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Johannes Volkh

Erstes Kapitel.
Nach der Betstunde

Die Betstunde war vorüber; aus der Kapelle unter den vier Linden kamen noch einzelne Andächtige, während andere bereits in Gruppen herumstanden und die meisten sich nach allen Richtungen des Dorfes zerstreuten.

»Amrei, komm«, sagte eine junge Frau mit einem Kindlein auf dem Arm, »die Kapelle wird geschlossen, wir wollen heim.«

Der Mutter folgte alsbald ein Mädchen von fünf Jahren, und beide gingen einem abgesondert stehenden Hause zu, welches, im Schweizerstile erbaut und an einem der Berghänge lehnend, durch ein riesiges Hirschgeweih sich als Jägerhaus darstellte; aber schon nach wenigen Schritten blieb die Mutter wieder stehen und sagte horchend:

»Hast Du nichts gehört, Amrei?«

»Wo?«

»Vom Grauhorn her.«

»Wie ein Schuss war's, Mutter.«

»Mir war's auch so.«

Und bei diesen Worten hob sich der Blick der jungen Frau, und sie forschte, weiter gehend, nach der Abendseite des Jägerhauses hin.

Ein rüstiger Mann in Tirolerjoppe und Spitzhut zimmerte dort an einer morschen Stelle der Wand, in die ein frischer Balken bereits eingefügt war und ein zweiter so eben zu gleichem Zweck rechte Form erhielt.

»Da, Edi, rüstig dran«, sagte der Forstwart zu einem zwölfjährigen Knaben, der ihm hilfreich zur Seite stand, »drei Zoll da weg, die Planke ist zu lang.«

Und mit kräftigem Arm führte der Kleine die Säge durch das Holz, während der Vater mit wuchtigen Schlägen noch einige Holznägel tiefer in den eingefugten Balken trieb.

»Er ist bei der Arbeit und hat nichts gehört«, dachte die rau des Forstwarts beruhigt, setzte ihren Weg etwas rascher fort, küsste ihr Kleines auf dem Arm und trat in das Jägerhaus, ohne den Mann in seiner Arbeit zu stören.

Aber sie war es nicht allein, die das ferne Schießen und das rüstige Schaffen des Forstwarts mit Aufmerksamkeit beachtete; an einer der vier Linden lehnte seit einer Weile ein wilder Geselle, der scheinbar einer Gruppe Männer, die neben ihm stand, seine Aufmerksamkeit schenkte, aber von Zeit zu Zeit einen finsteren Blick der Stelle des Jägerhauses zuwarf, wo der Forstwart mit dem Knaben bei der Arbeit war. Er rückte jetzt den Hut mit der Spielhahnfeder und brummte unwirsch:

»Das ist zu weit, damit lockt ihr ihn nicht weg, Ihr dummen Teufel!«

Aber schon im nächsten Augenblick sah er etwas zufriedener drein, da ein Schuss vom Grauhorn her stärker zu hören war.

»Besser, immer besser!« fuhr er mit grimmigem Behagen fort, da noch einige Schüsse hörbar wurden; ja, sein Vergnügen nahm einen grellen Ausdruck an, als der junge Forstwart endlich mit der Arbeit inne hielt, sich emporrichtete, dem Knaben zum Zeichen, dass er ruhen sollte, die Hand auf den Arm legte und regungslos horchte.

»Es hat verfangen«, murmelte der Geselle, von dem Anblick befriedigt, und da die Männer unter den Linden eben nach dem Dorfe gingen, schloss er sich denselben an, als wäre nichts geschehen.

Das Schießen vom Grauhorn her schien indessen keinen sonderlichen Eindruck auf den Forstwart zu machen. Ruhig zog er seine Hand vom Arm seines Knaben zurück und setzte seine Arbeit fort; und als der Knabe, wohl erratend, was den Vater aufhorchen gemacht, sagte: »Wenn es Wilderer sind, nimm mich mit, Vater«, erwiderte er nur kurz:

»Recht, Edi, lern' Gefahr und Feinde kennen!«

Es fielen noch einige Schüsse, näher und hörbarer als zuvor, aber Volkh, der Forstwart, ließ sich in seiner Arbeit nicht mehr stören, bis der zweite Balken gleichfalls in der Rippe des Hauses saß und die Stimme seines Weibes durch ein Fenster sich vernehmen ließ:

»Kommt, das Essen ist bereit!«

Die Werkzeuge in den Händen, ging jetzt Volkh mit seinem Knaben in das Haus und erschien dann wieder unter dem Vordach eines Ganges, wo ein Tisch mit einem Nachmittagsimbiss bereitstand. Volkh und der Knabe nahmen alsbald Platz, die Mutter mit den beiden Mädchen gesellte sich nachher dazu.

Zweites Kapitel.
»Sei mit der Nacht auch wieder da!«

Die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel, das Firmament war wolkenlos, und ein sachtes Überhandnehmen der Abendkühle machte die Nacht im Freien angenehm.

»Da ist ja der Zündler heute wieder in der Betstunde gewesen«, sagte die Frau des Forstwarts wie für sich und strich dem Kind das blonde Lockenhaar.

»Er treibt's nach Art der Zugvögel und Landstreicher. Nur kein Heim und keine Rast. Die Finger, die ihn fassen werden, seh' ich lang schon ausgestreckt.«

Nach diesen Worten sprach Volkh seinem Essen rascher zu; Elsbeth gewahrte einen ernsten Schatten über seiner Stirn.

»Wie kann's nur Menschen geben«, sagte Edi, »die keinen Tag wissen, wo essen, wo ein Obdach finden! Da hat der Mensch nicht viel vor'm Tier voraus.«

»Und ist auch nicht viel mehr als Bär und Wolf. Gesetz und Nächstenpflicht muss sie zuletzt an Ketten legen oder ganz erlegen«, bemerkte Volkh und machte Miene, aufzustehen.

»Was ruhst Du nicht?« fragte jetzt sein Weib nicht ohne Sorge. »Du hast ja kaum gegessen; Dein Trunk steht noch ganz unberührt.«

Sie hatte wohlfürsorglich das Bierkrüglein höher füllen lassen, um ihn heute daheim zu halten.

»Ich will noch durch den Unterhag, ich habe Spur von Holzunfug. Nun, wenn Du mitwillst, Edi, komm«, sagte Volkh und trat, ohne eine Bemerkung Elsbeths abzuwarten, in das Haus.

»Ja, freilich will ich«, sagte Edi munter und sprang dem Vater nach.

Umso betroffener blieb die Mutter an dem Tische sitzen und drückte nur schweigend ihr Kindlein an das Herz.

Dass Volkh den Knaben mitnahm, belehrte sie, dass er heute nicht gesonnen sei, mit Wilderern anzubinden; allein sie kannte ihren Mann zu gut, als dass er, einmal herausgefordert, des Knaben halber vom Kampfe lassen würde. Der Schrecken der Wilderer zu sein, ihr häufiger Besieger, ihr stets kampfrüstiger und unerschrockener Gegner, das war ja ihres Mannes höchster Stolz und Ruhm. Vor sieben Wochen erst hatte es einen harten Strauß gegeben, Volkh hatte seien fünfte Wunde erhalten, zwei Wilderer, die er traf, hatte man für tot vom Platz getragen; und gerade wie heute waren es verdächtige Schüsse gewesen, welche vom Grauhorn her den Forstwart nach dem Walde lockten. War nicht zu besorgen, dass die Feinde Rache nehmen wollten, in größerer Zahl im Walde lauerten, um den Kühnen Gegner endlich doch unschädlich zu machen?

So dachte Elsbeth auch. Mit wogendem Herzen sah und malte sie die Gefahren aus. Aber der Mut, dies auszusprechen, versagte ihr, als Volkh mit seinem Knaben, der auch ein kleines Jagdgewehr umgehangen hatte, frisch entschlossen aus dem Hause trat.

Elsbeth hatte in ihrer Ehe bald genug die schwere Kunst erlernen müssen, den Mann in Übung seiner Pflichten weder irre zu machen, noch zu hindern. Sorgliche Worte, Bitten, Tränen – wie hatte sie diese mächtigen Bezwinger eines Mannes reichlich aufgewendet, um, was ihr recht schien, durchzusetzen; Volkh war ihnen zugänglich bis auf einen Punkt, in diesem blieb er hart wie Erz, im Punkte der Pflicht! Wunden, Gefahr des Lebens – was waren ihm diese Schreckbilder vieler? Er ging nur mutiger hervor aus jeglicher Gefahr, und die tapfer verteidigte Pflicht gewann an Liebe, wie ein Kind, um das man leidet und kämpft, an Liebe gewinnt.

Daher entließ auch heute Elsbeth ihren Mann nur still und duldend; sie reichte ihm das Kindlein zum Kuss, dann küsste sie ihn selber und sagte:

»Sei mit der Nacht auch wieder da!«

»Ich hoff', es kann geschehen«, erwiderte er und ging.

Elsbeth blickte ihrem Manne nicht wie gewöhnlich nach, indem er unter dem Vordach weg ins Freie trat, dem Walde zuschreitend; sie setzte sich vielmehr, wie von unsichtbaren Händen gezwungen, auf den Stuhl, den ihr Mann eben verlassen, und blickte dumpfen Sinnes vor sich hin. Während das Kind, über ihrer Schulter liegend und mit Händen und Füßen zappelnd, dem Vater nachsah und dessen Namen stammelte, waren der Mutter Gedanken auf die Stetigkeit und Sicherheit des Lebens ihrer Nachbarn gerichtet, deren mancher jetzt, da es gegen Abend ging, ruhig im Fenster lag und seine Pfeife schmauchte oder, im Gehöft umgehend, das Seine mit Behagen musterte.

Doch würde ihre Betrachtung schwerlich den Charakter stillen Sinnens bewahrt haben, hätte sie die seltsam geheimnisvolle Verständigung gesehen, welch fast im selben Augenblick, da ihr Mann das Haus verließ, eine verdächtige Gestalt in die Ferne sendete.

Der Zündler saß nämlich auf einem der vorspringenden Felsen der Bergwand oberhalb des Forsthauses und fing in dem Augenblicke, da der Forstwart das Haus verließ, die Strahlen der Abendsonne mit einer Glasscheibe auf; blitzartig warf er dann die Strahlen einer Bergwand des Grauhorns zu, deren Fuß vom Revier Volkhs beschattet wird.

In diesem Moment schien es, als habe der Blitzstrahl dort einen Mann getroffen, der, auf einer Felsenkante reitend, in der Richtung nach dem Jägerhaus gespäht. Denn mitsamt seinem Gewehre verschwand er von der Felsenkante, schoss die fast senkrechte Wand hinunter und stand unversehrt und aufrecht unter einer Gruppe Wilderer da, welche in abenteuerlicher Tracht und wohlbewaffnet eben Rates pflog.

»Er kommt!« rief der wie auf einer Eisbahn Herabgefahrene, »der Zündler himlitzt (blitzt)!«

Bei dieser Meldung warf jeder der Gesellen sein Gewehr über die Schulter und eilte, ohne einen Laut von sich zu geben, in bestimmter Richtung durchs Gebüsch; nur der Wachposten blieb noch einen Augenblick zurück, um einen Schuss nach der Gegend des Jägerhauses abzufeuern. Dann verschwand auch er im Gebüsche, und es wurde an der noch eben so belebten Stelle derart stille, dass das Knistern, welches ein von der Krone einer Fichte herab schleichendes Eichhörnchen verursachte, auffallend hörbar wurde.

Drittes Kapitel.
Der Gang um Unterhag

Von alledem hatte Volkh keine Ahnung, so schien es wenigstens.

Ernst-heiter wie ein Vater, der sein Söhnlein unterweisend über Feld geleitet, ging Volkh seines Weges nach dem Walde und gab seinem Knaben, der als Neuling dieser Welt gar viel zu fragen hatte, rund und wohlbedacht zur Antwort, was ihm recht schien.

»Sind alle Wilddiebe schlechte Menschen?« fragte Edi plötzlich, von einem früheren Gespräche seltsam überspringend.

Die Frage war ebenso naiv, als sie von tiefer Unterscheidungsgabe zeugte; Volkh erwiderte nach einer Pause ernst:

»Sofern Wilderer Diebe sind, hat ein ordentlicher Schütze nicht nach gut und bös zu fragen.«

»Aber die Leute, die keine Schützen sind, fragen danach. Wie vor einem Jahre der WAttmann angeschossen war und starb, da sagten sie: ›Wie schad um ihn, er war doch sonst ein braver Mann!' Wie aber der Blitter an den Rehposten starb, da sagten sie: ›O, recht geschieht ihm, der war auch sonst keine Akampen wert!'«

»Das merk' Dir, Edi«, sagte Volkh, da einer Unterweisung nicht mehr auszuweichen war: »Wenige Menschen sind ganz gut, und wenige Menschen sind ganz schlecht. Die meisten Menschen haben gute Eigenschaften und auch Fehler. Etwas anderes ist es, ob wir einen Menschen überhaupt als Nebenmenschen ansehen oder uns im Amte zu ihm stellen. Kann Dein Vater im Freien lange fragen, ob der Wilderer sonst ein gutes Herz hat, wenn er mir das angelegte Gewehr entgegenhält oder meinem Herrn das Wild wegschießt? Zu dieser Stunde ist er mein Feind, ein Räuber, und ich muss ihn vertreiben oder an meinem Amt den Schlechten machen!«

»Ich höre immer sagen, Vater, das Wild sollte vogelfrei sein, dann würde kein ehrlicher Mann ein Wilddieb«, sagte Edi.

»Das will ich glauben. Man könnte auch das Stehlen abschaffen, wenn ein jeder sein Haus aufmachen und sagen wollte: Nehmt, es soll nichts eigen sein. Wenn ein Forstwart in sein Amt tritt, Edi, so schwört er nicht auf das, was die Leute sagen, sondern er schwört, seinem Herrn treu zu sein, ihm Gut in Wald und Flur zu schützen. Das muss er schwören und halten, oder er muss das Amt nicht nehmen. Bis heute sagt das Gesetz: Das Wild in diesem Umkreis ist der Herrschaft, ist ihr Gut; kommt eine Zeit, wo das Gesetz sich andern Sinnes wendet, so wird auch Amt und Schwur sich anders stellen. Immer aber, Edi, halte fest an dem: Hast Du je als Forstmann oder sonst ein Amt, so verlottere es nicht in flunkenden Gedanken; hast Du aber andere Gedanken, so nimm en widerliches Amt nicht an. Dass die Zeit Gesetzte ändert, daran tut sie recht und wohl; wer aber vor ein Recht, solange es gilt, als Schildwache gestellt wird, der muss es decken mit Leib und Leben. Ob es später noch einer Schildwache wert ist, darf uns nicht kümmern.«

Edi war jetzt still und schien nachzudenken. aber es war nicht zu verkennen, dass die Rede des Vaters kräftig und wohltätig wirkte. Schon die Ehre, dass der Vater so mannhaft mit ihm rede, und wohl auch der Gedanke, dass er einmal tapfer wie der Vater vor einer Amtspflicht werde Wache halten dürfen, spornte seien Geist an; war Edi ja das Söhnlein Volkhs und von Natur mit Trotz und Stolz bedacht. Es stand dem kleinen Schützen weidlich, wie er jetzt dem Gewehre einen Ruck gab und, sich in die Brust werfend, munter weiter schritt.

Scheidet ein Kind aus dem Elternhaus, so legt die Mutter ihm die Hände auf das Haupt, beugt sich betrübten Sinnes darüber, und im Schatten mütterlicher Wehmut ruht die Stirn des teuren Kindes. Mutter Natur hat ihre Stunden auch, wo sie einem Menschenkinde, das Gefahr bedroht, die Hände auflegt und, die Stirn überschattend, wehvollen Segen spendet.

Als Edi jetzt am Saum des Waldes, der noch im Abendschimmer lohte, unter die Bäume trat und den Spitzhut mit Feder lüftete, war es, als senke sich ein feiner, schwarzer Schleier über seine Stirn und eine unsichtbare Hand suche sie mütterlich zu schirmen und zu trocknen; es war der kühle Schatten des Waldes, der den kleinen Schützen jetzt umfing. Edi fühlte und dachte auch nicht anders und ließ die angenehme Kühle sich behagen.

Ist es gut oder nicht gut, dass der Mensch, von einem Weh oder Unheil bedroht, zumeist keine Ahnung hat und die milden Winke der Wehmut nicht versteht, die ihm Mutter Natur zu geben sucht? Munter blickte Edi durch die Schleier des Waldesschattens hin und forschte zwischen den Säulen der Baumschäfte nach dem Leben und Gedeihen des Waldes.

Viertes Kapitel.
Der Hinterhalt

»Bleiben wir nicht im Unterhag, Vater?« fragte Edi jetzt, da er merkte, dass der Vater plötzlich die Richtung änderte und rechts einbog, statt geradeaus zu gehen.

»Schau dort«, sagte Volkh nur, indem er auf eine herrliche, junge Buche zeigte, welche von Frevlerhand eben frisch und tödlich angebletzt war; die Axt stak noch in der klaffenden Wunde des Baumes, der Frevler musste also eben entflohen seine.

Wer die Gemütsart eines echten Forstmannes kennt, der wird ermessen, wie tief der Anblick des Baumes dem Volkh zu Herzen ging. Wie ein Kind, das, ein Messer in der Brust und stotternd vor Schrecken und Schmerz, urplötzlich vor Vater und Mutter steht, schien ihn der junge, in voller, untadeliger Schönheit aufgeschossene Baum mit starren, flehenden Blicken anzusehen, und das leise Rauschen des Wipfels schien zu stammeln:

»Weh, was habe ich den bösen Menschen getan!«

Volkh erblasste und nahm das Gewehr von der Schulter. Der gemordete Baum rüttelte ihm den höchsten Ingrimm und Schmerz empor. Lange nicht so empfindlich hätte ihn der Anblick eines von Wildererhand erlegten Hochwilds berührt; wächst doch dieses rascher auf und findet leichter seinen Ersatz. Welche Reihe von Jahren bedarf dagegen ein Baum, welche mütterliche Sorgfalt der Natur, um den angelegten Riesen sachte aufzunähren, nach Dicke und Länge mälig auszubilden, ihn mit der majestätischen Krone zu schmücken, dieser hellen Harfe der Winde, dieser grünen Palasthalle und Wohnung der Vögel! Wenn endlich der Riese dasteht, gesund, ausgewachsen, vollkommen im schönsten Mannesalter, und der Forstmann kommt mit der Axt, um der gemeinsamen Schöpfung der Erde und der Luft durch eine leichte Bletzung selbst anzuzeigen, dass ihr Erdenlos erfüllt sei, dann ist selbst der Tod des Baumes ein erhebender Anblick; mit Donnerkrachen stürzt er zu Boden, und was er früher als majestätisch-schöne Erscheinung war, das ist er jetzt als nützlicher Stoff der Schöpfung. Die Überreste, die sein Leichnam liefert, schützen uns gegen die Kälte des Winters, helfen unsere Kost bereiten, verschränken sich als mächtige Arme, um Dächer, Giebel zu tragen, wölben sich zu wandelnden Wohnungen auf Straßen und Seen, schlagen dem Verkehr Brücken und dienen bescheidenen Sinnes selbst als Spielzeug unsern Kindern und Enkeln.

Diese langsam gedeihende, herrliche und nützliche Pflanze nun im Alter der Kindheit schon mit boshafter, frevler, verbrecherischer Hand dem Siechtum oder dem Tode zu überliefern!

Wer weiß, zu welchem überhefigen Schritte Volkh bei diesem Anblicke hingerissen worden wäre, hätte er den Frevler auf der eben erfolgten Flucht noch ersehen!

Jetzt trat er nur langsam an den Baum heran und spähte nach er Spur des Frevlers.

Wohin konnte dieser geflüchtet sein?

Sicherlich nicht linkshin, wo der Weg ins Freie führte und der Fliehende sich der Entdeckung leichtfertig ausgesetzt hätte. Rechtshin aber führte der Weg nach dem Fuß des Grauhorns, und Gebüsch und Klüfte schützten den Frevler dort jedenfalls besser vor Entdeckung.

Darum schlug auch Volkh die letztere Richtung ein. Er nahm die Axt mit und verbarg sie eine Strecke weiter in einem Felsenspalt, den er mit Buchenlaub bedeckte.

»Das ist ein dummer Holzdieb, Vater, der am hellen Tag die Bäume anbletzt; glaubt er, dass wir hm das Holz nur gleich so lassen werden?« fragte Edi.

»Dem war es um den Baum und das Holz nicht zu tun«, sagte Volkh sehr ernst, und wie von einem Messerstich getroffen, hielt er plötzlich inne und setzte nach einer Pause hinzu:

»Siehst Du nicht das nämliche Verbrechen dort?«

Er zeigte nach drei jungen, ebenfalls tadellos gewachsenen Tannen, welche, aus einer Wurzel entsprossen, ihre Schäfte gleichen Umfangs hoch in die Lüfte streckten.

Auch diese dreieinige Brüdergruppe war durch empörende Hiebe bis ins Lebensmark mit der Axt getroffen.

Edi stieß einen Schrei des Schmerzes aus, und Volkh blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen.

Unwillkürlich starrten seien wilden Blicke nach dem dicht aufstrebenden Unterholze am Fuße des Grauhorns, wo er nicht bloß den Frevler an den Bäumen vermutete.

