Fritz Reck-Malleczewen
Bockelson
Fritz Reck-Malleczewen

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Spes desperata

Die Meinung was / so sie die Oberhand behielten / dass sie beide / geistliche und weltliche oberkeit ausrotten und doten wolten wess stantz der auch were / nymantz übersehen.

Aus dem Bekenntnis des gefangenen Münsterschen Propagandisten Zillis Leitgens.

Es sind seltsam verständnisvolle Worte, die Leopold von Ranke für Bockelson gefunden hat, es berührt auf den ersten Blick eigentümlich, den grossen Historiker des XIX. Jahrhunderts zu sehen, wie er, entschuldigend und sogar bewundernd, für den König von Münster seine Jugend, seine Vielseitigkeit, seine verführerische Rednergabe und seine angeblich so vorteilhafte Erscheinung ins Treffen führt . . . als Dinge, die ihn in so turbulenter Zeit auf abschüssige Bahnen locken mussten.

Ranke aber lebte in einem von den Ausbrüchen der Unterwelt noch nicht bedrohten Zeitalter gesicherter und somit weitherziger Bürgerlichkeit, er begegnete dem destruktiven Menschentyp allenfalls dort, wo dieser destruktive Mensch als allgemein bestaunter und verabscheuter Schwerverbrecher auf der Anklagebank sass . . .

187 Dort betrachtete man ihn mit den erstaunten Augen einer toleranten Zeit als ein Monstrum, und das, was das gegenwärtige Erdbeben an seinen jeweiligen Herden massenhaft an die Oberfläche befördert – der bolschewistische Mensch – er musste den Zeitgenossen Rankes noch weltenfern sein. Uns, unter deren Füssen nun der Erdboden abermals wankt, ist nicht so dieser Bockelson selbst interessant. Interessant ist vielmehr das, was er, der Sohn des Acheron, damals schon ausrichten konnte. Was er ausrichtete unter behäbigen und soliden Bürgern und unter Geistlichen, die wenige Monate zuvor noch redlich ihre Gemeinde betreut hatten. Unter Nonnen und Edelfrauen und all diesen Menschen, denen doch gestern alle diese strengen Bindungen des Mittelalters noch gar nicht als unerträgliche Fesseln erschienen waren.

Interessant ist somit nicht das Individuum Bockelson, sondern eben seine Auswirkung, und typisch für das, was er sich ohne Widerspruch erlauben durfte, ist eine Szene, die sich während dieses Abendmahles, noch vor dem Auszuge der Apostel, ereignet hat. Während dieses Mahles nämlich bemerkt der König einen unbekannten, einen kürzlich durch die Münsterschen gefangenen und von ihnen zur Feier sozusagen als Katecheten mitgebrachten Landsknecht. Der König wird auf das ihm nicht vertraute Gesicht aufmerksam, er fragt den Mann, was sein Glauben sei, und auf seine 188 Art antwortet der angetrunkene Gefangene, er wisse von einem Glauben überhaupt nichts, sondern wisse nur von Saufen und von Weibern.

Solche Antworten aber soll man nicht geben bei der offiziellen Veranstaltung eines Staates, der die Spiegel zerbricht und den Weibern die bunten Hauben schwarz färbt, man soll so auch nicht zu einem Könige sprechen, der gestern noch einen ganz anderen und nicht sehr königlichen Beruf hatte und durch solch gemeine Diktion doch an die Zeiten erinnert werden könnte, wo er selbst als Kneipenwirt inmitten seiner Gäste tagtäglich solche Worte und solche Lebensphilosophie angehört hatte.

Bockelson also schluckt seinen Aerger über die Antwort noch einmal herunter, fragt, als König eines biblischen Reiches einer biblischen Sprache sich bedienend, den Mann, wie er zu solchem Hochzeitsmahl ohne hochzeitlich Gewand habe erscheinen können und bekommt von dem Landsknecht den wiederum etwas massig geratenen Bescheid, ›er sei zu solchem Hurensouper überhaupt nicht geladen, sondern ohne grosse Lust von den Münsterschen mitgebracht worden . . .‹

Derlei aber kann sich ja nun ein König nicht gut gefallen lassen, und Bockelson lässt den Mann ergreifen, schreit ihn an, er sei der Judas in Person, lässt sich das Richtschwert bringen und schlägt ihm 189 bei währendem Abendmahl den Kopf ab. Der Leichnam bleibt bis zum Morgen an Ort und Stelle liegen, und da ausserdem diese Szene sich vor aller Augen abgespielt hat, so ist es mit der Stimmung gründlich vorbei.

Solches also konnte, ohne ein Murren zu hören, der gleiche Mann sich erlauben, für dessen Reich in dieser Stunde die Apostel in das Ungewisse hinausziehen, und man kann nicht sagen, dass die Tat einen günstigen Auftakt gibt für ihre Reise. Dem Bischof ist ihr Aufbruch natürlich längst verraten, längst hat er sämtliche Behörden angewiesen, scharf auf etwa auftauchende münstersche Prädikanten zu achten, und sowie diese Leute die ihnen zugewiesenen Städte betreten, ist es trotz mancher in diesen Städten anzutreffenden täuferischen Gesinnung um sie auch schon geschehen.

Um so mehr, als sie keineswegs, wie es doch klug gewesen wäre, in die Städte sich einschleichen, sondern sofort nach Passieren der Tore mit dem bekannten täuferischen Bussegeschrei durch die Gassen ziehen. In Warendorf tauft Klopriss, der seinem glatten Gesicht einen verwilderten Bart hat wachsen lassen, im Hause eines täuferischen Ratsherrn zwar noch fünfzig Personen und hat auch die kleine Stadt bald so weit, dass sie alle bischöflichen Aufforderungen zur sofortigen Verhaftung des Mannes mit Stillschweigen oder, 190 nach einem alten Akt, ›mit spitziger unde verhoenliger antworte‹ bescheidet . . .

Ja, dass die auf dem Markte stehende Menge drauf und dran ist, zur Sprengung des münsterischen Belagerungsringes auszuziehen, und dass der Bischof schliesslich mit seiner bewaffneten Macht zur Wiederherstellung der Ordnung in Warendorf einrücken muss.

Sein Erscheinen aber wirkt Wunder. Ueber Nacht ist er da, lässt das auf dem Markt stehende und geladene Warendorfer Geschütz in die Luft abfeuern, dass sämtliche Warendorfer Fensterscheiben springen, besetzt mit seinem Fussvolk alle wichtigen Punkte der Stadt und fordert die Herausgabe der im Rathaus festgehaltenen Prädikanten.

Die schreien zwar Wehe über die Verächter der neuen Lehre und drohen mit dem König Bockelson, der den Frevel schon rächen werde, haben damit aber keinen sonderlichen Erfolg. Sie werden nämlich, obwohl auch der Rat über den unerbittlichen Bischof murrt, ausgeliefert und es werden die meisten von ihnen in wenigen Tagen – keine zwei Wochen nach dem eben geschilderten Abendmahl – auf einer über neun Fässern errichteten Bühne geköpft und die Leiber öffentlich zur Schau gestellt.

Hier verblutet trotz der Fürbitte seiner adligen Standesgenossen und trotz der sogar vom Nachrichter selbst vorgebrachten Fürsprache Herr Dietrich von 191 Alfen, hier auch unser altbekannter und bewährter Gottfried Stralen, und geköpft werden ausserdem, da der getaufte Ratsherr Erpo Holland unvorsichtigerweise ihr Verzeichnis hat herumliegen lassen, sogar einige von Klopriss ebenfalls getaufte Warendorfer. Aufgehoben für den qualvolleren Feuertod wird nur Klopriss selbst, den der Bischof wie ein seltenes wildes Tier dem Erzbischof von Köln schickt und der erst im Februar 1535 in Brühl ›vermöge Römisch Keyserlicher Constitution mit deme feur vom leben zum dode bracht und gestraifft‹ wird. Nicht ohne dass er zuvor beim Verhör Bockelson ›groissen verstand in der hilligen schrifft und groisse wohlsprechenheit‹ nachrühmt, nicht ohne dass er bekennt, er wolle sofort lieber nach Rom gehen, als zu der zweiten Frau, die er, Klopriss, nach seiner ersten noch genommen habe . . .

