebene fliegt dem lachenden Lawson, der diese Reaktion im stillen herbeigewünscht hat, an den Kopf. Das Kloster San Giorgio ist 49 unter Zusicherung einer wunderschönen neuen angewiesen, die alte Kirche am kommenden Sonntag zu übergeben, der erste Spatenstich findet am selben Tage statt, die Montage der Sprengbohrers . . .

Mitten im Satz unterdrückt er notdürftig einen tierischen Schmerzensschrei, er schließt einen Augenblick die Augen und kann nicht weiter, daß Lawson ergriffen in dieses aufgeschwemmte, gealterte Gesicht sieht. Gleich darauf ist alles vorüber. »Die Proteste,« schreit Elihu Grant, »sie sollen, sie sollen . . .«

Die unausdenkliche Aufforderung an die Regierungsorgane des Hauses Savoyen geht unter in dem wohltätigen Sirenengebrüll der Kraftanlage oben bei den Weinbergen. –

Und dann kommt der Tag, wo Elihu Grant den ersten Spatenstich tun kann. In Scharen sind herrliche Fremde gekommen, ihre Automobile fauchen rücksichtslos durch die engen Gassen, ganze Kompagnien von Reportern sind da, der König sogar hat den Präfekten beauftragt mit seiner Vertretung.

Hier oben am Friedhofshügel aber, hier hat sich das sterbende Eucalypto noch einmal zusammengedrängt: es gilt nun, Abschied zu nehmen von Kirche und Friedhof! Herbstwind fällt vom Gebirge herab, trägt große, dunkelgelbe Wolken über die Ebene zum Meer – noch einmal will das Land sagen, wie schön es einst war in seiner Einsamkeit . . .

Verhutzelte Weiber drängen sich – der Sohn liegt auf dem Friedhof, Elihu Grants Maschinen werden ihn nun aufstören aus seiner Ruhe. Und Bäuerinnen von der andern Seite des Gebirges sind gekommen, wo der Boden reichlicher gibt und fröhlichere Menschen wachsen läßt, die Intelligenz von San Ginepro, die entthronten Könige des alten Eucalypto in ihrem 50 neuen Stadtdreß sind da, sie, die nun schon so ganz zu Proletariern geworden sind.

Es wispert leise, es steckt die Köpfe zusammen: an allen Ecken Bewaffnete heute . . . hier selbst zur letzten heiligen Messe besetzen diese lächerlichen Polizisten des Amerikaners die Friedhofsmauer . . . Razzia haben sie heute nacht gehalten beim Caserio oben . . . in den Weinbergen oben soll sich der Pietromano verborgen halten und den Fremden den Tod schwören . . . in Tarsi drüben hat es Blut geregnet heute nacht . . . der Prophet Mamerto in Bari hat das Wiedererscheinen Christi prophezeit . . . stille doch, still, da sind sie schon mit der heiligen Messe . . .

Da sind die Brüder von San Giorgio mit ihrem Prior, und auf den Altar zu, den man für die letzte Messe im Freien auf dem Friedhofe aufgebaut hat, schreitet der junge Mönch Joannes, der einmal Kardinal werden wird . . . seht, wie er blaß ist . . . ein Heiliger ist er, die Weiber hängen an ihm.

Und da sind sie selbst, diese steinernen Heiligen der verlassenen und nun schon ganz öden Kirche, und man hat sie hinausgetragen, damit auch sie noch einmal diese letzte Messe hören: da ist der Heilige Bernardus, der in seinen Armen den vom Kreuze gestiegenen Erlöser auffing, und mit Ochs und Eselein der Mohrenkönig Balthasar und Maria, die auf dem Grabmal des deutschen Ritters stand und seinen Mantel über ihn breitet und seine Sünden. Ah, hört doch: sie haben Tränen in den Augen gehabt heute in der Früh, als man sie von ihren Postamenten entfernte . . . der Küster Giacomuzzi kann es bezeugen.