»Horch! Was bedeutet dies Geräusch dort in den Büschen?«

Volkh wollte eben seinem Edi sagen, dass er, hinter einem Baum postiert, ihn erwarten und im Notfalle mutig seinen Mann stellen solle, als sich zwischen den Gebüschen des Grauhorns eine fliehende Gestalt sehen ließ, die offenbar im Dickicht ihre Flucht gehemmt sah und deshalb mit ängstlichen Gebärden bald rechts, bald links zu entkommen suchte.

Wie der Blitz war Volkh jetzt alles Bedenkens bar, und voll der wütenden Begierde, den Frevler an den Bäumen zu ergreifen und mit fortzuführen, sprang er der Richtung nach, die jetzt der Fliehende genommen, und alsbald war er im rauschenden Gebüsch verschwunden.

Eine lange, wunderliche Pause folgte. Unheimliche Stille trat ein.

Endlich war es wie das dumpfe Durcheinander von streitenden Stimmen. Edi glaubte ein und das andere Mal das Rufen seines Vaters zu vernehmen, ja, es schien zuletzt, als ob der Vater deutlich riefe:

»Edi, rette Dich!«

In resoluter Schützenstellung postierte sich aber der Knabe hinter einen Baum und legte das Gewehr an; da indessen der Vater immer noch und schon viel zu lange ausblieb, die Abenddämmerung rasch überhand zu nehmen begann, trat er, kurz entschlossen, mit gespanntem Han hervor und ging spähenden Auges Schritt vor Schritt den dunklen Büschen näher.

Nicht ein Laut ließ sich mehr hören. Selbst kein Vogel in den Zweigen flatterte. Edi hörte nur seine eigenen Schritte und, wenn er anhielt, die Pulse seiner Schläfe.

Jetzt hatte er die Stelle erreicht, wo das Gebüsch am Fuße des Grauhorns begann und wo der Vater vorhin verschwunden war. Edi hielt mit gesenktem Gewehre einen Augenblick an, um zu horchen, ob sich nicht ein Ruf des Vaters hören lasse; allein nichts, kein Laut.

Jetzt erhob Edi seine Stimme, und mit dem durchdringenden Ton eines Alpenjodlers gab er dem Vater ein Jägerzeichen seiner Nähe. Es blieb ohne Erwiderung, die vorige Stille trat ein, und Edi, von Sorgen ergriffen und unerschrocken, wie es Volkhs Söhnlein ziemte, wollte eben tiefer ins Gebüsch treten und forschen, als auf einmal leider zu viel Geräusch entstand, zwei Männer rechts und links aus den Gebüschen sprangen und mit dem Rufe: »Komm zu Deinem Vater!« den Knaben mit Blitzesschnelle fassten, entwaffneten und zu Boden rissen. Und obwohl er sich tapfer wehrte, biss und schrie, war er doch bald gebunden und hilflos aufgehoben, um tiefer ins Gebüsch getragen zu werden. Hilfe rufen konnte er nicht mehr, da ihm ein Knebel im Munde befestigt war, aber hören konnte er, was der Wilderer während des Marsches sich mit grimmiger Schadenfreude zuriefen:

»Wie haben den Jungen und den Alten«, sagten sie, »jetzt werden wir die ganze Brut los, sie hat es schon zu lange getrieben!«

Nun wusste Edi auf einmal, was auch des Vaters Schicksal sei.

Auch er war offenbar im Gebüsch überfallen, entwaffnet und geknebelt worden; sein letzter Ruf war: »Edi, rette Dich!« gewesen, und jetzt lag er wahrscheinlich hilflos mit geschlossenem Munde in einer finstern Höhle, um gemeinsam mit seinem Knaben eines qualvollen Todes zu sterben.

Die Augen des Knaben schlossen sich einen Augenblick, als schiene er dem furchtbaren Schicksale nicht ins Angesicht schauen zu können; schlaff, wie bei Toten, wurden seine Glieder, und die bärtigen Träger mussten den schlanken Leib besser fassen, um ihn von der Stelle zu bringen.

Fünftes Kapitel.
Auf dem Grauhorn

Wer je Gelegenheit hatte, den aus bewaldetem Hügelland von drei Seiten allmälig und gegen Westen hin schroff von aufstrebenden Grauhorn zu besteigen, der wird sich einer Stelle erinner, welche ihn wie jeden Reisenden plötzlich überraschte und mit unauslöschlichem Entsetzen erfüllte.

Man gelangt zu dieser Stelle von Osten her ohne sonderliche Anstrengung und auf dem angenehmsten Wege.

Der Grauhorn bildet nämlich, gleich der Architektonik eines gotischen Turmes, nach umfangreichem Unterbau einen Absatz und führt dann seine Erhöhung auf engerer Basis weiter aus.

Man hat diesen Teil des Berges auch den Turmgang oder die Galerie genannt, weil er dem Reisenden, der hier eine sehr schöne Aussicht genießt, einen bequemen Rundgang beinahe um den ganzen Berg gestattet. Der Weg der Turmganges ist von ansehnlicher Breite und wie durch Kunst geebnet, die natürliche Rundeinfassung besteht aus Felsenzacken und Gebüsch. Im August mach der Reisende diesen Rundgang um den größten Teil des Grauhorns wie auf einem Riesenteppich von Alpenkräutern und Blumen. Hundert Stellen laden den Wanderer zur Ruhe im Schatten ein, um die schönsten Fernsichten mit Behagen zu genießen, und die vielen Feuerstellen am geschwärzten Felsen nebst zerschlagenen Flaschen und Geschirren erinnern an muntere Tafelgenüsse, einige tausend Fuß über der Meeresfläche.

Wie mancher tafelfrohe Gast hat wohl schon lachend und scherzend den Turmgang nach Westen hin verfolgt, schwelgend in körperlichem Behagen und im Anblick des zauberhaften Landschaftsbildes; der gemächliche, breite Weg, von schützender Brüstung aus Fels und Busch eingefasst, hat ihm auf solcher Höhe eine seltene Sicherheit eingeflößt; so ist er fortgewandert, den Hut auf dem Stock, ein Bild des Glücks und der Sorglosigkeit, bis er jählings erinnert wurde, wie knapp neben den sicheren Boden der Abgrund, neben die Freude das Entsetzten, neben das Leben der Tod gestellt ist.

Denn hat der Wanderer die wenig lohnende nordwestliche Aussicht erreicht und wendet sich, verwöhnt durch die früheren Panoramen, ungeduldig ganz nach Westen, da wird er unwillkürlich wie von nie gefühltem Zauber erfasst und fortgerissen; ein Ruf des Entzückens entringt sich seiner Brust, er beschleunigt seine Schritte, um die Fernsicht, welche unübersehbar, malerisch und wechselvoll zu seinen Füßen liegt, mit einem Blicke zu umfassen und zu genießen; und so eilt er weiter, vertrauend auf die sichere Brüstung von Fels und Busch am Saume des Wegs, bis er jählings, von Entsetzen erfasst, kaum drei Schuh von einem senkrecht abfallenden, bodenlosen Abgrund steht.

Man erzählt von einer Reisenden, dass sie, an diese Stelle gekommen und durch das Spiel des Windes in ihrem Kleide verwirrt, der Gefahr hinabzustürzen zuvorkommen wollte, aber vom Schwindel nur mächtiger ergriffen, hinabfiel; lautlos, nach langem Falle, sah man sie auch, wie zum Federball verkleinert, in der bodenlosen, finstern, entsetzlichen Tiefe verschwinden.

Rufe des tödlichsten Schreckens, jähes Zusammenstürzen, um nicht von der Tiefe hinab gezogen zu werden, Ohnmachten und langes Nachzittern aller Glieder sind die gewöhnlichen Folgen der furchtbaren Überraschung an dieser Stelle.

Neben dieser Stelle nun befand sich vor Jahren noch ein Baum, eine knorrige Föhre, welche, ihre Wurzeln zwischen Felsgrund weiter wühlend und durch festen Halt kühn gemacht, ihren strammen Schaft über den Abgrund vorbog und ihre meisten und kräftigsten Äste weit über die Tiefe hinstreckte. Dann und wann nur ein Habicht oder Rabe wagte auf einem der schwanken, schwindelerregenden Zweige Platz zu nehmen, um nach einer Beute der geheimnisvollen, moderduftigen Tiefe des Abgrunds zu spähen.

Auf zwei der eben nicht stärksten und zur Hälfte schon morschen Äste dieser Föhre, die über den Abgrund am weitesten vorhingen, waren am 2. September 1847 gegen zehn Uhr nachts zwei menschliche Gestalten festgebunden, unfähig, Hand oder Fuß zu bewegen, unfähig, zu seufzen, zu reden, zu rufen, denn in ihrem Munde staken mächtige Knebel; die größere der Gestalten lag mit dem Rücken auf dem Ast und hatte das Gesicht gegen den Himmel gewendet; die kleinere lag mit der Brust auf dem Ast und musste, den sicheren Tod vor Augen, in den finstern, bodenlosen Abgrund starren.

Diese in schaudererregender Lage befindlichen, den Tod in jeder Minute zehnmal erleidenden Wesen waren der Forstwart Volkh und sein Söhnlein Edi.

Die Wilderer hatten beide nach ihrer Überwältigung gebunden, den Knebel im Mund, nach dieser verrufenen Stelle des Grauhorns geschleppt und mit einer an Raserei grenzenden Wildheit der Rache auf den über dem schwindelnden Abgrund hängenden Ästen festgebunden. Nicht anders lässt sich die Ausführung dieser Tat begreifen, als dass die Wut ihrer Rache die Wilderer blind machte gegen die eigene Gefahr, in den Abgrund zu fallen.

Die Absicht dieser Rachetat war nur zu deutlich erkennbar. Volkh und Edi sollten sterben, aber sie sollten die Schrecken tausendfachen Todes bis auf den letzten Tropfen vorher auskosten. Nichts war gewisser, als dass die spröden Äste des Baumes ihre Last nicht lange tragen konnten; bei ruhigem Wetter mochte es drei bis vier Tage dauern, bis die Äste, allmälig tiefer geneigt und leise knickend, plötzlich brachen und sausend mit den bejammernswerten Opfern in den Abgrund fuhren; beim nächsten Sturmwind rechten so viele Stunden hin, diesen unglücklichen Augenblick herbeizuführen. Aber ihre Opfer gar zu lange die Schrecken des Todes ertragen zu lassen, schien doch nicht die Absicht der Feinde Volkhs zu sein; sie hatten an der dem Abgrund entgegengesetzten Seite Feuer an den Baum gemacht, um ihn langsam durchzubrennen und so nach wenigen Stunden den Sturz in den Abgrund herbeizuführen.

Sechstes Kapitel.
Zwischen Himmel und Erde.

Gegen zehn Uhr in der Nacht des zweiten September war die Untat vollbracht. Johannes Volkh und sein Söhnlein hingen in ihrer martervollen Lage über dem Abgrund, und das Feuer glimmte und knisterte langsam weiter.

Ein größeres Weh, als hier ein Vater und nachbarlich daneben ein Kind stumm in ihrer Brust zu verschließen gezwungen waren, hat wohl die Welt noch nicht gesehen. Unfähig zu reden, war ihnen die Möglichkeit versagt, sich einander noch Mut und Trost zuzurufen; unfähig, sich zu regen, war keiner von ihnen im Stande, eine Rettung für sich oder für den andern zu versuchen; ja, was die Barbarei der Rache noch am sinnreichsten ausersonnen hatte, Vater und Sohn waren so an die nachbarlichen Äste gebunden, dass sie sich nicht einmal sehen, nicht einmal mit Blicken des Mitleids, des Trostes, des Segens betrachten konnten.

Volkh, dessen Lage auf dem Rücken noch die meiste Möglichkeit zu bieten schien, sein Knäblein wenigstens teilweise zu sehen, hatte sich stundenlang bemüht, dies Vaterglück mit dem in den äußersten Winkel gedrehten Augen zu genießen, musste aber, da ihm der Krampf die weiteren Versuche untersagte, diese Bemühung aufgeben. Von nun an lag er nur noch mit starr gegen Himmel gerichteten Augen da; von Zeit zu Zeit schwoll eine Träne langsam im Auge an und rann dann lautlos weiter über die Schläfe, um in den Abgrund zu stürzen.

»Herr, himmlischer Vater, siehst Du mich hier und mein Knäblein und kannst Du es sehen?« Daswar fast der einzige Gedanke Volkhs, indem er starr gegen Himmel emporsah.

Die Sterne glänzten und flimmerten wie in jeder heiteren Nacht, nur schienen sie näher und näher zu leuchten, als hätten die Engel des Himmels Fackeln ergriffen und wollten bestürzt dem Herrn der Heerscharen das Entsetzliche, das geschehen, deutlicher zeigen.

Nicht einmal solchen Trost hatte Volkhs Knäblein Edi.

Mit der Brust auf den Ast gebunden, hatte er nichts im Bereiche seines Auges als die kalte, grässliche Finsternis des Abgrunds, die ihn bald verschlingen musste.

Wie gerne hätte er gerufen: »Vater, wie ist Dir? Kannst Du nicht helfen?«

Und dann sah er im Geiste die Mutter wieder, wie sie daheim sorglich ausblickt und sagt: »Wo bleiben sie nur, Vater und Edi?«

Das Weh und die Qual nahmen manchmal bei Volkh und Edi so überhand, dass sie eine Zeit lang, aller ihrer Sinne beraubt, in völliger Ohnmacht auf ihrem schwachen Halt über dem Abgrund hingen, freilich um gleichsam gestärkt zu neuem Schmerz, zu neuem Entsetzen zu erwachen.

So kam Volkh um drei Uhr morgens nach langer Bewusstlosigkeit wieder zu sich, da er weder den Ast noch seinen Sohn neben sich sehen konnte, mit dem entsetzlichen Gedanken und Glauben daran, dass, während er ohne Besinnung dagelegen, sein Knäblein Edi jählings mitsamt dem Aste in den Abgrund gefallen.

»Mein Knäblein, mein Edi!« jammerte sein von Gram fast brechendes Herz, aber er konnte die Worte nicht laut ausrufen.

Und fast zur selben Stunde erwachte auch Edi aus eine langen Betäubung und glaubte, während der Betäubung ein Rauschen und Brausen gehört zu haben.

»Mein Väterchen ist hinab gefallen, und ich bin allein noch da!« rief es unsäglich klagend in der Brust des Kleinen. »O Vater! O Mutter! Gott!« waren seine bebenden Gedanken, aber aussprechen konnte er sie nicht.

Und so verrann Stunde um Stunde, und die Nacht begann der Morgendämmerung zu weichen; und Vater und Sohn glaubten sich gegenseitig vom Abgrund verschlungen, beweinten einander brechenden Herzens und hingen doch eine Armeslänge von einander über dem schwindelerregenden Abgrund.

Siebentes Kapitel.
Eine muntere Bergpartie

Eine heitere Gesellschaft von Männern, die den Sommer über an ihr Geschäft gebunden waren, hatten beschlossen, vor Anbruch der kälteren Jahreszeit noch einen raschen, kräftigen Ausflug in das Gebirge zu machen.

Am ersten September früh verließ die muntere Schar mit einem Schnellzug die Hauptstadt und befand sich mittags auf jener Station, von wo aus die Reise mit Extragefährt bis an den Fuß der Voralpen fortgesetzt werden sollte.

Nach einem kurzen Mahle, das mancher Weinflaschen das Leben kostete, wurde der Ausflug ganz, wie entworfen worden, fortgesetzt, und gegen zehn Uhr abends rasselte die Extrapost durch die Torbogen des blauen Hahnen, ersten Hotels einer kleinen, freundlichen Bergstadt.

So weit war also die erste Tagfahrt glücklich zurückgelegt und nach stärkender Nachtruhe sollte zu Fuß die eigentliche Wanderung bergauf beginnen. Der Grauhorn war das Ziel oder der Turmgang sollte, bevor er seine winterliche Nebel- und Schneehaube bis an die Schultern niederzog, noch eine fröhliche Schar als Gastfreund empfangen.

Noch war die Morgendämmerung kaum in die Fenster des blauen Hahnen gedrungen, als die Reisegesellschaft, zweckmäßig ausgerüstet und von einem Führer begleitet, ihr Nachtquartier verließ und der Marsch bergauf begann. Die Herren waren so einsichtig, den sonst freilich sehr kräftigen Führer nicht mit all den Vorräten zu beladen, die sie oben zu verzehren gedachten; es nahm ein jeder von ihnen mindestens eine Flasche Wein und ein Backhuhn oder sonst eine duftige Bratenpartie zu sich, und so ging es nach dem Sprichwort: »Jedem etwas, das teilt schön«, gut und munter bergauf.

Das Besteigen des Grauhorns bis zur Galerie gehört weder zu den gefährlichen noch auch zu den sonderlich beschwerlichen Partien. Ein mäßig rüstiger Wanderer kann vom blauen Hahnen aus den Marsch bis zum Turmgang in drei Stunden zurücklegen, ohne seinen Beinen Übermäßiges zuzumuten; dass die Bergpartie gewöhnlich vier bis fünf Stunden in Anspruch nimmt, kommt von den vielen anziehenden Raststellen, welche näher oder ferner sehr pittoreske Ausblicke gewähren. Auch unter den Wanderern unserer Gesellschaft befanden sich welche, die, ans Behagen der Stadt gewöhnt, jede Ruhestelle mit übertriebener Zärtlichkeit begrüßten und schwuren, hier in einer Hütte ihr ganzes Leben verbringen zu können. So schön dieser Enthusiasmus auch lautete, so war er der Raschheit des Marsches doch nicht eben förderlich. Es kam die Reise auf zwei volle Stunden mehr zu stehen, was bei dem Umstande, dass dem Glücklichen keine Stunde schlägt, ziemlich gleichgültig war.

Endlich gegen elf Uhr vormittags schwang sich der vorderste Wanderer, ein frischer Dreißiger, seines Zeichens Pharmazeut und Besitzer der Mohrenapotheke, auf ein vorspringendes Felsenstück, stieg noch einige jähe Zacken und Vorsprünge weiter hinauf und pflanzte dann seinen Stock mit dem Schnupftuch als Siegeszeichen auf, dass der Berg mit Sturm genommen sei. Ein vielstimmiger Jubel folgte diesem schönen, trostreichen Akte, und nach und nach tauchten auch die Köpfe der übrigen Gesellschaft zwischen den Felsen auf, und mit den Worten des hellsten Entzückens genoss man die erste sich bietende herrliche Aussicht der Galerie.

»Unsere Fahrt ist dreimal gesegnet!« sagte der zum Enthusiasmus neigende Pharmazeut. »Seht, wie sich der herbstliche Neben huldigend zu Füßen der Berges wirft, um uns frei über seinen Nacken weg ins göttliche Land schauen zu lassen.«

Wirklich konnte die Gesellschaft von Glück sagen, dass sie zur Zeit, wo die Herbstnebel jede Bergfahrt bereits unsicher machen, einen Tag zur Wanderung gefunden, der hell und warm die schweren Dünste der Wälder schon um zehn Uhr morgens unwiderstehlich in die Tiefen und Wasserbecken des Landes niederdrückte.

Nachdem man dem Mohrenapotheker als dem glücklichen Anreger der Partie eine kurze Ovation gebracht, die er mit einer langen Rede erwiderte, enthob man das Siegesfähnlein wieder seiner Stelle und setzte auf der schönen, breiten Moos- und Wiesenfläche des Turmgangs die Wanderung bis zu einer Stelle fort, die man für die Mittagsruhe und Stärkung ausersehen.

Der Pharmazeut, der den Grauhorn schon zu wiederholten Malen bestiegen und hier manche begeisterte Stunde verjubelt hatte, war bemüht gewesen, noch in der Stadt eine genaue Zeichnung der Ruhe- und Speisestelle zu entwerfen, und forderte nun von jedem sein Urteil über die frappante Genauigkeit des Bildes, die denn auch mit aller Bereitwilligkeit anerkannt wurde.

Man ließ sich um ein vom Gebirgsstock abgelöstes, flaches Felsstück nieder und stellte nun die Bestandteile eines bunten, aber leckeren Mahls wohlgeordnet auf, wobei der Saft der Reben keine untergeordnete Rolle spielte. Man aß, trank, lachte und jubelte sehr viel und verlängerte, ohne sich darum zu kümmern, die Speisestunde beträchtlich.

Der Mohrenapotheker, welcher einem Neuling der Gesellschaft viel von der gerühmten und entsetzenerregenden Stelle des Turmgangs erzählt hatte, wurde durch das Zögern der Übrigen nach und nach ungeduldig und forderte wiederholt und immer lebhafter zum Weitermarsche auf, ohne aber bei den Freunden sonderliches Gehör zu finden; endlich winkte er dem jungen Hartfrieder, einem angehenden Viertelmillionär, seines Zeichens vierstöckiger Hausbesitzer, um sich wenigsten eines Gesellschafters bei dem Weitermarsche zu erfreuen. Sie entfernten sich fast unbemerkt von den Übrigen, die sich jetzt nur noch behaglicher der Ruhe und derm Weinvorrate hingaben, ohne gegen die wirklich großartige Fernsicht gleichgültig zu werden, die sich ihnen von der Lagerstelle aus darbot. Nur ein etwas stark beleibter Wildprethändler, welcher von der Wanderung bergauf am meisten mitgenommen war, zeigte Hang zu dem Grundsatze:

 

Genieße nur das Nächste fein,
Das Ferne lasse ferner sein!