Nicht ohne, dass er sich übrigens als standhafter Mann erweist und in seiner Ueberzeugung stirbt, ohne auch, wie leider Amtsbruder Stralen tut, unnötig münsterische Geheimnisse auszuplaudern. Die Stadt Warendorf aber wird wegen ihres zweideutigen Verhaltens manches Rechtes beraubt und auch für landtagsunfähig erklärt, und so endet die Warendorfer Mission ziemlich traurig. Die nach Soest Gesandten, unter denen sich auch Dusentschnuer und Schlachtschaf befinden, dringen mit ihrem üblichen Bussegeschrei sofort in die Ratstube ein, werden aus der 192 Stadt gewiesen und trotz ihres Gezeters über das unbelehrbare Soest ergriffen und auf dem Walle hingerichtet. Wobei einer der Prädikanten dem Scharfrichter sagt, sein Hals sei für das Richtschwert unverletzlich, der Scharfrichter aber, ohne jedes Verständnis für solche Behauptung, mit der doppelten Kraft zuhaut und den gefeiten Kopf vom Halse springen lässt und damit die münsterische Prophetie leider wieder einmal Lügen straft.

Es endet schlecht in Warendorf, es endet schlecht in Soest, es endet ebenso schlecht in Coesfeld, wo die Apostel sich vor ihrer Hinrichtung gar bitter über Dusentschnuer beklagen, der sie verführt habe. Ja, so endet es auch in diesem für die täuferische Lehre so gar nicht empfänglichen Coesfeld, wo sie im Verhör ausplaudern, wie sehr das Volk über die Königsproklamation gemurrt habe und wo es leider auch geschieht, dass mehrere Apostel, darunter sogar unser bewährter Beckmann, um Gnade flehen. Und was geschieht gar im Norden, in Osnabrück? Dort geraten sie versehentlich zu einem Glaubensgenossen, der gar kein Glaubensgenosse ist, werden verhaftet und lassen sich singend abführen. Sie erregen zwar einigen Aufruhr bei jungen Handwerkern, die psalmodierend und raunzend vor dem Kotter stehen und die Gefangenen befreien wollen, werden gleichwohl unter Bedeckung nach Iburg gefahren. Angesichts des Schafotts aber 193 schreit der verängstigte Schulmeister Heinrich Graes aus Borken verzweifelt dem auf dem Schlossbalkon stehenden Bischof zu, ob er denn nicht einem Gefesselten Gnade gewähren wolle. Der Bischof wird aufmerksam, lässt Graes zu sich kommen und verhört ihn. Und hier beginnt eine tolle Geschichte, von der schon hier der Anfang wenigstens erzählt sei.

Der Mann nämlich, den doch nun sozusagen der Heiligenschein der Märtyrer umgeben sollte, macht sich, wofern man ihm nur das Leben schenken wolle, anheischig, wichtige Geheimnisse der Stadt auszuspähen und zu diesem Zwecke nach Münster zurückzukehren. Der Bischof, der ihm zunächst misstraut, nimmt ihn in Eid, lässt ihn, auf Graes eigene Anweisung, gefesselt und bei Nacht und Nebel bis unmittelbar unter die Mauern der Stadt schaffen, wo die Wachen den Apostel des Herrn, den einzigen Heimgekehrten, erkennen und das Volk von Münster ihn unter Lobgesängen dem Könige zuführt. Dort aber erzählt dieser Graes auf die Frage, wie er habe heimkehren können, eine wahre Räubergeschichte von einem Engel des Herrn, der ihn aus dem Iburger Gefängnis befreit habe . . . er erzählt auch anschaulich von den Martern der übrigen und begegnet mit all diesen Engelgeschichten zuerst zwar einigem Misstrauen, weiss aber mit der Versicherung, dass draussen alles gut täuferisch gesinnt sei, Bockelsons Herz für sich zu gewinnen. 194 Wird zum Propheten erklärt, wird von allen Staatspredigern als Muster starken Glaubens bezeichnet, nimmt fortan an allen wichtigen Beratungen teil und erfährt alles, was er wissen will.

Natürlich hängt, da ja täglich bischöfliche Ueberläufer und Gefangene in die Stadt kommen, die um Graes in Iburg gespielte Rolle wissen – natürlich hängt unter solchen Umständen sein Leben am seidenen Faden, natürlich kann jeder Tag ihm das Verhängnis bringen und natürlich sucht er fortan nach einer Gelegenheit, aus der Stadt wieder zu entkommen. Und wir werden ja auch bald sehen, wie ihm dieses Vorhaben glückte und wie schlecht es Münster dabei erging.

Vor der Hand aber ist festzustellen, dass das Leben dieser armseligen Apostel ganz umsonst geopfert ist, und da es, wie wir bald sehen werden, inzwischen nicht mehr sehr gut steht mit dem neuen Zion, was bleibt uns da übrig, als auf die Intervention der täuferischen Brüder in Friesland und Holland zu hoffen und zu ihrer Alarmierung doppelt laut in das Sprachrohr der Propaganda zu schreien?

Was Münster in diesen Spätherbst- und Wintermonaten auf diesem Gebiet leistet, verrät fast allenthalben des lieben Rothmann gepflegte Literatenhand, es ist ein beachtliches Feuer, das in Holland entfacht wird und von dort aus um ein Haar das ganze Reich 195 in Brand gesteckt hätte. Da, wie wir bald sehen werden, das Verlassen der Stadt noch immer ziemlich leicht ist, so erreichen fast alle diese neuen Wanderprediger, die man bis Dezemberende mit reichlichem Geld, mit geheimen Briefen und mit Rothmanns Traktätchen aussendet, ihr Ziel, und wir werden bald sehen, wie kräftig ihre Saat aufging. Darüber hinaus fliegen wieder, an Stöcke und Pfeile gebunden, die Broschüren und Briefe über die Wälle ins bischöfliche Lager, sie kleben, von überkühnen Täufern dort angeheftet, gar an den Türen der Blockhäuser. Sie hetzen wieder einmal den Landsknecht zur Insubordination auf, wandern auch bei Bauer und Bürger von Hand zu Hand und überzeugen die einfältigen Leute immer mehr davon, wie bieder und harmlos doch im Grunde die armen Täufer seien und welches Unrecht der Bischof tue, sie so hart zu bedrängen. Diese Rothmannschen Schriften sind damals überall und sind doch nirgends recht zu fassen, sie hecken allenthalben nach dem Muster der ihre Tochtergeschwülste zeugenden Krebsgeschwulst neue Täufergemeinden. ›Daer sint‹, sagt später, anfangs 1535, der schon erwähnte Schulmeister Graes aus, ›daer sint geschickt uth Monster dusent bocken (Bücher) in allen umliegenden steten und dorpen / welck bock is genant »von der Wrache« (Rache) / um dat gemeine volck uprorech (aufsässig) to maken.‹

