Fritz Reck-Malleczewen
Phrygische Mützen
Fritz Reck-Malleczewen

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Die Fabrik

Im Osten verdämmerte über Sand, Sumpf und gelben Birkenwäldern die weite Ebene, verlor sich dort weit, weit hinter den gewaltigen, den menschenleeren Forsten in das große gärende Rußland des Herbstes neunzehnhundertundfünf. In das von den japanischen Schlägen aufgepeitschte, in das Rußland der aufbrüllenden Großstädte, der zaristischen Manifeste, der meuternden Garderegimenter und der fabelhaften Straßenkämpfe.

Hier, an der westlichen Peripherie des Reiches, an der baltischen Küste, fraß die große Industriestadt sich mit den barbarischen Ausläufern ihrer Proletariersiedlungen hinaus ins Vorgelände, versammelte täglich in riesigen Meetings fünfzigtausend gegen den Zaren, gegen die Oberschicht, gegen das Kapital aufheulende lettische Arbeiter, mordete im Dunkeln, in den mittelalterlichen Schlupfwinkeln, schickte Strafexpeditionen hinaus zu den Edelsitzen, brannte, schändete und wütete gegen die aristokratische stille Kultur des Landes: »Wärest Du nur ein Sklavenhalter, wie die Fabrikherren der Stadt, wir sprengten nur Deine Schatzkammer und ließen Dich doch sonst ungeschoren! Wehe Dir aber, wenn Du ein Ritter, wenn Du ein wirklicher Herr bist mit einem anderen Hirn, als das unsere ist: so werden wir Dich auf heißen 136 Ziegeln tanzen lehren und Dich zwingen, Deines geschlachteten Weibes Blut zu saufen!« –

In der weiten Ebene im Osten der Stadt, wo die Düna seit Jahrhunderten ungeheuere Kiesbänke ablagert, lag, eigentlich eine ganze Stadt für sich, die riesige Kautschoukfabrik: Bestien rotverblendeter Verwaltungsgebäude aus kanariengelben Ziegeln, Irrgänge verräucherter Höfe, atembeklemmende Lichtschächte, ein Gewirr von Benzintanks, Kesselhäusern . . . . fünf langgestreckte radienförmig ausstrahlende Hallen mit schiefen Pultdächern . . . . das Ganze umgeben von trostlosen Eisenzäunen . . . . eine Ausgeburt des Maschinenwahnsinns, eine häßliche Spinne, die sich gierig hineinfraß in das weite Bauernland. In dieser Fabrik nun hatte man vor vierzehn Tagen die Direktoren gemordet, die zweitausend Arbeiter hatten sich, die drohende Strafexpedition witternd, mit Weibern und Kindern in einem Teil der Anlagen verbarrikadiert, hausten dort wie in einer Festung und sahen im Besitze ihrer Waffen den Dingen mit wildem Trotz entgegen.

Gegen das Novemberende schickte die Regierung, die die große Stadt allmählich einschloß, die ersten Truppen: es war Spätnachmittag und das Licht schon in völligem Schwinden, als die dritte Schwadron der kaiserlichen Chevaliergarde in die zur Fabrik gehörige Siedelung Schreyenbusch einritt. Zuerst ritt der Vorsänger mit dem SchellenbaumJedes russische Kavallerieregiment führt neben der Musik geschulte Vorsänger. und dahinter trottete der 137 Schwadronsziegenbock Iwan Pawlowitsch, und dann fielen hinter diesen eleganten und stark parfümierten Offizieren die Soldaten ein mit einem jener sechzehnstimmigen höchst kunstvollen Lieder des russischen Heeres, die wie gothische Hymnen klingen, bei deren Text sich aber doch jeder hamburger Leichtmatrose schamrot bei Seite schleichen würde . . . .

Der Ort selbst . . . mehrere kilometerlange Prospekte direkt auf den Sand gebauter Holzhäuser . . . lag absolut verlassen da, die häßliche Silhouette der Fabrik bohrte sich spukhaft in das nasse Grau. Haufen von Müll, von verrosteten Sprungfedern, Konservenbüchsen und defekten Emailgefäßen bedeckten die Straße . . . . Exkremente der Maschinen . . . . das Symbol des Proletariates. In der ungeheueren Stille klang der Gesang der Soldaten seltsam, er wurde gleichsam aufgesogen von dem grauen Chaos . . . . die Gestalten der gigantischen Cuirassiere, eingehüllt in die nassen Mäntel, glitten wie Gespenster durch den Nebel. Ein zwerghaftes menschliches Wesen, nur mit zu groß geratenem Kopf, ein zurückgelassener Kretin offenbar, lief auf den Bretterstegen neben den Panzerreitern her, machte mit seinen kreischenden Vogelschreien die Pferde scheu und war plötzlich im Nebel verschwunden, als einer der Unteroffiziere ihn vom Sattel aus am Kragen fassen wollte.

Der Schwadronschef Graf Sergej Julitsch Oronzow, der Liao-Yang und Mugden hinter sich hatte, war in einiger Verlegenheit: Verstärkungen hatte er erst nach einigen Tagen zu erwarten, für den Augenblick stand ihm 138 hier, zwischen der unbezwungenen Stadt und dieser Zitadelle des Pöbels nur diese eine Schwadron zur Verfügung, und stündlich konnten diese in der Fabrik versteckten zweitausend desperaten Menschen seine schwache Truppe überfallen. Auf dem großen Platz, wo ein altes, auf runde Holzsäulen gestütztes Herrenhaus von verschollenen Tagen patrizischer Behäbigkeit träumte, ließ er absitzen. Ehe die Schwadron auseinanderging, gab er seine Befehle für die Nacht: die Leute hatten sich mit umgehängtem Pallasch und schußbereitem Karabiner niederzulegen, jedes Haus hatte einen Doppelposten zu stellen, die Wachen bei den Pferden waren zu verdoppeln. Er selbst beschloß, da die Fabrik auffälliger Weise auch nicht die geringste Spur von Leben zeigte, die Dunkelheit zu benützen, um mit der Abteilung des Unteroffiziers Nikiforoff II wenigstens das vordere Verwaltungsgebäude auszukundschaften.

Die Cuirassiere, vierzehn Mann nebst den drei Schwadronsoffizieren, gaben sich alle Mühe, leise zu sein auf den steinernen Treppen, durchschlichen die unverschlossenen Räume des oberen Geschosses, tasteten sich mit schußbereiten Waffen an den langen Bureautischen vorwärts, unterdrückten abgründige und für europäische Begriffe unausdenkliche Flüche, wenn einer der ungefügen Pallasche auf dem Boden klirrte. Die Fliesen waren mit einem undefinierbaren Chaos zerrissener Briefe, von Trümmern zerstörter Schreibmaschinen und unsäglich verschmutzten Lumpen bedeckt, in der Privatkabine, wo sich das Drama mit den Direktoren abgespielt haben mochte, 139 zeigten sich, als Oronzow für Sekunden das Taschenlicht aufblitzen ließ, Kugelspuren in dem pompejanischen Rot der Wände, unter den Trümmern einer Theemaschine und den Scherben zertrümmerter Portweingläser war eine blutbesudelte Sammlung obszöner Photographieen zu entdecken. Da die Fensterscheiben zerbrochen waren, hatte die eingedrungene Feuchtigkeit alles zu einem kadaverhaften Brei gemacht, der Wind, der draußen zu sehen begann, pfiff mit seltsamen Stimmen in diesen verlassenen, aus hunderte von geschäftigen Menschen berechneten Räumen, daß die Leute sich bekreuzigten. Von der sagenhaften Besatzung der Fabrik war nichts zu bemerken.

