Fritz Reck-Malleczewen
Bockelson
Fritz Reck-Malleczewen

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Fames

Do hebben sie gegetten allerlei beeste up dem lande und in dem water.

                                        Gresbeck.

Zu Ostern, heuer schon im März, da schlägt, obwohl in Wesel der Brand so herb gelöscht worden ist, aus der glimmenden Asche die helle Flamme der Täuferei hoch, und endlich kommt es in Friesland zum Aufbruch der interventionsbereiten Täufergemeinden.

Diese rabiaten Scharen also besetzen zwischen Sneek und Bolswerden das stark befestigte Oldenkloster, vertreiben die Mönche, verwüsten das Kloster nach Herzenslust, schänden die Kirche in münsterscher Technik, werden aber dort von dem Statthalter Schenck von Tautenburg gestellt, belagert und in das Innere der Klosterkirche gedrängt.

Brandfackeln können in den festen Gewölben leider nicht zünden, der Schenck muss also ›zehen starck gross geschütz vor brengen‹ und für eine gehörige Belagerung des Nestes eilends den dritten Mann der bäuerlichen Bevölkerung aufbieten. Er kanoniert darauf los und setzt über die Schiffbrücke zum Angriff an und nimmt ›mit einem harten swaren sturm‹ nach eigenem Bericht unter herbem eigenen Verlust die 228 Kirche und erstickt den ganzen Aufstand in Blut. Es ›bleven do an beden siden in somma tuschen 800 und 900 dooden‹, wovon hundert Mann auf die Leute des Statthalters zu rechnen sind. Was an gefangenen Täufern die Kanonade überlebt hat, wird angesichts der empörenden Kirchenschändung bis auf zweiundsechszig Männer erbarmungslos niedergemacht. So dass ausser den genannten zweiundsechzig Männern nur siebenzig Frauen und Kinder das Blutbad überleben.

Fast gleichzeitig aber versenkt der Herzog Karl von Geldern (›catholicae religionis adiectissimus et sectariis infensissimus‹) auf der Yssel nebst Weibern und Kindern drei Täuferschiffe, und damit sind die gefährlichen friesischen und holländischen Brandherde gründlich gelöscht, und die der Belagerung Münsters drohende Gefahr ist beseitigt.

Und für Bockelson ist damit die allerletzte Hoffnung auf ›Erlösung‹ geschwunden. ›Iss ist sake / dat to Paeschen die verloesunge nicht en kompt / so soyt my / als ick diesem selven boesewicht wil doin . . . wenn zu Ostern die Erlösung nicht da ist, so tut mir, wie ich nun diesem Bösewicht hier tue.‹ Das hat im Winter unmittelbar vor der Hinrichtung irgendeines Delinquenten die Majestät von Münster selbst gesagt und hat damit ja wohl ein schwerwiegend Wort gesprochen und hat darauf allerhöchst eigenhändig den armen Sünder geköpft . . .

229 Und nun ist Ostern ja wohl da, und es ist keine Erlösung gekommen, und da doch nun eigentlich und von Rechts wegen der König das Haupt auf den Block legen müsste, so zieht er sich, um über eine passende Ausrede nachzudenken, für einige Tage, wofern man Kerssenbroch glauben darf, aus der Oeffentlichkeit zurück . . .

Und kommt wieder ans Tageslicht mit der etwas überraschenden Erklärung, er habe natürlich die innere und seelische und nicht etwa die äussere, die kriegerische Erlösung gemeint, und die innere sei ja nun mit Gottes Hilfe da, und die äussere . . . ja, die äussere müsse man freilich in Geduld erwarten, und schliesslich werde auch die noch kommen.

Das ist ja nun für eine glanzvolle Prophezeiung ein etwas klägliches Ende, und was fangen wir Westphalen denn mit einer ›inneren und seelischen Erlösung‹ an, wenn uns doch von den Würsten und all dem Speck gesprochen wurde, die man den Bauern werde vor der Nase wegessen können?

Ach, in Münster ist nun weder von Speck noch von Würsten die Rede, und seit dem Ausgang des Winters leidet es nicht Mangel, sondern blanken Hunger. Im Winter schon ist wegen einer unrechtmässig erbeuteten Pferdefleischration eine Frau geköpft worden und ein zehnjähriger Junge wird wegen eines simplen Gemüsediebstahles an eine der Domplatzeichen gehängt und, 230 da der Strick reisst, kaltblütig zum zweitenmal aufgeknüpft.

Solch üble Dinge haben sich schon während des Winters ereignet. Nun aber, mit dem Frühling, da ist der Hunger, der wirkliche, der wütende Hunger über die Heilige Stadt gekommen, und zu Ende ist's mit dem leckeren Rauchfleisch des Apostelmahles und zu Ende ist bis auf lächerliche Reste das Gerstenbrot und selbst das Pferdefleisch, und da ist es denn so gekommen, ›dat wief unde kinder begunten tho schrieen umb broit‹. Die Diakonen kommen wieder und beschlagnahmen, was an kümmerlichen Resten noch in Bettladen und gar an noch weniger appetitlichen Orten versteckt ist ›und dat sie finden konden / dat moiste med gain / et wer vet (Fett) oder oli oder salt oder smalt. It konde so kleine nicht gesain / sie nament den lueden.‹

Nur dass das eben Brocken sind und dass sie den schaurigen Todeskampf der Gottesstadt auch nicht wesentlich verlängern können. Im Winter schon, wie erinnerlich, hat man Hauslisten angelegt und rationiert, und nun im Frühling gibt man den Leuten in den Vorbefestigungen und Aussenwerken und gar in den verlassenen Gärten der verschollenen Grossbürger Gemüseparzellen, und die armen Leute, die dort fleissig graben und jäten, sehen sich dann bitterlich enttäuscht, als man ihnen auch diese kargen Gemüseerträge sofort 231 beschlagnahmt. Ja, und so ist sie über Nacht wirklich gekommen, die grosse Not.