Und wie die Weiber schluchzen, und wie die Stimme des jungen Mönches durch die Stille schwingt, horch, da zerreißt 51 es plötzlich mit greulichem Mißton das Schweigen der Responsorien: mitten hinein in die Knienden preschen zwei Automobile, noch zwei dann, und dann vier, und dann noch ein ganz großes, ein feuerrotes. Es gibt ein wildes Geschrei, die Weiber retten sich gerade noch vor den brutalen Gummirädern, es murrt und flucht und greift nach den Taschen, wo die Messer sitzen . . . mit einem Male wird das ein einziger Schrei: »Zum Teufel mit ihnen . . . nieder die Fremden!«

Sofort ist der Präfekt mit den Karabinieri zur Stelle, Elihu Grants Prätorianer umringen den Wagen ihres Herrn. Journalisten, Ingenieure schälen sich inzwischen ahnungslos aus ihren Pelzen – sie mögen das Geschrei für eine Ovation halten – ein Photograph pflanzt seelenruhig seine Kamera auf, aus dem letzten Wagen steigen seelenruhig in Hose und Hemdbluse, eine offensichtliche Verhöhnung der feierlichen Stunde, Grant und Lawson.

Pfiffe schrillen und Messer funkeln, der Pöbel rennt wie ein verrückter Stier mit gesenktem Kopfe an gegen den Kreis. Die Gummiknüttel der Polizisten klatschen, einem der Karabinieri wird der Frack zerrissen, der Photograph fliegt samt seiner Kamera den Felssockel hinab auf den Düngerhaufen des Küsters. Einer der Grantschen Leute blutet aus einem Messerstich, dem Schneider Magioni hat ein Gummiknüppel die Hand verrenkt . . . nieder die Fremden . . . zum Teufel mit Grant . . .

Der Präfekt tritt mit totenbleichem Gesicht zu Grant . . . er hat gewarnt seit vier Tagen, er für sein Teil ist schuldlos, er bittet inständigst, umzukehren. Grant, die Importe im Munde, hört ihn zwei Sekunden an, er dreht sich um, er scheint wirklich zum Wagen zurückzugehen, er scheint also davonlaufen zu wollen. Eine unsagbare Beschimpfung aus Weibermund gellt, angesichts des fliehenden Feindes fliegt ein 52 Steinhagel nach dem Wagen, die Leute Grants machen ihre Waffen fertig. Und da, wie es blutiger Ernst zu werden droht, da hat Grant ein leises Wort mit dem Offizier da gesprochen, der seine Leute kommandiert, ein Pfiff schrillt, ein Befehl . . . ah, seht, das ist nicht klein: er hat seine Soldaten zurückgeschickt, sie müssen hinter den Wagen zurück! Ohne Waffe, ohne Begleitung tritt Grant der aufgeregten Menge entgegen.

»Was ist?«

Und siehe, plötzlich sind sie alle besiegt von dem Manne da, der den Weltuntergang aufhalten könnte! Die Weiber gaffen, die Männer schmuggeln verstohlen die Messer in die Tasche, hinten führt man die Beschädigten fort, und da auf der Mauer ein Mann mit einem Kurbelkasten erschienen ist, so drängt sich alles grimassierend vor die Linse.

Der Abt von San Giorgio begrüßt Grant, der Geometer bezeichnet dienernd die Stelle für den Spatenstich, der Kommandant der Karabinieri läßt salutieren – von Rechts wegen müßte nun die Sonne stehenbleiben für einen Augenblick. Elihu Grant steht wartend da, er ist heute frei von Schmerzen, er fühlt sich so wohl wie lange nicht, er bläst der ganzen feierlichen Gesellschaft die Dampfschwaden seiner Zigarre ins Gesicht. Der Geometer reicht ihm die Schaufel – eine schöne, nagelneue Kinderschaufel – Elihu Grant wirft das Ding verächtlich fort, greift nach dem schmierigen Riesenspaten, den die Arbeiter gestern hier haben liegenlassen, und sticht derb hinein in die Erde. Nicht solch einen symbolischen Stich, wenn man bitten darf, wie eine anämische Prinzessin ihn tun mag, wenn sie einem zu erbauenden Kanal den erlauchten Namen gibt: nein, einen gehörigen Erdpatzen wirft er auf, beschmutzt dem Präfekten die weißen Galahosen mit dem Kieswurf und blickt lachend um sich.

53 Und wie er so dasteht, eigentlich unwiderstehlich in diesem Augenblick, da sticht dem Küster Giacomuzzi, der ganz hinten steht und sich recken muß, um etwas sehen zu können, ein kurzes Blitzen in die Augen: ein Messer im Sonnenschein, ein Flintenlauf . . . war das in den Büschen drüben jenseits der Weinbergmauer nicht das Gesicht des Pietromano, der nichts Gutes im Schilde führt gegen die Fremden? Giacomuzzi will zum Präfekten, ihn zu warnen. Er kommt nicht durch die Menge, der Präfekt ist außerdem mit seinen beschmutzten Galahosen hinreichend beschäftigt. Giacomuzzi läuft in seiner Angst zu dem Kommandanten der Grantschen Schutzwache . . . er hat doch ganz deutlich das Gesicht des Pietromano erkannt! Der Kommandant der Wache ist ein Schweizer, er versteht Giacomuzzi nicht, er ist übelgelaunt, weil seine Truppe angesichts des Pöbels zurückgepfiffen worden ist, er haucht den gestikulierenden Menschen grimmig an.