Oronzow, in dem die Abenteuerlust des alten Reiters erwachte, öffnete die eisenbeschlagene Tür in der Hinterwand des letzten Raumes. Ein unendlich langer Gang, die Überleitung wohl zu den Fabrikräumen, klaffte ihm entgegen; schmale Tische dehnten sich an der unabsehbaren Fensterreihe, im aufblitzenden Lichtschein las Oronzow die Etikette einer der herumliegenden Pappschachteln und erkannte, daß hier ein paar hundert anämischer Weiber »Gummigötzen für den Export nach Zentralafrika« gepackt hatten; ah, wie sie doch keine Seele hatten, diese fremdblütigen WurstmacherRussische Bezeichnung für die Westeuropäer. . . . wie sie doch keine Seele hatten!

Sich weiterschleichend erreichte er am Ende des Ganges eine zweite Eisentür, aus der eine kurze Treppe direkt in 140 eine der Maschinenhallen führte. Hinunterspähend von der Galerie in den mächtigen Raum, sah der Offizier die phantastischen Schatten dieser eisernen Leviathane gegen den Abendhimmel sich abheben, sah die unentwirrbaren Linien unzähliger Riementransmissionen, sah hinab in dieses Labyrinth von Schlupfwinkeln, aus denen jederzeit kleine graue Nachtalben mit blutgierigen Lettengesichtern sich auf seine ehrlichen russischen Bauern stürzen konnten. Wo in aller Welt steckte diese Besatzung? Nun ja, Gott mochte wissen, wieviel solcher Hallen es hier gab, was alles sich in den Kesselhäusern, in den Kohlenräumen, in den Kellern und Tunneln verbergen mochte! Er lauschte angespannt in den Saal hinab. In den Transmissionen heulte der Wind, verfing sich in den eisernen Schlünden der Maschinen. Im Begriff, endlich die Tür zu schließen, zuckte Oronzow zusammen: der Wind hatte etwas Seltsames . . . Lachen . . . Worte . . . nein nur den Schatten, die Geister menschlicher Stimmen herübergeweht.

Er wandte sich an den hinter ihm stehenden Unteroffizier: »Hörtest Du nichts?«

Der Andere lauschte mit gerunzelter Stirn: »Nein, Ew. Hochwohlgeborn!« Aber er bekreuzigte sich.

Der Rittmeister schloß leise die Tür und ließ die Lampe aufleuchten. »Was hast Du da?« Er zeigte auf ein undefinierbares Etwas, das aus dem Rock des Unteroffiziers hervorlugte, erkannte dann bei näherem Zusehn das altkluge Gesicht eines Igels, der im Lichtschein blitzschnell sich zu einer stachlichten Kugel zusammenrollte.

141 Der Unteroffizier lachte über sein ganzes pockennarbiges Gesicht: »Petruschka, mit Verlaub, Ew. Erlaucht . . . es ist Petruschka. Wir haben ihn im fernen Osten gefangen und führen ihn mit uns, weil sich an seinen Stacheln mit Verlaub zu sagen die Krankheiten der Pferde verfangen.«

Oronzow wandte sich nickend ab, ging den Weg zurück, den sie gekommen waren, in den letzten der Bureausäle. »Nun, Du wirst also hier wachen mit den Leuten diese Nacht.«

Der Andere lachte wiederum in seiner fröhlichen Zuversicht, wies über den Rücken hinweg nach den Maschinenräumen zurück, wo der unsichtbare Feind stehn mochte: »Es soll ihnen nicht gelingen!«

Oronzow faßte nach dem Kettchen, das Nikiforoff bei der Bewegung aus dem Koller geglitten war. »Du trägst die IberischePopuläres Marienbild. bei Dir?«

»Jawohl, Ew. Erlaucht, die Iberische und auch das Mütterchen von MoskauPopuläres Marienbild.. Aber die Iberische ist besser.«

»Nun gut. Gib also gut acht auf die Eisentür. Christus sei mit Dir.« Und er wies auf jenes Gatter, hinter dem vor einigen Wochen noch ein paar hundert anämische Weiber Gummigötzen für den Export nach Südafrika in etikettierte Pappschachteln gepackt hatten. Dann überließ er den Unteroffizier Nikiforoff II nebst seinen Leuten seinem Schicksal.

* * *

142 Der Cuirassier Ilja Fomitsch Gontscharow, der auf dem Alarmplatz vor der Fabrik von zwei bis vier Uhr Nachts die »verfluchte Wache« hatte, dachte an die Schlacht bei Mugden, die er mitgemacht hatte und dachte wieder einmal daran, wie sie irgendwo in einer der öden Schluchten eine der schlecht berittenen japanischen Offizierspatrouillen niedergemacht hatten und erwog wieder einmal die Frage, ob es wirklich gerecht vor Gott gewesen sei, auf diese Japaner zu schießen. Gut, es war von den Vorgesetzten befohlen worden, auf die Japaner zu schießen, aber sieh mal, Iljutschetschka, führten denn die Japaner nicht auch nur die Befehle ihrer eigenen Vorgesetzten aus, wenn sie ihrerseits auf die Russen schossen? Und mußte man sie denn da nicht nach Gottes Willen verschonen?

In diesem Sinnieren, wie man in solchen Fällen Gottes Willen am besten erfüllen könnte, wurde der Posten durch drei . . . vier aus dem Fabrikgebäude kommenden Schüsse aufgestört, denen dann nach einer kurzen Pause ein einzelner langgezogener Schrei folgte . . . ach ja, ein ganz schrecklicher Schrei, und genau so hatte es geklungen, wenn längst der mandschurischen Bahndämme die Tungusen ihre Schafe geschlachtet hatten: diese Teufel, die den Tieren die Eingeweide aus dem Leibe rissen, ohne sie vorher getötet zu haben . . . Im Gedenken an dieses oft gesehene Bild schoß der Cuirassier seinen Karabiner in die Luft, der Posten vor dem Quartier des Rittmeisters, alle übrigen auf den Gassen antworteten . . . drüben jenseits des Platzes 143 schmetterte der aufgeschreckte Stabstrompeter das Signal »Katji letji streloi»Auf und fliege wie ein Pfeil.« Populärer Text für das russische Alarmsignal.« in die Nacht . . . dieser Teufel, der zuviel Schnaps getrunken hatte und sich auf dem hohen Ton mit »streloi« überschlug.