Der Bäcker backt nicht mehr, der Müller mahlt, genau wie in den Tagen des Weltkrieges, allenfalls nur noch ›schwarz‹ für die wenigen, die es zahlen können, und für sie wagen auch jetzt noch immer ein paar ganz Verwegene ihr Leben, um draussen auf den Dörfern zu hamstern und es zu den phantastischen Preisen des Schleichhandels in der Stadt abzusetzen.

Wer aber nichts hat, der schreit vor Hunger, und dass der König fleissig alles köpft, was bei diesen Zuständen aus der Stadt laufen will, und dass gar die Prädikanten mit dem lieben Rothmann an der Spitze es wagen, bei diesem Elend über den ›Bauchgott‹ zu zetern, dem Münster angeblich noch immer dient: das alles hilft nun wirklich nichts und macht das Los der Stadt von Tag zu Tag nur unerträglicher.

Es ist doch, bei Gott, nichts mehr zu teilen da! Es gibt nun kraft einer königlichen Verordnung ›Weizenherren‹ und ›Fettherren‹ und ›Salzfleischherren‹, es gibt leider zu diesen Herren keinen Weizen und kein Fett und kein Salzfleisch, und im Frühjahr beträgt die für drei Wochen auf den Kopf der Bevölkerung berechnete Mehlration nur mehr einen einzigen Becher voll! Das also ist nicht mehr die Entbehrung, wie sie einem heldenhaften Volk wohl zugemutet werden kann – dies ist das absolute Nichts und die Auslöschung 232 des Lebens. Und wäre es noch so, dass es alle gleichmässig träfe und dass gleichmässig hoch und gering hungerten und dass, wie in jener verschollenen Oktobernacht, der König sich vor die gleiche Tafel setzte wie sein Volk . . .

Es ist aber nicht so. Der König beschlagnahmt munter für die eigene Tafel, er stopft seine Kammern voll mit Vorräten für ein ganzes Jahr, er nimmt den Armen und sitzt mit seinen Tappedürs und mit seinem Hurenstall vor Schinken und Würsten, während in den baufälligen alten Häusern am Wall die ersten Todesfälle an Hunger verzeichnet werden. Hier enthüllt er sich, der geborene Bastard, hier nützen keine nachträglichen Hinweise auf seine ›Jugend‹ und auf seine ›hinreissende Beredsamkeit‹. Hier ist er ganz und gar demaskiert, der geborene Unterweltler, der ja nicht der Getriebene, sondern der Treiber, nicht der passive Exponent, sondern der Nutzniesser einer Zeitwende war. Zahllos sind die Bockelsondramen, immer wieder fliessen Tränen um ›den armen jungen Mann, der ein Opfer seiner glänzenden Gaben wurde‹. Um Milde und Menschengüte ist es gewiss ein schönes Ding. Die Zeiten aber des ›um jeden Preis alles Verstehens‹, die sind ja wohl bis auf weiteres vorbei. Auch in der Geschichtsschreibung. –

Während der König sich's gut gehen lässt, treibt in der Stadt der Hunger widrige Nahrung ein. Hätten 233 wir es doch noch, das gute Pferdefleisch, das im Winter auf der Freibank verteilt und über das damals so gemurrt wurde! Nun nämlich, seit Ostern etwa, essen wir ›allerhand beester‹, essen wir Mäuse, Ratten und Katzen, essen wir Igel, Hamster und die Ringelnattern aus der Aa, schlingen das alles, um ja nur den empörten Magen zu beruhigen, samt Fell und Bein und sind unendlich froh, wenn wir solche früher herb verachtete Speise uns verschaffen können . . .

Denn je weiter der Sonne Bogen sich nun streckt und je höher sie klimmt in ihrer Jahresreise, desto wunderlicher, abscheulicher und viehischer wird unsere Nahrung. Als es Mai wird, gehen wir dazu über, von den Einbänden der Bücher, soweit der täuferische Zorn sie nicht verbrannt hat, die Lederrücken zu verschlingen, wir würgen auch, um nur irgend etwas in dem Gedärm zu haben, Stieffelleder herunter und sieden Suppen aus zerstückelten Riemen und richten sie an mit dem Fett geschmolzener Talgkerzen. Ja, gegen das Ende Zions, da wird es auf das Unausdenkliche hinauskommen und da werden wir Kuhfladen dörren und auf unseren Herden gar den aus den Abtritten bei der Aa geholten Menschenkot rösten. Bis unser armer Leib endlich revoltiert und wir uns in krampfhaftem Vomieren winden und, heulend vor Hunger, erkennen, dass wir arme Tiere geworden sind und dass der Begriff der Menschenwürde nur mehr aus weiter, 234 weiter Ferne zu uns herüberleuchtet. Aus jenen sagenhaft gewordenen Bezirken nämlich, die jenseits der Wälle liegen. Und auch mit diesem Griff in die ›Profeien‹ an der Aa sind wir noch immer nicht angelangt bei unserer tiefsten Erniedrigung, und draussen bei den Belagerern und auch hier in der Stadt geht von Munde zu Munde ein abscheuliches Gerücht und will nicht verstummen und erscheint in den Zeitungen und in den Flugblättern, die draussen im Reich Kunde geben von unserem Reich Gottes . . .