 

Er griff denn auch wacker zu dem Glase, dessen Wölbung ihm die Landschaft im Kleinen wiederspiegelte, und als sein Nachbar zu zwanzigsten Male ausrief: »Göttlicher Fernblick!« streckt er sich noch behaglicher aus und sagte, die Zigarre anbrennend:

»Ja, 's ist sauber!«

Vielleicht hätte er seine Behaglichkeit auch auf einen kurzen Schlummer ausgedehnt, wann ihm die wilde Vorliebe seines Nachbarn für Alpenleben nicht die nötige Stille geraubt hätte.

Der Nachbar war nämlich Norddeutscher von Geburt und mit seinen Ansichten und Stimmungen im Süden noch nicht recht heimisch geworden. Was der Süddeutsche einfach und landesüblich fand, das versetzte ihn in Ekstase, und was jener warm bewunderte, ließ ihn vollständig kalt. Nur in einem Punkte harmonierte auch er mit dem Geschmacke des Süddeutschen: er machte gern Ausflüge ins Gebirge und scheute weder Mühe noch Kosten, sich gründlich über Land und Leute zu unterrichten; nur übertrieb er hierbei seine Liebhaberei für das Volksleben und wurde seinen Begleitern öfters lächerlich oder lästig.

Auch heute widerstand er seinen barocken Einfällen nicht und wollte durchaus etwas Volksleben und Staffage zur grandiosen Alpenwelt haben. Deshalb musste der Führer der Gesellschaft, ein kräftiger Bursche von einige dreißig Jahren und in schmucker Gebirgstracht, bald näher, bald ferner sich hinter einen Strauch auf eine Felsenzacke stellen und die stärksten Jodler zu Tale senden, die seine Brust beherbergte. Da dieses Stück Volksleben mit bewunderungswerter Hartnäckigkeit und zuletzt knapp über dem Haupte des duselstillen Wildprethändlers aufgeführt wurde, so vertrieb es immer aufs Neue die Annäherung des Schlummers von den Augen des Letzteren.

Indessen hatte dies wenigstens etwas Gutes; der Wildprethändler fügte sich endlich dem allgemeinen Beschlusse, jetzt, solange es noch Zeit sei, den Rundgang um die Galerie fortzusetzen und die Hauptfernsicht gegen Westen vor dem Rückmarsch in den Hahnen zu genießen.

Diesen Entschluss auszuführen, hatte man sich eben erhoben und gedachte den zurückbleibenden Führer mit den nötigen Instruktionen zu versehen, als ein unerwarteter Anblick die ganze Gesellschaft höchlichst überraschte und mit Bestürzung erfüllte.

Um den Felsvorsprung zurückkommend, erschien nämlich der Mohrenapotheker wieder und wurde von seinem Begleiter Hartfrieder sachte im Arme geführt; er konnte sich kaum auf den Beinen halten, seine Arme hingen schlaff an den Seiten herunter, und Totenblässe bedeckte sein Gesicht. Man glaubte beim ersten Blicke, dass der Apotheker von plötzlichem Unwohlsein befallen worden oder dass ihn diesmal der Anblick des jäh abfallenden Abgrundes gewaltig erschüttert habe; doch verlor man über bloßen Vermutungen keine Zeit und eilte dem Freunde mit aufrichtiger Teilnahme zu Hilfe.

Achtes Kapitel.
Leid um Leid

»Was ist geschehen? Was fehlt dem Freunde?« rief man dem Begleiter Hartfrieder zu, da man wohl gewahrte, dass der Apotheker selbst einer Antwort nicht fähig sei.

Hartfrieder winkte mit dem Schnupftuche, das er in der Hand hielt, um die Stirn des halb Ohnmächtigen von Zeit zu Zeit zu trocknen; er wollte damit andeuten, dass auch er im Augenblick nicht antworten könne oder dürfe. Man beeilte sich also schweigend, bis zur Stelle zu gelangen, wo Hartfrieder den Apotheker eben sachte auf einen Stein niederließ, um ihn völlig zu Fassung kommen zu lassen.

»Um des Himmels willen! Was ist vorgefallen? Wie können wir helfen?« sagte der Norddeutsche, der an warmer Teilnahme hinter den Übrigen nicht zurückblieb.

»Nur einen Augenblick Geduld«, sagte der Hartfrieder, »reden und erzählen würde unsern Freund hier neuerdings aufregen und sein Übel nur ärger machen!«

»Nein – rede – sag' alles«, stammelte der Apotheker. »Hilfe ist nötig – eilig, eilig – o seht erst und helft!«

»Was soll das?« fragte der Wildprethändler, der im geeigneten Augenblicke große Kraft und Energie entwickeln konnte.

»Ich kann Euch nicht kürzer berichten, was geschehen und was zu tun ist, als dass ich sage: Geht! Seht selbst!« rief Hartfrieder mit Unterbrechungen.

»Aber wohin sollen wir? Was sollen wir sehen?« erwiderte der Wildprethändler.

»Am grässlichen Abgrund – auf der alten Föhre dort – seht die zwei Menschen, die noch zu leben scheinen – helft, rettet! Seht selbst!« sagte Hartfrieder, bei dem Andenken an das Gesehene fast ebenso unwohl als der neben ihm sitzender Apotheker.

Nun war des weiteren Fragens ein Ende, und die Gesellschaft machte sich unter Vorantritt des Wildprethändlers, der trotz seines Körperumfangs ein rüstiger Wanderer und kühner Turner war, auf den Weg.

Die Strecke bis zur bezeichneten Stelle war nicht eben weit, allein dadurch, dass sie wegen der häufig vorspringenden Felsen beinahe bis zum letzten Augenblicke maskiert blieb, dünkte den Ungeduldigen der Marsch beträchtlich weiter. Man gelangte endlich bis an die letzte Felsengruppe, und Nessel, ein Schilderhändler sagte:

»In drei Minuten sind wir zur Stelle!«

Dies war nur eine kurze Frist, die man sich noch zu gedulden hatte, und doch wieder zu rasch verschwunden, als man plötzlich die Stelle des Abgrundes und den Föhrenbaum erblickte, an dessen Ästen Volkh und Edi noch regungslos hingen.

Die Gesellschaft blieb wie vom Donner gerührt stehen und wechselte die Farbe. Aber nur einen Moment verlor auch der Wildprethändler seine Fassung; im nächsten Augenblicke rief er schon mit voller Entschlossenheit aus:

»Was hilft hier stille stehen und erschrocken zusehen? Vor allem lasst und sehen, ob die dort leben, das andere wird sich finden!«

Und ohne sich näher zu erklären, eilte er dem Föhrenbaume zu, um ihn zu erklettern. Der ganze Baum kam in Bewegung, als der schwerleibige Wildprethändler, wenn auch noch so gewandt, den Schaft desselben emporklomm; dies schien die furchtbare Katastrophe nur zu beschleunigen und den Baum mitsamt den festgebundenen Opfern und dem Wildprethändler in den Abgrund zu drängen. Von dieser Besorgnis war die Gesellschaft umso mehr durchdrungen, als sie gewahrte, dass der Stemm des Baumes nahezu bis ans Mark vom Feuer durchgebrannt war. Einige bedeckten ihr Gesicht, um das furchtbare Schauspiel des nächsten Augenblicks nicht zu sehen, andere wandten sich tief erblassend zur Seite, um nicht von einem schweren Unbehagen ergriffen zu werden; nur der Norddeutsche, der bei aller Erschütterung eine gewisse Kälte bewahrte, folgte den Bewegungen des Wildprethändlers mit unverwandten Blicken.

Jetzt erreichte dieser den untersten großen Ast der Föhre – jetzt war er mit einem kühnen Schwunge auf demselben angelangt und setzte sich rittlings auf denselben – jetzt bog er sich vorwärts, um eine höheren Ast mit den Händen zu fassen und sich hinaufzuschwingen – jetzt hatte er den Ast erreicht und suchte durch das Aufstemmen des rechten Knies dem linken Fuße das Klettern zu erleichtern –jetzt war er auf dem zweiten Aste angelangt, der mit ihm bedenklich auf und nieder wankte, jetzt beugte er sich vor, um zu sehen, ob der erwachsene Mann da draußen das Auge offen habe, lebe – und jetzt – jetzt –

Auch der Norddeutsche verlor jetzt die Fassung, als er gewahrte, dass der Wildprethändler beim zufälligen Blick in den Abgrund vom Schwindel ergriffen wurde, zu wanken begann und plötzlich das Gleichgewicht verlor. Nur der Umstand, dass unter ihm drei Äste eine Gabel bildeten und ihn auffingen, hinderte den Sturz des Wildprethändlers in den Abgrund.

Der Schrei des Entsetzens, den der Norddeutschen jetzt ausstieß, lenkte auch die Blicke der Übrigen wieder nach dem Baume, und man sah mit tiefem Entsetzen den Wildprethändler bewusstlos zwischen den Ästen hängen; aber nur kurze Zeit war der Allzukühne seiner Sinne nicht mächtig; nach einer Weile regte er sich wieder, sah um sich, und mit raschem Blick erfasste er seine Lage und das Nächste, was zu tun sei.

Langsam und mit mehr Vorsicht, als er die Föhre erstiegen, ließ er sich am Stamm derselben wieder herabgleiten, trat, unten angekommen, rasch von dem Rande des Abgrunds zurück, und indem er sich einige kalte Schweißtropfen von der Stirn wischte, sagte er schwer atmend, aber mit Nachdruck:

»Der Mann da droben lebt, ich habe seine Augen offen und sich bewegen sehen. Hier muss geholfen werden!«

Die Gesellschaft sammelt sich um den Redenden und suchte ihn freundlich zu halten und zu stützen; er aber erholte sich mit wunderbarer Energie wieder und fuhr fort:

»Vor allem geh einer und schicke den Führer in den Ort hinab und lasse Leute kommen mit Stricken, Ketten, großen eisernen Nägeln und einer Säge. Wir wollen hier weiter beraten und sehen, wie zu helfen ist; mein Leben ist mir keine Nadel wert, wenn ich es hingeben kann, um die da oben zu retten, die grässlich gelitten haben müssen und noch leiden! Wenn Ihr es hört, Ihr Armen da oben, vertraut Gott und unseren Händen, die Euch heute noch retten werden!«

Eine Antwort erfolgte nicht, aber einige schwere, stille Tropfen rollten aus den Augen Volkhs und seines Söhnleins in den Abgrund.

Neuntes Kapitel.
Die Hilfe

Eine Szene wie die am 3. September 1847 abends zehn Uhr hatte der Grauhorn, sei ihn die Natur in ihrer Wunderkraft emporgerichtet, noch nicht gesehen.

Unweit der Föhre am Abgrund der Galerie loderte ein großes wohlgenährtes Feuer und schwärzte die aufstarrenden Felsen; an dem Brande entzündeten fort und fort Männer, die kamen und gingen, geteerte Stangen, um den übrigen, im Wechsel von Licht und Dunkel unheimlich erscheinenden Gestalten zu einer ebenso vorbedachen als hastigen und gefährlichen Arbeit zu leuchten.

Die stärksten Äste der Föhre wurden mit langen, unzerreißbaren Seilen umschlungen, und deren Enden gegen die rückwärts befindlichen Felsen hin an Pfosten, Felszacken und starken Wurzeln befestigt; um den Baum nicht in bedenkliche Bewegung zu bringen, wurde die Arbeit trotz der sichtlichen Eile mit aller Vorsicht vollführt und war endlich so weit gelungen, dass der obere Teil des Baumes gegen einen Sturz in den Abgrund gesichert blieb.

Allein das war nur der eine Teil der Rettungsarbeit; um auch den unteren Teil des Baumes in derselben Weise zu sichern, umwand man ihn ebenfalls mit Seilen und Ketten, deren Enden man im Boden und an allen widerstandsfähigen Gegenständen befestigte. Um das Abgleiten der Seile und Ketten zu verhindert, wurden lange, schwere Eisennägel, Eggenzähne und dergleichen zwischen denselben in den Stamm getrieben, wodurch dieser für alle Fälle vor einer Rutschung in den Abgrund bewahrt blieb.

Als die Arbeit bis zu diesem Punkte gediehen war, entstand eine wundersame, tiefe, erschütternde Stille.

Die Männer, welche die Arbeit vollführt und diejenigen, welche dazu ihre Brände hatten leuchten lassen, traten einen Augenblick wie auf ein gegebenes Zeichen in eine halbrunde Gruppe zusammen und richteten ihre Blicke lautlos nach den zwei in grauenerregender Dämmerung über den Abgrund hängenden Ästen, auf welchen Volkh und sein Söhnlein angebunden schwebten.

»Der Herr hat das Werk bisher gefördert, der Herr helfe Rettung vollbringen!« sagte die Stimme des Geistlichen, der aus dem nächsten Orte mit heraufgekommen war.

»Amen«, sagten die Männer zugleich und bewegt.

»Nun in Gottes Namen vorwärts!« hörte man nach kurzer Pause die Stimme des Wildprethändlers sagen; zu gleicher Zeit trat er gegen die Föhre vor und winkte zwei breitschultrigen Männern, ihm zu folgen. Einer von diesen trug eine Baumsäge in der Hand und stellte sich, den Wink des Wildprethändlers wohl verstehend, so neben der Föhre auf, dass er seinem Begleiter auf der Seite gegen den Abgrund zu das Ende der Säge reichen konnte. Indem nun beide den Stamm der Föhre knapp über dem Boden durchzusägen begannen, traten die meisten Männer zu den an den Ästen festgeschlungenen Seilen, um den Wipfel des Baumes im geeigneten Augenblick langsam auf den breiten, sicheren Gang des Turmgangs herüberzuziehen.

Lautlose Stille herrschte in der Versammlung, während die Säge leise kreischend tiefer in das Holz eindrang; mancher hörte seine Adern an den Schläfen in banger Erwartung schlagen.

»So, jetzt ein wenig langsamer«, hörte man endlich den Wildprethändler zu den Männern bei der Säge sagen, und denjenigen bei den Seilen rief er zu: »Bereithalten – ziehen! Dass es keinen Ruck gibt!«

Und seine Erinnerung wurde treulich befolgt.

Sachte begann man den oberen Teil des Baumes nach der dem Abgrunde entgegengesetzten Seite herüberzuziehen, und dem Zug der Seile und der eigenen Schwere des Baumes wurde der allmälige Fall überlassen.

Dies würde indessen ohne sorgsame Vorkehrung unfehlbar auch der Augenblick einer schweren Katastrophe geworden sein. Die Gewalt des Niederschlags musste die beiden Opfer an den Ästen heftig gegen den Stamm, wenn nicht gar mitsamt den Ästen gegen die nahe Felswand schleudern, und sie wurden so, anstatt gerettet, nur umso sicherer dem Tode überliefert.

Dagegen war man aber bedacht gewesen.

Vom untersten Teile des Stammes an waren gegen den Felsen hin in wohl berechneten Entfernungen voneinander zwei Reihen starker Pfosten in den Boden getrieben, von denen die dem unteren Stamme zunächst befindlichen kaum einige Schuh aus dem Boden ragten und die Bestimmung hatten, den sinkenden Stamm zu stützen, bevor er sich heftig überschlug, während die entfernteren, aus dem Boden hoch aufragenden die Äste und Krone fassen und vor dem Sturze bewahren sollten. Gelang das Werk, wie es wohlbedacht angelegt und vorsichtig in Angriff genommen war, so blieb der Baum in einer stark schrägen Richtung bergeinwärts auf den angebrachten Hindernissen ruhen, Volkh und sein Söhnlein schwebten in nicht großer Entfernung über dem sicheren Boden und konnten mit leichter Mühe erreicht und sicher herab geholt werden.

Nur noch ein banger Moment lag zwischen der Absicht dieses Unternehmens und ihrer Ausführung.

Die Männer an den Seilen zogen nun von zwei Seiten straff und mit gleichmäßiger Kraft an und zwangen den oberen Teil des Baumes, in gerader Richtung sich auf die Palisaden zu senken; der Umstand, dass der Stamm nicht ganz durchsägt war, trug wesentlich dazu bei, dass der Fall des Baumes nicht zu leicht und plötzlich erfolgte.

Nur ein kaum drei Sekunden währendes Splittern und Brechen der größtenteils durchsägten Stelle des Stammes, ein kurzes Sausen und Rütteln der Äste und Krone, und die Föhre lag in schräger, durch die Palisaden bestimmten Richtung bergeinwärts da; Volkh und Edi waren dem gähnenden Abgrund entrückt und schwebten über festem, sicherem Boden.

Zehntes Kapitel.
Das Erwachen

Die Äste, an welche die beiden gebunden waren, hatten ihre lebhaften Schwankungen noch nicht beendet, als bereits von mehreren Seiten her die Retter nahe zu kommen suchten, um die Unglücklichen aus ihrer Lage und von den sie nur zu lange schon umschlingenden Banden zu befreien.

Der Wildprethändler war der Vorderste in dem löblichen Eifer, und ehe die Übrigen bis zu den Opfern gelangen konnten, war er bereits beschäftigt, die Stricke zu lösen oder zu durchschneiden, welche Volkh auf dem Aste festgehalten.

Bald hatte man diesen Akt der Befreiung auch an Edi begonnen und enthob nun beide langsam ihrer fürchterlichen Unglücksstelle. Hilfreich und vorsichtig von Hand zu Hand gereicht, gelangten Vater und Sohn auch nach kurzer Zeit auf festen Boden und wurden sanft auf eine wollene Decke niedergelassen, die man neben dem Felsen ausgebreitet. Volkh setzte man aufrecht, mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, Edi, welcher sein junges Leben bereits ausgehaucht zu haben schien, legte man der Länge nach rücklings auf den Boden und glaubte im Sinne des regungslos dasitzenden und mit weit offenen Augen starr schauenden Vaters zu handeln, indem man den Kopf des Knaben sanft auf den Schoß desselben legte.

Wie aus tiefer Ehrfurcht vor dem unaussprechlichen Leid der Geretteten traten die Männer, welche ihr Werk eben vollbracht, einige Augenblicke ernst bewegt in einen Halbkreis zurück, bevor sie durch Ansprache und Darbieten von Stärkung sich weiter bemerkbar machen wollten.

Diese Pause teilnahmsvoller Betrachtung wurde umso ergreifender, als einer der Männer plötzlich leise zu seiner Umgebung sagte:

»Um Gott und seiner Gnade willen, ist das nicht Volkh, der wackere Forstwart aus Angern?«

Jetzt erkannten den Unglücklichen auch noch zwei bis drei andere Männer, und der Wildprethändler trat mit einem Glase Wein zu dem Felsen, freundlich vorgebeugt zu Volkh sagend:

»Lieber Mann, wisset Ihr auch, wo Ihr seid und was hier vorgegangen?«

Volkh saß da mit schlaff niederhängenden Armen, erwiderte nichts und sah nur starr in die Luft, wo ein furchtbares Gesicht sein Auge zu fesseln schien.

»Nehmt etwas Wein, guter Mann, der Trank wird Euch stärken und beleben«, fuhr der Wildprethändler fort.

Volkh bewegte kein Glied, erwiderte abermals nichts und sah nur starr in die Luft, wo ein furchtbares Gesicht noch immer sein Auge zu fesseln schien.

»Er ist noch nicht bei sich«, sagte ergriffen der Wildprethändler und trat mit dem Glase wieder zurück, da es ihm gut schien, wenn der von Schrecken und Leid Betäubte allmählich und von selbst zu sich komme.

In diesem Augenblick zuckte es zweimal durch den Leib des Knaben, und plötzlich begann dieser, ohne ein Auge zu öffnen oder ein Glied zu regen, wie ein Kind in schwerem Traume so bitterlich zu weinen, dass es die Herumstehenden in tiefster Seele ergriff.

»Der Knabe lebt!« sagte der Geistliche teilnahmsvoll. »Der Herr hat ihn wunderbar erhalten!«

Auf den starr dasitzenden Vater aber wirkten die schmerzlich bebenden Laute des Knaben in wundersamer Weise. Sie weckten Leben in den schlaff niederhängenden Armen, Leben in den umflorten Blicken und Leben in den bisher unbeweglichen, todbleichen Mienen.

Wie unwillkürlich regte sich Volkhs rechte Hand, und langsam, wie im Traume tastend, suchte sie nach des Knaben Angesicht, erreichte endlich dessen Wange und war dann mit einem plötzlichen Ruck auf der Stirn des Knaben, wo sie leise zuckend und liebevoll haften und ruhen blieb; zugleich fing das leblos starre Auge an, sich zu beleben und zu regen und für die nächste Umgebung empfindend zu werden; aber sofort suchte es auch nach dem Angesicht des Knaben.

Volkhs Blicke hatten dies kaum erreicht, als mit einem Male auch der Oberleib desselben von Leben durchströmt und kräftig genug wurde, sich aufzurichten und über Edi vorzubeugen; nun bewegte sich auch der linke Arm langsam nach dem Haupte des Knaben, die väterlichen Hände ergriffen es rechts und links unter den Schläfen, um es ein wenig emporzurichten, aber nur, um es schon im nächsten Augenblicke wieder in den Schoß zurücksinken zu lassen.