Im Augenblick war die Schwadron, die Pallaschgurte umwerfend, auf den Beinen mit verschlafenen Gesichtern und schief sitzenden Feldmützen, und nur der Leutnant Dochturow war noch nicht ganz mit seinen Tragbändern fertig, als er auf die schon in Reih und Glied stehende Truppe zugelaufen kam: »Nun Du . . . Freundchen, was ist los?«

Der Flügelmann wies auf die Fabrik und die ihm zunächst stehenden Cuirassiere antworteten, beinahe im Chore: »Der Teufel, Ew. Hochwohlgeborn, ist los. Aber wir werden ihn mit Gottes Hilfe wieder an die Kette legen.«

Vor dem Verwaltungsgebäude ließ Oronzow, der beinahe als Erster auf dem Alarmplatze gewesen war, ausschwärmen. Er selbst betrat mit einem ganzen Zug die Räume, in denen er gestern den Unteroffizier Nikiforoff II gelassen hatte. Irgendwo hinter ihm zündete ein Übereifriger Licht an. »He, Du Teufel, willst Du wohl das Licht . . .« Ein Schuß pfiff gleichwohl an seinem Gesicht vorüber, zehn, zwölf weitere fuhren, als das Licht erloschen war, mit scharfem Peitschenknall in die Decke, fernes Gelächter kam aus dem Dunkeln, flüchtige Schritte trappelten über den Estrich, ganz weit, 144 dort in dem Gang, wo die Fabrikmädchen die Götzenbilder verpackt hatten. Dann war es stille.

In dem Raum, in dem der Unteroffiziersposten gelegen hatte, roch es widerlich stark nach frischem Blut. In dem grauen Lichte der Dämmerung – es wollte zum ersten Male seit Wochen ein heller Tag werden – erwies es sich, daß von den am Vortage hier zurückgelassenen Leuten auch nicht ein Einziger am Leben war. Die beiden Posten vor Gewehr waren erschossen, sie lagen an der eisenbeschlagenen Tür und waren übereinander gestürzt, die Anderen hatte man mit Messern ermordet, ehe sie wach geworden waren . . . Ja, sie hatten elendige Knebel im Munde, und diese lettischen Teufel hatten ihnen die Kehlen durchschnitten. Der Unteroffizier Nikiforoff II stand zwar als Einziger aufrecht, aber er stand auf dem Kopfe . . . Ja, diese gottlosen Räuber hatten ihn an die Holzwand genagelt . . . durch die Hände und mitten durch das Stiefelleder gingen große neue Nägel, und er hatte sich wie die Anderen verblutet durch die Wunde im Hals. Neben ihm, mit einem finnischen Messer an die gleiche Wand gespießt, verzappelte der Igel Petruschka, der von den Pferdeställen die bösen Geister hatte fernhalten sollen, und nun rollte er sich nicht mehr zu einer Stachelkugel zusammen, und in seinen Augen standen, als Oronzow ihn beleuchtete, wahr und wahrhaftig zwei dicke Tränen. Das Abscheulichste – man hatte den Toten die Kleider vom Leibe gezogen, sie streckten den Soldaten die Blöße entgegen, und in das dicke Fleisch des Gesäßes hatte man 145 mit Messern das Regimentsmonogramm eingeschnitten . . . ach Jesus ja, ach großes Erbarmen . . .

Oronzow, der in seinem Leben Mancherlei gesehn hatte, betrachtete alles mit sachlicher Ruhe. »Nun sieh mal« dachte er »das haben sie ganz ordentlich besorgt diese Teufel, das haben sie wirklich ordentlich besorgt. Aber wir werden es Ihnen . . .« Er wußte, wie man sie bestrafen werde, ja, mit einer guten großrussischen Strafe, diese fremdblütigen Teufel. Die Cuirassiere um ihn traten mit den schweren Reiterstiefeln verlegen auf der Stelle. Der Leutnant Dochturow, sehr stark nach peau d'Espagne duftend, war totenblaß geworden und zitterte und führte ein spitzenbesetztes Taschentuch vor die Nase. »Wenn Sie das nicht ansehn können, Alejej Fjodorowitsch« fuhr Oronzow ihn an »so hätten Sie Advokat werden sollen!«

Er schrie den Offizier an, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit der Soldaten zu nehmen. Dann ließ er die Toten vor das Gebäude tragen.

* * *

Am nächsten Tage war wirklich der Frost da, man konnte über die Ebene weit nach Osten bis zu dem Gebirgszug sehn, dorthin, wo die Düna durch den Granit bricht. Über die glashart gefrorenen Wege kam die Verstärkung . . . zwei weitere Schwadronen mit schweigender Musik . . . der Kommandeur hatte mitten im Marsch, als ihn die Nachricht von den Ereignissen der Nacht erreicht hatte, abbrechen lassen. Die Cuirassiere, 146 wohlhabende, freiwillig dienende Bauernsöhne aus den weizenreichen Wolgagouvernements, blickten finster vor sich her, in ihrer Regimentsehre getroffen. Dann kam der Stab und die Burschen des Kommandeurs, berittene Infanteristen, ziemlich verunglückt auf den hochbeinigen Handpferden ihres Herrn sitzend. »Hund auf dem ZaunNeckwort der berittenen Truppen für reitende Infanteristen. . . . seht Freunde die Hunde auf dem Zaun!« schrieen die Cuirassiere Oronzows, die auf der Dorfstraße vor ihren Quartieren stehend das Lederzeug künzelten. Aber die Infanteristen waren zu einer Antwort nicht zu bewegen und ritten stolz vorüber. Dann rasselten auf ihren Karren die Maschinengewehre mit schlitzäugigen und pockennarbigen Kaukasiern auf den Sitzen heran. Die Oronzowschen kritisierten die kleinen Pferde: »Nun sieh doch nur, sie haben Mäuse vor den Lafetten statt der Pferde!«

»Ja . . . ja« schrie es im Chorus »sie haben ihre Pferde in Mausefallen gefangen, diese Teufel.« Man lachte und dachte augenblicklich nicht an die zerfetzten Kameraden aus der Fabrik. »He!« schrie es von den Lafetten fröhlich zurück »he, ihr KlempnerburschenRussischer Armeespitzname für die Cuirassierregimenter., wir hören, daß der Teufel über Euch gekommen ist in dieser Nacht?«

»Ja, aber wir werden ihn wieder in die Hölle schicken mit Gottes und mit Eurer Hilfe!« antworteten die Cuirassiere und polierten die Kinnketten in den bloßen Händen. –

147 Der Kommandeur hatte eine Unterredung mit dem Rittmeister Oronzow, die dieser mit hochrotem Kopfe verließ. Wie, man sollte systematisch belagern? Man sollte es in den Kauf nehmen, noch mehr gute Leute dabei zu verlieren, weil die in Petersburg befohlen hatten, keine Werte zu zerstören? Man konnte das Nest hier mit Einem ausheben . . . man brauchte bloß die Benzinkessel ringsum anzuzünden . . . aber die in Petersburg würden schon sehn, wohin sie selbst kommen müßten, wenn sie die Revolution mit Cremechocolade bekämpfen wollten! Er wiederholte wütend »Cremechocolade« und ließ mißlaunig den Pallasch auf dem frostharten Boden klirren und begab sich dann an die Stelle, wo man den gestern Gemordeten das Grab gegraben hatte.