Das Gerücht, dass wir Menschenfleisch essen. Das Gerücht, dass wir auf dem Domplatz die Gerichteten aus der Erde holen, um mit unseren Zähnen ihr Fleisch von den zerbrochenen Knochen zu reissen. Das allerabscheulichste Gerücht gar, dass Eltern bei uns ihre Kinder töten und einpökeln und dass man bei einer Nachschau die abscheulichen Töpfe mit dem abscheulichen Inhalt finden werde . . .

In der Stadt und bei den Landsknechten draussen, ja in ganz Europa spricht man davon. Die Auditeure und die Profossen des Bischofs merken sich das Gerücht, und später, wenn König, Statthalter und Propheten auf der Folter liegen, wird man sie peinlich nach der Wahrheit befragen, und beide, Knipperdolling und Bockelson, werden mit fast den gleichen Worten und mit einer seltsam berührenden Zurückhaltung aussagen ›sie wüssten nichts davon‹.

235 Und wie stand es damit in Wirklichkeit? Die Landsknechte fahnden in der eroberten Stadt eifrig nach Beweisen, Gresbeck hat das Gerücht wohl gehört, hat aber mit eigenen Augen nichts gesehen. Es taucht gleichwohl auf bei fast allen Zeitgenossen, es taucht auf bei Corvinus und bei Lilie und in fast allen zeitgenössischen Flugblättern und Zeitungen, und jeder hat davon gehört und keiner hats mit eigenen Augen gesehen, und so mag sich das, was man der Allgemeinheit Münster nachsagte, auf einzelne verzweifelte Fälle beschränkt haben. Immerhin wollen wir feststellen, dass Kerssenbroch einen bestimmten Fall benennt. Den Fall nämlich der Ratsherrnfrau Menken, die ihre neugeborenen Drillinge einpökelte und ass. Und Kerssenbroch war als humanistischer Schulmeister immerhin zur Gewissenhaftigkeit erzogen und mag wohl gewusst haben, welche Verantwortung er sich mit der Benennung eines angesehenen Namens aufbürdete.

Das aber, was an unumstösslichen Tatsachen verzeichnet ist, das ist nachgerade genug. Der Hunger trocknet die Haut aus und färbt sie bleigrau, allenthalben treibt die minderwertige Nahrung Eiterbeulen. ›Das fell‹, berichtet ein zeitgenössisches Flugblatt, ›hieng one fleysch lär / los unde geruntzelt über die blosse bein / das haubt stund nit anders / dann wie das krauthaubt auff dem stilen. Oren / wangen / lefzen nasen waren durchsichtiger / dann ein papyr‹, und der 236 Frankfurter Justinian von Holtzhausen, der als Kriegskommissar die Belagerung mitmachte und Ueberläufer oft genug zu Gesicht bekam, berichtet, dass die aus der Stadt Kommenden ›weiss wie Leinentücher und mit geschwollenen Beinen und Bäuchen‹, also mit allen Symptomen des Hungerödems ins Lager gelaufen seien. Kinder essen den Kalk, den sie in ihrem wütenden Hunger von der Wand gekratzt haben, und da Bockelson angekündigt hat, es würden die Steine zu Brot werden, so werfen sich Menschen, die einmal nüchterne und betriebsame Kaufleute und Handwerker waren, zu Boden und schnappen nach den Pflastersteinen und beginnen, da Stein leider Stein geblieben ist, bitterlich zu schluchzen.

Wer überhaupt noch gehen kann, schleppt sich auf Krücken fort, schon aber mehren sich die Fälle, wo Erwachsene auf der Strasse tot zusammenbrechen. Der Schinderkarren fährt durch die Gassen und sammelt, genau wie in Pestzeiten, die Leichen auf, die Massengräber, in die man sie wirft, bleiben bis zur gänzlichen Füllung offen – alles wie in Pestzeiten. In diesen letzten Monaten des Bockelsonschen Regimes vermindert sich die Einwohnerzahl der Stadt in schauerlicher Weise, und später, als Münster gefallen ist und die Vertriebenen zurückkehren, da finden sie das alte Nest nahezu leer vor, und Gresbeck behauptet gar, es 237 hätten, freilich nach Abzug der bei der Einnahme Erschlagenen, nur sechs oder sieben Einwohner den Frühsommer überlebt. Nie wurde in deutschen Landen ein Totentanz so bis zum letzten Atemzug und so bis zur Schwelle des Narrenhauses getanzt.