»Tot – tot, tot!« rang sich ein Ton unsagbaren Wehs aus dem Herzen Volkhs hervor, seine Arme wurden wieder schlaff, und sein Oberleib und Haupt sanken an den Felsen zurück.

»Tot – tot – und alles zu Ende!« wiederholten kaum hörbar die Lippen Volkhs, und das eben erst erwachte Bewusstsein verließ ihn wieder.

»Lasst uns erst den Knaben wecken und stärken; sieht er diesen lebend und gerettet, kann wird auch er sich wiederfinden«, sagten jetzt die Männer unter sich; man kniete neben Edi nieder, hob sein Haupt empor, flößte ihm Wein aus der Flasche ein und besprengte auch die Schläfe mit einigen Tropfen.

Wirklich kam Edi schon nach kurzer Zeit zu sich, schlug die Augen auf, sah erstaunt um sich, fragte, wer ihn gefunden und ob er wirklich lebe, und als er eben: »Wo ist der Vater?« fragen wollte, erblickte er diesen selbst und rief mit einen schmerzlichen Aufschrei:

»Vater! Vater! Er ist tot, mein Väterchen tot!«

Man bat den Kleinen, still zu sein, der Vater sein nicht tot, er ruhe und schlummere nur; man werde ihn eben wecken und stärken, aber das müsse mit aller Vorsicht geschehen.

Während nun einige um Edi blieben und andere sich um Volkh sorgsam bemühten, trat der Wildprethändler mit dem Führer der Gesellschaft und den zwei Männern, welche die Säge geführt, beiseite und sagte:

»Nun, Freunde, rasch ans Werk und schafft eine Tragbahre, um die Armen, wenn sie so weit zu sich gekommen und gestärkt sind, wohlbehalten in den nächsten Ort hinab zu bringen. Ihr tut ein gutes Werk und tut es nicht umsonst!«

Die drei rüstigen Männer griffen auch rasch nach den Werkzeugen, und da sie gleich von der Föhre das nötige Holz absägen und verwenden konnten, so bedurfte das rohe Gefüge nicht zu langer Zeit, um fertig zu werden und mit Laubwerk und Decken gerüstet zu dem beabsichtigten Zwecke bereit zu sein.

Die Beendigung dieser Arbeit traf mit dem großen und erschütternden Augenblicke zusammen, in welchem Volkh und sein Söhnlein, beiderseits zum Bewusstsein gekommen, sich erblickten, als gerettet erkannten und mit den Rufen: »Vater! – Edi!« in die Arme sanken.

Elftes Kapitel.
Die Heimkehr

Am 5. September 1847 morgens gegen zehn Uhr trat am Fuße des Grauhorns ein Waidmann mit einem Knaben aus dem Gebüsch und schlug die Richtung durch den Unterhag nach Angern ein.

In der Haltung des Mannes wie des Knaben lag etwas Starres und in ihren Mienen etwas traumhaft Dumpfes, gemischt mit einem Zuge stillen Grams. Beiden sah man an, dass ihnen gewisse Bewegungen und größere Schritte nicht leicht wurden; doch schien dies nicht der einzige Grund zu sein, weshalb der Waidmann den Knaben an der Hand führte. Er schien vielmehr jeden Augenbick versichert sein zu wollen, dass er den Knaben habe, halte; und um seiner Sache gewiss zu sein, warf er von Zeit zu Zeit, aus dumpfem Nachdenken erwachend, einen ängstlichen Blick nach demselben.

Es war Volkh mit seinem Söhnlein Edi.

Nach gänzlicher Wiedererweckung zum Leben, nach vorsichtiger Geleitung von dem Berge und menschenfreundlicher Pflege in dem nächsten Ort hatten sich beide soweit erholt, dass sie heute den Heimweg unbedenklich und, wie Volkh ausdrücklich wünschte, allein antreten konnten. Da sich Vater und Sohn erinnerten, wo die Wilderer bei ihrer Gefangennahme ihre Gewehre und Waidtaschen ins Gebüsch geworfen, so suchen und fanden sie dieselben wieder und verfolgten den Heimweg. Aber stand ihr Sinn auch ganz und wirklich nur bei der Heimkehr?

Bei Edi ohne Zweifel; dann und wann leuchtete sein Blick auf, ein flüchtiges Rot schoss durch seine Wangen bei dem Gedanken an das Wiedersehen seiner Mutter, aber alsbald wurde auch sein Blick wieder trübe, denn er dachte an den Schreck und Schmerz der Mutter bei der Nachricht über ihre bestandene Gefahr.

Bei Volkh schien der Gedanke an die Heimkehr nicht der herrschende zu sein.

Von Zeit zu Zeit ließ er die Hand des Knaben los, griff nach dem Schaft des Gewehres und hielt, mit wilden und zerstreuten Blicken um sich sehend, eine Weile an; aber das verwunderte Auge des Knaben brachte ihn rasch wieder zu sich und in Bewegung. Erst als beide im Unterhag an jene Stelle gelangten, wo die Bäume der Reviers verruchterweise so tödlich verletzt standen, kam in Volkh der lange schon ringende Entschluss zum Durchbruch, Edi allein nach Hause gehen zu lassen, selbst aber – nun, das sollte sich finden.

Plötzlich – Volkh und Edi waren bis zu einer Felsenstelle gekommen, von wo aus man schon hier und dort ins Freie sehen konnte – fuhr eine blitzartig schnelle, furchtbare Erschütterung durch die Glieder Volkhs, er fasste krampfhaft seines Knaben Hand, erblasste, sank in die Knie, riss Edi heftig an das Herz, und ihn umklammernd haltend, wollte er eben sagen:

»Geh Du allein nach Hause, sage der Mutter nichts von dem, was wir gelitten; ich komme bald, dann soll sie alles wissen …«

Allen bevor er diese Worte sprechen konnte, entdeckte sein Auge eine weibliche Gestalt, die eben, aus dem Freien kommend, in den Schatten des Waldes trat. Es war Elsbeth, Volkhs Eheweib, Edis Mutter. Zu einem weiteren Gange gerüstet, wollte sie offenbar nur den nördlichen Winkel des Waldes durchschneiden, um so kürzeren Weges die Straße nach dem Amte zu erreichen.

Volkh hatte sein Eheweib kaum erblickt, als er mit rascher Selbstüberwindung sich wieder aufraffte und äußerlich vollkommen gefasst neben Edi dastand.

»Komm«, sagte er zu diesem, »komm und – sieh dort die Mutter!« fügte er bewegt hinzu; und ehe noch Edi einen Ruf der Freude und Überraschung ausstoßen konnte, rief Volkh bereits der Wandernden zu:

»Elsbeth! Siehe hier!«

Die Gerufene sah zurück, zuckte zusammen, schrie dann laut auf und lag ihrem Manne an dem Hals; dann vor Edi niederstürzend, zog sie diesen an das Herz und sage schluchzend:

»Hab' ich Dich? Hab' ich Dich? So hat Dich Gott in seiner Gnade doch gerettet!«

»Das hat er, Elsbeth«, sagte Volkh, »und darum lass uns gefasst sein und dem Herrn durch tapferen Sinn auch danken. Wo wolltest Du so eben hin?«

»Zum Oberforstamt, Deinen Tod und Edis Tod anzumelden!«

»Unsern Tod? Wer hat uns tot gesagt?«

»Du kannst noch fragen? Vier Tage seid Ihr fort vom Hause, von keinem Menschen gesehen, überall von Wilderern umlauert, und der Zündler daheim war ein Jubel und Glück. Man würde bald was hören, sagte er; es gebe Leute, die Forstwarte wären und doch nur ein Leben hätten; man könne ein Gewehr führen und doch nur für einen Strick am Baume bestimmt sein. So sagte er gestern nach der Betstunde. O was habe ich gelitten, was habe ich gesorgt!«

Volkh erkannte jetzt, dass sein wahres Schicksal seinem Weibe noch nicht bekannt sei, er ergriff daher Elsbeths Hand und sagte:

»Du siehst, der Zündler war ein schlechter Prophet. Wir sind da! Wie leben! Du sollst auch hören, was wir erlebt haben, nur musst Du besser gefasst sein. Nun gibt's nur einen Dank vor Gott: Fassung, festen Sinn, Geduld!«

Edi war jetzt das Ziel unsagbarer Zärtlichkeit der Mutter, er musste an ihrer Hand den Heimweg antreten, und ihre mütterlichen Blicke leuchteten wie Sonnenschein auf seine Mienen nieder.

Zwölftes Kapitel.
Nachweh und Vorspiel

Volkhs unerhörtes Schicksal war im Dorfe in der Tat noch nicht bekannt geworden; sein langes Ausbleiben und die wilden, rachsüchtigen Andeutungen Zündlers hatten nur Vermutungen erzeugt; man gab Volkh hie und da mitsamt seinem Knaben verloren, ohne eigentlich die Art seines Verderbens bezeichnen zu können.

Es konnte daher nicht fehlen, dass die Heimkehr der beiden Aufmerksamkeit und Teilnahme erregte; sie wurden mit lebhaften Zurufen begrüßt und waren, noch ehe man das Forsthaus erreichte, von neugierigen und teilnehmenden Nachbarn umringt.

Aber sie mussten sich wo gut wie Elsbeth mit dunklen Andeutungen und Versprechungen für spätere Zeit begnügen.

»Ein Tag wird alles an die Sonne bringen«, war jetzt und die folgenden Tage die wiederkehrende Äußerung Volkhs; sie deutete auf eine finstern, gewaltsamen Hintergrund in der Seele Volkhs, und es dauerte auch nicht lange, so wurde er noch durch andere Anzeichen deutlicher verraten.

So gefasst auch Volkh äußerlich erschien, so fiel es doch nicht wenig auf, dass im Laufe der nächsten Tage seine Schweigsamkeit und Zerstreutheit seltsam überhandnahm. Als er am Tage nach seiner Heimkehr mit den andern Dorfbewohnern an der Gebetstunde teilnahm, fiel er plötzlich bewusstlos zu Boden und konnte erst nach langer Anstrengung wieder zu sich gebracht werden; in eine ähnliche Ohnmacht fiel er den nächsten Sonntag während des Gottesdienstes in der Kirche.

Das Auffallende war hierbei, dass der Zündler über diese Anzeichen anderer Meinung war als die Leute und sich aus Gründen, die er niemand gestand, plötzlich aus dem Staube machte.

Nachts, wenn alles schlief, entrang sich dem Herzen Volkhs oft ein unsäglich wehvoller Ton; er fuhr dann auf und mit beiden Händen vor dem Bett hinunter, als ob er jemand vom Falle in den Abgrund schützen wolle, und »Edi! Edi!« war der Name, den er rief.

Dass Elsbeth diese Zeichen nicht unbeachtet ließ und täglich mit der Bitte ihn bestürmte, ihr zu sagen, was er erlebt, das lässt sich denken; sie versicherte ihm, dass sein längeres Schweigen ihr peinlicher sei als die schlimmste Mitteilung, indem sie ja sehe, dass er und Edi lebten und unverletzt seien.

Volkh schien auch endlich entschlossen, ihr alles zu gestehen, als ein Zwischenfall sie von allem in Kenntnis setzte und Volkh der Notwendigkeit überhob, dem ausbrechenden Schmerze seines Weibes gegenüber sein grässliches Schicksal, indem er dasselbe erzählte, gleichsam nochmals durchzuleben.

Denn als er am sechsten Tage nach seiner Heimkehr einen kurzen Gang durch den Wald gemacht und sein Haus nahezu wieder erreicht hatte, bemerkte er unter den Linden einen fremden Mann, der einer Gruppe von Nachbarn eine wichtige Mitteilung machte.

Ein zweiter Blick ließ ihn im Fremden den Wirt erkennen, bei welchem er und Edi nach der Abnahme vom Baume untergebracht gewesen; offenbar kam dieser, um sich nach dem Befinden seines mit menschenfreundlicher Teilnahme gepflegten Gastes zu erkundigen; er hatte gewiss auch den Nachbarn die Schreckensmär bereits des Ausführlichen erzählt.

Volkh trat sofort zu der Gruppe und begrüßte den Wirt mit warmem Händedruck und Wort.

Dann zu den Nachbarn gewendet, sagte er:

»Da Ihr wisst, was mir begegnet, Freunde, so bitt' ich Euch, lasst mich allein bestimmen, wie mein Weib das alles erfahren soll. Ihr, lieber Wirt, kommt ein wenig mit mir, ehe Ihr mein Gast zu Hause seid.«

Und nach diesen Worten ging er mit dem Wirte der Schenke zu und machte ihn mit wenigen Worten mit der Lage der Dinge in seinem Hause bekannt. Er bat ihn dann, in der Schenke nur eine Viertelstunde zu verbleiben, bis er seine Elsbeth etwas vorbereitet; dann möge er kommen und seinem Weibe alles sagen, was er wisse, nur aber vermeiden, das Grässliche zu grell und ausführlich zu schildern; dass er und Edi ja gerettet seien, das müsste immer als Trost neben dem Trostlosen stehen.

»Ihr werdet mich zwar nicht mehr zu Hause treffen, lasst Euch das aber nicht stören; genießt freundlich, was Euch meine Elsbeth vorsetzen wird, und gedenkt meiner. Ich hoffe, ich seh' Euch bald einmal in Eurem Hause wieder.«

Mit diesen Worten verließ Volkh den liebevollen Wirt, und dieser versprach zu tun nach seinem Wunsche. Bald darauf trat Volkh, zu einem weiteren Gang gerüstet, vor sein Weib hin und sagte:

»Elsbeth, ich muss ins Amt und von meinem Schicksal Mitteilung machen. Auch Du sollst alles wissen. Ein Gast, den ich bestellt, wird Dir alles sagen; bewirte ihn gut, er hat mir und Edi Liebes getan.«

»Und von Dir soll ich nichts erfahren?« sagte Elsbeth betrübt.

»Ich müsste ein großes Leid nochmals erleben; höre alles lieber von einem Freunde und Helfer.«

Volkh rief den Edi herbei und trug ihm auf, recht achtsam für alles zur Hand zu sein; dann legte er die Hand auf das Haupt des kleinen Mädchens und sah dem jüngsten Kindlein zu, das auf dem Boden spielte.

»Die alle hätt' ich nimmer sehen sollen! O gut, nun ist die Stunde auch für Euch gekommen!« dachte Volkh dumpf brütend.

Um sich nicht ins Auge blicken zu lassen, küsste er Elsbeth rasch auf die Stirn, reichte ihr weggewandt die Hand hin, sagte: »Lebe wohl, bis dass ich wiederkomme«, und ging, bevor sich Elsbeth zu allerlei Fragen sammeln konnte.

Was lag nicht alles zwischen dem Heute und einigen Tagen!

Dreizehntes Kapitel.
Waidmanns Ziel

Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, wurde über dem niederen Gesträuch des sogenannten Rohrfelds das stattliche Geweih eines Hirsches sichtbar, und bald darauf trat das edle Tier selbst ins Freie auf eine längliche Waldwiese heraus, deren tiefer liegenden Rand ein munterer Forellenbach bespült.

Nachdem das Tier mit gehobenen Nüstern Wind gesucht, ging es die Wiese schräg gegen den Bach herab und stellte sich an einer Stelle, wo das Wasser in einer Uferausweitung ein ruhiges, nicht tiefes Becken bildet, mit den Vorderfüßen in die Flut, um zu trinken.

Die Morgendämmerung war so weit vorgeschritten, dass der Atem des Tieres sichtbar wurde; noch einmal, bevor es trank, schaute es auf, dann neigte es sachte den Hals und tat einige längere Züge aus den frischen Wellen; einige Tropfen ließ es, wie Behagens voll, in den Winkeln des Mundes hängen, als es den Kopf wieder hob und mit klaren, freundlichen Augen nach einem gegenüberliegenden Dickicht sah.

In diesem Augenblick schien der Hirsch durch ein Anzeichen von Gefahr erschreckt zu werden; mit einem flinken Satz war er über das Wasser weg am jenseitigen Ufer und wollte ins Dunkel des Dickichts entfliehen, als ein Schuss gerade von dorther fiel und eine Kugel in die Brust des Tieres sendete; dieses machte nur noch einige Sätze vorwärts, um dann zusammen zu knicken und verendend in einen Graben zu stürzen.

In diesem Momente trat ein Wildschütz aus dem Dickicht, sah sich einmal forschend um und suchte dann des Tieres sich zu versichern, als sofort ein zweiter Schuss fiel und auch in der Brust des Wilderers eine tödliche Kugel saß.

Indem dieser mit der Hand nach der Wunde fuhr, zu wanken begann und mit brechendem Auge nach der Stelle sah, wo der tödliche Schuss gefallen war, ging die Sonne auf, und am Rande einer mit Gestrüpp umwachsenen Felsenplatte erschien Volkh, von seltsam beleuchteten Nebeln umwallt.

Der Wilderer verstand das Zeichen, das ihm Volkh mit hochgehobener Büchse gab, fiel lautlos über den Leib des toten Tieres hin und verschied.

Das war gerade die Stunde, wo Volkhs Weib daheim ihr jüngstes Kindlein aus dem Bette hob und nach dem Wohnzimmer trug.

Die Erzählung von den Leiden ihres Mannes und Knaben hatte vorigen Tags überwältigend gewirkt, allein die Tatsache, dass ihr Mann und Knabe unversehrt heimgekommen, half bald über die ärgste Pein hinweg. Elsbeth hatte eine gute, fast traumlose Nacht gehabt und erwachte guten, gefassten Sinnes.

»Mein Mann ist gestern nicht mehr nach Hause gekommen«, dachte sie, »aber er hat dem Amt gar viel berichten müssen, und sie haben ihn bei Amt gar lieb.«

Und sie war guter Dinge und ordnete das blonde Lockenhaar ihres Kindleins und sang halblaut eins ihrer Kinderlieder vor. Dann gab sie im Haus Befehle für den Tag und sagte schließlich zu Edi:

»Ich habe ein Wort mit Gott zu reden; habe ein Auge auf alles, bis ich aus der Kirche komme.«

Und sie rüstete sich zu ihrem frommen Gange, während Edi munter sein Gewehr säuberte und sonst im Jagdschrank manches ordnete.

Sein Hauptgedanke war: »Wenn der Vater bis Mittag nicht hier ist, mache ich für ihn einen Gang ins Revier!«

Diese Amtsvertretung für den Vater, die ihn mit Stolz erfüllte, sollte ihm auch nicht vereitelt werden; hatte doch der Vater Volkh, ehe er zu den Seinen nach Hause trachtete, noch manches zu verrichten, das sonst seines Amts nicht war; er hatte, wie er es nannte, eine Ehrensache auszufechten, und das ohne Verzug.

Noch desselben Tages – die Sonne neigt zum Untergange – gingen auf der sogenannten Platte einer von Wäldern eingefassten, schauerlich einsamen Hochebene, zwei trotzig aussehende Gesellen einem einsamen, verwahrlosten Waldhause zu, das an der westlichen Seite der Platte, von einigen Bäumen beschattet, dastand und mit dem Rücken an einer Felswand lehnte.

Die zwei Gesellen trugen Tiroler Joppen, und ihre Spitzhüte waren mit Spielhahnfedern verziert. Über ihren Schultern hingen Kugelstutzen und an den Seiten, wie es schien, oft gebrauchte Waidtaschen.

Indem diese zwei, ihres Zeichens zuverlässig Wilderer, die einsame Hochebene dahingingen, sprachen sie angelegentlich und dann und wann mit wilde Gebärde von einem Ereignis, das vor einer Stunde erst zu ihrem Ohr gedrungen.

Der Wallrab, einer ihrer besten Mitgesellen, war heute am Rohrfeld, da er eben einen Hirsch erlegt, von einem Feinde selber erschossen worden.

Furchtbar und verrucht war in ihren Augen diese Tat, und Rache schwuren sie dem Verbrecher mit den gottlosesten Worten.

Dass Volkh der Täter gewesen sein sollte, dessen wunderbare Rettung sie sehr zu ihrem Verdruss vernommen, wollte dem einen der Gesellen nicht einleuchten. »Dem haben wir für eine Weile grundmäßigen Schrecken eingejagt«, sagte er. »Wer vom Baumast über dem Abgrund kommt, braucht etwas mehr Zeit, sich ein solches Herz zu fassen.«

Aber gerade aus den furchtbaren Leiden Volkhs entzifferte der zweite den plötzlichen Tod des Mitgesellen Wallrab.

»Wie ich mir den Volkh denke«, sagte er, »hat er vom Tage seiner Rettung an nur noch den einen Gedanken, uns alle nach einander, wo er uns findet, bei Tage oder Nacht wie wilde Tiere zusammenzuschießen!«

»Nun denn«, erwiderte der andere, »müssen auch wir keinen andern Gedanken haben, als ihn aus der Welt zu schaffen.«

Während die Wilderer diese Sprache führten, fielen ihre Schatten, durch die Abendsonne ins Riesenhafte verlängert, die weite Fläche der Platte entlang und berührten den Saum der südlichen Waldeswand; und als sie kaum noch zwanzig Schritte weiter gegangen waren, geschah es, dass ihr Schatten gerade an einer wolkenhohen Tanne vorüberglitt, unter der ein Waidmann Posto gefasst hatte, den sie gewiss um wenigsten an dieser Stelle und zu dieser Stunde hier vermutet hatten.