Das war in den Sandbergen, dort, wo vor Jahrtausenden der durchbrechende Strom den Humus der Ebene unter gewaltigen Kiesbänken begraben hatte . . . ein unheiliger Ort, eine alte Richtstätte der großen Stadt in ihren hansischen Zeiten, durch Spukgeschichten übel beleumundet. Da war nun also ein sehr tiefes, mit Tannenzweigen ausgestecktes Grab, und zuerst umschritt es der Regimentspope in weitem Geviert und segnete den Toten, den Himmel darüber und in Christi Namen die Erde und das Wasser, die ihren Leib auflösen würden; und da waren sie nun selbst, diese armen Puppen mit ihren Glasaugen und den Leinentüchern, die ihnen die Todeswunden verhüllten . . . Ja, da waren sie und die langen, schweigsamen Züge ihrer Kameraden, die mit 148 schwerfälligem Reiterschritt an ihnen vorüberzogen. Da waren Rauchfässerdunst und Chorknaben, und dann im jungen Kiefernholz die weite Schar knieender, barhäuptiger Soldaten mit ihren aristokratischen Offizieren, und wiederum in der Mitte dort der Priester mit dem unendlich langen, weißen Bart und die altslawonischen Gesänge und die Worte des Totenzeremoniells . . . gospodji pomiluj . . . Herr erbarme Dich . . . Ja irgendwo mochte der große Gott, der das Geheimnis und die Ursache aller menschlichen Roheit und alles Leides der Kreatur kennt, sitzen und sich über den geschlachteten Unteroffizier Nikiforoff II erbarmen und über die vierzehn Cuirassiere vom Regiment Chevaliergarde und den Igel Petruschka mit den Tränen in seinem Auge . . . Ja, ja, auch über das Igeltier und Gottesgeschöpf Petruschka. Hier aber geschah es, daß am Schluß der Totengebete, als der priesterliche Mund schon verstummen sollte, aus eben diesem Munde ein Wort kam, ein blitzschnell wie ein Peitschenhieb zuckendes Wort, das nichts von Erbarmen wußte, sondern nur von Rache . . . ah, von einer befreienden, großrussischen Rache an den fremden Mördern. Da geschah es weiter, daß plötzlich ein einzelner Soldat von der Leibschwadron, ein baumlanger, blonder Mensch aus dem tambowschen Gouvernement aufstand und vor dem vorgehaltenen Kreuz des Popen kniete und mit weithin schallender Stimme auf den Crucifixus schwor: wie er nicht ruhen werde, bis er den Tod der Kameraden an den Mördern gerächt habe, an den Mördern und ihren Weibern und ihren Kindern, und sie 149 ausgerottet habe bis zum Allerletzten. Und wie er, so kamen sie alle, einer nach dem andern . . . kamen Cuirassiere und kubansche Kosaken und kaukasische Schützen . . . kamen diese Gardeoffiziere mit Rußlands großen Namen . . . kamen sie und schwuren auf das Zeichen der Liebe blutige Rache, schwuren es in Scharen, schwuren es einstimmig in ganzen Chören, daß die tiefen Männerstimmen weit hinausschallten in den hellen Tag. Und so lag das ganze klirrende Reiterregiment auf den Knieen und schwur und betete zu dem großen russischen, dem langbärtigen Gott, der ist nicht wie andere Götter. Sondern er sitzt unter herbstgelbem, mächtigem Ahorn auf einem Thron von poliertem Birkenholz, und um ihn ist weites, fruchtbares Land und das gewaltige russische Volk, vor dem dereinst die Völker des Westens allesammt vergehn werden. Amen.

* * *

Sieh, dies waren nun die winterhellen Tage vor Weihnachten mit grimmig klirrendem Frost und eisigen Winden und dunklen Nächten und pechschwarzem Himmel und übergroßen, bösen Sternen. Chevaliergarde und kubansche Kosaken hatten denen in der Fabrik das Wasser, das Licht und jedwede Zufuhr abgesperrt und hielten den gewaltigen Komplex mit seinen zweitausend und noch mehr Insassen, nebst Proletarierweibern und hungernden Kindern umspannt mit ihren Ketten, daß keine Maus hätte hindurchschlüpfen können. Ja, zunächst war es wohl so, daß die Besatzung im Bewußtsein 150 ihrer größeren Menschenzahl die Belagerer verspottete, daß sie ausgestopfte Puppen in russischen Uniformen an den Fenstern erscheinen ließ und die wirkungslos im Mauerwerk verprasselnden Salven der Soldaten mit höhnendem Lachen beantwortete, auch vom Uhrturm die rote Fahne im eisigen Ost flattern und durch die Nacht die wilden lettischen Haßgesänge hören ließ, daß es schaurig zu den Posten herüberklang. Aber dann war die schreckliche Kälte gekommen . . . und kein Wasser . . . und Hunger . . . Hunger . . . Hunger von zweitausend verzweifelten Menschen. Es war ihnen zu nichts nütze, daß ihre Kugeln ab und zu einen von den Belagerern erwischten, wenn die draußen sich aus ihren Erdlöchern wagten, es nützte zu nichts, daß diese rasenden Arbeiter eine oder die andere Wache nächtlings überfielen und ihr das Schicksal des Unteroffiziers Nikiforoff II bereiteten. Die Erbitterung wuchs, die Kette hielt, der Hunger quälte mit wütender Marter, man hörte draußen im Dunkeln die frierenden Kinder heulen und wachte gut und unerbittlich.

Am zwölften Tage dieser Belagerung geschah es, daß vor dem Cuirassier Ilja Fomitsch Gontscharow, der mit dem Maschinenschützen Gregoraschwili aus der nach der Stadt zu gelegenen Seite stand und zur Stunde wieder daran dachte, daß die bei Mugden niedergeknallten Japaner nur die Befehle ihrer Vorgesetzten ausgeführt hätten . . . Ja, da geschah es also, daß hier, wo die verlassenen Kleingärten der Proletarier an das Fabrikgebäude stießen, aus dreihundert Meter Entfernung eine 151 graue Weibergestalt erschien, sich scheu nach allen Seiten umsah und dann die mitgebrachte Hacke in den vereisten Boden sausen ließ: versteht sich, um die letzten noch in der Erde steckenden erfrorenen Kartoffeln zu bergen. Gleich darauf geschah es, daß ein zweites, ein drittes und ein viertes Weib erschien, daß andere mit zerlumpten Kindern folgten und allesammt gierig an sich rissen, was da zu finden war.

»Heda Freundchen! Es ist in diesem Falle nicht erlaubt, zu schießen!« Und der Cuirassier Gontscharow riß dem schlitzäugigen Kaukasier neben sich die Hand noch gerade im letzten Augenblick vom Abzug fort.