Der Mann, der dies alles vor der Geschichte wird verantworten müssen, der sitzt in seinem wohlverproviantierten Palast, lässt sich von seinen gut genährten Trabanten bewachen, hält noch immer jeden Versuch einer offenen Rebellion mit des Schwertes Schärfe nieder und weist neuerdings einen Unterhändler, den Wirich von Dhaun schickt, mit dem Bescheide zurück, ›er wolle die Stadt halten, und wenn sie Dreck fressen müssten‹. Was sie freilich ja schon tun und was vielleicht zu der Annahme berechtigt, es habe in seinem unbrechbaren Lebenswillen dieser fürchterliche Mensch noch immer und auch noch im Juni, als der Reichstag zu WormsEr trat am 4. April zusammen und war von fast allen Reichsständen beschickt. Er bewilligte für die Belagerung die nach damaligen Begriffen immerhin ausserordentlich hohe Summe von hunderttausend Goldgulden und ihre Verteilung auf alle Reichsstände. Die Fürsten merkten es eben, dass Münster nicht eine wunderliche Sekte, sondern in den so gesichert scheinenden Tagen des Frühkapitalismus eine Bedrohung der ganzen damaligen Welt bedeutet. Bemerkenswerterweise hatte Kurbrandenburg den Reichstag nicht beschickt. Dies mit der Begründung: ›es sollten die drei beteiligten Kreise allein damit fertig werden.‹ die finanziellen Kräfte des ganzen deutschen Landes gegen Münster mobilisiert hatte, im stillen auf Ersatz und Sprengung des 238 Belagerungsringes gehofft. In der Oeffentlichkeit spricht er jedenfalls auch jetzt noch immer von der Erlösung, läuft auf den Wällen herum und ruft den dort wohnenden armen Leuten zu, es sei diese Erlösung nun wirklich schon ganz nahe. Was weniger auf die Verhungernden Eindruck macht, als eben auf die Belagerer, die ihn von draussen bemerken und ihm höhnend zurufen ›hei solde tho bedde gehn‹ . . . die Majestät solle sich gefälligst schlafen legen. Aber in den Köpfen der Prädikanten spukt das Gerücht von der ›Erlösung‹ noch immer und sogar das von einem Auszug aus der Stadt will nicht verstummen. Wie es inzwischen in Bockelsons Hirn aussah, mag folgendes beweisen: Als er im Mai 1535 zur Wahrung eiserner Disziplin die Stadt in zwölf Unterbezirke teilt und jeden dieser Bezirke einem ›Herzog‹ unterstellt, da eröffnet er diesen ›Herzögen‹, die de facto Handwerker, Krämer, verkommene Kleriker und verschollene Edelleute waren, er werde jeden von ihnen, da dem täuferischen Siege selbstverständlich die Vertreibung der jetzt noch regierenden Reichsfürsten folgen werde, beim Neubau des Reiches mit einem deutschen Lande belohnen. Und so verschenkt dieser Gewandschneider, grossmütig wie er ist, das Herzogtum Sachsen an Johannes Dencker, Braunschweig an Bernhard thor Moer, Westfalen an Christian Kerkerinck, Jülich und Kleve an unseren alten Bekannten Redeker, Geldern und 239 Utrecht an Johann Palck, das Bistum Köln aber an den Herzog Meier, der aus Ledde nach Münster gekommen und fraglos ein sehr braver Mann warIhre Namen wechseln in den einzelnen Quellen und selbst bei den Augenzeugen, die ihre Ernennung selbst mit angesehen hatten. Fast scheint es, als habe die wachsende Panik einen raschen Wechsel der Herzöge, die ja zur Niederhaltung jedweder Rebellion bestellt waren, notwendig gemacht.. So verhielt es sich in jenen Tagen des aufziehenden Gewitters noch immer mit dem seltsamen Manne, der Bockelson hiess. Verschenkt werden in diesen Tagen, in denen doch sozusagen schon der Tod ans Fenster pocht, auch die übrigen Reichsländer. Kurmainz und das Bistum Osnabrück und Bremen und Hildesheim und Magdeburg und West- und Ostfriesland. Weiterhin regieren durfte nach diesem Plan nur das Haus Brabant in Hessen. Eben jener ›liebe Lips‹, für den der Leydener Kneipenwirt nun einmal eine unbesiegbare, wenn ja auch nicht recht erwiderte Vorliebe bis zu seinem Ende bewahrte. Ja, so verhielt es sich mit diesem allerseltsamsten König, der jemals deutsche Menschen regiert hat.

Die Geschichte aber schiebt, wenn es erst auf das Ende einer Episode geht, vor das Ende mit Schrecken gern ein Satyrspiel und eine Groteske, und just so, wie der grosse Napoleon zum Schluss seine Getreuen mit entwerteten Papieren dotiert, und just so, wie der einst Vergötterte, um dem Volkszorn zu entgehen, 240 während der Fahrt nach Elba in Bedientenlivree auf den Kutschbock seiner Kalesche flüchtet, just so beginnt auch hier in dem sterbenden Münster kurz vor dem Ende noch eine tolle Jagd gespenstischer Schattenbilder, vor denen wir schaudernd stehen, wie vor den Fabelgestalten eines Konrad Wietz oder denen eines Mathias Grünewald. Dass jetzt, wo kaum noch die Wälle besetzt werden können, die Strassen- und Tornamen geändert werden, haben wir schon gesehen, dass es gerade jetzt noch bei Strafe verboten wird, die verwüsteten Kirchen anders als ›Steinkulen‹ zu nennen, das alles mag als eine der vielen Täufer-Marotten hingehen. Während aber an alle diese ›Silber- und Goldtore‹ der Stadt schon eine knöcherne Faust pocht, da erwacht in dem Kneipenwirt von ehedem die Erinnerung an Leyden und an die Zeit, da in seiner Schenke ›Zur silbernen Lilie‹ den verbuhlten Paaren die Flöten und Lauten klangen, da erwacht die Erinnerung an den halb vergessenen Klub der Rhetoriker und an die eigenen Literatentage: die Majestät von Münster also lässt im Dom das Spiel vom armen Lazarus und vom reichen Manne aufführen . . .