196 Knipperdolling nämlich schreit, wenn er wieder einmal mit einem seiner Brüllanfälle durch die Strassen läuft, nicht mehr wie früher nach Busse, er schreit neuerdings ›Rott aus, rott‹, und wenn König Bockelson in diesen dunklen Spätherbsttagen melancholisch sein nahes Ende und seinen noch gewaltigeren Nachfolger ankündigt, so sagt er, dass dieser nach ihm kommende Gewaltige ›alles Hohe niedrig‹ machen werde. Mit dem gleichen chiliastischen Hass wütet auch die Rothmannsche Schrift gegen alles, was nicht nach münsterischem Rezept eingeebnet ist und wütet demgemäss gegen die Stände des Reiches. Sie gebärdet sich höchst makkabäisch und verrät ihre Wut über die steigende Not Zions in verwegenen Wunschbildern, sie stützt sich auf jedwede passende alttestamentliche Greuelprophetie und ganz besonders auf Hesekiel XXX. ›Babylon‹ (das ist natürlich alles, was nicht münsterisch ist) . . . ›Babylon wird für die Bedrängung des Gottesreiches schwer gezüchtigt und nach Hesekiel XXX soll zu Zoan ein Feuer angezündet‹ und ›der Bal von Noph umgestürzt werden‹, und allenthalben verrät sich jenseits dieser alttestamentlichen Exegese der unbändige Wunsch des lieben Rothmann, alle bestehende Ordnung zu vernichten und nach dem Rezepte aller Unterweltssöhne das Oberste nach unten und vor allem das Unterste nach oben zu kehren. So verhält es sich mit diesem Buch ›Von der Rache‹. Und es 197 leistet an Unverschämtheit das Aeusserste am Schluss, wo es nach all diesen Drohungen mit Feuerbrand und Schinderei auf jene Sanftmütigen verweist, denen nach Christi Wort das Reich Gottes gehören wird. Gerade dieser dialektische Salto aber, das ist mit all seinen Zungenkünsten der liebe Rothmann. Das ist der aus dem Leim gegangene Pastor mit den neun Frauen, das ist (um ein russisches Wort zu gebrauchen) der rabiat gewordene Popensohn, dem auf die Dauer das Leben nie, die Dialektik aber immer gehorcht: Urahn jenes Pjotr Stepanowitsch aus Dostojewskis ›Dämonen‹, Urahn aller modernen Wort-Bravos, deren einzige Waffe die Dialektik, deren Ziel Zersetzung um jeden Preis und deren Erbschaft Massenwahn heisst. Das Schicksal hat diesen Rothmann nicht wie die übrigen Führer Münsters an den Lambertiturm gehängt, und es wäre ja auch unziemlich, selbst dem ärgsten Bösewicht mehr als die Auslöschung aus dem Leben zu wünschen. Wurde aber nach dem Fall der Stadt nun einmal mit glühenden Zangen gezwickt, wurden die Knipperdolling und Bockelson vor ihrem Schafottode zuvor wie wilde Tiere als Schaustücke durchs Land gefahren: so wäre es recht und billig gewesen, es hätten alle diese Strafen zuvor den intellektuellen Drahtzieher, eben diesen Rothmann, getroffen. So ist er spurlos in jener ominösen Johannisnacht des Jahres 1535 und wohl unter den damals getürmten Leichenhaufen für immer 198 verschwunden. Was bestehen bleibt, das ist die ihm und gerade ihm aufzubürdende Verantwortung für das unermessliche Elend der Stadt und für alle die Blutbäche, die in diesen achtzehn Monaten in ihre Erde gesickert sind.

Die Schrift ›Von der Rache‹ bleibt in diesen Monaten seine einzige literarische Tat nicht. Als im Dezember 1534 endlich, wie wir noch sehen werden, ›die vier Churfürsten vom Rheyn / auch der Rheynischen, Niederländischen und Westphälischen Kreyss stendt Botschafter und Rhet‹ zur Beratung über die Lage und die notwendigen Massnahmen zusammentreten, da wenden sie sich auch, den Münsterischen ihre mannigfachen Häresien und Untaten vorhaltend, mit einer Schrift an die Heilige Stadt und erhalten von ihr natürlich geharnischte Antwort. Ganz besonders an den Landgrafen Philipp von Hessen richten sie aus Münster einen Brief, der am zehnten Januar 1535 abgefertigt wird und der, weil er wiederum Rothmanns Urheberschaft verrät, im Auszuge wenigstens hier wiedergegeben sei . . .

Landgraf Philipp von Hessen

›Gott der Allerhöchste, ein Herr der Heerscharen und allein ein unsterblicher König, der wie ein Buch die Himmel breitet und den Grund der Erde gefestigt hat . . . macht selig und erhöret alles, was in Christus nach seinem Willen lebt, verwirft aber und erniedrigt alles, was hoch und hoffärtig ist auf Erden. Derselbe 199 Gott also, den wir allein ansehn und fürchten, der wolle auch Euch nach Euerm guten Willen Gnade und Barmherzigkeit verleihen. Amen.

Besonders lieber Phillips, Landgraf zu Hessen, wiewohl wir daraus, dass ihr dem sogenannten und papistischen Bischof, der unser geschworener Feind ist, samt den anderen Babylonischen gewaltige Hilfe mit Geschütz und Knechten gewährt habt, leicht zu entnehmen haben, wessen wir uns von Euch zu aller Zeit versehn sollen, so haben wir doch sonderliche Ursach, mit guter Vertröstung und Hoffnung an Euch zu schreiben.

Erstlich verwundern wir uns sehr, dass Ihr samt den sogenannten Evangelischen des Evangeliums so vergessen habt und dass Ihr das, was Ihr als Greuel erkanntet, nun gegen uns handhabt und stärken helft.

Die Obersten unserer Feinde wollen nicht verstatten, dass wir mit jemandem sprechen, wollen auch nicht erlauben, dass unsere Schriften und Bücher gelesen werden. Lieber, aus welcher Ursache denn? Wahrlich, weil der Teufel sehr wohl weiss, dass kein Ding stärker ist als die Wahrheit. Es ist aber jämmerlich, dass die, die sich des Evangeliums rühmen, das Evangelium also verfolgen. Dass die Papisten als die rechten Babylonischen uns verfolgen, ist noch zu verstehn. Dass aber die Evangelischen als Freunde der Wahrheit und 200 Liebhaber Christi nun den lügenhaften Christen beistehn und helfen, Lieber, wer mag solche Unbescheidenheit aussprechen?

Wir wollen darum, frommer Philipps, Ihr wollt die Sache wohl bedenken, dass Ihr uns hört und uns wenigstens einen Titel oder eine Ursache unserer Misshandlung angebt. Wir haben mit etlichen Evangelischen, die sich zwinglisch oder lutherisch nennen, verhandelt und von ihnen, wofern wir übel gehandelt hätten oder falscher Lehre wären, Zeugnis gefordert. Es ist uns aber bis auf den heutigen Tag keine andere Antwort geworden, als dass wir Ketzer sind. Ist das denn Bescheides genug?

Es ist ja nicht nötig, so viel schwere Kriegskosten mit viel Blutvergiessen gegen uns zu gebrauchen, denn wir sind allerzeit erbötig gewesen, dem göttlichen Rechte genug zu tun, wenn uns jemand nachweist, dass wir unrecht haben. Haben wir aber recht, so wollen wir bis ans Ende unseres Lebens um der Gerechtigkeit willen der Welt Feindschaft tragen. Denn wir sind gewiss mit dem Bann des göttlichen Geistes versiegelt, dass man uns vor Gott keine sträfliche Schuld kann auflegen. Darum sind wir auch ganz unverzagt. Wir wissen, der Welt Anschläge gegen uns werden nicht alle geraten, denn unsere Erlösung säumt nicht und das Feuer, das angesteckt ist, werden alle Wasser der Erde nicht auslöschen können.

201 Wir wollen nun von etlichen Stücken, die bei uns ans Licht gekommen sind und an denen der gemeine Mann und vielleicht auch Ihr auf den ersten Blick Euch stossen mögt, einen klaren Bericht geben. Demnach schicken wir Euch hier eine gedruckte SchriftEs war die bekannte ›Restitution‹ Rothmanns., zur Anweisung unserer christlichen Lehre. Wenn Euch nun die Wahrheit lieb ist, so leset die Schrift mit Fleiss und prüft und richtet nach der Wahrheit mit gerechtem Gericht.

Wir hören, dass es in der Welt unleidlich erachtet werde, dass bei uns des neuen Tempels ein König aufgerichtet worden ist, sie schelten und lästern greulich darüber. Nun wisst Ihr ohne Zweifel, dass Christus gesagt hat, dass nicht ein Titelchen der Heiligen Schrift unvollbracht bleiben soll. Nehmt also die Propheten zur Hand und seht, was sie von dem Babylonischen Gefängnis und der Vollendung dieser Welt sagen und was die Parabeln Christi, was der Apostel Schrift und was die Apokalypse zeugt und wie den Babylonischen vergolten werden soll und zu welchem Reiche und zu welcher Herrlichkeit Gottes Volk aus allen Enden der Welt versammelt werden soll.