Der Andere sah ihn erstaunt von der Seite an: »Und warum nicht, wenn es Dir zu antworten beliebt?«

»Nun, Du magst ruhig auf diese Teufel, ich meine auf die Männer schießen, aber es ist vor Gott ganz und garnicht erlaubt, auf die Kinderchen zu schießen.«

Da der Streit der Beiden des Weiteren heftiger und mit lauten Stimmen geführt wurde, so kam es, daß ohngeachtet aller Gefahr die benachbarten Posten auf die Beiden zukrochen und die Auseinandersetzung mit anhörten. Und da inzwischen die Weiber ungestört weitergruben und die Besatzung der Fabrik ihrerseits zu feuern sich wohlweislich hütete, so bildete sich an Ort und Stelle ein richtiger Debattierklub, ob man angesichts der Kinderchen feuern dürfe oder nicht. Man sprach sich also gegen das Schießen auf die Kinder aus oder bekannte sich dazu, und schließlich erschienen an den Fabrikfenstern sogar die Verteidiger, die einen Streit witterten 152 und etwas von den Worten zu erhaschen suchten. Bis die Frage dann von einem schmächtigen Unteroffizier der kubanschen Kosaken entschieden wurde: »Du gibst doch wohl zu, mein Lieber, daß die Väter dieser Kinder, nämlich diese lettischen Teufel, keine Seele haben?«

Der Cuirassier Ilja Fomitsch Gontscharow nickte.

»Nun, und von den Weibern, da sie sich an der Schlachtung der Euern beteiligt haben, gibst Du es auch zu? Gut: also wenn die Väter keine Seele haben und die Mütter haben sie auch nicht, wie sollen die Kinderchen dann eine haben?«

»Nein, nein, es ist wahr, daß sie keine Seele haben. Diese Fremden haben ganz und gar keine Seele.« Damit lief die Versammlung wieder auseinander. Der Cuirassier Gontscharow hob den Karabiner und zielte sorgfältig auf das zuerst erschienene Weib, das denn auch prompt mit Blitz und Knall umkugelte. Sofort fing die ganze Postenlinie auf die Weiber zu feuern an, die mit kreischendem Schreien unter Zurücklassung ihrer Kartoffelkörbe auf das Tor zuliefen, in der Todesangst ihre eigenen Kinder niedertraten, zum größten Teil aber auf dem gefrorenen Boden liegen blieben. Zugleich fing die erbitterte Besatzung zu schießen an, und es begann ein Gefecht, das die ganze Nacht hindurch währte und bei dem die Truppen erhebliche Verluste hatten. Man sah in der Frühdämmerung die eingeschrumpften, weiß bereiften Leiber der Toten auf der steinharten Erde liegen.

In diesen frühen Morgenstunden war es merkwürdig 153 still. Dann aber hörten die frierend in ihren Löchern hockenden, die erbitterten Soldaten von der Fabrik her erregtes Schreien, eine wütende Auseinandersetzung zwischen irgendwelchen Parteien in dieser verzweifelten Besatzung, klägliches Geheul der hungernden Kinder und das Keifen rasender Weiber, die mit kreischender Fistel in den Streit sich einmischten. Dann ward es wieder stille.

Um neuen Uhr morgens nach der ersten Ablösung öffnete sich auf der Nordseite das große Fabrikportal, und heraus drängte mit roten Fahnen und mit Schreien, die nichts mehr Menschliches hatten, diese rasende Besatzung: Männer und Weiber durcheinander, halbwüchsige Burschen mit exkrementalen Gesichtern . . . nicht Letten allein . . . die ganze vielfarbige Palette des russischen Proletariats . . . Polen, ausgemergelte Sachsen, französische Metallarbeiter, rasende chinesische Kesselheizer . . . alle mit glühenden Augen, alle mit dem wütenden Haß der Unterirdischen gegen das singende Leben . . . Weiber mit finnischen Dolchen zwischen den Zähnen . . . einzelne Schüsse knallten . . . irgend ein Bursche begann mit gebrochener und sich überschlagender Stimme die Arbeitermarseillaise zu kreischen, mit diesen rostigen lettischen Lauten . . . Weiber fielen singend ein . . . die ganze verzweifelte Schar sang und stürzte singend vorwärts.

Die überraschten Soldaten, kaum dreihundert Meter von diesem Haufen entfernt, stutzten, rissen dann die Gewehre, die in den Schnee eingegrabenen Kugelspritzen 154 hoch. »Sie haben keine Seele . . . ah, seht Ihr, wie sie keine Seele haben?«

Der Schrei stob die ganze feuerspeiende Linie entlang, der Tod fuhr unsichtbar aus den heiß werdenden Läufen, er fraß an dieser dicht sich zusammendrängenden Kolonne dort drüben, er preßte diese Schreie folternder Grabesangst aus den Kehlen, unterwühlte den Haufen der Überlebenden, schmolz ihn vollends ein, daß schließlich die rote Fahne in einem Leichenknäuel stecken blieb.

Dann sah man Verwundete die Arme hoch werfen und hörte sie, wie sie schrieen: »Gebt uns Gnade!«

Da sprengten kubansche Kosaken heran über das Feld und stachen sie mit Lanzen tot.

Es ist zu bemerken, daß von allen diesen Belagerten auch nicht Einer mit dem Leben davonkam.

* * *

Am nächsten Tage, als auch die große Stadt zur Ruhe gebracht worden war, zog das Regiment Chevaliergarde mit schmetternder Musik vom Osten her ein. Am Abend trafen sich die Offizierkorps sämmtlicher anwesender Regimenter in dem bekannten Hause der Wittwe Tritten in der Grünstraße, welches Etablissement genau so wie die Filialen in San Franzisko, Antwerpen, in Singapoore und in Buenos Aires auch nur eine Zweigstelle des großen Hamburger Haupthauses war. Der große Salon, in dem man Thee trinken und sogar soupieren konnte, ohne sich um den eigentlichen Zweck 155 des Hauses zu kümmern, war überfüllt. Man sah, durchaus getrennt von der russischen Gesellschaft, die schlanke livländische Aristokratie . . . Väter und Söhne, die sich gegenseitig nicht zu kennen vorgaben . . . dann Polytechniker, jüdische Rechtsanwälte und selbst Gymnasiasten. Man saß gerade beim Abendessen oder auch vor kleinen Brandy-Karaffen, ein Klavierspieler mit einer Porzellannase anstatt des zerstörten natürlichen Originales schlug ein Pianino . . . im Hintergrunde tanzte man mit den Mädchen, zu denen alle Nationen der Welt ihr Kontingent hatten beisteuern müssen: Lettinnen mit kaffeebraunen, spröden Haaren, Französinnen, die auf dem jährlichen Wege von der Riviera nach Petersburg hier Station machten, ältliche breithüftige Sächsinnen, die für die westlichen Märkte schon untauglich geworden waren und endlich ruthenische, galizische, polnische Jüdinnen in prachtvollem Blütenalter. Es roch nach Schminke und Weiberfleisch . . . der Manager der Wittwe Tritten saß unter den Glasstufen der großen, nach oben, zu den Separatkabinen führenden Treppe und machte für jedes Mädchen, das mit einem Kavalier sich nach oben begab, einen Strich ins Notizbuch.