Im Dom, im verwüsteten Dom, durch dessen zerbrochene Fenster im Winter die Schneeböen heulten, im Dom mit den verwaisten Altären und den geschändeten Grüften und den leeren Reliquiarien – in dem gleichen Dom, den seit einem Jahr die Menschen als 241 Abtritt, die Hunde und die Ratten aber als Schauplatz für ihre unterschiedlichen Hochzeiten benutzt haben.

Dort also spielt man. Man spielt auf einem gardinenverhangenen Gerüst, man spielt zu den schwerfälligen Sarabanden der Blockflötenbläser, man spielt mit einer reichhaltigen Komparserie von Teufeln und Dämonen, die zum Schluss den reichen Mann holen: ja wie denn, du Harems- und Speisekammerbesitzer, bist du inmitten deines verhungernden Volkes nicht am Ende selbst dieser arme ›reiche Mann‹? ›Tho dem lesten sind die duvels gekomen und hebbet den rieken man geholt mit lief und mit sel und holeten den rieken Mann achter die gardin‹ . . . ja, aber wird es dir am Ende nicht ebenso gehen, dass die Teufel dich ›hinter die Gardine‹ zerren? ›Dair war ein groit lachen in dem doem und datselve spiel was den luiden ir gesadden und gebraten‹ . . . Ersatz für Kochfleisch und Braten also, nachdem Se. Majestät ihnen Kochfleisch und Braten fortgenommen hat. Und da ausser diesem Mysterienspiel nun auch das Satyrspiel der Geschichte begonnen hat, so gefällt es plötzlich dem König, den Darsteller des reichen Mannes frisch von der Bühne weg, angeblich wegen einer Vorbereitung zur Desertion, verhaften und in aller Eile im Domhof aufknüpfen zu lassen. Womit die Vorstellung füglich zu Ende ist. Wohlgemerkt nur diese, denn da die Staatsleitung durch derartige Schaustücke auch weiterhin die 242 Oeffentlichkeit von ihren Nahrungssorgen ablenken muss, wird der Dom sehr bald Schauplatz einer schlimmeren Clownerie. Es wird nämlich aus Brettern und Decken dortselbst ein Altar improvisiert und in Gegenwart des Königs, des Hofes, der gesamten Gemeinde zelebrieren hier Lakaien Se. Majestät eine Messe . . .

Eine Messe wohlgemerkt auf unsere eigene, auf münstersche Art, da wir ja die alte, die heidnische der Papisten bei uns überwunden haben und unserer Gemeinde eben nur vor Augen führen wollen, was für eine pfäffische Narretei diese frühere Messe gewesen ist. Da also stehen sie, Hofnarr, Hausknecht und Schweinemetzger am Altar in ihren gestohlenen Messgewändern, plärren in ihrer Weise den Introitus und das ›Gloria in Excelsis‹ und das ›Et in terra pax hominibus‹, und dann dreht sich plötzlich einer von diesen Schweinepriestern um und entlässt von seinen Lippen statt der heiligen Gebete über die Häupter der Gemeinde hinweg einen Kotstrom von Unflätigkeiten. Hinterher aber opfern König, königliche Weiber nebst der ganzen Gemeinde am Altar tote Ratten, verfaulte Katzenköpfe, tote Mäuse und die Hufe von geschlachteten Pferden, und daneben steht, das Manipel um die Hand geschlungen, der zelebrierende Priester und lässt sich die Hände küssen. Beim Gewandheben ergibt es sich zum Gaudium der Anwesenden, dass er unter dem Messkleid keine weitere Hülle trägt, sondern beim 243 Altarkuss den blossen Hintern der Gemeinde entgegenstreckt, und um das Mass des blasphemischen Wahnsinns vollzumachen, beginnt man, sich mit den am Altar geopferten Katzenfellen und Rattenköpfen zu bewerfen, beschüttet fingerdick mit Zucker die Katzen- und die Mäusekadaver und frisst sie an Ort und Stelle auf. Zum Schluss predigt Herr Rothmann über die Bedeutung dieser Spottmesse, und dann beendet unter den Klängen der königlichen Hofkapelle ein Schwertertanz der Trabanten die Orgie. So steht es gegen das Ende zu damals in Münster. Als der Bürger Klas Northorn, der es vor Hunger in der Stadt nicht weiterhin aushalten kann, wegen seiner Desertionsabsichten vom König geköpft und hinterher in zwölf Teile zerhackt wird, da reissen die gierig Herumstehenden dem Leichnam sofort Herz und Leber aus, um es zu Hause zu braten und zu fressen. Und eines Tages erscheint gar vor dem König selbst ein vom Bischof übergelaufener und durch den Hunger ganz närrisch gewordener Artillerist und schreit ihn an: ›Her Koningk, ick moet vretten‹ und fletscht in seinem wahnsinnigen Hunger die Zähne ›und stalte sick an / wie hei den Koningk freten wolde‹ . . . ja genau so, als wollte er die Majestät von Münster selbst anbeissen. ›Up dat leste mochte er widder gein / als hei kommen was. Hei en konde ock von dem Koningk nicht tho etten kreigen‹, bemerkt treuherzig Meister 244 Gresbeck. So weit ist es nun mit Münster, das einst eine wohlhabende und behäbige Stadt war.