Es war Volkh, der heute seinen Tag als echter Waidmann nicht verlieren wollte, ohne reiche Beute für seine Rache nach Hause zu bringen.

Mit einem stillen, düsteren Blick sah Volkh die Schatten seiner Feinde bis an die Spitze seines Fußes reichen, ja sie berühren, und dachte schauernd:

»Jetzt werfen sie noch Schatten, bald sind sie selber nur noch Schatten.«

Die Wilderer kamen inzwischen der einsamen Hütte näher, gingen langsamer, sprachen stillte und blickten forschend nach den kleinen Fenstern der Hütte, ob sie den Gesellen, den sie suchten, zu Hause finden würden.

Und sie brauchten nicht lange zu forschen.

Schon nach wenigen Augenblicken ging die Hüttentür angelweit auf, und heraus trat Mohrau, von Gestalt ein Riese, zu einem Pirschgang vollständig ausgerüstet. Er hatte seine Gesellen schon von Weitem kommen sehen und wollte ihnen entgegeneilen, um keine Zeit zu verlieren; so war es denn auch seinen Kameraden recht, welche, ihn erblickend, sofort ihre Schritte beschleunigten, um ihn bestens zu begrüßen.

Allein die Hand, mit der sie die Seinige erfassen wollten, wurde vergebens ausgestreckt, da im nächsten Momente ein Schuss unter der Tanne fiel und fast im selben Augenblick Mohrau, ohne einen Laut von sich zu geben, vor den Augen seiner Kameraden leblos zu Boden sank.

Der erste Eindruck war dumpfes Erstarren; dann forschte der Blick der beiden unwillkürlich nach der Stelle, wo der Schuss gefallen war; das Falkenauge des einen glaubte in dem Schützen unter der Tanne Volkh zu erkennen, der noch einige Augenblicke ruhig auf dem Posten stehen blieb und dann langsam in den Schatten des Waldes zurücktrat.

In diesem Augenblicke war es, als würden die beiden Feinde von einem Anfall wilder Raserei erfasst; sie rissen ihre Gewehre von den Schultern, warfen sich einen Blick der Verständigung zu, ließen die Leiche Mohraus unberührt liegen und eilten dann in verschiedenen Richtungen dem Walde zu, um den Feind in einem wohlgezielten Kreuzfeuer zu erlegen.

Eine Stunde später fielen östlich von der Platte bereits tief im Hochwald drei scharfe Schüsse.

Der erste traf einen Mann, der, hinter einer Felswand lauernd, das Gewehr mit gespanntem Hahn vorhielt; der Schuss streckte ihn, wie er dastand, zu Boden, und da dieser unter ihm nur einen schmalen Felsgrund bildete, so fiel der Getroffene fast eine Klafter tief in ein Gesträuch und hauchte sein Leben, über einem Abgrund hängend, aus. Das war das Ende des einen der beiden vorerwähnten Gesellen.

Der zweite Schuss fiel eine Viertelstunde später; die Kugel, die er entsendete, hatte sich kein schlechtes Ziel ersehen; traf sie einen Zoll nur tiefer, so war es Johannes Volkh, dessen Leben sie ein Ende bereitete. Doch die Kugel fuhr knapp über der Stirn durch den Hut des Waidmanns, der dafür seine Zeit nun wohl ersah und seinem Feinde nachdrücklich Antwort gab. Denn als dieser, seinen Fehlschuss merkend, rasch entfliehen wollte, sendete ihm Volkh nun seine sichere Kugel nach, die, in die rechte Lende dringend, den Fliehenden sofort ins feuchte Moos hinstreckte.

Und das geschah zur Stunde, als daheim Volkhs Eheweib mit ihren Kindern das Nachtgebet verrichtete und die Abendglocke zu gleicher Andacht alle Dorfbewohner lud.

»Nun, Edi, der Vater ist noch nicht daheim«, sagte Elsbeth darauf gedrückten Herzens zu dem Knaben.

»Das kommt«, erwiderte Edi, »unsere Sache ist beim Oberforstamt wichtig aufgenommen worden; die Sache ist ans Kreisgericht gegangen und er Vater wahrscheinlich mit zur Zeugenschaft. Das ist schon oft so geschehen.«

»Meinst Du?« sagte Elsbeth, gern geneigt zu glauben und doch nicht leichter in dem Herzen; sie saß da und konnte der aufgeregten Phantasie nicht wehren, jenes Schauderbild wieder auszumalen, wie Volkh und Edi rettungslos und dumpf verzweifelnd über dem Abgrund hingen. Wenn nun ihrem Mann wieder ein Unglück zugestoßen? Wenn er nun abermals in die Hände der Feinde gefallen und zu so Entsetzlichem verurteilt wäre?

Vierzehntes Kapitel.
Der Erste und Letzte

Der Pfarrer von Hohengab war nicht der Mann, der sich in einer Rede oder Predigt so leicht aus dem Texte bringen ließ. Er war gewohnt, in seiner Gemeinde das erste und letzte Wort zu führen und für einen entfallenen Gedanken zehn andere bereit zu halten.

Und doch begegnete es ihm den vierten Sonntag im Oktober, dass er nach der Lesung der Postille den Anfang seiner Predigt nicht finden konnte und eine Zeit lang unverwandt nach einer Stelle am Seitenaltare starrte, wo sich ein großer, breitschultriger und etwas beleibter Mann in Alpentracht auf die Knie niedergelassen und in tiefe, schwermütige Andacht versunken war.

Auf diesem Manne hafteten die Blicke des Pfarrers mit Erstaunen und kehrten während der nun doch beginnenden Predigt oft und immer mit erneuerter Verwunderung zu ihm zurück.

Wer war der Mann in Alpentracht? Und was fand der Pfarrer an der Erscheinung dieses Mannes so auffallend?

Alles in allem hatte der Pfarrer Gründe genug, über die Erscheinung dieses Mannes, insbesondere mit solchen Zeichen tiefgreifender Andacht, zu erstaunen.

Föhner, so hieß der Mann, hatte wohl fünf Jahre lang das Innere der Kirche nicht gesehen und schien noch kürzlich Gottesdienst, Religion und dergleichen für eine beliebige Geschmackssache zu halten; er selbst benahm sich wenigstens so, als hätte er Besseres zu tun, als seine Zeit mit Demut und Gebet zu verlieren.

Im Besitze eines Hofes, der einer kleinen Herrschaft wenig nachgab, mit einer Familie gesegnet, welche an Gesundheit und Gedeihen weit und breit Ihresgleichen suchte, zählte sich Maximilian Föhner zu jenen Gefeiten, denen weder ein äußerer Schmerz noch ein inneres Leid je beikommen kann.

Wenn das Sprichwort sagt: »Es müssen starke Beine sein, welche eine Reihe guter Tage ertragen können«, so hat es offenbar diesen Schlag Auserwählter vor Augen, die an der Wiege vom Glück in Empfang genommen und ohne Unfall durch das Leben weiter geführt werden. So straff und rüstig Föhner sonst auch auftrat, die starken Beine, sein äußeres Glück zu ertragen, hatte er doch nicht. so große sein Besitztum auch war, es wurde ihm dennoch bald zu eng auf demselben; so vielfach die Arbeiten auch waren, die sein Hof auferlegte, sie beschäftigten, sie befriedigten ihn nicht genug. die unbändige Kraft in seinem Körper und ein von Jugend auf wenig gezügelter Sinn für Seltsames und Gefahrvolles trieben ihn gleichmäßig über die Grenze seiner Marken hinaus. Mit dieser rastlosen Begierde im Herzen, auf seinem in düstern Bergwäldern gelegenen Hofe doppelt zum Abenteuerlichen angespornt, war es eigentlich natürlich, dass die Jagd, und zwar erst auf dem eigenen Grund, später weiter und verwegener auch auf fremden Gebieten, die Bahn zum Ungewohnten eröffnete.

Föhner war es, der nach der Pause eines Menschenalters in jenem Teile des Gebirges die in Vergessenheit geratene Wilderei zuerst wieder in Aufnahme brachte, und zwar in einem erstaunlichen Umkreis. Mit Überraschung und Ingrimm kamen weit und breit die Förster fast zu gleicher Zeit auf die Spur verwegener Wilderei, und mit ihrer Aufmerksamkeit und Abwehr nahmen die Angriffe auf das Hochwild nur noch mehr überhand. Dem Föhner, der seiner abenteuerlichen Lust nicht um der Gewinnsucht willen frönte, schlossen sich bald eigennützige Gesellen an, und binnen kurzer Zeit bestand ein förmlicher Bund von Wilderern, deren oberstes Haupt der Föhner war. Sie hatten ihre Zusammenkünfte, Boten, Zeichen und oft höchst scharfsinnige Feldzugspläne, und da sie mit ebenso viel Klugheit als Todesverachtung bei ihren Zügen zu Werke gingen, so konnte es nicht fehlen, dass der Wildererbund bald im höchsten Grade gefürchtet war.

Man musste den Förstern des Gebirges längere Zeit das Zeugnis geben, dass sie ihrem Amte ernstlich oblagen und mit Lebensgefahr ihr Forstgebiet verteidigten. Nach und nach aber ließen der Eifer und der Mut der meisten nach, und die Rücksicht auf das eigene Leben wie auf die Zukunft ihrer Familien schwächte und endete schließlich jedweden Widerstand. Die einen kamen mit dem Wildererbunde förmlich überein, wann dieser freie Hand haben solle; der Förster war um diese Zeit eben »zufällig« und »leider« nicht im Walde; andere fanden nach scheinbaren Widerstandsmanövern, wodurch sie »ihre Ehre retteten« ihren sicheren Rückzug und schliefen ruhig unterm Dache, während manches Stück Wild ihrem unbeschützten Forst entrissen wurde; wieder andere hatten überhaupt kein Auge mehr für den Schaden, der von Seiten der Wilderer zugefügt wurde, uns sahen einfach links, während rechts das Gut der Herrschaft freventlich entführt wurde.

Dieser allmähliche Sieg der Wilderer über die Pflichttreue der Förster hob natürlich den Mut oder vielmehr die Frechheit der Wilderer, und namentlich das stolze Oberhaupt derselben, der Föhner, betrachtete im Umkreis einiger Tagesreisen das Jagdgebiet des Waldes wie sein Freigebiet.

Darum eben war es auch begreiflich, dass ihn der fortdauernde Widerstand eines einzigen Forstwarts – Volkhs nämlich – mit Ingrimm und Rachegedanken erfüllte. Die marmorne Festigkeit dieser Mannes, die furchtlose Tapferkeit und nimmer müde Wachsamkeit desselben flößten dem Föhner indessen doch so viel Respekt ein, dass er anfangs, ja längere Zeit hindurch versuchte, Volkh durch eine ansehnliche Summe Geldes auf seine Seite zu bringen; er wollte der gefährlichen Notwendigkeit überhoben sein, den tapferen Forstwart auf Leben und Tod bekämpfen zu müssen. Doch standhaft wies Volkh nicht nur das Angebot mit Entrüstung zurück, sondern verdoppelte seine Wachsamkeit und verschärfte seinen Widerstand. Um in dem ungleichen Kampfe nicht ganz allein zu stehen, versuchte er zwar zu wiederholten Malen einen Bund zu Schutz und Trutz unter den Förstern zu bilden; er merkte aber bald, dass er weder Freundschaft noch Hilfe zu erwarten habe, und so beschloss er, fürder wie bisher, allein auf dem Kampfplatz zu erscheinen, ähnlich jenem Schweizer Schützen, der die berühmte Ansicht äußert: »Der Starke ist am mächtigsten allein.« Und so begannen die Kämpfe, welche eine Weile geruht, mit Heftigkeit von Neuem. Volkh trug nach und nach siebe Wunden aus diesen Kämpfen davon, und seine Genugtuung bestand darin, dass er seinen Feinden das Dreifache an Wunden beibrachte und im letzten Kampfe auch den Föhner so bedenklich trag, dass er von dem Kampfplatze getragen werden musste.

Von jetzt an war Volks Untergang beschlossen, und zwar nicht durch einen Schuss aus der Büchse oder sonst durch eine kurze Todesprozedur. Föhner selbst, noch auf dem Krankenlager, hatte die barbarische Rache ausgesonnen, den Gegner bei nächster Gelegenheit in eine Falle zu locken, zu entwaffnen, zu binden, mit einem Knebel im Munde auf den Grauhorn zu schleppen und über dem Abgrund auf einen Ast der Föhre festzubinden. In einer sturmbewegten Nacht wurde am Krankenbette Föhners der letzte Kriegsrat gehalten, und kurze Zeit nachher war, wie wir gesehen haben, Volkh mitsamt seinem Söhnlein als Opfer in ihren Händen und schwebte unter den Qualen eines hundertfachen Todes über der unermesslichen Tiefe.

Dem wilden Triumphe Föhners, der an der Ausführung nicht hatte teilnehmen können, war nichts zu vergleichen, als er die Nachricht erhielt, dass alles fertig und in Ordnung sei. Er belohnte die zwei verwegensten Gesellen, die Volkh und Edi an die Äste gebunden, mit einer ansehnlichen Summe und ließ sich die Tat und die fürchterliche Lage der Opfer immer wieder erzählen. Seine wilde Rachlust ging auch in die aufgeregte Phantasie seiner Träume über, und in einer Nacht sah er sich selbst den Grauhorn besteigen und, unter der Föhre sitzend, an den Qualen der Opfer sich weiden; da sank ein Stück Erdreich unter ihm, und er fühlte sich selbst in den Abgrund stürzen. Das Entsetzen Föhners war so groß, dass er im Schlafe grässlich aufschrie und von dem Weibe und den Hausgenossen lange nicht zu sich selbst zu bringen war. Von dem nächsten Tage an war zwar Föhners unheimliche Siegesfreude nicht mehr so auffallend, allein er hing doch dem Gedanken, dass nun keine Schranke fürder seinem Wildererdrange wehre, mit Begierde nach, und mit Ungeduld gewahrte er die langsame Heilung seiner Wunde am Bein. Wie wollte er von nun an pirschen und Schrecken verbreiten! Wie wollt er wählerisch sein im Erlegen des schönten Edelwilds, über das er nun ohne Widerstand wie über sein Eigentum zu verfügen hoffte! Diese Triumphgefühl und diese maßlose Zuversicht blieben indessen nicht lange ungeschmälert.

Eines Tages kam der Zündler aus Angern und brachte atemlos und mit der Miene tödlichen Schreckens die Nachricht, Volkh sei gerettet, sei heimgekehrt und habe allem Anscheine nach keinen Schaden genommen.

Föhner, der soeben erst den ersten Gang durch die Stube versuchte, erstarrte einen Augenblick und suchte dann, auf die Schulter des Boten gestützt, ohne ein Wort zu reden, sein Lager wieder auf.

Acht Tage später setzte Föhner seine Übung mit dem wunden Bein etwas länger in der Stube fort und wagte es sogar, vor die Tür zu treten, als ein Bote des Bundes nicht minder entsetzt die Nachricht brachte, der eine der Wilderer, Wallrab, sei am Rohrfeld auf einem verendeten Hirsch erschossen gefunden worden; Volkh und niemand anders habe ihn erlegt!

Föhner sah den Boten eine Weile wortlos an und verfiel in wilde, krampfhafte Zuckungen, sodass der Bote nach Hilfe rief und vier Personen zu tun hatten, den seltsam aufgeregten und doch kraftlos gewordenen Mann auf sein Lager in der Kammer zurückzubringen.

Zwei Tage später hatte sich Föhner scheinbar wieder erholt und verlangte, um sich rascher zu stärken, nach dem Garten, wohin eine milde Herbstsonne ihre freundlichen Strahlen warf; hier war er indessen nicht lange angekommen, als ein anderer Bote des Bundes drei neue Hiobsbotschaften brachte: der Liebling Föhners sei vor seiner Waldhütte erschossen worden, und zwei andere Wilderer habe man gleichfalls tot im Walde gefunden; Volkh und niemand anders habe die Tat an ihnen verübt. Föhner legte sich bei dieser Nachricht in den großen Lehnstuhl zurück, ließ die Augenlider sinken, sprach den ganzen Tag über keine Silbe mehr und blieb den folgenden Tag in einem Zustand zwischen fieberhaften Wutausbrücken und hilfloser Schwäche auf dem Krankenlager.

Was ihm jetzt bereits klar genug war, dass er über kurz oder lang unrettbar das Opfer einer Kugel Volkhs werden müsse, das wurde ihm einige Tage darauf durch eine neue Entsetzensnachricht zur Gewissheit. Der Genosse Heidolf, einer der kühnsten und besten Schützen des Bundes, war in dem Augenblicke, da er nachts vor dem Hause eines Hehlers einen Hirsch ablud, von einer Kugel durchbohrt worden, und der Hehler hatte in der Ferne den Volkh erkannt und rufen hören: »Bald hab' ich euch alle da drüben!«

Diese Nachricht kam acht Tage vor dem Ereignis, dass Föhner in der Kirche zu Hohengab erschien und, in schwermütiger Andacht vor dem Seitenaltare kniend, den Pfarre auf der Kanzel in so großes Erstaunen versetzte.

Fünfzehntes Kapitel.
Im Banne des Todes

Ob der Mensch eine bedrohliche Nachricht bei voller Gesundheit oder körperlich leidend erhält, das macht auch den Eindruck derselben verschieden. Unwillkürlich misst der Bedrohte seine Kraft und die Mittel seines Widerstandes mit der drohenden Gefahr, und je nachdem er seine Lage beurteilt, erhebt oder beugt ihn auch die herrschende Empfindung.

Der Leidende ist immer schon halb entwaffnet. Abgesehen davon, dass er über seine Leibeskräfte nicht ganz verfügt, ist er auch geistig nicht so rüstig und rasch als bei gesundem Leibe; kommt hinzu noch das Bewusstsein moralischen Nachteils gegenüber einem Feinde, so ist damit der Rüstigkeit ein neuer wesentlicher Abbruch getan.

Föhner würde zwar auch gesunden Leibes die Nachricht, dass Volkh gerettet und wohlbehalten heimgekehrt sei, mit Schrecken vernommen haben; aber schnell gefasst und mit neu erwachtem Racheingrimm hätte er sich seiner überlegen günstigen Stellung erinnert, die er jetzt wie früher einnahm, und hätte den Kampf gegen den Geretteten wieder begonnen.

Allein jetzt war er leidend, und Volkh war gesund. Bald kamen die Hiobsposten, dass ihm Schlag auf Schlag die ganze Schutzmacht seiner Freunde getötet sei, und so sah er sich allein und leidend, Volkh aber allein und gesund. Dazu kam das Bewusstsein, dass Volkh der verbrecherisch Gequälte, der tödlich Beleidigte, er aber, Föhner, der herausfordernde Peiniger, der Schuldige sei, zwei zusammentreffende Nachteile, die erwähnt zu werden verdienen. Allein noch mehr: vor der barbarischen Rachetat an Volkh und seinem Söhnlein stand es in der Hand Föhners, dem Kriege jeden Augenblick ein Ende zu machen, denn Föhner war der angreifende Teil, während Volkh nur Verteidigung übte auf dem begrenzten, gesetzlichen Boden seines Reviers; von jetzt an war das Gegenteil der Fall. Volkh war zum Angriff übergegangen und zeigte durch die rasche, sichere und unerbittliche Tötung aller Freunde Föhners, dass er seine Gewissenhaftigkeit von ehedem beiseitesetze und den Tod des letzten Gegners mit derselben Erbarmungslosigkeit suche, die Föhner bei den früheren stattgehabten Kämpfen stets bewiesen.

Alles in allem sah sich Föhner jetzt verloren.

Jeder Tag, jede Stunde konnte seinen Tod zur Wahrheit machen. Die einzige Stätte seiner Sicherheit war vielleicht das Innere seines Hauses, jeder Schritt darüber hinaus machte ihn zum Ziel einer Kugel, die wahrscheinlich schon im Laufe steckend geheime Kreise um die letzte Zufluchtsstätte zog.

In dieser Lage, den Tod vor Augen, ging in Föhner eine wunderbare Wandlung vor. Abgeschnitten von den Zerstreuungen seiner wilden Züge und innerhalb seiner Häuslichkeit konsigniert, entdeckte er gleichsam jetzt erst – seine Familie.

Hoch betroffen und gerührten Sinnes war er nun vom Morgen bis zum Abend Zeuge einer kleinen allerliebsten Familienwelt, die er sonst, Tage und Nächte lang abwesend oder daheim auf neue Fahrten sinnend, nicht gewahrt. Der Mittelpunkt dieser Welt im Kleinen war Föhners rüstiges Weib, um das sich das muntere Treiben der Kinder bewegte.

Von dem süßen, rührenden Anblick, wann morgens die drei Kinder auf den Ruf der Mutter sich erhoben und mit ihren Silberstimmen ihre Morgenandacht sprachen, hatte Fröhner vorher keine Ahnung; um diese Stunde pflegte er, müde von den Fahrten, zu schlafen oder wieder fort zu sein. Und erst das klare, wohltuende Walten seines Weibes Tag für Tag und Stunde für Stunde! Es hatte durch lange Übung und Gewohnheit Föhners Gegenwart entbehren gelernt und sich die häusliche Tätigkeit klug und praktisch zurechtgelegt. Mit der Leitung der Wirtschaft verband die Frau Aufsicht und Erziehung der Kinder, und alles ging munter und geräuschlos vonstatten. Mit Erstaunen gewahrte Föhner jetzt die Fortschritte seiner Kinder in den Gegenständen der Schule, mit Bewegung sah er die feste, schöne Handschrift seines ältesten Knaben Bodo. In ein nie geahntes Entzücken versetzte ihn eines Tages sein jüngstes, blondlockiges Mädchen, das, auf seinen Knien sitzend und mit himmelblauen Äuglein aufblickend, ihm eins der schönsten volkstümlichen Kinderlieder vorsang.