Vorn, wo die Offiziere der Okkupationsregimenter saßen, führte ein alter General im Format eines russischen Bauernofens den Offizieren seines Stabes das erste von ihnen gesehene Benzinfeuerzeug vor, sah jeden beglückt und triumphierend wie ein Zauberkünstler nach einem gelungenen Kunststück an, wenn die kleine Flamme aufzuckte. Noch weiter vorn erzählten sich fünf 156 Dragonerleutnants unanständige Geschichten von der Tänzerin Pawlowa, zwei Hauptleute von der provinzialen Linieninfanterie debattierten erregt über die Frage, ob ein kaiserlicher Ukas wohl zweckmäßig sein würde, der den Popen das Abschneiden der langen Haare auferlegte. Distinguierte Gardefeldartilleristen unterhielten sich leise über die politische Lage in Moskau . . . irgendwo sah man die Spitzel der politischen Polizei . . . in der Mitte, wo mit dem Fahnenjunker Fürsten Bolkonski, dem Leutnant Dochturow und dem Regimentsarzt Michailow der Rittmeister Graf Oronzow saß, wurde das Meutern des Preobraschensk-Regimentes und der Eisenbahnerstrike ziemlich erregt erörtert. Der Regimentsarzt, aus der reichen freisinnigen Bourgeoisie stammend, ereiferte sich über die Brutalität, mit der die Regierung die Revolution niederschlug, der Fähnrich opponierte ihm, um seine Loyalität zu bekunden, überlaut, der Arzt überbot ihn, die Debatte wurde fast schreiend geführt, es war nicht zu verhindern, daß, während der nasenlose Klavierspieler die Melodieen aus Eugen Onegin herunterpaukte, sich ein Kreis uniformierter Zuhörer um den Tisch bildete. Oronzow saß schweigend dabei und trank ungeheuere Mengen Alkohol. Der Leutnant Dochturow, mit einem kristallenen Parfümfläschchen spielend, pflichtete dem Fähnrich bei: eine Regierung, die sich halten wolle, müsse von Anfang an scharf zugreifen . . . die französische von 1789 sei nur über ihre eigene Sentimentalität gefallen . . .

Der Regimentsarzt, ein wohlbeleibter Mensch mit 157 bartlosem Gesicht und randlosem Kneifer, schlug sich auf die fetten Schenkel: »Aber mein Lieber, man tötet bei uns nicht nur die Menschlichkeit . . . bitte, man tötet zugleich die Intelligenz der Arbeiter, man tötet den Fortschritt Rußlands, man blamiert sich vor Europa!«

Ein Hauptmann vom Ismailowschen Regiment fuhr, stark angetrunken wie er war, dazwischen: »Nun sieh ihn einmal, er wird selbst wohl Aktien besitzen, daß er sich so ereifert.«

Eine Pause entstand, in der nur von der Saalmitte her die höllische Zote eines ebenfalls stark angetrunkenen polnischen Gutsbesitzers laut wurde. Der Regimentsarzt bekam einen roten Kopf, seine fette Stimme überschlug sich: »Nun, was sagen Sie da? Das soll eine Schande sein? Wie? Se. kaiserliche Hoheit besitzt auch Aktien!«

Auf dieses Wort wollte man nicht erwidern. Man schwieg verlegen und spielte mit den goldenen Armbändern, die man nach europäischer Mode am Handgelenk trug. Die politischen Geheimagenten, die irgendwo ihren Thee tranken, rückten näher, nur die Linieninfanteristen stritten unentwegt weiter über die Frage der Popenbärte. Schließlich suchte der alte General zu vermitteln, indem er betonte, daß, wenn Se. kaiserliche Hoheit wirklich Aktien besäße, er sie eben zum Heile des gemeinsamen Vaterlandes Rußland besäße. Die Gardeartilleristen, reiche moskauer Kaufmannssöhne, Parvenues unter den hier versammelten großen Namen Rußlands, hielten sich aus Gründen der gemeinsamen 158 Intelligenz zum Stabsarzt. Schließlich sah man aus Oronzow, der schweigend zugehört hatte. »Nun, Sergej Julitsch . . . Ew. Erlaucht . . . seht, er hat gestern in Schreyenbusch zweitausend Arbeiter erschossen und will sich zu keiner Meinung bekennen!«

Oronzow erhob sich schwerfällig und stand plump und massig wie ein abgehackter Riese da: »Wenn ich mich zu einer Meinung bekennen soll, so ist es die, daß man Euch Intelligenten, Euch, die Fabrikbesitzer, ebenso erschießen sollte, wie die Arbeiter.«

Es entstand ein allgemeines Halloh. Die Gesellschaft, zum einen Teil der hauptstädtischen Hochfinanz entstammend, drängte sich erregt heran. Oronzow sah sie eiskalt an: »Wenn Se. kaiserliche Hoheit Aktien besitzt, so kann ich das nicht hindern. Aber Sie da . . . wenn Sie Aktien besitzen und bekennen sich zu Aufklärung und Fortschritt und nennen sich zur gleichen Zeit russische Männer, dann sage ich Ihnen, daß Sie lügen.«

Man hatte vor dem riesigen Menschen, der plötzlich einen roten Kopf bekommen hatte und die letzten Worte in einem unmotiviert erscheinenden Zorn herausschrie, zuviel Distanz, um ihn in aller Form zu stellen. Man begnügte sich also, mit überlegenem Lächeln sich auf die polierten Nägel zu schauen und mokante Zwischenrufe zu machen. Oronzow, einmal aus seinem Schweigen aufgescheucht, redete inzwischen in einem an ihm unbekannten Pathos weiter.

»Wie ich Euch doch allesammt erschießen lassen wollte, wenn ich es nur könnte . . . Ihr Petersburger mit Euerm 159 Geld und Euerm Fortschritt und Eurer Pariser Weisheit! Den Arbeiter . . . nun gut, man tötet ihn, wenn er sich zusammenrottet. Aber weshalb läßt man eigentlich Euch am Leben, die Ihr doch nichts anderes seid, als die geheimen Brüder dieser Revolutionäre?«

Das war denn offenbar doch zuviel. Die ganze Gesellschaft fuhr auf, wie ein gestörter Bienenschwarm. Die Artilleristen, als Sprößlinge des reichen hauptstädtischen Kadettentums sich am meisten getroffen fühlend, drängten heran: »Nun, wenn er sich zu dieser Meinung bekennt, so wird er sie wohl beweisen müssen . . . Ja, er wird wohl sagen müssen, warum wir die geheimen Brüder der Revolutionäre sind!«

Ein warschauer Fabrikmagnat, an das Übergewicht seiner Millionen gewöhnt, die wulstigen Lippen blau geschwellt, preschte heran: »Ja, den Beweis bitte! Den Beweis, warum wir, die Industriellen, die Brüder dieser Revolutionäre sein sollen?«

Oronzow stieg mit dem Alkohol eine ungewöhnliche Beredsamkeit ins Hirn: »Was Sie anbetrifft, Herr Starschewski oder Starschinski oder wie Sie sonst heißen mögen, so rede ich zu Ihnen nicht. Bitte ja, da Sie ein Pole sind und kein russischer Mann, so könnte ich über Rußland ebensogut mit einem Amerikaner, mit meinen Handpferden oder gar mit einem dieser Franzosen sprechen, mit denen wir ja wohl verbündet sind und die schon das allerletzte Volk sind. Aber Ihr da,« er wandte sich wieder zu den Artilleristen, »was Euch anbetrifft, Ihr Jüngelchen mit den Armbändern . . . Ihr wollt 160 wissen, warum Ihr die geheimen Brüder dieser Revolutionäre seid? Nun also, was die Arbeiter anbetrifft, so sind wir ja wohl einer Meinung, nicht wahr? Was soll man tun mit diesen Menschen ohne Hoffnung, die täglich in Reih und Glied antreten wollen, um von ihrem Staat eine Portion Wohlergehn zu empfangen? Nun, sie haben ein anderes, sie haben ein Maschinengehirn, und man muß sich ihnen entweder unterwerfen und auch zum Empfang einer Ration Wohlergehn antreten, oder man muß sie eben totschießen. Und etwas anderes gibt es nicht.