Wenn Ihr das mit Fleiss überlegt und dann die Schrift, wie Paulus zu Thimotheus sagt, von einander schneiden könnt, so werdet Ihr gewiss vernehmen, ob 202 wir von uns selbst einen König aufgerichtet haben oder ob er von Gott anderswo verordnet ist.

Wir bitten Euch, achtet uns doch nicht so keck und unverständig, dass wir zu unserem eigenen Verderben solches Fastnachtsspiel anrichten und bei uns dulden.

Auch möchten wir durch verständige und getreue Brüder mit Euch reden, oder mit beständigen, geschickten und frommen Männern, die nicht wie FabriciusSchon im November war Fabricius, der aus den Januarwirren des Jahres 1534 bekannte hessische Geistliche, als Unterhändler in der Stadt gewesen und hatte, da die Besprechungen in einem Tage sich nicht erledigen liessen, durch eine Nacht sogar die reichlich gewährte Gastfreundschaft des Königs genossen. Die Verhandlungen waren durchaus negativ verlaufen, am nächsten Morgen aber hatten die königlichen Räte Fabricius im Vertrauen zu verstehen gegeben, dass der König sich nun einmal zu weit vorgewagt habe und nicht zurückkönne, dass übrigens ein wesentliches Hemmnis für alle Verständigungen die Person des Bischofs sei: mit einem weltlichen Fürsten werde man weit eher verhandeln können. mit geschmückten Lügen an- und abziehen, von der Wahrheit zwischen Euch und uns handeln. Dann vermuten wir und wissen sicherlich, Ihr werdet gegen uns und Christi Wahrheit anders gesinnt sein, als Ihr durch lügenhaftes und falsches Anbringen täglich über uns berichtet werdet.

Lasst uns darauf Eure Meinung vernehmen, so sollt Ihr uns zu aller Billigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit allzeit bereit finden.

Gegeben aus Münster, den 10. Januar 1535.

Aus göttlicher Ordnung und Vereinigung    
der Regenten und Gemeinde der Stadt Münster.

203 Also schreibt Münster. Der ›besonders liebe Philipps, Landgraf zu Hessen‹, verfehlte nicht zu antworten, und es ergab sich aus diesem Hin und Her der offenen Briefe ein richtiger Federstreit, der von einer Replik zur anderen immer heftiger wurde und erst kurz vor der Einnahme der Stadt endigte. Wer im übrigen zwischen die Zeilen sieht, liest dort ziemlich viel. Im August waren die bischöflichen Unterhändler mit dem barschen Bericht heimgeschickt worden, dass ihre Sache die des Antichrists sei, im Oktober noch hatte einer der Apostel geäussert, ›man solle dem Bischof, statt ihn schalten und walten zu lassen, ein Haarseil durch den Hintern ziehen‹. Man sieht also, dass mit dem Laub des Jahres 1535 auch die Stimmung gefallen war, man hört zum ersten Male auf der täuferischen Seite das Wort ›Unterhandlung‹, und man tut gut, seine Schlüsse zu ziehen . . .

Man mag nun fragen, warum denn der Bischof und seine zahlreichen Bundesgenossen, die so oft Ultimaten gestellt und im August doch selbst günstige Bedingungen geboten hatten, im Januar die gebotene Hand nicht ergriffen? Die Frage muss mit einem Hinweis auf die von Münster betriebene Propaganda und die oft geäusserten oder angedeuteten Ziele der Stadt beantwortet werden. Der Bischof wusste, dass weiteres Verhandeln nur auf weitere Zersetzung seines Heeres hinauskommen würde, er wusste jetzt, dass der Waffenstillstand 204 einen faulen Frieden mit glimmendem Revolutionsfeuer bedeutete, er wusste, dass es ein Kampf auf Leben und Tod war, der nur mit der Vernichtung der einen Partei beendet werden konnte.

Dabei steht seine Sache selbst im Spätherbst 1534 militärisch keineswegs gut. Im Oktober, gerade um die Zeit der Apostelentsendung, hat eine arge Seuche, wahrscheinlich eine Typhusepidemie, das Lager des kleveschen Kontingentes befallen. Vergeblich bietet der Bischof den Landsknechtsführern die Verbrennung des verseuchten Lagers und das Beziehen neuer Quartiere an – der klevesche Haufe verlässt einfach die Linie, ergiesst sich plündernd und sengend über das Hinterland, und es muss die bischöfliche Kavallerie aufgeboten werden, um die Marodeure unschädlich zu machen.

Der Ausfall wird zwar mit neuen und drückenden Kosten ersetzt, das Ueberlaufen zu den Täufern aber dauert an, und ausserdem erhebt sich weit hinter den Linien der Belagerungsarmee eine noch schlimmere Gefahr. Denn man glaube doch nicht, dass in so bewegter, von revolutionären Gewittern so überzogener Zeit ein solcher Aufwand an Propaganda wirkungslos verpuffen konnte! Wir werden bald sehen, dass die Wirkung dieser Propaganda in Friesland und Holland des Königs einzige grosse Hoffnung war, wir werden sehen, dass er nach Norden und nach Westen just so sehnsüchtig ausschaute, wie hundert Jahre nach ihm das belagerte 205 Magdeburg nach dem schwedischen Ersatzheer ausgeschaut hat.

Wir erleben es andererseits, dass auf der Koblenzer Tagung von mehreren Seiten bereits das Schicksal des Bischofs für den Fall erörtert wird, dass man sich zur Aufhebung der Belagerung gezwungen sieht, und man muss zugeben, dass die Möglichkeit einer solchen Aufhebung gross genug ist. Abgefangene münsterische Kuriere gestehen, dass insgeheim zwischen der Gegend von Aachen und der Küste zum Ersatze des Täuferreiches vier beträchtliche Heerhaufen aufgestellt werden; am 24. Januar 1535 berichtet der Statthalter Schenck von Tautenburg von einem Haufen von tausend Täufern, die sich bei Groningen zum Marsch auf Münster formiert haben, und in der Gegend von Utrecht sollen es nach den damals umlaufenden Gerüchten gar ihrer 18 000 sein! Der Herzog von Geldern, ein fanatischer Katholik, nimmt den als Christus in persona sich ausgebenden Propheten Schuhmacher gefangen, und auch bei Utrecht wird durch reguläre Truppen und aufgebotene Bauern die Ordnung leidlich gewahrt. Gleichwohl wimmelt es auf allen Landstrassen und in allen Schlupfwinkeln der niederdeutschen Städte von täuferischen Emissären, Amsterdam und Leyden leben ihretwegen in ständiger Panik, in Ostfriesland hofft man in jenen Monaten, es werde demnächst sich ganz Ober- und Niederdeutschland erheben. So ist also die 206 Interventionsgefahr erst jetzt akut geworden, und erst im Frühjahr des kommenden Jahres werden wir es erleben, dass diese über der Belagerungsarmee hängende Donnerwolke endgültig sich entlädt und verknattert. Und mit gutem Grund hat schon im Spätherbst der bedrohte Bischof Mainz und Trier, den Kurfürsten von der Pfalz und Lüttich und sogar Burgund um Hilfe angerufen, was dann endlich am 26. Dezember 1534 zu der schon erwähnten Koblenzer Tagung führt. Was beschlossen wird, das ist das gemeinsame Tragen der Belagerungskosten, es ist ferner eine zu diesem Zweck erhobene Umlage von fünfzehntausend Gulden monatlich, und es ist endlich die Bestellung des Grafen Wirich von Dhaun zum obersten und vom Kaiser noch zu bestätigenden Feldhauptmann von Münster.Bisheriger Oberster Feldhauptmann war, wenigstens dem Namen nach, der Bischof.