Und diese neue, liebliche Welt seines Hauses sollte er nur gefunden haben, um sie sofort wieder zu verlieren?

Diese Frage stellte Föhner sich selbst mit jedem Tage. Was würde er darum gegeben haben, das Geschehene vergessen zu machen und Volkh durch irgendein Opfer, auch das größte, versöhnlich zu stimmen!

Allein es war zu spät. Föhner gab sich bald keiner Täuschung mehr hin. »Mach' deine Rechnung mit dem Himmel«, sagte auch er sich.

Winn es für ihn eine Hoffnung gab, so war es die, dass ihn Volkh im inneren Raume seines Hauses nicht aufsuchen und töten werde. Um sich dieses vermeintlichen Asyls in jedem drohenden Augenblicke zu versichern und so vielleicht doch noch länger, vielleicht Wochen, vielleicht Monate sein Leben erhalten zu können, organisierte Föhner eine förmliche Überwachung seines Gegners. Der Zündler musste wieder nach Angern zurück und einem zweiten Boten täglich zweimal Rapport abstatten, ob Volkh zu Hause sei, einen Gang nach dem Revier oder weiter unternehme, und was sonst zu berichten war. Außer dieser Postenkette bezahlte Föhner noch arme Männer aus dem Dorf, welche täglich öfter durch die Nachbarwaldung streifen mussten, um Volkhs etwaige Nähe anzuzeigen.

Die ersten acht Tage vergingen, ohne dass man Volkh auch nur die leise Absicht zuschreiben konnte, gegen Föhner etwas zu unternehmen. Er wurde weder in den Wäldern des Föhnerhofes gesehen, noch machte er zu Hause andere Gänge als täglich ins Revier, dann und wann einmal auf den nächtlichen Anstand daselbst oder einmal nach dem Oberforstamt.

Freilich war mit dem letzten Umstand lange noch keine Sicherheit gegeben. Unter denselben Umständen hatte Volkh ja alle Freunde Föhners ebenfalls aus der Welt geschafft, ohne dass ihn jemand überführen konnte; seine Gänge waren immer meisterhaft berechnet, und da, wo er einen Gegner treffen wollte, führte ihm das Schicksal denselben stets mit erschreckender Bereitwilligkeit entgegen.

So standen die Dinge, wie gesagt, acht Tage nach dem Tode des letzten Spießgesellen Föhners.

Zwei Tage später was Föhners Familie mit dem Abnehmen des Obstes beschäftigt, und Föhner selbst lag im Fenster und sah den Kindern mit Vergnügen zu, wie sie die massenhaft verstreuten Äpfel und Birnen in Schürzen und Körbe sammelten und jubelnd in die großen Obstbutten trugen; da kam gegen Abend von den Waldwächtern einer, trat in die Stube und klopfte Föhner leise auf die Schulter.

»Was ist's?« fragte dieser, sich umkehrend.

»Ich hab' ihn gesehen. Volkh ist im Buchenschlag da drüben. Einem Holzsammler, der ihm zugerufen, ist er ausgewichen.«

Föhner zog jetzt Schulter und Kopf aus dem Fenster zurück und ließ sich erbleichend auf die Wandbank nieder.

»Habt Ihr recht gesehen, dass es der Volkh ist?« brachte er nach einer Weile hervor.

»Sicher, sicher ist er's. Ich kenn' ihn auch am Gang, und wie er sein Gewehr trägt.«

»Dann geht und seht weiter, was er will«, sagte Föhner und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.

Der Mann ging, und Föhner sank haltlos in sich zusammen – ein greller Gegensatz zu der Szene in dem Garten. Hier ein Vater, welcher seinen ganz gewissen Tod erwartet, und draußen Weib und Kinder in fröhlicher Tätigkeit und ohne Ahnung von den Schrecknissen des Vaters. Doch dauerte es nicht lang, und auch im Garten verwandelte sich das Treiben in eine Szene des höchsten Schmerzes.

Der Knabe Bodo hatte sich kurz vorher mit zwei Taschen voll Steinobst auf einer Leiter nach dem Heuboden geschlichen, um sich dort einen heimlichen Vorrat zu sammeln; er stand bereits wieder auf der obersten Sprosse, um herabzusteigen, als er das Gleichgewicht verlor, herunterfiel und so unglücklich auf das zum Schärfen umgelegt Häckerlingsmesser stürzte, dass sein junger Leib beinahe in zwei Hälften zerschnitten wurde. Nur einen kurzen, grellen Schrei stieß der Unglückliche aus, dann zuckten Hände und Füße noch einmal, und ein liebes, blühendes Leben hatte geendet.

Die Schilderung der nächsten Augenblicke ist hier wohl erlassen. Eine vor Schmerz wie wahnsinnig aufschreiende und am Boden sich windende Mutter, bitterlich weinende kleine Geschwister daneben und ein still schluchzendes, gramerfülltes Gesinde an der Leiche eines allgeliebten Knaben – was brauchte es mehr, als dies zu erwähnen, um das ganze Weh des Augenblicks genügend anzudeuten?

Und doch wurde die Szene noch erschütternder durch den Anblick Föhners, der, von dem Unglück hörend, das Leiden seines Beines vergaß und in namenloser, stummer Verzweiflung sich der Leiche seines Knaben näherte. Hier niedergeworfen, hätte man ihn eine Zeit lang für tot ansehen können, wenn er nicht dann und wann dumpf und zuckend gerufen hätte: »Dahin – mein Bodo dahin – er starb um das, was ich am Knaben Volkhs verbrochen!«

Der erste Schmerz über Bodos Tod war im Föhnerhof noch im vollen Zuge, als am Saum des Waldes gegenüber und im dunklen Schatten des Abends zwei Männer sich begegneten und stille hielten.

Was gibt's im Föherhof drüben?« fragte der eine der Männer, nach Anzug und Haltung ein Forstwart.

»Ein Knabe ist verunglückt«, sagte der zweite, ein Wanderer, der soeben des Wegs vom Föhnerhof hergekommen war. »Er ist tot geblieben auf der Stelle; der Jammer der Eltern ist nicht auszusagen.«

»Es ist ein großes Weh, ein Kind verlieren«, sagte der Forstwart nach einer Pause und wendete sich zum Gehen.

»Ja, ein großes Weh, Waidmann. Habt Ihr's auch erlebt?«

»Wie man will. Einmal – zehnmal – und doch wieder nicht«, sagte der Waidmann kurz und bot dem andern gute Nacht.

Ihr gehe nach Angern zu?« fragte der Wanderer.

»Das ist mein Weg«, erwiderte der Waidmann gehend.

»Dann tut's mir leid, dass ich Eure Gesellschaft nicht genießen kann. Ich bin der Ältermann von Sardis. Seid Ihr nicht der Volkh von Angern?«

Die Frage wurde nicht mehr beantwortet, da der Waidmann rasch ins Dunkel des Gebüsches trat und bald verschwunden war.

Sechzehntes Kapitel.
Die letzte Frist

Drei Tage später auf zehn Uhr morgens war die Beerdigung des Knaben Föhners angesagt.

Eine große Menschenmenge fand sich ein, dem Trauerzug sich anzuschließen; stand doch der Föhnerhof in hohem Ansehen, und das Ende des Knaben bewegte alle Herzen.

Die angesagte Stunde wurde eingehalten; um zehn Uhr ordnete sich der Zug und setzte sich unter Trauergesang und fernem Glockenläuten in Bewegung.

Voran trug ein starker Inwohner Föhners ein weithin sichtbares Kruzifix; ihm folgte außer den Sängern ein Hornquartett, welches den Trauergesang begleitete oder mit ihm wechselte; dann kamen die Ministranten und zwei Priester, hinter denen der Sarg des Knaben von vier kräftigen Burschen getragen wurde.

Hätte man die Mutter des Knaben auch nicht gesehen, man hätte ihr unsäglich schmerzhaftes Schluchzen und Weinen hinter dem Sarge her gehört; sie führte das nächstälteste Kind an der Hand, während die jüngeren Kinder im Wagen neben dem Vater saßen, der den weiten Weg zum Kirchhof nicht zu Fuß zurücklegen konnte.

Die Kleinen brachen dann und wann in helles, bitterliches Weinen aus, dass ihr Brüderchen tot sei und nimmer, nimmer wiederkommen werde, wogegen Föhner, das jüngste Kind auf dem Schoße haltend und sich dumpfen Schmerzes darüber beugend, lautlos in dem Wagen saß und einem Knecht die Leitung seiner Pferde überließ. Zu diesem wortlosen Gram und schweren Sinnen des Mannes stimmte so recht das bei dem Vorbeter beginnende und in dem langen Trauerzuge dumpf vortrollende Murmeln der betenden Menge.

»Wer hätte Volkh und seinem Knaben die letzte Ehre erwiesen, an ihrer Todesstätte Segen erteilt, gebetet, geweint, wenn der Abgrund sie verschlungen?« sprach es plötzlich im Gewissen Föhners, und seine Stirn sank, und seine Lippen verließ das letzte Rot.

In diesem Augenblicke trat von den Waldwächtern einer an den Wagen und sagte mit gepresster Stimme:

»Föhner, erschreckt nicht, er ist da!«

Föhner blickte zerstreut vom Wagen nieder und nur sein Auge fragte:

»Wer ist da?«

»Der Volkh. Dort steht er am Wege im Gebüsch, auf sein Gewehr gelehnt.«

Der Name Volkh schlug wie ein Ton des ewigen Gerichts an Föhners Ohr. Heftig aufgerüttelt gab er seinem Boten einen Wink, dass es für jetzt gut sei, und warf einen von Schauder erfüllten Blick nach der vorspringenden Waldstelle, wo Volkh sich hin postiert. Die Stelle reichte bis an die Straße vor, auf welcher der Zug vorüber musste, und Föhner hatte ganz recht, wenn er dachte:

»Er wird mich nicht verfehlen.«

Dass Volkh aus einem andern Grunde hier sein könne, als mit ihm für immer abzurechnen, fiel ihm gar nicht bei. Er kannte gar zu wohl die Furie des Hasses, die ihr Opfer da am liebsten fasst, wo es am sichersten und empfindlichsten zu fassen ist.

»Wer hätte Volkh und seinem Söhnlein die letzte Ehre gegeben, wenn sie der Abgrund verschlungen?« dachte er wieder. »Ich soll's nicht besser haben; mich wird er töten, und den Trauerzug für meinen Knaben wird er stören und zerstreuen!«

Und also machte er sich bereit zu sterben.

Er küsste sein jüngstes Kindlein auf die Stirn und hob es von dem Schoß, um es tiefer in die Flechte des Wagens zu setzten, dann küsste er auch das zweite Kind neben sich und sagte, dass es neben seinem Schwesterchen niedersitzen solle. Dadurch enthob er die Kinder der Gefahr, mit ihm getötet oder verletzt zu werden. Als die Kinder unten saßen, richtete sich Föhner selbst empor, holte einmal lebhaft Atem, wobei die gewaltige Brust mächtig hervortrat, faltete die Hände und schloss die Augen eine Weile. Was er dem Himmel noch zu sagen hatte, sprachen seine Lippen nicht laut aus, auch nahm die letzte Unterredung nur geringe Zeit weg. Wie einer, der jeden Augenblick den letzten Streich erwartet, saß Föhner bald wieder offenen Auges da und blickte unverwandt nach der Stelle, wohin der Todfeind sich postiert.

Kaum eine Minute währte es nun, so kam der Träger des Kruzifixes bei der Waldstelle an und hinter ihm die Sänger, Hörnerbläser, Ministranten, Priester und der Sarg.

Als der Sarg zur Waldstelle kam, trat Volkh aus dem Schatten der Bäume, hob sein Gewehr empor, zog den Hut, verneigte sich still gegen den Sarg des Knaben und schlug ein Kreuz; dann nahm er sein Gewehr um die Schulter und sah der Spitze des Zugs so lange in Gedanken nach, bis Föhner und dessen Weib und Kinder an ihm vorbeigezogen waren; zuletzt trat er selber in den Zug und schloss sich als Leidtragender an.

Volkh war also nicht gekommen, um Rache zu nehmen an dem Feinde, sondern um dem Unglück seines Knaben achtungsvolles Beileid zu erweisen; er war nicht gekommen, seinen Feind, da sich Gelegenheit ergab, erbarmungslos hinweg zu schaffen, sondern er war gekommen, darzutun, dass er zwischen einem schuldigen Leben und einem unverschuldeten Leid zu unterscheiden und Letzteres zu achten wisse. Zwar hatte Föhner einst hoch aufgejubelt, als man ihm die Kunde brachte, Volkh mitsamt seinem Knaben schwebe über dem Abgrund und beide erlitten den zehnfachen Tod, allein Volkh schied die Unschuld eines Hauses streng von der Schuld desselben, und er trug Leid um das Knäblein desselben Feindes, welcher seinem Herzen schon so oft den Tod gegeben.

Föhner fühlte mit erschütternder Gewalt den hohen Edelmut, den ihm sein Gegner hier erwies, und maß mit dumpfem Schauder den Abstand zwischen sich, dem rohgewaltigen Menschen, und Volkh, aus dessen Betragen jetzt die Kraft der Sittlichkeit und Menschenwürde sprach.

Wie – und war dies vielleicht ein Zeichen, dass Volkh gesonnen sei, seiner Rache genügen zu lasen an den fünf bereits getöteten Gesellen und Föhner zu schonen um des Söhnleins willen, das der Tod ihm grausam weggerafft?

Wirklich griff Föhner mit Hast nach diesem Glauben. Voll Begierde zu leben, den Seinen erhalten zu bleiben und den Rest seines Lebens für namhafte Werke im Guten aufzuwenden, glaubte er jetzt, was er wünschte, sah er im Betragen Volkhs den ersten Schritt zu künftigem Entgegenkommen, zur Versöhnung und gab sich einer Hoffnung hin, die seine tiefe Trauer um den Knaben mit einer Art verklärter Rührung mischte.

Föhner wollte nach der Beerdigung den Volkh zurückzuhalten, wollt ihn zu sprechen suchen; er wollte ihn von den guten Vorsätzen überzeugen, welche künftig seines Lebens Richtschnur bilden sollten, er wollte ihm sagen, dass es Gott ja mehr gefallen müsste, einen Mann dem Leben erhalten zu wissen, der künftig sich dem Guten widmen wolle, als ihn in voller Blüte seiner Sünden hingerafft zu sehen; und diesem Entgegenkommen, dieser warmen Sprache, hoffte Föhner, würde Volkh gewiss nicht widerstehen, gerade er nicht, der ja heute mit einem schönen Beispiel hohen Edelmuts vorangeleuchtet.

In dieser Hoffnung und Erwartung sah sich Föhner noch bestärkt durch den Umstand, dass Volkh seinem Knaben nicht nur eine kurze Strecke das Geleite gab, sondern bis zum Friedhof an der Bergkapelle in dem Zuge blieb, hier auch noch der Einsegnung des Sarges, dem Versenken desselben in das Grab beiwohnte, dann sich niederbeugte, um dem früh hingewelkten Leben eine Handvoll Erde nachzurollen. Als aber Föhner von dem Grabe sich erhob, mit feuchten Augen nach dem Manne suchte und gepressten Herzens ihn anreden, rühren, versöhnen wollte, war Volkh verschwunden, und er blieb es auch, als Föhner Leute beauftragte, ihn zu suchen. Es war, als habe ihn der Boden des Friedhofs verschlungen, indem er, seit er von dem Grabe weggetreten, von keinem Auge mehr gesehen ward.

Siebzehntes Kapitel.
Versuch', was Reue kann.

Dass Volkh einer Annäherung Föhners so entschieden sich entzogen, machte die Hoffnungen des Letzteren wieder sinken.

Hatte durch die düstere Seele Volkhs nur ein flüchtiger Lichtstrahl der Rührung gezuckt, um den Vorsatz seiner Seele finsterer zurückzulassen? War es Volk bei seinem Ehrengeleit des Knaben nur darum zu tun gewesen, durch diese Tat der Menschlichkeit Föhner an die todeswürdige Verruchtheit seines wüsten Lebens zu erinnern?

Auf alle Fälle legte Volkhs Benehmen die Absicht eines memento mori ebenso nahe als die Absicht, dem Gegner ein Zeichen versöhnlicher Stimmung zu geben.

Aber ein gebeugtes Gemüt strebt aufwärts und will nicht tiefer unter seiner Last versinken.

Föhner beschloss jetzt einen Gedanken auszuführen, den er schon vor einigen Tagen gefasst; er wollte Unterhandlungen eröffnen, die zu einer Versöhnung führen sollten, und um keine Zeit durch Unterhändler zu verlieren, wollte er die ersten Schritte der Vermittlung selbst tun.

Am nächsten Sonntag ließ er seinen Falben vor das Wägelchen spannen und fuhr zum ersten Mal seit fünf Jahren nach Hohengab, um dem Gottesdienste beizuwohnen. Es war weder ein Wunder, noch war es Verstellung, dass der abtrünnige Sohn der Kirche so unerwartet wieder bei dem Gottesdienste erschien und eine Andacht zeigte, die des besten Sohnes der Kirche würdig war. Er bedurfte eben eines Helfers und brauchte Trost und Stärkung. In Augenblicken solcher Bedrückung und Verlassenheit, wo sichte der Mensch nicht immer wieder Hilfe als bei dem, der die Allmacht zur Verfügung hat, wo anders Trost und Stärkung als bei dem, der der Urquell alles Trostes und aller Stärkung ist?

Föhner verließ auch den Gottesdienst nicht ohne ein Gefühl der Erhebung; allein aus diesem Gefühle klang immer eine Stimme, die sagte: »Erst geh hin und versöhne Dich mit Deinem Bruder, dann komm und bringe Opfer Deiner Buße!«

Versöhne Dich mit Deinem Bruder – hätte Föhner ihn so nennen dürfen! Hätte er Volkh erinnern dürfen, dass die Bibel auch diejenigen noch Brüder nennt, welche, durch Hass und Zwietracht geschieden, sich auf Tod und Leben bekämpfen!

Aber das stand ja nicht in seiner Hand. Föhner war ja heut auf dem Wege zu versuchen, was aufrichtige Reue kann, was ein gutes Wort zur rechten Stunde vermag. Nicht um sein unwertes Leben war es Föhner jetzt zu tun; er wollte, soweit es möglich war, gut machen, was er getan, und wollte um seiner Familie willen und zu deren Wohl versuchen, am Leben zu bleiben.

»Nein, Angern zu!« sagte Föhner seinem Knechte nach dem Gottesdienste, als dieser Anstalt machte, den Falben nach dem Föhnerhof zu lenken. Gregor schaute seinen Meister mit großen Augen über die Schulter an und sagte dann: »Hist!« Der Falbe griff in der Richtung nach Angern aus.

Es war ein wundersamer Gegensatz, dass in den meisten Orten, durch welche Föhner kam, gerade Kirchweih gefeiert wurde und heitere Tanzmusik erscholl. Aber nicht die heiteren Klänge der Musik allein waren es, die Föhners schwer gebeugtes Gemüt ergriffen, er erinnerte sich auch an die Tage seiner aufbrausenden Jugend, die in jeder von frohem Treiben belebten Schenke hier einst unvergleichliche Stunden genossen. Sorglos, feurig, trunken von Stolz und Glück bei der schönsten der Schönen, kannte sein Jubel oft keine Grenzen und sein Siegesgefühl kein Maß. Wie stand es dagegen heute? Gesenkten Hauptes und mit scheu gewendeten Blicken kam er heute wieder an diesen Jubelstellen der Jugend vorüber; die frohen Töne der Musik erklangen auch heute, und das nachwachsende Geschlecht tummelte sich munter wie einst, allein er war so sehr ein anderer geworden, dass es ihm schien, als wie er sich selbst verloren gegangen. Es konnte keinen Trost für ihn gewähren, wenn er hier und dort einen Genossen seiner Jugendfreuden aus dem Fenster blicken, hier und dort eine flinke Tänzerin von einst vor dem Hause sitzen und auch älter und stiller geworden sah; dies war die einfache Wirkung der Zeit und der Sorge für das Wohl eines Hauses. Allein jene konnten doch heiter von Gemüt sein und sich harmlos früherer Jubeltage freuen; er aber war beschwert im Gemüt und sah sein Leben bedroht, da, wo er kaum begonnen, den Ernst und die Würde desselben recht zu erkennen.

Es mochte drei Uhr nachmittags sein, als Föhners Wagen sich Angern näherte. Auch hier, das gewahrte man von Weitem, hatte die festliche Zeit der Kirchweih ihren Einzug gehalten. Die Klänge der Tanzmusik ertönten, und vor der Schenke, die sich unter den ersten Häusern befand, standen zahlreiche Gruppen.