Aber Ihr! Weshalb verwandelt Ihr die Menschen überhaupt in solche Maschinisten? Nun, gab es vielleicht solch graue Menschen ohne Seele, ehe Ihr mit Euern Maschinen gekommen seid? Sind diese Maschinisten, diese Proletarier nicht in der gleichen Stunde geboren, wie Ihr, die Fabrikherren? Und was sage ich ›geboren‹? Aus dem Schoße einer Maschine gekrochen und von einem Blechkolben geprägt, genau so wie Ihr selbst und Eure Ingenieure . . . alle mit dem gleichen Maschinistengehirn? Nun ja, da es zwischen uns, die wir von Weibern geboren sind, und Euch, die Ihr aus der Maschine hervorgekrochen seid, keine Versöhnung gibt, so muß man Euch ebenfalls totschießen!«

Die Gesellschaft, zu einem riesigen Halbkreis angewachsen, stand stur und starr um den Oronzowschen Tisch herum. Ein Artilleriehauptmann, Sohn eines kürzlich erst von Se. kaiserlichen Hoheit ausgezeichneten Petroleumkönigs, begehrte als Einziger auf: »Und warum, 161 wenn ich bitten darf, wagen es Ew. Erlaucht, uns die wahrhaften Gefühle für Rußland abzusprechen?«

Oronzow sah an ihm vorbei in irgend eine unsichtbare Ferne: »Wo Ihr nun Eure Fabriken baut, waren einmal wahrhaft russische Menschen und pflügten den Boden und glaubten an Gott. Wo einmal Rußland war, da habt Ihr Eure Maschinen hingestellt und habt die russische Erde gefressen und habt lauter solch graue Maschinenmenschen herstellen lassen, die den Boden nicht mehr bebauen können und verhungern, wenn die Maschinen nicht mehr da sind und sich weder zu Gott noch zu Rußland bekennen . . . ganz wie Ihr!«

Der Artillerist schlug mit der Faust auf den Tisch: »Wir bekennen uns zum menschlichen Geist und zur Wirtschaft der Welt!«

»Zum Teufel bekennt Ihr Euch und zu den Fremden! Ja, einen Zaren hatte Rußland, dessen Nachfolger seid Ihr . . . sind Sie, Fjodor Fomitsch und Sie da, mein Herr, und Ihr alle mit Eurer europäischen Weisheit! Peter rief die Fremden, diese Holländer und diese von Gott gestraften Franzosen und diese genauen Deutschen ins Land, und man nennt ihn den ›Großen‹ deswegen. Ja, er rief die Fremden gegen unseren, gegen der russischen Leute Willen! Was hat er hinterlassen? Nun? Einen Haufen von Scherben . . . ein Land, das nicht Westen sein kann und Rußland nicht sein will! Aber ich, wenn ich schießen lasse, so schieße ich auf den Westen, auf den Fortschritt und die Wirtschaft der Welt, auf Euch und auf alle, die keine Seele haben!«

162 Er schrie die letzten Worte mit seiner vollen Bärenstimme. Der Manager, einen Skandal befürchtend, war unter der Treppe hervorgekommen und vernachlässigte es, die sich nach oben in die Separatzimmer begebenden Paare zu kontrollieren. Auch die Gäste der hinteren Räume hatten sich um den Oronzowschen Tisch gedrängt, und in den einsam gewordenen Räumen waren nur die beiden Linieninfanteristen geblieben und waren in ihrem Streit um die Länge der Popenhaare so weit gekommen, daß sie sich in die eigenen Haare zu geraten drohten. Ein Geniehauptmann war auf den Tisch gesprungen: »Was Oronzow anbetrifft,« schrie er und war des Beifalls sicher, »was Oronzow anbetrifft, so wird er an der Spitze der Chevaliergarde gegen die Feinde Rußlands ziehn . . . aber nicht mit Gewehren, da die Gewehre von Maschinen gemacht sind, sondern mit Pfeil und Bogen und mit Knüppeln!«

Oronzow ließ sich durch das wiehernde Lachen durchaus nicht beeinflussen. »Was Rußland anbetrifft . . . ich sage Euch, es wird seinen Kampf mit sich selbst erleben . . . zwischen denen, die an die Maschine und denen, die an Gott glauben. Und in diesem Kampf werdet als Erste Ihr fallen, Ihr sammt Euern Pariser Ideen und Eurer Aufklärung, sammt Euerm Reichtum und Euern Fabriken. Und da die Arbeiter den Boden nicht mehr bestellen können, so werden sie sich selbst auffressen. Und übrig bleiben wird der russische Mann, aus der Erde gekommen und wieder zurückkehrend in die Erde, so wie Gott es befohlen hat.

163 Was aber die Feinde Rußlands anbetrifft . . . alle diese da im Westen: laßt sie es nur so weitertreiben! Mögen sie nur weiterhin verlernen, die Erde zu bestellen und Ihren Reis aus Indien und Ihren Weizen aus Australien und weiß Gott woher zu nehmen . . . Ja, mögen Sie nur ihrer immer mehr werden: am Ende werden sie nicht wissen, wo sie ihr Brot hernehmen werden und werden übereinander herfallen und sich gegenseitig totschlagen. Und dann werden wir, die russischen Menschen, über sie kommen und sie lehren, an andere Götter zu glauben, als an ihre Aktien und ihre Maschinen. Ja, so wird es sein!«

Man schwieg, ein wenig betreten. Ein Leutnant vom Regiment ›Kexholm‹, auch so ein Petersburger, lispelte spöttisch: »Und was Sie selbst anbetrifft, Sergej Julitsch, so bekennen Sie sich, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf, zu Gott, indem Sie hier zwischen den Huren sitzen und sich betrinken?«

»Indem ich mich betrinke und weiß, wie ich ein Vieh bin, bekenne ich mich zu Gott. Indem Ihr Gott absetzt und die Aufklärung und die Wirtschaft und den Fortschritt und die Chemie und die Psychologie und die Hygiene und weiß der Teufel was noch an seine Stelle setzt, werdet Ihr sterben. Denn man kann ohne Götter nicht leben. Ja, es lebe Gott! Wer sich zu ihm bekennt und zu der allrussischen Erde, der wird leben!«