Das ist nicht sonderlich viel, es bedeutet im Angesicht der rabiaten Stadt eher eine defensive, denn eben eine offensive Massnahme, und neuerlich taucht die Frage auf, weswegen man also an der Jahreswende nicht verhandelte. Eine klippe und klare Antwort finden wir in einem der beiden uns erhaltenen Briefe, die, allerdings erst um die Osterzeit 1535, der bei den Belagerern sich aufhaltende Kriegskommissär Justinian von Holtzhausen nach Frankfurt an seinen Vater schreibt: ›So balt man mit inen handeln wil / so wollen sie mit 207 schrifften überzeugt sein / so man aber das selbig tut / sagen sie / wir felschen die schrift und seien Durcken und heiden. In somma / wan man nit uf ire meinung die schrift deuttet / so gelt es bei inen nicht.‹ Das bedeutet ja wohl: wir hier in Münster wollen mit solchen Wortgefechten lediglich Zeit gewinnen bis zur Stunde der Intervention, wir wollen uns mit diesen Unterhandlungen eine Hintertür aufhalten für den Notfall. Vorerst aber wollen wir, wie wir das dem hessischen Prediger Fabricius ja verbotinus gesagt haben, ›lieber das Kind im Mutterleibe essen‹, ehe wir unser grosses Ziel aufgeben: von dem alten Reichsbau auch nicht einen Stein auf dem andern zu lassen, alles hineinzuzwängen in die alttestamentliche Ordnung unseres Zionstempels. Und vor allem: die Herrschaft unseres Königs und die Herrschaft all seiner unterschiedlichen Propheten ein für allemal und für immer zu untermauern.

Denn was bedeutet schon diesem Kneipenwirt von ehedem dieses Münster viel mehr als eben ein Instrument zur Befriedigung seines Geltungsbedürfnisses? Sehnsüchtig schaut er in diesen Spätherbstwochen nach Westen und nach der ersehnten Intervention aus, und diese Intervention ist wohl der Kern aller Illusionen, mit denen er nun, im sinkenden Licht des späten Jahres, seine Untertanen über die beginnende Not hinwegzutrösten versucht. Zu Ostern also wird die Stadt längst frei sein, verlangt wird ja nur noch eine kurze Zeit der 208 Entbehrungen. Schon dieses Neujahr wird das herrlichste sein, das man seit tausend Jahren gefeiert hat . . . ja, wenn man den Aussagen münsterischer Ueberläufer glauben darf, so macht in diesen Tagen die Majestät ihren Untertanen weis, es hätten inzwischen sich die Könige von Engelland, von Schottland und von Frankreich taufen lassen.

Was ja einigermassen an die roten Fahnen erinnert, die, nach den Versicherungen der deutschen Revolutionäre, im November 1918 über den Kriegsschiffen und den Schützengräben der Entente flatterten. Der holländische Ersatz aber bleibt nun einmal die grosse Parole der münsterischen Staatsleitung, und in den Kellern des gotischen, von Knipperdolling bewohnten und noch heute erhaltenen Hauses werden damals jene Propagandaschriften gedruckt, die, die Stimmung aufrecht zu erhalten, im voraus das Eintreffen jenes Ersatzes und vor allem auch das Strafgericht schildern, das dann über dem Bischof niedergehen werde.

Knipperdollings Haus
(Im Keller wurden die Propagandaschriften des Täuferreiches gedruckt)

Der König unterstützt diese Propaganda durch die Verkündigung seiner Visionen, die ihm ›heute um die dritte Stunde vor Tag‹ geworden sind, und wieder einmal hat er Gottes Stimme gehört . . .

›Unzähliges Volk sollst du zu meines Namens Ruhm erwecken.‹ Und die Männer sollen ihren Weibern das Glaubensbekenntnis abfragen, aber, wenn wir bitten dürfen, nicht das alte ›Ich glaube an Gott den Vater‹, 209 sondern ›Ich glaube an das Neue Reich und an den Grund meiner Taufe.‹

Kommen die melancholischen Stunden, so verkündet er auch wieder einmal, dass seine Stunde bald kommen werde, lässt sich aber auf die Dauer, ausgerüstet mit einem schier unerschöpflichen Lebenswillen, in seinem Optimismus nicht irre machen. Er kommt, wie im November der Prediger Fabricius seinem Herrn berichtet hat, dem Unterhändler noch immer sehr stolz im schwarzen Samtwams und im weissdamastenen Mantel entgegen, und auf Rothmanns Verlangen muss Fabricius vor ihm stehend seine Botschaft ausrichten, während doch der übrige Hofstaat sitzt. Im übrigen ist die Aufnahme des Gastes, da der König Lebensmittel in Hülle und Fülle für sich beschlagnahmt hat, beinahe üppig, und die Majestät führt ihn leutselig herum und zeigt ihm die mannigfachen Einrichtungen der Stadt. So steht es in diesen Monaten des sinkenden Lichtes mit Bockelson selbst.

Wie aber steht es eigentlich in diesen lichtlosen Monaten mit der Stadt, mit diesem Münster, das nun auf die holländische Hilfe sich wie aufs Evangelium verlassen muss? Die Abschliessung ist, wie der aus der Stadt heimgekehrte Fabricius dem Bischof berichtet, weniger vollkommen, als es im Hochsommer geplant war, und weil auf diese Weise zwischen den beiderseitigen Linien das Hin und Her im Herbst ziemlich 210 rege gewesen ist, so ergibt sich aus den Aussagen gerade jetzt, wo der beginnende Mangel zahlreiche Ueberläufer, Zwischenträger und auch Hamsterer aus den Mauern treibt, ein ziemlich klares Bild von der Lage. Fabricius schon hat die Strassen verödet, die Menschen stumm und bedrückt gefunden, und dass niemand mit ihm sprechen durfte, ist nach den Erfahrungen früherer Parlamentäre beinahe selbstverständlich. Was die übrigen, die aufgefangenen Kuriere, was der ehemals begeistert täuferische und nun von der Täuferei gründlich enttäuschte Edelmann Scheiffert von Merode und der ebenfalls von Münster angewiderte Diener des Malers Lutger to Ring berichten, das enthüllt freilich ein schon recht verdüstertes Bild. Was in der Stadt gegenwärtig herrscht, ist noch kein Hunger – den wirklichen HungerNach Aussagen des anfangs 1535 verhafteten Propagandisten Zillis Leitgens verfügt Münster um die Jahreswende noch über 200 Kühe und 96 Pferde, sowie über Bier und Brot für ein volles Jahr. Die geringe Zahl der Pferde ist darauf zurückzuführen, dass man im Sommer, ehe man an das Essen von Pferdefleisch dachte, gegen 300 Pferde geschlachtet und in der Haut verscharrt hatte, um die Heubestände zu schonen. Die Angaben über Bier und Brot sind fraglos falsch, da bei Richtigkeit die notorische Hungersnot von 1535 nicht zu erklären wäre. Die Zahl der Einwohner, die vor der Errichtung des Täuferstaates auf 12 000 zu schätzen sein dürfte, gibt Zillis Leitgens auf 1100 wehrfähige Männer, 700 (!) Schüler und 2000 Weiber an. Graes (siehe unten) gibt übereinstimmend mit anderen Quellen und wohl auch richtiger 1300 Männer, 6000 (!) Weiber an. Graes (wohl im Bestreben, dem Bischof etwas Angenehmes zu sagen) behauptet, es seien schon im Dezember Katzen und Mäuse verzehrt worden. Kurioserweise wird auch über Weibermangel berichtet – alle Frauen, die Witwen der hingerichteten Apostel ausgenommen, seien nun vergeben. werden wir erst später kennenlernen – 211 es ist aber auch kein rechtes westphälisches Schalten und Walten mit Speck und Eiern und schwarzem Brot und dickem Bier und fetter Kost, und von unserem guten Speck gar hat kein Haus mehr als höchstens noch eine Seite, und zu was nützt es unter solchen Umständen, dass der König grosse Worte macht und ankündigt, wir würden nun bald von dem heurigen überreichen Schweinesegen des Landes da vor den Mauern die Würste und die Speckseiten zu essen bekommen?