»Musik empfängt mich, da ich komme«, dachte Föhner, auf den Boden des Wagens niederblickend, »wie werde ich den Ort wieder verlassen?«

Er gab hierauf dem Knecht einen Wink, bis vor das Jägerhaus am anderen Ende des Ortes vorzufahren, und versank in düsteres Nachdenken.

Bei der letzten Andeutung sah der Knecht noch erstaunter über die Schulter und dachte: »Jägerhaus? Volkh? Was soll das werden?« Denn er wusste auch etwas von dem Wildererleben seines Herrn und den Kämpfen mit Volkh zu erzählen. Einige Wildererzüge hatte auch er mitgemacht und verlor erst dann die Lust an diesem Treiben, als ihm Volkh in einem Kampfe eine Kugel so nahe am Kopf vorüberschickte, dass er seitdem sich begnügen musste, ohne den unteren Teil des rechten Ohres durch dieses Jammertal zu wandern.

Die Befürchtung in der Schenke hatte das Leben des Dorfes beinahe vollständig an sich gezogen, so dass Angern wie ausgestorben aussah. Die Haustiere, besonders das Geflügel der Höfe, ging umso ungestörter in Wanderzügen auf und an, da und dort predigte ein Hahn von der Kanzel eines Zauns, dass gar bald eine Zeit kommen werde, wo der Himmel seine herbstliche Heiterkeit aufgeben und sich mit Regenwolken des Trübsinns umhüllen werde; diese Prophezeiung war umso leichter auszurufen, als ja der Oktober zur Neige ging und die Novembernebel ihren Trauermonat anzukündigen begannen.

In einem Menschengemüte, das eben durch Angern nach dem Jägerhause zog, war bereits der ganze November der Schwermut eingezogen; Föhner, dessen Gemüt hier gemeint ist, saß in so tiefem Sinnen auf dem Wagen, dass er die Bemerkung des Knechts nicht hörte, der, auf das Jägerhaus deutend, sagte: Da ist alles zu, da ist niemand daheim.« Erst als der Wagen an der Kapelle vorbeifuhr und Föhners Spion, der Zündler, herzutrat, erwachte Föhner aus seinen Gedanken.

»Du hier?« fragte er mit düsterer Stirn. »Was willst Du? Wen suchst Du?«

Muss ich nicht Wache halten für Euch und sehen, was beim Volkh da drüben vorgeht?«

Föhner blickte weg und sagte dann: »Find' ich Volkh zu Hause?«

»Ihn und alle und seinen Schwäher Löwiathan dazu.«

»Aber das Haus ist geschlossen.«

»Alle sind im Garten.«

»Geh!«

»Der Löwiathan hat vorhin Euern Namen genannt; es hat getan, als wenn ein Berg umgefallen wäre.«

Föhner winkte, und Zündler zog sich hinter die Kapelle zurück, von wo man zwischen Holundergebüsch hier und da einen Blick in den Garten des Forsthauses werfen konnte.

Achtzehntes Kapitel.
Zwei Besuche in Waidmanns Haus

Hier hatte sich die Familie Volkhs versammelt.

Sie hatte soeben einen Besuch erhalten, der Klein und Groß in Aufregung versetzte. Der Groß-Äti, Elsbeths Vater, war nach zwei Jahren wieder einmal über die Schwelle Volkhs gekommen. Gegen drei Uhr nachmittags sahen ihn die Kinder den Bergpfad hinter dem Hause herabkommen und liefen ihm laut jubelnd eine Strecke entgegen. Der Jubel der jüngeren Geschwister hatte auch Edi, der unter dem Vordach einige Gewehrhähne säuberte, auf die Ankunft des Großvaters aufmerksam gemacht; er teilte die Überraschung der Mutter und dem Vater mit und ging dann selbst dem Kommenden entgegen.

Löwauer, der Großvater, ein hoher Sechziger, riesig von Gestalt und von wetterharten, fast befremdenden Zügen, empfing die Kinder ernst und einsilbig, gab jedem derselben ein Geschenk und hob dann das Jüngste auf den Arm, um es eine Strecke weit zu tragen. In seinen Augen, wenn er das Kleine auf dem Arm oder die nebenher trabenden Kinder ansah, lag eine Rührung, die gegen die harten Züge des Gesichts scharf abstach.

»Wie geht es Eurer Mutter?« sagte er düster und mit einer Stimme, die durch die Resonanz der gewaltigen Brust etwas Löwenartiges hatte.

Die Kinder erwiderten: »Der Mutter geht es gut, sie ist daheim.«

»Und der Vater?«

»Auch gut, auch heim«, sagte das Kleine auf dem Arm des Großvaters.

Dieser wollte nun auch nach Edi fragen, als er diesen selbst entgegenkommen sah.

Die dichten Brauen des gewaltigen Mannes schoben sich finster zusammen und senkten sich über die Augen.

»Nun«, sagte er, als ihm Edi die Hand entgegenstreckte, »so was muss man durch andere Leute erfahren; auch Dich hätt' ich bald nimmer gesehen!«

Bebend und wie en ferner Donner klang die halb unterdrückte Stimme in der Riesenbrust des Mannes nach.

»Alles ist wieder gut, Groß-Äti«, sagte Edi. »Ein Schütz muss herzhaft sein und sich nicht fürchten.«

Die Brauen des Großvaters hoben sich, und das Auge desselben warf einen Blick auf den Knaben, der Überraschung und Behagen ausdrückte; aber alsbald sanken die Brauen wieder, und der Großvater sagte:

»Herzhaft sein und sich nicht fürchten, das ist recht so, Edi. Willst Du aber wirklich Schütze sein und bleiben?«

»Nichts Schöneres als das«, sagte Edi.

Der Großvater schwieg. Er hatte genug gehört, um den Geist, der in Volkhs Hause auch nach dem schweren Unglück herrschte, deutlich zu erkennen. Es war ihm ein unliebsamer Geist, den er gewahrte, doch hofft er ihn mit Nachdruck zu bekämpfen.

Löwauer hatte seine Waldeinsamkeit heute nur verlassen, um nach zwei Jahren den Versuch, seinen Schwiegersohn zu einer anderen Lebenswiese zu bestimmen, allen Ernstes zu erneuern.

Gerade weil er die Gefahren eines Forstwarts im Gebirge von früher kannte, war er trotz der hohen Achtung vor dem Charakter Volkhs gegen die Heirat seiner Tochter gewesen. »Du wirst es bereuen«, hatte er oft und oft wiederholt, »einen Forstwart in den Bergen zu Deinem Mann gewählt zu haben. Bleibt er der ehrliche Mann, der er ist, so hast Du einen Mann, der jeden Tag einen Spaziergang in den Rachen des Todes macht. Du wirst seines Lebens und Deines Hauses nicht froh. Jeden Tag, an dem Dein Mann nicht zu Hause ist, küssest Du Deine Kinder als Witwe.« Aber die Liebe der Tochter war stärker als die Vorstellungen des Vaters, und so kam die Heirat zu Stande. Elsbeths Vater aber zog sich nach der Hochzeit in unwirscher Stimmung auf seinen einsamen Waldhof zurück und konnte nicht vergessen, dass er keinen Schwiegersohn besaß, der ruhig Haus und Hof sein nannte. Diese Verstimmung nahm in dem Maße überhand, als die fort und fort wiederkehrenden Kämpfe mit den Wilderern sich erneuerten und auf die grellste Weise bestätigten, was er seiner Tochter vorhergesagt. Erst die Kunde von dem letzten unerhörten Schicksal Volkhs und seines Söhnleins führte eine Wendung herbei. Löwauer hatte die Kunde in seinem abgelegenen Hofe erst jetzt vernommen, und sie machte einen so erschütternden Eindruck auf den alten Mann, dass er sofort nach dem Wanderstock griff, um sein Kind und die Enkel wiederzusehen und dem Schwiegersohn zur Rettung Glück zu wünschen, aber zugleich mit allem Nachdruck die Forderung zu stellen, dass Volkh die Forstwartstelle aufgebe und ein handfester und lebensfroher Landwirt werde, zu welchen Ende er ihm einen Hof in der Nachbarschaf kaufen wolle. Diese Forderung durchzusetzen war er fest entschlossen, er glaubte das unbestreitbare Recht zu haben, das Glück und die Sicherheit der Seinen zu begründen, und der bloße Gedanke, dass Volkh sich seinem Willen abermals widersetzen könnte, regte ihn so auf, dass er heute auf einsamem Waldpfade oft in wilde Bewegung geriet und Selbstgespräche führte, die, von seiner donnernden Löwenstimme vorgetragen, weit und breit von den Felsen widerhallten; hieß er doch von dieser Urgewalt seiner Stimme in seltsamer Wortmisshandlung der Löwiathan.

Diese Selbstgespräche hatten indessen das Gute, dass der Wanderer sich das Herz etwas erleichterte und bei Begrüßung der Tochter und des Schwiegersohns ruhiger erscheinen konnte, was freilich für Elsbeth nicht viel Tröstliches hatte, da sie wohl erriet, was den Vater so plötzlich aus der Einsamkeit gelockt.

Sie war daher nicht im Stande, dem Vater weiter als bis unter das Vordach entgegenzugehen; hier, an einen Pfosten gelehnt, der das Dach stützte, erwartete sie den Gast mit Liebe und Sorge, mit kindlicher Sehnsucht und Furcht. Indem ihre Pulse dem lange nicht gesehenen Vater lebhaft entgegenschlugen, bebten die Knie unter ihr vor dem finstern Ernst des Richters, der da erscheinen sollte.

»Ist das nicht Eure Mutter?« fragte Löwauer, an der Kapelle mit den Kindern hervortretend.

»Mutter, der Groß-Äti, sieh!« riefen die Kinder wie aus einem Mund.

»Vater!« sagte Elsbeth und konnte kein weiteres Willkommen hinzufügen.

»Da bring ich Dir alle wieder«, sagte der Kommende ernst. »Es hat in Gottes Hand gestanden, dass man noch sagen kann: alle!«

Diese Anspielung mochte zart gemeint sein, sie ließ aber erraten, was im Gemüt des strengen Mannes vorging.

Mit zärtlichem Kindesblick, den nur eine Träne trübte, reihte Elsbeth ihrem Vater die Hand, und es lag zugleich einen unendlich dringende Bitte in dem Blick, dass ihrem Manne nicht weh geschehen möge.

»Ich hoffe, ich komme Euch nicht ungelegen, Tochter«, sagte der ernste Mann.

»Wie könntet Ihr ungelegen kommen?«erwiderte Elsbeth.

»Nun, nun, es kommt darauf an. Wo ist der Johannes, Dein Mann?« Löwauer sagte das nicht ohne Blick der Befremdung, da Volkh wohl auch hätte ein Stück Wegs entgegenkommen können.

»Volkh ist drinnen, er weiß es, dass Ihr kommt«, sagte Elsbeth arglos.

Des Vaters Brauen schoben sich finster zusammen; er dachte: »Der lässt mir's merken, dass ihm keiner Furcht und Sorgen macht!« Mit strengem Blick und scharf auftretend, ging er neben seiner Tochter nach der Vorflur und trat dann in die große, reinliche Jägerstube.

Volkh stand unweit der Tür ruhig da und erwartete den Schwiegervater.

»Willkommen, Schwäher!« sagte er.

Dieser wollte mit einem düstern Blick auf den scheinbar stolzen und gemessenen Empfang des Schwiegersohnes erwidern, allein der Ausdruck des Blicks verwandelte sich in Staunen und Teilnahme.

Volkhs Aussehen hatte sich so verändert, dass der Schwäher einen Augenblick zweifelte, ob er den Tochtermann wirklich vor sich habe. So verändert mag ein Soldat aussehen, der aus einem beschwerlichen Feldzug heimkehrt. Jeder Gesichts- und Charakterzug ist schärfer ausgeprägt. Seelen- und Leibesstrapazen haben Glieder und Gedanken gestählt. Für einen durch tausend Beschwerden und Gefahren Gestählten scheint es keine Überraschung, Sorge und Furcht mehr zu geben. So sah auch Volkh jetzt aus. Die Stirn schien markiger aus dem Kopf getreten; weder Miene noch Blick veränderten sich; des Schwähers Kommen schien weder zu überraschen noch zu erregen.

»Wenn man nicht nachsähe, Volkh, man wüsste bald nicht mehr, wer von uns am Leben ist«, sagte der Kommende.

»Legt ab«, sagte Volkh, »ich merke, Ihr seid zu Haus.«

Der ernste Gast ließ sich den Hut und Stock von der Tochter nehmen und folgte dann dem Schwiegersohn nach der Stube, die in den Garten führte, wo der Gast die beste Bewirtung finden sollte.

Dies geschah nun in demselben Augenblicke, als Föhner mit seinem Gefährt vor der Kapelle hielt, sich dann vom Wagen helfen und unter das Vordach des Jägerhauses führen ließ. Hier setzte er sich neben die Tür des Hauses, bis er gesehen und von Volkh zu einer Unterredung eingelassen würde.

Wunderbarer, ergreifender Gegensatz zwischen hier und im Garten; und doch wieder welche Fügung, dass Föhner hier sich niederließ, während er bald der Gegenstand einer denkwürdigen Unterredung in der Nähe wurde.

Neunzehntes Kapitel.
»Gute Nacht, und nicht auch Friede und Versöhnung zwischen uns?«

Liebevoller hat noch keine Tochter ihren Vater bewirtet, als es von Seiten Elsbeths heute der Fall war.

Wie gehoben von innerem Segen eilte sie geräuschlos durch die Räume des Hauses, um das Beste, das sie hatte, herbeizuholen und es auf das Geschmackvollste zu bereiten. Kaum dass sie eine fremde Hand in ihr Liebeswerk sich mengen ließ, sie allein wollte das ganze Verdienst auf ihr Kindeshaupt sammeln und dem Vater zeigen, dass er seine Tochter nie glücklicher mache, als wenn er unter ihrem Dache erscheine, aber auch nicht tiefer betrüben könne, als wenn er lange fern bleibe. Als der väterliche Gast bereits anerkennend von dem Dargereichten genoss, sann Elsbeth noch immer nach neuen Gaben.

Nun war der Moment gekommen, welcher die ganze Familie in einem gemeinschaftlichen Genusse vereinigte.

Ein großer Vorrat von Kaffee und Kuchen wurde aufgetragen, und Elsbeth teilte mit umso tieferem Behagen davon aus, als sie merkte, dass der Vater in seiner Weise heiter aussah und sich im Kreise ihrer Familie wohl zu fühlen schien.

Dies war in der Tat zum Teil auch wahr, obwohl ein unbefangener Beobachter bei dem Gaste wie bei Volkh bisweilen bedenkliche Zeichen gewahren konnte, dass die beiden Männer noch ernsten Auseinandersetzungen entgegensahen.

»Du hast Dein Gärtlein um vieles verschönert«, begann der Schwiegervater, als er auch von dem Kaffee den nötigen Teil zu sich genommen. »Es ist nur schade, dass die Herrschaft den Forsthäusern alles so schmal bemessen hat!«

»Man hilft sich«, erwiderte Volkh. »Man sieht es dem Raume übrigens nicht an, was ich daraus ziehe.«

»Das mag wohl sein, allein Du hast Dir und Deiner Familie kaum Platz gelassen, auf und ab zu gehen.«

»Schwäher, an Bewegung fehlt es einem Forstmann und den Seinen nicht«, sagte Volkh.

»Ja, recht; auf der einen Seite zu viel, auf der anderen zu wenig. Du hast auch Tage, wo Du ruhen und bei den Deinen bleiben möchtest; da wär' ein Garten mit breiten Gängen wohl am Platz. Versuch's einmal vor Amt! Man kann Dir wohl ein Stück von dem Grunde dort noch schenken.«

»Ich bitte nicht gern«, bemerkte Volkh nur kurz.

»Weil Du zu bescheiden bist! Sieh', wie es andere in Amt und Würden machen! Wie sie begehren und erhalten.«

»Das gerade ist schuld, dass ich mich bescheiden lernte. Die wilde Gier, bei dem ersten Fußtritt in ein Amt an sich zu reißen, was gut und teuer und vom Herrn und Staat nur immer wegzukriegen ist, hat mich mit Ekel und Widerwillen erfüllt. Ich würde lieber auf dies Gärtlein auch verzichten als ein neues Stück dazu verlangen.«

»Ja, so bist und bleibst Du, Volkh; und das kommt von Deinem abhängigen Stande. Es ist ein Kasernenleben, auch in einem Forsthaus. Das Brot wird zugewogen, die Kleidung zugeschnitten, schade, dass es abgekommen ist, die Bäume in den Gärten auch noch zu beschneiden. Du solltest wohl genug haben an dem ganzen Treiben jetzt. Volkh, hör' auf meinen Rat und wende jetzt noch um und werde Landwirt!«

Volkh blickte seine Hausfrau an, dass sie mit den Kleinen ein wenig weiter in den Garten treten möge, und erwiderte dann:

»So ist Euch dieser Wunsch noch immer lieb und wert?«

»Wie mein Leben, Schwiegersohn! Mach' Dich los von diesem Herrendienst, bezieh' Deine eigene Scholle Land, ich will sie Dir groß genug schaffen für Dich und die Deinen, dass Ihr Herren seid statt Diener! Ich alter Mann kann's nicht mehr sehen und tragen, dass Du für ein Dach und schmale Herrschaftsbissen alle Tage die Zielscheibe wilder Gesellen bist, alle Tag dem Tod zehn Schritte näher als dem Leben stehst, dass mein Kind seine schönsten Jahre in stillem Gram hinlebt und die Enkel schon an Not und Tod sich gewöhnen!«

»Schwäher«, erwiderte Volkh so maßvollen Ernstes, dass er einen ergreifenden Gegensatz zu dem Gaste bildete, dessen gewaltige Stimme an Decke und Wänden gerüttelt hatte, »Schwäher, glaubt ja nicht, dass mir Euer Antrag nicht verlockend ist! Meine Familie und ich würden ganz gewiss glücklich im eigenen Haus und auf eigenem Grund und Boden. Aber Ihr müsst doch eins nicht vergessen. Wofür man ein halbes Leben lang Sorge getragen, sich bemüht und sich Gefahren ausgesetzt hat, das gewinnt man endlich lieb, das will man nicht so leicht verlassen. Was fesselt einen Landmann so sehr an Haus und Hof, an Feld und Flur, als dass sie seit Vaters Zeiten seine fortgesetzte Sorge und Pflege erhalten haben? Was macht den Eltern ihre Kinder lieb und wert, als weil sie für dieselben zu sorgen, sich zu mühen und für dieselben zu leiden haben? Und so ist mir mein Amt auch lieb und wert, weil es mir weidlich zu schaffen und Gefährlichkeiten zu bestehen gab. Unser Wohlbehagen mag ins Breitere gedeihen auf weitem Grund und Boden, den wie eigen nennen; aber der schmale Grund, auf den uns unser Forstdienst stellt, hat doch das für sich, dass der Mensch darauf ins Hohe und Ansehnliche sich erheben kann. Seht dort den Apfelbaum im Garten! Hat er nicht den Boden und Licht und Luft für sich allein? Er hat sich voll Behagen in die Breite ausgedehnt, wer möchte aber seine Höhe und Gestalt mit einer Tanne vergleichen, die ringsum eingeengt Licht und Luft nur in der Himmelsnähe sucht und mit dem Gipfel an die Wolken rührt? Ich zieh' die königliche Tanne vor, wenn ihre Frucht auch nicht der Frucht des Apfelbaumes gleicht!«

»Ja, ja«, sagte der Schwäher nach einer Pause, aufstehend und vollends in den Garten tretend, »ich seh', Du stehst noch da, wo Du vor Jahren auch gestanden. Hoch auf ist Dein Ansehen, ist Dein Name gewachsen – Du bist eine Tanne, die uns überwachsen hat. Du kannst nicht mehr versetzte werden, dazu bist Du zu tief in Deinen Boden gedrungen und zu hoch und eigensinnige aufgeschossen; Du willst da sein und bleiben, wo Du bist, und Du willst nach vielen Stürmen den rechten Sturm erwarten, der Dich samt den Wurzeln aus dem Boden reißt. O Volkh! Dein letztes Wort wird sein: Hätt' ich meinem Schwäher nur gefolgt! Glaubst Du denn, die Feinde werden ruhen, weil Dich Gott so wunderbar gerettet hat? Kennst Du diese Teufel in Menschengestalt auch jetzt noch nicht, dass Du glaubst, sie werden Dir nicht wieder nach dem Leben trachten?«

»Das kann sich ändern, Schwäher«, sagte Volkh.

»Ja – ändern – ändern!« rief der Schwiegervater, der in wachsender Aufregung nach Worten suchte. »Ändere Du die Menschen, die dem Höllenwerk einmal verfallen sind! Ändere Du Menschen, die Dich und Dein Söhnlein zwischen Himmel und Erde über dem Abgrund aufgehangen! Kennst Du nicht einen wie den andern, dass die Hölle kaum wird unterscheiden können, wer von ihnen wilder und verruchter ist? Solange ein Wallrab lebt, ist gerade jetzt ein jeder Schritt in Dein Revier Dein Tod!«

»Der Wallrab lebt nicht mehr«, bemerkte Volkh und sah hinweg.