Im selben Augenblick ist es leider schon geschehen, das Unausdenkliche: ein Schuß, scharf und kurz wie ein Peitschenknall, kracht, Elihu Grant läßt den Spaten fallen, greift nach dem linken Arm . . . schön rot färbt sich der weiße Hemdärmel . . . Ein Vogelschwarm, aufgescheucht durch den Schuß, fährt pfeifend über den Platz; oben in den Weinbergen, schnell wie die Figur eines kinematographischen Bildes, sieht man einen Menschen sich durch das Geschröf arbeiten und verschwinden.

Und nun geht alles durcheinander: Lawson springt, um ihn zu decken, vor seinen Herrn, die Weiber mit den Kindern auf dem Arm drängen auf das schützende Kirchenportal zu, der Präfekt schreit nach dem Kommandanten der Karabinieri und der Kommandant der Karabinieri nach dem Präfekten, der Dorftrottel Lello, der den Knall für einen zum Programm gehörigen 54 Freudenschuß gehalten hat, wirft jauchzend seine Mütze in die Luft, und in der allgemeinen Panik geschieht das Entsetzliche, daß Grants Leute, einen allgemeinen Angriff auf ihren Herrn vermutend, blindlings in die Menge hineinschießen.

Es hilft nichts, daß ihr Kommandant den Nächststehenden die Gewehre in die Höhe reißt, in dem allgemeinen Geschrei fahren die Schüsse, ohne daß man weiß, wer da eigentlich feuert . . . Erbarmen Jesus . . . gerade in die an der Kirchenpforte sich drängenden Weiber sind sie gefahren: man sieht sie übereinanderfallen und die rote Lache, die über die Steine leckt.

Zerstoben ist im nächsten Augenblick das ganze Volk, menschenleer liegt bis auf die bestürzten Soldaten und die Gruppe um Grant der Platz. Der Präfekt gibt Kommandos zur Verfolgung des Attentäters, die niemand befolgt – natürlich ist es Pietromano, man hat ihn deutlich erkannt – Lawson sagt dem Präfekten, daß er sich endlich und für immer zum Teufel scheren solle, und beugt sich über seinen Herrn: ein Streifschuß am Arm, eine ganz unbedeutende Fleischwunde, es ist kein Zweifel, daß in vierzehn Tagen alles verheilt sein wird. Elihu Grant liegt mit offenen Augen da, läßt sich eine neue Zigarre geben, läßt sich verbinden und läßt sich nach Hause fahren. –

Als es dunkel werden will, leuchten von den Ecken blutrote Plakate des Präfekten: niemand darf sich in den Straßen sehen lassen, der Zutritt zu den armen Toten des Tages, die da oben bei der Kirche liegen, ist verboten – mit Knüppelhieben scheuchen die Wachen beim Friedhofshügel die jammernden Menschen zurück.

Ja, Elihu Grant hat zwar eine schlechte Nacht mit einem Wundfieber, in dem er sich verdammt sieht, in einem seiner 55 Dampfkessel, wie einst vor zwanzig Jahren auf der Grube »Father Sam«, den Kesselstein auszuhämmern: das Mannloch ist, als er wieder hinaus will, zu klein, man kann sich nicht hindurchzwängen, man wird ewig eingesperrt sein in einem stählernen Sarg. Und trotzdem drehen sich auch in dieser Nacht für den Bau von Unitrustpalace die Betonmaschinen, und trotzdem sind bei dem Friedhofshügel, obwohl ja dort noch immer die Toten liegen, Lawsons Leute dabei, die Kirche niederzureißen, die Gleise zu legen für den ersten Sprengbohrer. Ja, und trotz dieser Fieberphantasien brüllt am nächsten Morgen schon das Ungeheuer Elihu Grant durch das Haus: Lawson her . . . die Kontrakte über den Landerwerb in Japan vorlegen . . . Anleihedeputation der Krone Spanien vorlassen . . . den Entschuldigungsbesuch dieses Idioten von einem Präfekten abwinken . . . alle Reporter an die Luft setzen . . .