Ausserdem beschlagnahmt der König selbst für seine Hofhaltung uns die besten Bissen, und was nützt uns der Speck, der in den Kaminen der immer schwerer zu erreichenden Bauerndörfer hängt, wenn es bei uns in Münster schon so weit ist, dass jeder des anderen Kochtopf mit schelen Augen überwacht? Man hat bei uns nun Hauslisten aller Nahrungsberechtigten angelegt, man hat uns das private Backen und Brauen im eigenen Hause verboten, man hat uns den schweren süssen Pumpernickel genommen und mutet uns nun das mit Gerste und Hafer vermischte Gemeindebrot zu. Die ärmere Bevölkerung isst gar Pferdefleisch, und auch dieses Pferdefleisch ist schon rationiert, und allenthalben erscheinen wieder einmal diese Diakonen und machen Bestandsaufnahmen der Vorräte und beschlagnahmen den Ueberfluss, obwohl von einem Ueberfluss in Münster nun wirklich nicht mehr die Rede sein kann.

212 Und damit ist die Ernährungslage der Stadt im Spätherbst absichtlich so geschildert, wie sie damals der unsterbliche und zu allen Zeiten vorhanden gewesene Querulant, der ja bei solcher Gelegenheit immer aufersteht, geschildert haben mag. Tatsache ist jedenfalls, dass die Stimmung zerfällt, und dass dunkle Gerüchte von Mund zu Mund gehen . . . leise, leise, da ja auf allen die Angst vor Knipperdollings Henkerschwert lastet. Inzwischen nörgelt man insgeheim so sehr herum, dass Bockelson, um die Müssiggänger zu beschäftigen, alte Häuser abreissen lässt›Item na dem se buten (aussen) der stat nicht mer to arbeiten, danoch die gemeinheit (Gemeinde) in arbeide geholden, rotten unde thosammenkompst der gemeinheit dairmede verschoent moechte werden / so laten se binnen der stat umblanx der muren und sunst allenthalven unnutte (unnütze) huser nedderbrechen und verwoesten.‹, ja, wenn man Herrn Scheiffert von Merode und seinen etwas konfusen und etwas defaitistisch klingenden Aussagen über die StadtMan kann ihm freilich nicht trauen. Er war im Sommer 1534, wie erinnerlich, in heller Begeisterung in die Stadt gekommen, Klopriss hatte vor ihm gewarnt und ihn scheinbar von vornherein als unzuverlässigen Menschen empfunden. Die Begeisterung kühlte merklich ab, sowie der allererste Mangel sich bemerkbar machte. Er ist anfangs Dezember 1534 aus der Stadt gelaufen. Seine Aussage beim Verhör durch die Bischöflichen macht entschieden den Eindruck, als habe er sich durch geflissentliches Uebertreiben der Münsterschen Nöte Vorteile verschaffen wollen. Glauben schenken darf, so machen die Nörgler neuerdings auch vor des Königs geheiligter Person selbst nicht mehr halt, da, nach Scheiffert, ›die gemeinheit (Gemeinde) up den konningk eine suspicie hebbe / derweil 213 he boeke (Bücher) und geld uthgesant / dat he vielleichte dem gelde na tho folgen werde‹.

Münster, mit anderen Worten, wirft seinem König vor, dass er sein Archiv und sein Geld ins ›Ausland‹ geschafft habe und traut ihm zu, dass er bald desertieren und seinem Gelde nachreisen werde, und alles in allem wären wir damit angelangt bei jenem Raunen und Tuscheln und jenem Gerede von umgehendem Verrat, das es in jeder belagerten Stadt . . . im Paris von 1870, in dem von Bazaine verteidigten Metz und wahrscheinlich schon im belagerten Carthago und im mythischen Troja gegeben hat, da nun einmal das Leben in Gefahr, das dem einen Bedürfnis ist, den andern in seiner ganzen Jämmerlichkeit enthüllt . . . heute, wie damals. Tatsächlich aber ist Münster (auch militärisch) damals schon schwächer, als der Bischof es durch seine Kundschafter erfährt, tatsächlich leidet es vor allem auch an Munitionsmangel und muss den Schwefel für sein Kanonenpulver von alten Weinfassdauben abkratzen und gestattet seinen Geschützmeistern Schüsse aus schweren Kanonen nur noch auf besonders lohnende Ziele und stellt, um dem Geraune über diesen Mangel zu begegnen, in der Vorhalle des Rathauses, wo jeder sie sieht, zwei mit Kohlen gefüllte Fässer auf und gibt den Inhalt für Pulver aus.

Das alles ist wohl schlimm, will aber, da es 1760 mit dem Preussen des Grossen Friedrich kaum weniger 214 schlimm stand, noch nicht gar so viel besagen: Wahrsager mit glückhaften Kriegsprognosen hat zur Hebung der Stimmung auch Friedrich im Bunzelwitzer Lager auftreten lassen, und belangvoll sind für uns alle diese damals obwaltenden Umstände nur in einem einzigen Aspekte . . .

Erfüllte nämlich dieses aus dem trüben sozialen Begehren der Zeit gekommene und durch seine kommunistischen Parolen beim Pöbel werbende Täuferreich wirklich ein gebieterisches und dauerhaftes Gebot inmitten einer grossen Zeitwende, so hätte ihm kein Hunger und kein Defaitismus etwas anhaben können. So wäre, da nichts so siebenfach Erz bricht wie Märtyrerblut, aus der Blutsaat der toten Apostel ein unüberwindliches Heer erwachsen, so hätte die ganze alte schwarzgoldene Reichsherrlichkeit nebst Kaiser Carolus quintus und allen vereinigten Königen des Abendlandes nie und nimmer genügt, um diese Bedrohung der mittelalterlichen Welt auszulöschen. Denn die mit den Energien einer grossen Zeitwende aufgeladene Idee ist unbrechbar und unbesiegbar, und in eben solchen Zeiten ist der in der Brust des Menschen mit aller Leidenschaft und Todesbereitschaft gehegte Wunsch beinahe schon des Wunsches Erfüllung.

Und so wäre es ja wohl auch hier gewesen, wäre wirklich dieses aus Altem Testament, Kommunismus 215 und gesteigerter Sexualität entstandene Reich mehr gewesen als ein schauriger, aber doch eben nur im Nebenbette eines grossen Stromes entstandener Wirbel. Mehr als das hysterische Geschöpf eines ehrgeizigen und hemmungslosen Unterweltlers, mehr als eine jäh aufflammende, schliesslich aber doch wieder einmal ausheilende Massenpsychose. Denn es sind noch nicht einmal die späteren Zeiten des wirklichen Hungers, es sind ja schon die relativ noch immer gesicherten Herbstmonate, in denen die Stimmung zerbröckelt und das Schicksal kentert. Das Schicksal nämlich erlaubt sich manchmal ein schaurig Spiel mit den Erdensöhnen und wiegt sie dann in die Illusion von nie abreissenden Glücksserien und gestattet es wohl auch, dass ein Kneipenwirt König wird und mit den Hebeln der grossen Geschichtsmaschinerie spielen darf . . .

Bis dann diese Maschinerie plötzlich auf hohe Touren kommt und in ihr Triebwerk den Maschinisten selbst hineinreisst und erbarmungslos zermalmt. Ist dieser Zeitpunkt erst erreicht, so geht es hemmungslos bergab. Dann erst wird alles, was früher durch ein Wunder immer gut ausging, zum unseligen Zufall, und wo selbst eine so hehre Erscheinung wie Karl XII. von Schweden nach neun glückbegünstigten Jahren weitere neun voll unfassbarer Schicksalsschläge erlebt, da macht dieses Schicksal mit diesem Bockelson genannten Sohn des Chaos wahrlich keine Ausnahme.