»Der Wallrab? Wie? Hat Gott ihn so urhastig weggeschafft? Seit wann ist der Wallrab tot?«

»Schon manchen Tag«, bemerkte Volkh lässig.

»Doch der Wallrab ist nur einer. Sind die andern minder feind und wild? Solang ein Mohrau lebt, bist Du um nichts gewisser Deines Lebens!«

»Auch der Mohrau lebt nicht mehr«, bemerkte Volkh.

»Auch der Mohrau tot? An ihm auch hat das Schicksal ein Exempel statuiert? Wie starb der Mohrau so urplötzlich?«

»Wie? Genug, er starb«, bemerkte Volkh, und keine Miene zuckte.

»Aber der Wolfert und der Strotzer leben noch! Ihr Bund zählt manchen, der Dir folgen wird auf Schritt und Tritt, bis in Dein Haus zuletzt, bis in die Kammer, wo Du Schlaf und Ruhe suchst.«

»Dafür ist schon getan«, bemerkte Volkh. »Sie alle sind hinüber, sie schaden niemand mehr!«

»Sie alle?« wiederholte der Schwäher, kalt durchschauert. »Und auch der Föhner wäre tot?!

»Der Föhner stirbt in diesen Tagen«, war die Antwort.

Das Haupt des Schwähers sank, und Volkh ergriff ihn an dem Arm, um ihn zu stützen.

Fast in demselben Augenblicke trat der jüngste Knabe Volkhs mit einem Rest des Essens aus der Tür und wollte dem Uhu, den der Vater unlängst heimbrachte, etwas zum Besten geben. Er sah einen fremden Mann vor der Tür, erschrak und eilte nach der Vorflur zu der Mutter, rufend:

»Ein fremder Mann ist da!«

Elsbeth trat nun gleichfalls an die Tür.

»Wer seid Ihr, und was wünscht Ihr?« fragte Elsbeth freundlich, doch betroffen.

»Euch soll mein Name nicht erschrecken«, sagte Föhner und erhob sich, »doch gebt mir Eure Hand, liebe Frau; die Hand, die Euch schon oftmals wehgetan, sie möcht' Euch um Verzeihung bitten.«

»Ich verzeihe gern«, sagte Elsbeth, ihre Hand nicht ohne Ängstlichkeit versagend. »Doch kommt Ihr meinen Mann zu sprechen?«

»Das führt mich her«, erwiderte der Föhner und ließ sich langsam wieder nieder, als Elsbeth in die Flur zurücktrat.

Indem nun Elsbeth ihren Mann herbeirufen wollte, sah sie plötzlich Edi mit starren Blicken und zusammengeschlagenen Händen dastehen; er hatte hinter der Mutter gleichfalls nach dem Fremden sehen wollen und hatte in ihm den Föhner erkannt.

»Mutter«, rief er mit gepresster Stimme, »das ist der Föhner, der schlimmste aller Wilderer, ihr Hauptmann und unser größter Feind! Der hat uns auf die Föhre binden lassen!«

Elsbeth stieß einen leisen Schrei aus und musste sich am Gewehrschrank halten, um nicht hinzusinken.

»Föhner!« sagte sie fast stöhnend. »Gott! Was wird der Vater dazu sagen! Edi, geh und sag' es selbst dem Vater!«

Indessen war die Meldung nicht mehr nötig. Volkh trat eben mit dem Schwäher vom Garten in die Flur und sagte ernst, doch ruhig:

»Fasst Euch, Schwäher. Ich hielt Euch stets für einen Mann. Glaubt ihr, ein Feind sei gefährlich, der unbewaffnet und bei Tag in unser Haus kommt? Nun, Elsbeth«, rief er dieser zu, »was bist Du so erschrocken? Ist's der Föhner, der gekommen? Ich sah nur sein Gefährt dort vor den Linden.«

Elsbeth nickte, dass es so sei, und Edi, der sich gefasst hatte, rief:

»Soll dieser Feind jetzt unser Gast sein, Vater?«

»Wahrlich ja, mein Kind«, sagte Volkh. Und mit diesen Worten ging er nach dem Schrank in der Vorflur, öffnete ihn und nahm ohne Aufregung, als gelte es einem Pirschgange ins Revier, Gewehr und Waidtasche heraus. Beide umhängend, trat er dann vor Weib und Schwäher hin und sagte rasch und ernst:

»Im Schatten unseres Hauses ist Föhner unser Gast und nicht unser Feind. Er ist in Frieden gekommen, und Friede soll er hier finden. Elsbeth, bewirte den Gast und sprich sanft und gut mit ihm. Was mich betrifft, ich muss von dannen. Im Schein der Sonne, im Schatten der Nacht, unter freiem Himmel darf ich mir ihm zusammentreffen, im Schatten meines Hauses nicht. Ich gehe, dass er bleiben kann. Sagt ihm, die Gnade des Himmels sei größer als die Gnade des Menschen, dort suche er Worte und Bitten anzubringen. Gute Nacht, Schwähre! Lasst Euch nicht befremden, was Ihr seht. Ich hoffe, Ihr bleibt morgen und wohl auch übermorgen noch; ich seh' Euch wieder. Gute Nacht, Elsbeth! Föhner wird mich eher sehen, als er denkt.«

Mit diesen Worten ging Volkh die Flur entlang nach dem Garten und entfernte sich durch ein Pförtlein in das freie Feld.

Eine Stunde später wurde Föhner, der zwar gütige Bewirtung und Ansprache, aber die ersehnte Unterredung nicht gefunden, mit aller Schonung an sein Wägelchen geleitet. Er stieg mit Hilfe seines Knechtes auf dasselbe und fuhr gebeugter, als er gekommen, von dannen.

Und wieder eine Stunde später – der Mond ging eben auf und warf seinen Silberschein auf einen breiten Waldweg im Gebirge – trat ein Waidmann aus dem Gebüsche und setzte sich wartend auf einen neu gefällten Baumstamm. Der Waidmann verfiel in Gedanken und horchte von Zeit zu Zeit nach der von unten kommenden Straße.

Da ließ sich endlich das Rauschen eines Wagens hören; der Waidmann erhob sich und trat in das Gebüsch zurück. Der Wagen kam langsam die Windungen des Weges herauf und bewegte sich noch eine Weile so weiter. Dann bog er rechts ein in der Richtung, wo der Föhnerhof lag.

Es war das Gefährt Föhners. Der Knecht lenkte in Gedanken seinen Falben; der Herr, von tiefer Zerknirschung durchwühlt, saß wortlos und wankend auf seinem Platze.

Da, wo sich der Wald zu lichten beginnt und einer umfangreichen Waldwiese Platz macht, erschien der Waidmann wieder auf dem Wege, trat knapp an den Wagen heran und grüßte Föhner ernst, doch freundlich. Föhner zuckte wie aus einem Traume auf. Er erkannte Stimme und sagte erschüttert:

»Bist Du es, Volkh, und kommst Du mich zu hören?«

»Du bist mein Gast gewesen«, erwiderte Volkh. »Ich habe Dich von fern begleitet und beschützt; nun bleibt mir nichts mehr als zu sagen: Gute Nacht!«

»Gute Nacht, und nicht auch Friede und Versöhnung zwischen uns?« sagte Föhner mit zuckender, von Rührung erstickter Stimme.

»Was sinnst Du noch auf Nebendinge, Föhner? Mit jenem rechne ab, den Du mehr beleidigt hast als mich. Du folgst den andern. Sie waren Deine Gesellen, Du warst ihr Meister. Seit ich auf jener Föhre gehangen, hat die Ehre der Welt eine Wunde so tief und breit, wie ihr Abgrund ist, in den ich hätte fallen sollen. Die Wunde schließt mit Deinem Ende. Drum mach' Dich schnell bereit, und darum gute Nacht.«

Zwanzigstes Kapitel.
Schluss

Am Tage Allerseelen hatte die herbstliche Sonne noch all ihre Kraft gesammelt, um von einem fast wolkenlosen Himmel herab ihre Strahlen leuchten, wärmen und erquicken zu lassen. Wege und Stege waren von Wanderern bedeckt, welche mit Blumen und Immortellenkränzen die Stätten die Stätten ihrer Verstorbenen suchten, um sie wehvollen Angedenkens auszuschmücken.

Nicht gerade ein Grab zu zieren, wohl aber eine Leidensstelle zu bezeichnen, welche einmal einem Vater und seinem Söhnlein hundertfaches Todesweh gebracht, waren am Morgen dieses Tages zwei Männer auf dem Grauhorn beschäftigt, ein weithin sichtbares Kreuz gerade dort aufzurichten, wo am Rande des Abgrundes die früher erwähnte Föhre gestanden. Das Kreuz war in schlichter Form aus dem Holz der Föhre gezimmert, und zwar aus dem Holz gerade jener zwei Äste, an welchen einst Volkh und sein Söhnlein, den Tod erwartend, gehangen.

Als das Leidensholz aufrecht stand und im Boden für die Dauer befestigt war, nagelten die Männer an den Stamm des Kreuzes noch ein Täfelchen mit der schlichten Inschrift:

Ein Mann,
den mitsamt seinem Söhnlein
Gott und gute Menschen hier gerettet,
errichtet dieses
zum dankbaren Angedenken in
alle Ewigkeit
Amen.

Damit war das Werk der Männer vollendet, und sie knieten nun die ersten vor dem Leidensholze hin und verrichteten eine kurze, stille Andacht; hierauf erhoben sie sich, ergriffen ihre Werkzeuge, warfen noch einen schauderhaften Blick nach dem Abgrund, und der eine sagte:

»Komm, ich kann's an diesem Ort nicht länger ertragen. Mir bricht das Herz, wenn ich an Volkh und seinen Knaben denke.«

»Ja«, erwiderte der andere, »die haben mehr gelitten, als Menschen ertragen können. Der Himmel half sie retten, aber auch ihr Leid überwinden. Ist's wahr, dass ein schnelles Sterben über die Wilderer gekommen?«

»Sie sollen fallen wie die Mücken; bald soll keiner von ihnen mehr am Leben sein!«

»Möge sie der Abgrund haben, der tiefer ist als dieser da! Erreicht die Strafe einen, so muss sie gerechter Weise alle fassen. Gebe der Himmel nur Volkh noch glückliche Tage! Der hat sich den Frieden ehrlich erkämpft! Segen über ihn und die Seinen!«

»Da stimme ich auch ein: Segen über ihn und die Seinen!«

Mit diesen Worten hatten sich die Männer kaum entfernt, als hinter einem Fels ein Waidmann hervortrat, angesichts des neu aufgerichteten Kreuzes einen Augenblick still hielt, schauderte, dann einige Schritte weiter vorging, niederkniete und weinte.

Es war Volkh.

Am Allerseelentage, an welchem weit und breit im Landes alles zu den Gräbern der Lieben pilgerte, wollt er die Stelle seiner unaussprechlichen Leiden zum ersten und vielleicht zum letzten Male wieder betreten und allein mit seinem Gemüte Rat pflegen.

Er hatte die Männer beauftragt, das Erinnerungszeichen seiner Leiden aufzurichten, und war schone eine Weile stiller Zeuge ihrer Arbeit und ihrer Reden gewesen. Er hatte ihre Teilnahme nicht ohne Rührung und ihren Triumph über das schnelle Sterben der Wilderer mit umwölkter Stirn vernommen; dass die Strafe alle erreichen müsse, nachdem sie einen ergriffen, dieser Ausspruch, das ahnten die Männer wohl nicht, war diesmal die Besiegelung eines vielleicht noch schwankenden Todesurteils. Aber die glücklichen Tage, die Volkh noch erleben sollte, und der Segen, welchen die Männer ihm und den Seinen wünschten, wie griffen diese wohlgemeinten Worte tief ins Herz des Mannes! Die ersten Tränen seit dem Tode seiner Mutter rannen dem tapferen Waidmann heute über die Backen, und das Echo seiner Seele erwiderte: »Lebt wohl, du reines Glück am häuslichen Herde! Segen, woher wirst du kommen, wenn das Letzte meiner Arbeit getan ist?«

Und noch manche Träne, schwer und heiß, rann über die Backen des Waidmannes, bis er sich wieder aufrichtete, seine volle Fassung gewann und, an den Stamm des Kreuzes gelehnt, mit festen Blicken in den finstern Abgrund sah. Dreimal zuckte seine Brust krampfhaft zusammen angesichts dieses kalt und feucht aufgähnenden Todesrachens, dann begann sein fester Sinn dem Anblick männlich Stand zu halten; aber in seiner Brust erwachte von Neuem der finstere Geist der Wiedervergeltung und erhitzte sein Blut zu wild aufbrausender Wallung! Alsbald erhoben sich auch die Blicke Volkhs aus der Tiefe und suchten, glühend von einer geheimnis-düstern Frage, die Stelle am Firmament, welch er nahezu achtundvierzig Stunden in namenlosem Weh und Todeszucken anzustarren gezwungen war.

Eine breite, weiße Wolke hatte sich dort gesammelt und hielt unbeweglich still, als verhülle der Himmel selbst sein Antlitz bei dem Angedenken an die Leiden Volkhs; eine ähnliche Wolke hatte der Leidende an derselben Stelle einst gesehen, als er, aus einer Ohnmacht erwachend, glaubte, sein Knäblein Edi sei mit Aste bereits in den Abgrund gefahren und dahin! Damals erhob sich mitten aus seinem grenzenlosen Weh ein Gedanke, schreckhaft wie das Gespenst eines Fiebertraumes, und er tat den Schwur, wenn ihm, wie auch immer, eine Rettung käme, alle seine Feinde der Reihen nach erbarmungslos aus der Welt zu schaffen! Welches bessere Zeichen ihm der Himmel auch jetzt geben wollte, indem er sein Antlitz verhüllte, Volkh sah nur die brennende Schrift seiner Schwures auf jener Wolke, und von einer Raserei des Gemüts, für die es keine rechte Bezeichnung gibt, getrieben, riss er plötzlich das Gewehr von der Schulter und verschwand hinter derselben Felswand, welche ihn vor Kurzem noch verborgen.

Und weit und breit im Lande ertönten die Friedhofsglöcklein noch, und die Scharen der Betrübten wanderten den stillen Ruhestätten zu. Auch im Hofe Föhners machte sich nachmittags die Mutter mit ihren Kindern auf den Weg, frische Blumen und Kränze auf das Grab ihres schnell dahingerafften Knäbleins zu legen; Mutter und Kinder gingen aber nur voraus, und der Vater sollte später, da er nicht gehen konnte und auch nicht fahren wollte, zu Pferde folgen.

Gegen drei Uhr nachmittags hielt der Falbe vor dem Haus, und Föhner bestieg ihn mit Hilfe eines Knechts.

Einmal festsitzend, ließ er sich auch einen Immortellenkranz reichen und ritt dann sachte zum Tor des Hofes hinaus.

Und er wollte die Zeit nicht mit zeitlichen Gedanken verlieren. Er war die letzten Tage in religiösen Tiefsinn verfallen und verwendete jetzt in dem Maße Überfluss an Zeit für seine Andacht, als es früher sich zu wenig nahm für diese Übung.

Den Immortellenkranz vor sich auf dem Pferde und einen Rosenkranz zwischen den Fingern der linken Hand, so ritt Föhner langsam seinen Lieben nach zum Grabe seines schwer vermissten Knaben.

Er wurde in seiner Andacht nicht gestört, denn gerade auf diesem Wege, den er ritt, waren nur spärliche Wanderer vorausgegangen.

Erst, als er an die Stelle kam, wo bei dem Begräbnis seines Bodo einer der Waldhüter an den Wagen getreten war, sagend: »Volkh ist dort im Walde!« war es Föhner, als riefe wieder eine Stimme: »Volkh ist dort!«

Und Föhners gesenkte Blicke hoben sich und sahen unwillkürlich nach der Waldstelle, welche bis an den breiten Weg hervortrat; dort aber – und es war keine Täuschung – stand Volkh in der Tat jetzt wieder und gab dem Föhner einen nur zu deutlichen Wink mit dem Gewehre.

Anfangs schien es, als wolle Föhner, von einer Ohnmacht ergriffen, das Gleichgewicht verlieren und von dem Pferde sinken; allein er fasste sich alsbald wieder, und ein schmerzhaftes Lächeln zeigte, dass ihm das, was jetzt geschehen sollte, im Grunde nicht mehr unerwartet komme.

Ruhig zog er die Zügel an und machte den Falben still halten. Dann stieg er ab, schlang die Zügel des Pferdes um einen Zaunpfahl in der Nähe, kniete, sein Ende erwartend, an den Vorderbeinen des Falben nieder, faltete die Hände mit dem Rosenkranz über der Brust und sagte: »Herr sei meiner Seele gnädig!«

Und in diesem Augenblicke fiel der Schuss.

Föhner lehnte sich, ohne einen Laut von sich zu geben, an das eine Vorderbein des Pferdes und blieb auch so im Tode noch aufrecht kniend; der Falbe, beim Schusse zwar zuckend, hielt jetzt ruhig und blickte wie verwundert auf seinen Herrn nieder.

Langsam, ernst und blass trat nach einigen Augenblicken Volkh zu dem Scheidenden heran, betrachtete ihn eine Weile in Gedanken, beugte sich feuchten Blicks zu ihm nieder und drückte dem Verscheidenden sanft die Augen zu.

»Leb' wohl«, sagte er dann mit milder Stimme. »Was ich Dir zu viel getan, darum klage mich drüben an. Wie lang kann es dauern, und auch ich geh' dieses Weges!«

Sachte nahm er dann den Immortellenkranz vom Arme Föhners und sagte leise:

»Den Kranz wolltest Du dem Grabe Deines Knäbleins bringen. Erlaub', dass ich an Deiner Statt den Liebesdienst vollbringe.«

*

Viele Jahre sind seitdem verflossen. Edi ist Forstwart auf demselben Posten, den vordem sein Vater eingenommen. Mit Föhner ward nicht nur das Haupt der Wilderer beiseite geschafft, sondern mit ihm verschwand auch überhaupt der letzte Wilddieb.

Aber wo ist Volkh? Wo ist sein braves Weib Elsbeth? Und wo sind deren übrige Kinder?

Diese Fragen sind leichter getan, als deren Antwort gefunden.

Volkh ist seit dem Tode Föhners nicht mehr zum Vorschein gekommen. Man sagt, er habe gleichnach der Tat einen Priester offenes Bekenntnis abgelegt über die Tötung aller Wilderer, sei dann stehenden Fußes vor dem Amte erschienen, um dasselbe Bekenntnis dort abzulegen, sei von dem Richter feuchten Auges empfangen und in das Gefängnis abgeführt worden. Erst aus dem Gefängnisse habe Volkh brieflich an sein Weib vermeldet, was geschehen sei. Der Brief sei in einem so einfachen, festen, treuherzigen und milden Ton abgefasst gewesen, dass er auf jeden, der ihn in späten Tagen noch gelesen, den tiefsten Eindruck gemacht. Der Besitzer der Herrschaft beeilte sich, Edi sofort zum künftigen Forstwart zu designieren, ihm vorläufig einen Stellvertreter zur Seite zu geben und Elsbeth einzuladen, mit Beziehung eines Gnadengehalts auf der Försterei mit den übrigen Kindern wohnhaft zu bleiben. Elsbeth aber zog es vor, mit den Kindern auf den Gebirgshof ihres Vaters überzusiedeln, um dort ihre Tage in Weh und Gottergebenheit zu verleben. Die einzige Bitte, die sie aussprach, war, ihren Man von Zeit zu Zeit sehen und ihn auch ihren armen Kindern zeigen zu dürfen.

Von hier an aber gehen die Berichte weit und weiter auseinander.

Nach dem einen ist Elsbeth diese Bitte gewährt, nach dem andern aber abgeschlagen worden. Nach dem einen ist Volkh wegen mehrfachen Mordes zu lebenslänglichem Kerker verurteilt worden, und Elsbeth ist von dem Hofe ihres Vaters weg und in die Nähe des Gefängnisses gezogen, um ihrem unglücklichen Johannes näher zu leben; nach dem andern aber ist Volkh nach längerer Haft in aller Stille aus dem Gefängnisse entlassen und veranlasst worden, auf einer in fernem Lande angekauften Herrschaft seines Herrn eine Forstamtsstelle zu übernehmen, und dahin sei ihm auch Elsbeth mit den jüngeren Kindern gefolgt.

So viel ist jedenfalls gewiss, dass vor einigen Jahren ein Händler den Volkh in einem an die Schweiz grenzenden Forsthause des Vorarlbergs gesehen und auch die Elsbeth gesprochen haben will. Er fügt sogar hinzu, dass Volkh noch immer ein rüstiger Mann sei, aber freilich in seinem Benehmen manche Veränderung zeige. Edi, sagt er, wisse von Vater und Mutter ganz genau, schreibe ihnen unter fremder Adresse öfter und habe sie manchmal auch schon besucht; aber er habe strengen Auftrag, nichts zu verraten.

So spricht der erwähnte Händler. Wir sind leider nicht in der Lage, dies zu bestätigen oder zu widerrufen.

Lebt aber Volkh jetzt in Freiheit und erfreuen sich Elsbeth und deren Kinder eines gesunden, zufriedenen Lebens, so bitten wir Edi von ganzem Herzen, in unserem Namen sie schönsten zu grüßen, wenn er nächstens wieder eine Reise tun und seine denkwürdigen Eltern besuchen sollte.


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