Und nun dachte auch er an jenen silberbärtigen Bauerngott, der saß unter dem herbstgelben, dem mächtigen Ahorn auf einem birkenen Thron und weit in der Ferne 164 ringsum pflügten bärtige blonde Bauern die dampfende russische Erde. Irgend einer aus dieser seltsamen Gesellschaft wollte etwas erwidern. Aber da kam wieder der Manager herangelaufen und auch die von der Wittwe Tritten bestellte ältliche Verwalterin des Hauses hielt ihre Perücke fest und hinkte heran. »Ew. Hochwohlgeborn . . . meine Herren« und beide stotterten ihr papageienhaftes Russisch, »sehn Sie dorthin . . . man wird schießen, und wir können es nicht verhindern.«

Die Gruppe fuhr auf. Im Mittelpunkt des durch die Debatte der kaiserlichen Garde vereinsamten hinteren Saales hatten die Linienhauptleute beschlossen, Ihrem Streit um die Popenhaare durch ein Duell ein Ende zu machen . . . Jetzt, sofort, hier. Sie hatten sich zu diesem Zweck, die Rücken gegeneinander gewendet, und die Pistolen in der Hand, aufgestellt, indem sie sich vornüberbeugten und zwischen den eigenen Beinen hindurch auf ihre vorgestreckten Gesäße zielten, und auf jedem dieser Gesäße war an dessen geeignetster Stelle als Ziel ein rotes Sherry-Brandy-Etikett befestigt, und wer den Anderen zuerst in jenes Etikett treffen würde, der sollte Sieger sein und mit seiner Meinung über die Länge der Popenhaare recht behalten.

Da beide Herren sehr stark betrunken waren und man die geplante Auseinandersetzung sehr ernsthaft auffassen mußte, so fuhr man unverzüglich dazwischen und nahm ihnen die Pistolen fort. Der alte General stellte den Frieden wieder her, indem er versprach, er werde ein Gutachten vom Erzbischof einholen . . . Ja gewiß, er 165 verbürge sich dafür. Die Gegner fielen sich plötzlich mit jäh hervorbrechender Herzlichkeit in die Arme, die ganze schwüle Atmosphäre der unterschiedlichen Auseinandersetzungen schien in dieser Orgie von Küssen und Versicherungen gegenseitiger Wertschätzung sich auszutoben. Von allen Seiten ergoß sich plötzlich ein Schwall von Alkohol, von roten, grünen und selbst violetten Schnäpsen über die ganze Versammlung. Der alte General trat mit dem Fahnenjunker zu einem wilden Tanz an, ein Dragonerrittmeister beschädigte versehentlich den Klavierspieler, indem er ihm, als der Mann ihm nicht schnell genug spielte, die Porzellannase aus dem Gesicht hieb, daß wie bei einem Totenschädel ein leeres Loch greulich klaffte und der Offizier ihm eine nagelneue, eine aus massivem Gold versprach. Aus den Separatkabinen fluteten nun auch die weiblichen Insassen des Hauses in diese ungeheuere Orgie hinein, Oronzow lag, ein gewaltiger Koloß, am Boden, während winzige Polinnen auf ihm wie auf einem gefällten Baumstamm saßen und ihn mit einer Pfauenfeder zu einem ungeheueren, zu einem cyklopischen Lachen brachten. Dann wieder lag der alte General ihm in den Armen: »Sergej Julitsch, wie Sie vorhin gesprochen haben . . . wie Sie doch als wahrhaft russischer Mann gesprochen haben!« Und der ganze Saal schwamm in einem Ozean von slawischer Herzlichkeit und Bruderküssen und Weiberlachen.

Wie diese Orgie für Oronzow endete, wußte er selbst nicht. Eine Patrouille fand ihn in später Nacht am Thronfolgerboulevard schlafend auf einer Bank, und da 166 er absolut vergessen hatte, wer er war und auch, wie er hieß, so fand er sich am nächsten Morgen auf einer nicht sehr sauberen Polizeiwache, deren PristawPolizeileutnant erstaunt und erfreut war, ihn wieder bei Bewußtsein zu finden. »Es gibt, müssen Ew. Erlaucht wissen, sehr gewissenlose Leute, die schlechten Schnaps verkaufen . . . wirklich sehr gewissenlose Leute.«

Oronzow, der nun wieder ganz frisch geworden war, erinnerte sich, daß er seine Truppe, die nun weit draußen an der »roten Düna« lag, auf neun Uhr bestellt hatte. Er warf sich also fröhlich pfeifend in eine Droschke und fuhr hinaus in den klaren Morgen. Unterwegs allerdings verfinsterte sich sein Gesicht wieder, als er des gestrigen Gespräches mit den Artilleristen sich erinnerte. Ah, diese Intelligenten, diese Aufgeklärten, wie sie Rußland verdarben! Dann, als er vor die zu Fuß angetretene Truppe kam, geschah es, daß er, ehe er noch ein Wort gesprochen hatte, von hinten einen starken Stoß erhielt, der ihn der Länge lang in den Sand streckte. Aufstehend bemerkte er den Schwadronsziegenbock, der, ihn erkennend, herangeschossen war und ihn im frischen Galopp mit den Hörnern in den Sand geworfen hatte. Die Leute lachten und Oronzow lachte auch. »Nun sieh mal« sagte er, das schnobernd an ihm hochsteigende Tier klopfend »sieh Du Gottesknecht, ich werde Dich einsperren lassen, daß Du nicht Sonne noch Mond siehst! Nicht Sonne noch Mond, sage ich Dir!«

167 Dann beschloß er, den Fahnenjunker Fürst Bolkonski wirklich einzusperren, weil er, offenbar seinen Katzenjammer von gestern ausschlafend, nicht zum Dienst erschienen war.

Als er dann nach dem Apell die übliche Frage an die Truppe nach außergewöhnlichen Vorfällen tat, trat ein Unteroffizier, ein großer blonder Mensch auf ihn zu. »Ew. Erlaucht, man hat bei uns in der Düna eine Leiche gefunden.«

Oronzow, über den nun doch die Müdigkeit gekommen war, gähnte zerstreut. »Eine Leiche? Nun, also einen Mann oder eine Frau?«

»Weiß nicht, Ew. Erlaucht, kann es nicht sagen.«

»Nun, Du hast sie doch aber gesehn.«

»Ich habe sie gesehn.«

»He Du, Freundchen, willst Du Witze machen? Weißt Du zwischen einem Mann und einer Frau den Unterschied nicht?«

Da antwortete der Andere mit jener ehrlichen, überlauten Stimme, die den russischen Soldaten auszeichnet: »Raki, wasche sijatelstow, s'jeli rasnizu!«

Das ist verdeutscht: »Die Krebse, Ew. Erlaucht, haben den Unterschied aufgefressen!«

Und angesichts dieses zuversichtlichen und fröhlichen Gesichtes und dieser knappen und verständigen und übrigens ohne jeden Zynismus gegebenen Auskunft beschloß Oronzow, nie mehr an dem russischen Manne zu zweifeln, der einmal, trotz Allem, die Welt beherrschen würde.

 


 


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