216 Der wehrt sich gegen das aufsteigende Verhängnis wie er kann, fasst noch einmal in einem Artikelbrief die Gesetze Zions strenge zusammenEs finden sich Strafbestimmungen für unbegründete Denunziationen und Strafbestimmungen für ›Falsche Propheten‹, unter denen aber nach Sachlage wohl alle diejenigen zu verstehen waren, die jammerten und trübe in die Zukunft sahen. Interessanterweise richtet sich übrigens ein Teil der Artikel erneut gegen verkappten Verrat, gegen Meuterei und gegen alle Vorbereitungen zur Desertion. Entfernt sich jemand ohne Wissen seiner Vorgesetzten und seiner Ehefrau aus seinem Quartier, so soll schon nach drei Tagen die Ehefrau einen anderen Mann nehmen dürfen. Verboten wird ausserdem das Beziehen nicht anbefohlener Wachen. Man wusste wohl genau, dass es allzu oft der Vorbereitung einer Desertion gedient hatte., lässt eine neue Liste der Wehrfähigen aufstellen und lässt die Mannschaft fleissig exerzieren und ersinnt, vielleicht in zeitgemässer Anlehnung an die von der Zeit neu entdeckte Antike, eine neue Kriegsmaschinerie: es werden nämlich schwer bestückte und mit Sicheln versehene Wagen, die man nach dem Muster des Florentiner ›Carocchio‹' mit Fahnen ausgestattet hat, zu einer stosskräftigen Einheit zusammengefasst. Sie sollen bei einem Ausfall, von dem man ja fortwährend spricht, als Kern des täuferischen Angriffes in den Feind gefahren werden, bleiben aber leider, weil ein AusfallNach den Aussagen von übergelaufenen und dann von den Bischöflichen wieder gefangenen Landsknechten ist ein Ausfall für die Oktober-Novemberwende geplant gewesen – also gerade für die Zeit, in der das bischöfliche Heer durch die erwähnte Seuche und die oben berührten Vorgänge beim Klevischen Kontingent geschwächt war. nicht stattfindet und uns ja auch die Pferde fehlen, als Wagenburg und gewissermassen als Zitadelle auf dem 217 Markt stehen und spielen erst später eine Rolle, als das Schicksal Pech und Schwefel auf die Stadt regnen lässt. Die ›Spieltage‹ auf dem Domhof, die bei der gerade in Ruhestellung liegenden Mannschaft mit Karten- und Ballspiel für Ablenkung von allen unerwünschten Gedanken sorgen sollen, müssen leider wieder abgesagt werden, da ›der Koningk sich duncken liet / dat sie wolten werden to wilde‹. Immer wieder tauchen die Gerüchte über einen geplanten Ausfall auf, und immer wieder lockt der Gedanke an die versunkene Welt draussen vor den Toren, und dazwischen hat der König, weitab von jeder Politik und aller Verwaltungsarbeit, seine Visionen und Stunden geschickt gespielter Abwesenheit, aus denen er dann mit neuen herrlichen Offenbarungen über die unausbleibliche Erlösung und eine neue herrliche Zukunft erwacht. ›Unde so‹, berichtet Gresbeck, ›hebben sie dem gemeinen volck dat schönste vorgelacht / so lang als sie immer konden. Sie mochten vast predicken / mehr (aber) die verlosunge (Erlösung) quam nicht.‹ Es will nicht mehr helfen, dass der König vom Fenster aus seinem Volke die Geschichte von David vorliest, für den der Engel des Herrn streitet, es will nicht mehr helfen, dass er mit seinem Rennspiess im Ringelstechen den ersten Preis gewinnt und auch in einem Wettlauf auf dem Domplatze Sieger bleibt und dass dann noch einmal vor etwas kärglich besetzten Tafeln ein gemeinsames 218 Mahl folgt. ›Dair geit kein hoveren for etten‹, stellt Gresbeck fest und meint, dass auch das glanzvollste höfische Spiel den Magen nicht füllt. Auch dann nicht, wenn hinterher die königlichen Trabanten (die zum Teil aus verkommenem niederen Klerus bestehen) dem Volke einen Schwertreigen vorführen, oder wenn gar Se. Majestät zum Abschluss unter dem Schall von Pfeifen und Trommeln mit seinen sechzehn Frauen dem Volk einen Schautanz vortanzt, samt dem ganzen Gefolge, das sich bei dieser Gelegenheit in den gestohlenen Kleidern und in dem Schmuck der vertriebenen Altgläubigen zeigt. ›Et was‹, fügt Gresbeck mit der Giftigkeit des eingeborenen Münsterer Bürgers hinzu, ›et was Hollenders werck. Wan ein Hollender is sieven jiar alt / so iss hei up dem allerweisesten als hei werden wil.‹ Es nützen also auch Schwerttänze und Wettspiele nichts mehr, und wenn die Stimmung der Massen erst sinken will, dann kommt ganz von selbst der Augenblick, wo auch der Terror nichts mehr nützt. Gerade diese öffentlichen Schauspiele, bei denen Bockelson noch immer prachtvoll wie die Morgensonne über dem Meer erscheint, sie untergraben sein Ansehen und seine Popularität, und es schadet ihm der höfische Pomp gerade bei dem Pöbel, dessen täuferische Begeisterung in nuce eine Begeisterung für den Programm-Kommunismus Zions gewesen ist: wie denn, war die ganze Beschlagnahmung unserer armseligen 219 Habe zu etwas anderem gut, als diesem Schneider eine fürstliche Lebenshaltung zu gestatten, und haben wir dabei etwa mehr gewonnen als eben einen hergelaufenen Lumpenkönig mit Harem und gestohlener Krone?

So spricht nun in Münster wohl der Arme. Und mit dem Wohlhabenden von ehedem vereinigt er sich in dieser Frage: Ja, ist denn dieses Hadern um das bisschen Taufe es wirklich wert, dass wir uns deswegen mit der ganzen Umwelt und mit dem Kaiser und mit allen seinen Gewaltigen verfeindeten? Und war der Streit um die Taufe am Ende nur eine Marotte, und lohnte es sich wirklich, dass wir um dieser ›Boferei‹ willen unser bescheiden oder reichlich bemessenes Leben zerstörten und dass – dies ist die schwerwiegendste Frage – wir eingeborenen Münsterer nun hungern müssen, um die Oligarchie dieser Holländer und Friesen zu schützen?

Die letztgenannte Frage, gestellt vom beleidigten Münsterer Lokalpatriotismus, ist die schwerwiegendste, weil auch die Aermsten der Armen sie stellen, und Tatsache ist jedenfalls, dass seit der Jahreswende König und Propheten Zions es mit einer ständigen und schwer greifbaren Opposition und gar mit einer ganz abscheulichen Neigung zu Verrat und Sabotage zu tun haben. Opposition gibt es nun gar innerhalb der täuferischen Oligarchie, und als Knipperdollings Weib – das legitime wohlgemeint und nicht etwa die neben 220 ihr gehaltene Kebse – zu murren beginnt, da sieht man sich dazu gezwungen, sie mit dem Richtschwert in der Hand durch volle zwei Stunden auf dem Marktplatz auszustellen. Schlimmer noch steht es um sechs münsterische Männer und Frauen, die um die Flucht von Ueberläufern gewusst und die eigene vorbereitet und den Deserteuren für den feindlichen Hauptmann da draussen Briefe mitgegeben haben, in denen sie schmachvoll von Zion abrücken und im voraus um Gnade betteln . . .

Was ja wohl darauf schliessen lässt, dass diese sechs mit dem Falle der Stadt als mit einer Selbstverständlichkeit gerechnet haben. Dies wird natürlich mit dem Schaffottode aller sechs Verräter geahndet, und dass eins von den Weibern, ›die Dreiersche‹, Knipperdollings Bettgenossin gewesen ist, ficht den Herrn Statthalter nichts an. Er, der dieses Mal nicht selbst den Henker spielen sollte, reisst, als der für diese Hinrichtung bestellte Scharfrichter zu viel Zeit verliert, dem Manne das Schwert aus der Hand und köpft seine ehemalige Geliebte eigenhändig . . .

Und was ist denn das Verbrechen dieser sechs Leute erst gegen die grässliche Tat, mit der ein Erwählter, der einzige heimgekehrte Apostel, sich befleckt? Wir entsinnen uns ja wohl, dass Heinrich Graes mit seinen Gefährten in Osnabrück ergriffen und dass er als einziger gegen das Versprechen gewisser Gegenleistungen 221 vom Bischof begnadigt wurde. Wir entsinnen uns auch, wie er in die Heilige Stadt zurückkehrte und wie er dort als wunderbar Gefeiter auftrat und wie er zum Propheten ernannt und fortan zum engeren Rat des Königs zugelassen wurde . . .