Es ist schliesslich so weit, dass die Strassen voll sind vom Gebrüll der Verzweifelnden, dass der Hunger selbst die Begeisterung für die Vielweiberei abtötet und dass in den allerletzten Tagen sogar der König mit Ausnahme Divaras seine Weiber entlässt. ›So begonde wol der Koningk und die so viel frowen hedden / moede tho werden mit den schoenen frowen unde die werlt tho vermeren mit inen. Ein deil wiederdoepers hedde wol ein stuck brodes genommen fur eine frowe / der it inen geboden hedde.‹ Nur dass es eben einen solchen Mann, der für eines der ausgemergelten Wiedertäuferweiber eine solche Kostbarkeit wie ein Stück Brot geboten hätte, in Münster nicht mehr gab. Ja, so weit ist es mit uns gekommen.

Es ist nun so weit, dass es weiter nicht mehr geht. Der König fühlt ringsum den Widerspruch wachsen, er weiss, dass auf die Dauer auch der Terror nicht mehr helfen wird. Der König hat, um die Leute nur zu beschäftigen, vor allen Toren der Stadt Erdlünetten anlegen lassen, er hat auch, weil die Hände zu wenig und die Münder allzuviel zu tun haben, neulich gar den Abbruch der Jakobikirche angeordnet und sieht sich schliesslich gezwungen, den jämmerlichen Proviantetat der Stadt von den überflüssigen Essern zu befreien . . .

245 Der König kündigt, seinen früheren Prinzipien entgegen, an, dass, wer da ›Urlaub‹ wolle, mit solchem Urlaub die Stadt verlassen dürfe . . . wer also hinaus will, braucht sich nur binnen acht Tagen für freies Geleit im Rathaus zu melden.

Und so kommen sie denn, die Verhungerten und Verzweifelten, kommen mit entfleischten Gesichtern und schleppen sich mühselig über die Rathaustreppen, wissen, da man sie doch schliesslich auch ohne Rathausgang aus den Toren hätte lassen können, nur eben nicht recht, was sie hier eigentlich noch bei den Rathausschreibern sollen . . .

Es hat aber gerade damit seine eigene Bewandtnis, ›und so froe / als sie urlof begerten / konden sie nicht wedder tho huiss gain‹. Dass nämlich ihr, die ein königliches Dekret ›verstossen an Leib und Seele‹nennt . . . dass ihr uns verlasst, kann uns nur recht sein, wie aber könnt ihr eigentlich erwarten, dass wir euch ziehen lassen samt der Habe, die ihr doch hier in all den langen Jahren in Münster erworben habt?

Und nahezu bis aufs Hemd plündert man die Verzweifelten aus, beschlagnahmt zunächst alles, was sie mit sich tragen, beschlagnahmt, wie gesagt, den grössten Teil ihrer Kleider, beschlagnahmt dann ihre daheimgelassene Habe und schliesslich auch ihre Häuser und das sonstige unbewegliche Gut. So schleppen sie sich denn, um Gnade schreiend und weisse Tücher 246 schwenkend, auf die feindlichen Linien zu, wo zunächst einmal sämtliche Männer von den Landsknechten erschlagen werden. Den Frauen wird das Letzte genommen, was sie jetzt, nach der Ausplünderung durch die Stadt, noch besitzen, sie werden im übrigen, wohl aus naheliegenden Gründen, am Leben gelassen und fristen fortan bis zur Einnahme der Stadt im Königreich (wie man etwas euphemistisch das ›Niemandsland‹ zwischen den beiderseitigen Linien nennt!) ein gespenstisches Leben. Nachts hört man aus diesem Niemandsland ein klägliches, ein tierisches Heulen, das von diesen verzweifelten Weibern kommt, und morgens im Frühnebel sehen die bischöflichen Posten vor den Schanzen diese zerlumpten Gestalten, wie sie in diesem ›Königreich‹ genannten Hades umherirren, auf allen vieren kriechen und Gras fressen. Da sie in ihren geschwächten Eingeweiden auch diese grobe Kost nicht behalten können, kriechen sie, lederüberzogene Skelette, vor die Brustwehren und betteln. . . ›begern / dass man sie darfür tot schlage / wollen vil lieber sterben / den wieder in die stat gen‹ berichtet unter dem 13. Mai Wirich von Dhaun an den Landgrafen von Hessen. die Soldaten an, die ihnen dann hin und wieder eine Brotrinde herabwerfen. Worüber sie dann wie eine ausgehungerte und gänzlich verwilderte Hundemeute herfallen. Das also ist aus Menschen geworden, die vor zwei Jahren noch, zufrieden oder nicht, doch wenigstens noch ein Dach über dem Kopf und ein Kleid für 247 ihre Blösse und Brot für ihren Tisch hatten. ›Datselve‹, stellt Gresbeck fest, ›ist irst alles hergekommen von demselven paffen Rothmann.‹ Von dem gleichen Rothmann, mit dem seine bodenlose pastorale Eitelkeit durchgegangen ist und den die allzu verständnisvollen Betrachter des XIX. Jahrhunderts ›den jungen feurigen Prediger Zions‹ zu nennen beliebten.