Am gleichen Morgen holt sich der Polizeikapitän Jackson, der hinter seinem angelsächsischen Namen die Vergangenheit des ehemaligen europäischen Armeeoffiziers verbirgt, und dessen Leute in dieser Nacht die Sicherungsmaßnahmen in Eucalypto durchgeführt haben – ja, er holt sich also seine Instruktionen für diesen Tag. Er hat also am Nachmittag die verwilderten Herden des ganzen zusammengekauften Riesenareals nebst allem etwaigen Wild zu vernichten . . . Die hungrigen Tiere irren brüllend auf der Campagna umher, sie haben in wütendem Hunger sich gegenseitig die Mähnen und Schwanzquasten abgefressen, sie gewähren nach Ansicht des Doctor Schirwind einer das Fieber übertragenden Stechmücke Unterschlupf und sind somit im Interesse des menschlichen Fortschrittes zu vernichten.

Zweiter Befehl: die Toten von gestern sind außerhalb der Stadt an einem vorgeschriebenen Orte am Abend zu bestatten, 56 jede Demonstration, jede Ansammlung der einheimischen Bevölkerung ist zu verhindern, – zwei runde und ritterliche Befehle, Jackson, für einen alten Reiter, der vor zwanzig Jahren im großen Kriege an der Spitze der Königin-Kürassiere die letzte große Reiterattacke auf europäischem Boden mitgeritten ist!

Kühl ist es heute, und Herbstwind fährt in die Feuerbrände, mit denen die Neger, die man als die Sachkundigsten für diese Aufgabe verwendet, das Viehzeug zusammentreiben. Es beginnt dort hinten bei dem verbrannten Gehöft des Bauern Malphigi: zur Linken der Bergrücken, der die Ruinen des Hofes trägt, zur Rechten die Felswände, die einst das Jagdgut des Barons Malatesta abschlossen . . . die Neger brauchen das Wild nur in die Tiefe zu scheuchen, man hat es bequem genug, das enge Defilee mit seinen Kugelspritzen zu versperren.

Man wartet übelgelaunt auf die Treiber, selbst den Leuten ist nicht wohl bei diesem verruchten Metzgerhandwerk – ja bitte, wir sind ehrliche Soldaten, wir mögen wohl bei einer Panik einmal Unfug anrichten, wir sind aber durchaus nicht dazu da, mit kühlem Blut auf Wehrlose zu schießen. Mißmutig hüllt man sich in gräuliche Dampfwolken, die Gespräche über die Erlebnisse vor zwanzig Jahren in den Schützengräben der Pikardie wollen nicht recht in Gang kommen. –

Es ist schon später Nachmittag, als man das Geschrei der Treiber hört; ihre Feuerbrände leuchten schon in dem dunklen Knieholz. Und dann mit einem Male braust sie heran, des Gottseibeiuns schwere Kavallerie . . . die Erde zittert, das erste Geschwader verwilderter Büffel, mit armseligem Rehwild vermischt und mit Bergschafen als Plänkler, saust heran mit gesenkten Köpfen auf die wartenden Leute. Der Stier an der Spitze . . . das ist der Regimentskommandeur, er trägt den Schwanz kerzengerade in der Luft, er scheint Feuer zu 57 schnauben, man kann schon den assyrischen Vollbart unterscheiden und die schiefen Teufelsaugen: es ist überhaupt kein Büffel, der Satan selbst ist es, der seine unterirdischen Schwadronen zur Attacke führt.

Der Kapitän Jackson lacht ein wenig nervös, er legt die Büchse auf den Riesenkerl an. Er hat zum ersten Male im Leben sein kühles Blut verloren . . . die Kugel geht weiß Gott wohin, der Satan rast mit gesenkten Hörnern gerade auf Jackson los, es ist hohe Zeit, daß die Leute ohne Kommando das Ihre tun. Und nun werden sie losgelassen, diese elenden Maschinen, rattern wie riesige Kammräder, rasseln die Schüsse aus den Rohren . . . das stolze Geschwader wälzt sich, brüllend vor Wut und Schmerz, auf dem Boden vor dieser elenden Menschenbestie mit ihrem feigen Werkzeug.

Eine zweite Front braust heran, eine dritte . . . man hockt bequem hinter seinen Kugelspritzen und könnte doch heulen dabei vor Ekel und Scham über diese Schlächterei.