So ist es mit Heinrich Graes ergangen. Und dann hat er an die zahllos in die Stadt flutenden bischöflichen Ueberläufer gedacht, die um diese Doppelrolle wissen und ihn früher oder später verraten mussten, und es hat dem Borkener Schulmeister das Feuer unter dem Stuhl gebrannt, und er hat sich plötzlich, natürlich auf Grund einer neuen göttlichen Aufforderung, zum Herbeiholen von mehreren tausend Bewaffneten aus Wesel, aus Amsterdam und aus Deventer erboten und für diese neue Apostelfahrt sich ein Beglaubigungsschreiben des Königs erwirkt . . .

Und hat es denn auch ›für den vom himmlischen Vater erleuchteten Propheten Heinrich Graes‹ erhalten und ist anfangs Januar 1535 damit aufgebrochen. Hat sich schnurstracks nach Iburg zu des Bischofs Gnaden begeben und hat ihm alles Wissenswerte, wie aus seiner noch erhaltenen Aussage ersichtlich, verraten: die innere Lage der Stadt, ihre mannigfachen unterirdischen Verbindungen nach aussen, die geheimen niederdeutschen Brudergemeinden, die auswärtigen Waffendepots und auch die namentliche Liste der Weseler, dem Bischof mithin ausgelieferten Brüder.

222 Das hat Graes getan. Vor allem hat er auch dem Bischof gesagt, wie nun die einzige Hoffnung des Königreiches auf die Intervention von aussen eingestellt sei und wie Bockelson sich gar erboten habe, man solle ihn, den König, wie einen gemeinen Mann köpfen, wenn zu Ostern die Erlösung noch immer nicht gekommen sei.

Die Graesschen Angaben werden natürlich sofort an alle gefährdeten und von Graes bezeichneten Behörden und Magistrate weitergegeben, und diese Warnung erreicht es denn, dass später die auswärtigen Nester ausgehoben und die Verbindungen mit ihnen durchschnitten werden und dass jene von Bockelson so sehnlich erwartete Hilfe endgültig ausbleibt.

Denn nun wird Graes, der übrigens von Iburg aus an die Gemeinde zu Münster korrekterweise einen noch wiederzugebenden Absagebrief schreibt, von dem misstrauischen Bischof mit zwei ihn überwachenden Begleitern ausgestattet, alle drei werden als Täufer vermummt und nach Wesel geschickt. Dort verschaffen die drei sich ohne weiteres mit Bockelsons Geleitbrief Zutritt zu den Täufergemeinden und fordern sie in des Königs Namen auf, alle Waffen in einem von Graes bezeichneten Hause zusammenzutragen. Kaum aber ist das geschehen, da rückt in Wesel unter ungeheurer Aufregung der aufsässigen Stadt der natürlich verständigte Herzog von Jülich ein und hebt das 223 ganze Nest aus und hält streng Gericht. In weissem Gewand müssen die überführten Täufer einen Bussgang um den Kirchhof tun und müssen künftig stehend dem Gottesdienst beiwohnen. Worauf sie wieder in die Kirche aufgenommen werden. Ihre Führer Otto Vincke, Schlebusch und noch mehrere andere müssen, allerdings erst nach dem Niederbruch Münsters, das Haupt auf den Todesblock legen.

Graes aber, der ehemalige Apostel, der aus dem Paulus über Nacht ein Saulus wurde und die eigenen Brüder ans Messer lieferte?

Der wird, abseits der Münsterer Katastrophe, seine Tage friedlich als rehabilitierter Katholik und als Schulmeister in Borken beschliessen und dahingehen im Schein der Sterbekerze und wohlversehen mit allen Tröstungen der altehrwürdigen Kirche. Und seine täuferische Häresie und sein Apostelgang nach Osnabrück und seine Errettung durch den Engel des Herrn, das alles wird ihm samt seinem kurzbemessenen Prophetentum und samt dem kurzbemessenen Königreich Münster nur noch eine vage Erinnerung und so etwas wie eine im Alter schwer verständliche Jugendeselei sein.

Just so, wie der reife Mann, der eine Vogelhecke pflegt und mit den zierlichen Bauern von Star und Hänfling sich umgibt, es wirklich nicht mehr verstehen kann, dass er als Klippschüler eine kurzbemessene 224 Periode hatte, in der er Vogelnester zerstörte und die junge Schwalbenbrut vor den Augen der jammernden Eltern zertrat.

So also verhält es sich mit Heinrich Graes. Denn auch so kann man eine feurig begonnene Prophetenlaufbahn beschliessen, und vielleicht hat es sogar seinen verborgenen Sinn, dass es auch solche vielgewandte Odysseusse gibt, und wir wollen's heute, nach vierhundert Jahren, mit einem Lächeln quittieren . . .

Und wollen hier erst, ehe wir für immer Abschied nehmen von Heinrich Graes, jenen Absagebrief zitieren, den er, schon im Januar 1535 von Iburg aus, an seine Münsterer Freunde schrieb.

An die gleichen Münsterer, deren erwählter Prophet er eben noch war und von denen er sich, gestern sozusagen, verabschiedet hat . . .

›Gott verleihe ums allen aus Gnade in milder Barmherzigkeit seinen Geist.

Amen.

Liebe Mitbürger. Derweil die Sache sich also begibt / dass Gott mir die Augen hat geöffnet, dass ich den falschen und vergifteten Brocken (vergiftigen inbroke) des Handels gesehen habe / den man jetzt in Münster treibt / und da mich Gott also aus der Stadt vor einen Spiegel gefordert hat und dass jeder an mir sich spiegele / dass alles Betrug ist / was man jetzt in der Stadt treibt: so ist meine demütige Bitte (demodige 225 bede) / dass Ihr alle einmal die Augen auftut – es ist hohe Zeit – und einsehet / dass Euer Treiben wider Gott und sein göttliches Wort ist.

Die vorigen Propheten sind nämlich alle Propheten gewesen wie ich / so dass Ihr armen dummen Menschen nicht merken könnt / dass es alles Betrug und Verführung ist (altosamen betrog unde verleidung) womit Ihr umgeht. Ich weiss Bescheid. Wolltet Ihr Euch doch noch bekehren und von dem ungöttlichen Handel weichen / Ihr würdet alle Euer Leben behalten.

Hiermit seid Gott befohlen. ›To merer erkentnisse dat gy mogen den schriften geloven / soe hebbe ick min signet hir unden an gedruckt / welck iuw bekant is.‹‹

Dies alles in dem so bieder klingenden mittelalterlichen Westphälisch, das die Worte doppelt gewichtig und treuherzig erklingen lässt. Nicht wir wollen über den Schreiber, hinter dem möglicherweise für den Fall der Verweigerung der Henker bereit stand, den Stab brechen und wollen uns erinnern, dass man solche Briefe schreiben kann und dass es einem hinterher womöglich gut geht und man lange lebt auf Erden. Es sei denn, dass manchmal die quälenden Erinnerungen kommen und alle die Plagegeister, die hinter dem einherziehen, was der weise alte Fontane ein ›Untätchen‹ nannte. Vielleicht.

Das sei einem höheren Richter überlassen.

226 Wenn aber erst von einem ehemaligen Propheten und Apostel solche Briefe geschrieben werden können, ist dann nicht der Zauber, der jede neue Glaubensgemeinschaft mit unsichtbaren Feuerflammen umgibt, verflattert . . . ja, müssen dann nicht die Schwingen gebrochen sein, die sie einst über alle Abgründe hinwegtrugen?

Und wenn somit die Grossen und Erwählten Verrat üben – kann man dann von den Kleinen, von den Namenlosen und Mitläufern und den Widerwilligen gar verlangen, dass sie um einer fadenscheinig und brüchig gewordenen Sache willen hungern und leiden und die kurzen Tage verschütten, die der Kreatur beschert sind? 227

 


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