Münster ist nun zwar eine Menge unnützer Esser los, Münster treibt deswegen doch unaufhaltsam dem schrecklichen Ende zu. Jetzt freilich ist der Belagerungsring hermetisch dicht geworden, jetzt durchdringen ihn weder Hamsterer noch Apostel, und selbst die paar armseligen Kühe, die man noch nicht geschlachtet hat und die mangels anderer Nahrung auf den Wiesen des Königreiches weiden, werden von den erbarmungslosen Belagerern immer wieder zurückgescheucht. Wohl wird innen noch immer mit dem Terror regiert und (mehr denn je und gerade auf das Ende zu durch den König selbst!) hingerichtet. Trotzdem ist es zu Ende mit der alten grimmigen Kampfesstimmung des Vorjahres, und müde sind nun selbst die Terroristen, und Leben und Tod sind ihren Opfern unendlich gleichgültige Dinge geworden. Die Psychose verflattert, hinter den zerreissenden Schleiern des Massenwahns leuchtet von fern wieder so etwas wie der Sinn für Mass und Ziel aller menschlichen Dinge. Wenn es erst so weit ist, hilft kein Terror mehr, wenn 248 es so weit ist, kommt der Thermidor oder, wie hier, die Johannisnacht.

Noch hat man die Wahl dieser Herzöge, die Palck und Kock und Meier und Katerberg heissen, feierlich begangen, der König hat, genau wie später die Könige von Preussen es mit den neuernannten Schwarzadlerrittern tun, den Neuerwählten die ›Accollade‹ . . . die Umarmung nebst Wangenkuss gewährt, mit denen die Fürsten des anhebenden Barock die Nächsten am Thron auszuzeichnen pflegen . . . man hat hinterher auch, inmitten aller Hungersnot, ausgiebig geschmaust. Aber die Lichter an dieser Festtafel mögen wohl ein wenig trüb gebrannt haben, es mag in die Ciaconnen und Sarabanden der Kapelle hinein allzu oft von draussen, von den Verhungernden her, ein Todesschrei geklungen sein.

Zu Ende geht das Spiel. Auf der Parade nach dieser Wahl hält der König wohl noch eine zündende Ansprache und meint, es möge getrost von ihm weichen, wer nicht bleiben wolle und ›got werde syn huepeken (Häuflein) nicht verlaten‹, nötigenfalls werde er allein die Stadt halten. Und wirklich findet sich keiner, der neuerdings ›Urlaub‹ nimmt und geht. In der Stadt aber murrt man desto lauter über das Mahl und über die güldenen Amtsketten und die kostbaren ›engelloten und rosennoblen‹, die der König den Herzögen als Zeichen ihrer Amtswürde verliehen hat . . . haben wir 249 denn unser Edelmetall seinerzeit dazu abgeliefert, dass diese papiernen Herzöge sich nun damit schmücken? Man murrt nun so laut, dass schliesslich die Herzöge ihre Ketten und Medaillen nicht mehr anzulegen wagen, ja, es kommt gar so weit, dass selbst der König es für richtiger befindet, die berühmte Goldkette mit der goldenen, von Schwertern durchbohrten Weltkugel zu Hause zu lassen. Da aber auch der Mensch, gar wenn er in Massen auftritt, ein unkonsequentes und in Zeiten der Panik höchst unvernünftiges und mitunter kindisches Wesen ist, so murrt Münster, das eben doch noch über das Tragen des Geschmeides geraunzt, neuerdings wieder über das Fehlen all dieser Herrlichkeiten und sieht in diesem Fehlen nur ein Zeichen des gesunkenen Mutes und der mangelnden Zuversicht. Es kommt so weit, dass der König selbst die Leute auf der Strasse zurechtweisen muss. Er kenne das Gerede, trage die Kette oder trage sie nicht, ganz nach seinem Belieben. Wolle keinen von ihnen um Erlaubnis fragen, sei ja von Gott und von keinem anderen zum König gemacht worden . . .

Sagt Bockelson und trägt fortan wieder seine schöne goldene Kette. Rothmann hat die nämliche Menge bei der letzten Parade gefragt, ob sie denn nun auch wirklich jetzt, wo die Stunde der letzten Prüfung gekommen sei, um Gottes willen alles, Hunger und Kummer und Tod, leiden wolle, und noch damals, in den ersten 250 Maitagen, hat die Menge nach altem deutschem Schwurzeremoniell stumm und feierlich über sich die Hand gehoben. Ihr Schwung ist trotzdem gebrochen, die Augusttage des heldenmütigen Widerstandes liegen nun lange hinter uns. Desertion und Sterben haben die Zahl der Wehrhaften so gelichtet, dass (was der Gegner zur Stunde noch gar nicht weiss) schon im Mai grosse Strecken des Walles unbesetzt bleiben, und da die Sicherheit der draussen im ›Königreich‹ weidenden Kuhherden nun weit wichtiger ist als alles andere, so sieht man, da für solch Amt es an zuverlässigen Leuten scheinbar fehlt, anfangs Juni die Herren Herzöge, wie sie, die präsumtiven Thronfolger zu Sachsen und Braunschweig und Kurmainz, in ihren Herzoghüten und samt ihren Amtsketten und Rosennoblen das Vieh hüten. Niemand rennt mehr mit Bussegeschrei und göttlichen Visionen durch die vergrasten und verödeten Strassen, kein Knipperdolling tanzt mehr vor dem königlichen Stuhl, der, seiner Teppiche und Purpurdecken beraubt, nun verwaist auf dem Markt steht – selbst der liebe Rothmann, der doch sonst die gepflegte Pastorenstimme nicht oft genug hören konnte, hält in Gottes Namen endlich den Mund. Münster verstummt, Münster klingt nun hohl wie ein leeres Fass. Das Königreich ist sozusagen eine abgegessene und wüste und versudelte Tafel, an der in Abwesenheit der Herren die Lakaien sich toll und voll gesoffen haben, und 251 nun, wo sie bei heruntergebrannten Lichtern kleinlaut herumsitzen, nun kommt ja wohl bald die Stunde, wo der Herr heimkehrt und Gericht hält! ›Up dat leste‹, sagt Gresbeck, der nun selbst die Stadt verlassen wird, ›up dat leste hedden sie wol gnade begert / hedden sie gnade krigen kont. Aver do was die gnadentür to.‹ Nur der König äussert jetzt des öfteren, er werde ›nie und nimmer einen Menschen um Gnade bitten‹. Was freilich sich als leichter gesagt denn getan erweisen wird. Auch in diesem Falle.