Zum Schluß sind nur noch die Nachzügler fortzuknallen, die Schwachen, die armen Ausreißer, die in den Seitenschluchten vergeblich Schutz gesucht haben, Schmaltiere, vereinzelte Hirschkühe, die mit ihrem Jungwild daherkommen: da setzt es heran in zierlichem Kantergalopp, es sucht, als es rechts und links die Gefährten fallen sieht, die armen Kinder zu decken . . . es ist dumm genug, nicht zu wissen, daß die Menschenkugel durch den Mutterleib hindurch die Kinder erreicht. Es wirft sich, weidwund geschossen und mit heraushängenden Därmen, dicht vor den Menschen hin, es bricht in die Knie, bettelt mit wirbelnden Läufen und weinenden Augen: Gebt uns Erbarmen . . . gebt uns Gnade . . .

Da Erbarmen und Gnade unter den Maßnahmen des Doctor Schirwind zur Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse 58 in Eucalypto sich nicht befinden, so gibt man den letzten Nachzüglern den Gnadenschuß und sieht, wie sich gleich darauf die Neger auf die Kadaver stürzen, und wirft sich ins Gras und mag nichts mehr sehen und hören . . .

Es ist schon sinkendes Licht, als der Zug mit den Toten von gestern auf den Serpentinen des Weges zu sehen ist: der Mönch Joannes an der Spitze, der so dem heiligen Georg seines Klosters ähnelt, fünf Maultiere mit fünf Schinderkarren, auf jedem ein uhrkastenenger Sarg, neben jedem die nächsten zwei Angehörigen, die man allenfalls zugelassen hat. Das Psalmodieren des jämmerlichen Zuges dann und bange Responsorien und die gleichgültigen Gesichter der geleitenden Sicherheitsleute: Briten, Deutsche, Franzosen . . . versprengte Söldner aus den ehemaligen Kaiserarmeen des alten Europa . . . was geht sie wohl die Todesnot der fünf Stillen dort an?

Und dann kommt man zu der Stelle oben beim verbrannten Gehöfte des Matteo Malphigi; bis zum Meere und in alle Täler kann man von dort sehen, als stünde man auf dem Fußschemel Gottes. Und wie man sich um die in aller Eile geweihte, große Mergelgrube schart, siehe, da lösen sich allerlei Gestalten aus dem Knieholz ringsum: der Küster Giacomuzzi und der Großbauer Marzabotto, der Kneipenwirt Caserio, junges Volk endlich, das noch niemand bei einer geistlichen Handlung sah, und Weiber vor allem, verzweifelt schluchzende Weiber. Und alle werfen sie sich auf die Knie mit ihren Lasten vor dem fremden Offizier, der sie ja eigentlich nach seiner Weisung fortschicken müßte: »Nun, so sei schon barmherzig, vertreibe uns nicht von unseren Toten . . . nein, sei barmherzig, wenn du auch zehnmal ein Fremder bist!«

Jackson sieht seine Leute an: ehrliche Soldaten, die ihn nicht verraten werden! Er deckt die Hüllen von den Lasten der 59 Jammernden ab, er bleibt überrascht stehen: die steinerne Schmerzensmutter aus der niedergerissenen Kirche, der heilige Christophorus von der Chormauer . . . alle steinernen Heiligen der alten Kirche sollen, da sie nun heimatlos geworden sind, mit den Toten begraben werden . . . Ja, seltsames Volk diese Leute von Eucalypto . . . nun, in Gottes Namen also.

Und nun hebt man auch noch einmal die Deckel der Särge, und da liegen sie alle in Gottes scheidender Sonne, diese armen Toten: Nanna, die Bötin mit ihrem Kind an der Brust – Mutter und Kind hat ein einziger Schuß fortgenommen – sei gesegnet, Nanna, um der schmerzlichen Mutter willen wirst du sanft schlafen. Die alte Virgilia, der schlimme Geizhals des Dorfes, die Wäscheknöpfe in den Opferstock getan und vor dem Allerheiligsten ausgespien hat; und nun lächelt sie so sanft wie nie in ihrem Leben, obwohl die Kugeln ihre ganze Brust zerrissen haben. Der Krämer Zanichelli preßt seine Hände gegen den Kopf und grinst in den Himmel hinauf und findet es offenbar höchst seltsam, an dieser Stelle und mit diesem frommen Kondukt begraben zu werden . . . er, der ein verspäteter Garibaldianer und Freigeist gewesen ist. Dafür ist die kleine Ziegenhirtin Marietta, sie, die Dorfkretine, ganz sanft lächelnd eingeschlafen . . . Ja, liege nun gut so . . . beati illi pauperi animo . . . Was aber soll das Schreien der Weiber dort um den fünften Sarg? Ach seht nur – ein Kind liegt darinnen, ein unbekanntes Kind, es mag von Siliqua oder von Tortoli herübergelaufen sein, Gott allein weiß es. Da liegt es in seinem blutüberströmten Hemdchen, hat am Bande den kleinen Holzesel nach sich gezogen bis in sein Grab, hat die Augen weit aufgerissen im Erstaunen über diesen wilden, schrecklichen Tod, wird nun trüb Wasser trinken und faul Holz essen . . . sagt, gibt es einen Gott, der solches geschehen läßt?