Seltsam still wird es nun um ihn. Noch immer blitzt, da Verrat und Widerspruch bei steigender Not sich mehren, verzweifelt oft und häufiger denn je das Richtschwert, und passionierter denn je handhabt es in seinen letzten Königswochen dieser Vater aller Todsünde. Der Fähnrich Johann von Jülich und der Wehrmann Heinrich Randau planen Abfall und Desertion und büssen mit dem Tode, des Verräters Heinrich Graes in Münster verbliebenes Eheweib kommt seltsamerweise erst jetzt an die Reihe. Klaus Northorn, der ja ebenfalls mit dem Feinde konspiriert hat und dessen Herz und Leber die hungrigen Münsterer hinterher verspeisen, brüllt noch angesichts des Todesblockes den königlichen Scharfrichter an und nennt ihn einen ›verzweifelten Bluthund‹ und fragt ihn gar, wer ihn eigentlich zum König erwählt habe, und fragt ihn auch, was viel peinlicher ist, wo denn nun eigentlich 252 die zu Ostern so fest versprochene Erlösung sei, und fordert ihn zum jüngsten Tage vor Gottes Richterstuhl . . .

Worauf der König höhnisch den Delinquenten fragt, ob ›er vielleicht so lange warten wolle‹. Und ihm lege artis den Kopf abschlägt.

Bürgerfrauen, die ihren Schmuck zurückbehalten haben oder ihren Ehemann im Zwist bedrohten, folgen in diesem letzten Todesreigen ebenso wie königliche Trabanten, die nun ebenfalls mit dem Feinde verhandelt haben und ihm die unersetzlichen Kuhherden zutreiben wollten oder mit königlichen Schmuckstücken zu entweichen suchten. Nikolaus Snider hat dem Feinde einen Brief geschrieben, der Gerber Floer will ohne königlichen Urlaub entfliehen, Alexander von dem Bussche, Lakai im Königsharem, will ebenfalls entwischen, nachdem er zuvor gesagt, ›es sei des Königs Lehre ja doch nur eitel Betrug‹. Sie alle fallen durch des Königs Hand, und in dem ersten und zweiten Junidrittel, also noch ganz kurz vor dem Höllensturz, ist fast jeder Tag (und mancher sogar doppelt!) mit einer Hinrichtung besetzt . . .

Nicht zu vergessen jener schon im Mai an der königlichen Kebse Elisabeth Wantscherer wegen grober Unbotmässigkeit vollzogenen Justifikation, bei der alle anderen ›Königinnen‹ zusehen müssen und bei Todesstrafe nicht die Augen schliessen dürfen, und es 253 gefällt Se. Majestät, die einstige Bettgenossin vor dem Tode noch einmal ›eine Hure‹ zu nennen und hinterher, nachdem durch zwei Streiche das Haupt gefallen ist, auf dem kopflosen Rumpf gründlich mit den königlichen Füssen herumzutrampeln, worauf denn im allerhöchsten Diskant, wie ihn am Ende die Angst eingegeben haben mag, die königlichen Damen als passendstes Lied für diese passende Gelegenheit ›Allein Gott in der Höh' sei Ehr‹ anstimmen.

Dies also ist das Finale des wunderlichen, vom Satan selbst gekrönten Königs, der da Bockelson heisst. Zu guter Letzt scheint ihm die Fülle der Toten, die seit dem Beginn seines Regimes im Boden der Stadt eingegraben sind, geschreckt zu haben, und noch in den letzten Tagen seiner Regierung ordnet er an, man möge sie hinfort vor den Toren einscharren. Der Domplatz mag auch seit einem Jahr, seit dort der Schmied Rüscher und samt seinen Genossen der Büchsenmeister Mollenhecke versunken ist, allzuviel unterirdische Anwohner gehabt haben.

Täuscht nicht alles, so hat dieser Bockelson, ausgestattet mit einer schier unbändigen Lebenskraft, auf einen Entsatz der Stadt, der seit Aprilbeginn doch wirklich ein Ding der Unmöglichkeit war, bis zu seinem letzten Tag gehofft. Und erst ganz zum Schluss, als rings um ihn das einst so lebendige Gottesreich in Apathie versunken ist und am Himmel allenthalben die 254 feurigen Zeichen des Unterganges stehen, da sieht Gresbeck ihn des öfteren sitzen und das Haupt in die Hand stützen und vor sich hinstarren.

›Want hei merkede wol / wat dair noch up dat leste af werden wol / dat et ein boess ende wolte hebben.‹

Und keiner freilich nimmt ein böseres Ende als der, den man nur gefürchtet und niemals geliebt hat. 255

 


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