60 Und nun hebt der Mönch die Hände, und dann sind das zuerst nur die Totengebete der uralten, der weisen Kirche, die so viele schon, Enkel zu Ahn bettete und Vater zu Sohn: requiem aeternam dona eis, domine, et lux aeterna luceat eis . . . und einen gab es, an dessen Krippe stand Ochs und Eselein, und die Wehrlosen waren es, die er liebte. Und plötzlich, da gellt wie eine Geißel die Stimme über die seltsame Gemeinde, daß die Leute entsetzt den Mönch anstarren: »Begrabt eure Heiligen, eure Heimat begrabt und eure Hoffnung! Gott schläft . . . verhüllt hat Gott sein Antlitz . . .«

Dies ist keine Totenmesse, wie Don Bernardo sie halten könnte mit seinem goldenen Gebiß, mit Ministrantenknixen und Glockengebimmel! Hört, nun liest er auch für die steinernen Heiligen die Totengebete, nun betet er . . . Ja, wirklich selbst für die toten Tiere unten im Tale betet er: es ist eine unheilige, eine lästerliche Predigt; der Prior von San Giorgio würde ihn aus dem Hause jagen, wenn er sie hörte.

Und doch liegen sie alle jammernd auf den Knien, die Weiber, die allenfalls vor dem Allerheiligsten knixten, diese armen Kinder ihrer verwüsteten Heimat, die Grant zu Proletariern gemacht hat, diese Arbeiter aus den Steinbrüchen selbst, diese Söldner sogar, die morgen wieder ihre Zotenlieder singen werden, wie sie gestern es getan haben: »Erbarme dich, Herr, über den großen Jammer deiner Schöpfung erbarme dich!«

Da läßt man die Särge hinab, springt hinunter in die Grube, stellt um die Toten als Wacht die steinernen Heiligen. »Wir sahen auf euch, sahen Ahn und Enkel kommen und gehen . . . tot ist nun die Heimat, nun gehen wir schlafen mit euch!«

Dann knirschen die Schaufeln, Kiesgarben verschütten den heiligen Georg . . . nun denn, wache du gut bei den Toten mit 61 deiner Lanze! Die Weiber weinen bitterlich: die Gottesmutter ist nun auch schon verschwunden in der Erde . . . des Erlösers Dornenkrone nur schaut noch ein wenig hervor aus dem Mergel. Ein Windstoß fegt mit dürren Blättern über das Grab, der Küster Giacomuzzi spendet noch eine Schaufel: nun ist auch er begraben, der Gekreuzigte . . .

Sie schleichen zurück auf getrennten Wegen. Oh, dies war eine unheilige, eine gotteslästerliche Predigt, die Seelen hat sie zerrissen! Man wird ja morgen wieder drei Meineide schwören für eine Zeche beim Caserio, man wird dem Maulesel, wenn er nicht weiter kann, das Kreuz mit dem Balken zerbrechen, man wird in Elihu Grants Saloons Niggerlieder grölen . . . alles, alles wird sein wie immer. Wie denn aber, hat der Mönch wirklich gesagt, daß Gott einst wieder erwachen werde?

Der Mönch, allein geblieben bei dem Grabe, schlägt seine Stirn wund an den Steinen: »Wo . . . wo bist du?«

Er erhebt sich, er weiß nicht, wo Gott ist. Er sieht hinab ins Tal: ein helles Licht steht über der Ebene, so hell, so hell, als sei da ein neuer Stern aufgegangen über der wirren Welt.

Es handelt sich aber nur um einen der neuen Mammut-Scheinwerfer, die den Bauplatz von Unitrusttown beleuchten. 62

 


 


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