Wilhelm Raabe
Eulenpfingsten
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel

Wir haben es schon gesagt: wir lassen uns auf nichts ein, was die Ansprüche des Lesers an die Geschichte betrifft. Was wir zu tun haben, wissen wir, und was wir zu sagen haben, gleichfalls, und dies genügt uns vollkommen.

Von dem Balkon in den Salon tretend, sprach die Tante:

»Ihr wohnt recht angenehm, Kind, und wenn ihr nach Hanau wollt, so habt ihr den Bahnhof bequem genug zur Hand. Fürs erste aber wollen wir ruhig hier in der Hanauer Straße bleiben, und nun laß dich einmal genauer ansehen, Schätzchen.«

Sie setzte sich nieder bei diesen Worten, und es war, als ob sämtliche Staaten der großen nordamerikanischen Republik (Utah nicht ausgeschlossen) sich mit ihr setzten. Sie nahm das Käthchen zwischen ihre Knie, ungefähr wie Uncle Sam die schöne Insel Kuba, wenn er es irgend möglich machen könnte, zwischen die seinigen nehmen würde. Wirklich, es war bei allem Tantlichen etwas ausgesprochen Onkelhaftes in der Art und Weise, wie sie das junge ängstliche Mädchen an den Handgelenken ergriff, die Willenlose daran festhielt und sie von der Rechten und von der Linken mit auf die Seite gelegtem Kopfe besah. Es fehlte nicht viel, so hätte sie das Nichtchen auch umgedreht, um es auch von der Rückseite zu betrachten, – wie sie selber vorhin von Nachbar Nürrenberg betrachtet worden war. Da aber doch die Unterhaltung dabei gelitten haben würde, so verzichtete sie auf diese Wendung und begnügte sich mit der reizenden Vorderansicht.

»Hm,« sprach die Tante Lina Nebelung, »wenn man solch ein Geschöpfchen ansieht, dann merkt man, wie die Zeit hingeht. Es ist mir wie gestern, als ich so alt oder vielmehr so jung war wie du, und doch ist das nun schon eine schöne, lange Reihe von Jahren her. Ganz und gar eine Nebelung! Hier dieses Fältchen von dem Nasenwinkel nach dem Lippenwinkel stammt fast komisch verdrießlich von uns her; ich kenne es ganz genau, und ich kenne es an mehr als einem Familienporträt in Öl, Kreide und Bleistift. Aber hier um das Auge hat sich jedoch auch ein anderer Zug in unserem Familiengesicht eingefunden. Den wird deine selige Mutter hineingebracht haben; er gefällt mir jedenfalls viel besser als dieses Fältchen, und es tut mir um so mehr leid, daß ich dein Mütterchen nicht persönlich kennen gelernt habe.«

»Oh!« seufzte Käthchen wehmütig.

»Nein, nein, nicht weinen, Kind! Das habe ich nicht gewollt. Wir alle müssen sterben – ‚all must die – ’t is an inevitable chance – the first statute in Magna Charta,’ sagt Mr. Shandy; doch was rede ich englisch zu dir, wir werden genug zu tun haben, um uns auf Deutsch ineinander zurecht zu finden, und den Tristram Shandy wirst du wohl hoffentlich auch nicht gelesen haben.«

Nein, bis jetzt noch nicht; das ist gewiß vor meiner Zeit geschrieben, und wir lesen nur die neuen Bücher aus der Leihbibliothek. Ist es noch älter als die ‚Ritter vom Geist’, Auerbachs ‚Dorfgeschichten’ und Freitags ‚Soll und Haben’?«

»Ein wenig«, sprach die amerikanische Tante, wendete aber kurz um auf dem Wege in die Weltliteratur und tat wohl daran, denn es lagen allerlei Abgründe an diesem Pfade. Sie begab sich wieder auf das Feld der Familiengeschichte und bemerkte:

»Ich kann mir das Leben, welches dein guter Vater hier als Junggesell, verheirateter Mann und Witwer gelebt hat, recht wohl ausmalen. Er war und ist ganz ein Nebelung, ohne jeglichen fremdartigen Zug um das Auge. Er wurde als Nebelung geboren und hat sich mir gegenüber stets als solcher bewiesen, und wird – muß ein Nebelung geblieben sein. Für das letztere spricht unter anderem auch das, was ich jetzt an ihm erlebe, und ich – freue mich um so mehr, ihn nach mehr als zwanzigjähriger Trennung wiederzusehen. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst; aber das ist, wie wenn man in seine Geburtsstadt nach langer Abwesenheit zurückkehrt; – da wünscht man auch alles unverändert und auf dem alten Flecke wiederzufinden. Was deinen Papa anbetrifft, so wird er sicherlich nicht in dieser Hinsicht gerade meinen Wünschen sein Leben entgegengelebt haben.«

Arm Käthchen verstand die Tante wahrlich nicht recht, und um so weniger, als dieselbe jetzt herzlich lachend fortfuhr:

»Und nun sieh mich an, Töchterchen. Ich führe alle Familienzüge im Wappen – Katzenkrallen, Eulenklauen et une langue mechante, alles im gelben Felde; aber dahinter sitze Ich, eben ich und sehe aus meinen Augen. Und jetzt sieh mir noch einmal in diese Augen, mein Mädchen; ich will doch nicht ganz umsonst unter meinen letzten Verwandten aus der Fremde wieder angekommen sein. Willst du mir trauen, Käthchen Nebelung?

»Ja, ja, o ja, ich wünsche ja gar nichts Besseres!« rief das Kind.

»Gut! Bei guter Gelegenheit wirst du dann mehr von mir erfahren. Jetzt bitte ich dich, mir mein Wohn- und Schlafgemach zu zeigen; mein Gepäck ist angelangt, und ich wünsche Toilette zu machen. Es ist mir lieb, daß ich wenigstens dich zu Hause vorgefunden habe, und – so schlimm, wie ich aussehe, bin ich nicht.«

»Das bist du gewiß nicht!« rief Käthchen, im überströmenden Gefühl der Tante die Arme um den Hals werfend, doch Fräulein Karoline Nebelung machte sich frei von diesen hübschen Armen, wie sich kurz vorhin Fräulein Katharina aus denen des Heidelberger Professors Elard Nürrenberg gelöst hatte.

»Na, nun nur nicht lachen, Kind! Du wirst dich doch wohl dann und wann in mir täuschen; meine ganze Familie hat das dann und wann getan und mir zuletzt sogar mit gesträubten Haaren ins Blaue nachgeguckt. Übrigens wiederhole ich dir; dieser Empfang seitens meines Bruders, deines armen Papas, amüsiert mich königlich oder vielmehr ganz republikanisch. Alles dieses versetzt mich vollständig in meine Jugendzeit und in das Haus meines Vaters, deines Großpapas, zurück. Ich kenne, ich kenne das, und ich wollte nur, ich könnte meine Mama, deine Großmutter, Käthchen, in diese Stunde hineinbeschwören, und dazu die Bernburger Tante und den Nordhäuser Onkel und die Vetternschaft bis nach Hamburg und Bremen hinunter! Von Nebelung! O dear me, dein Papa hat mit dem Alexius-Orden den persönlichen Adel erhalten; aber ich habe den allerpersönlichsten Adel besessen, solange ich mich erinnern kann. Was du, mein Herz, in der Beziehung für Dokumente aufzuweisen hast, kann ich der kurzen Bekanntschaft wegen nicht sagen; aber was mich betrifft, so bin ich als geborene Aristokratin aus dem Deutschland meiner Jugend durchgebrannt und erst als Gesellschafterin nach Sankt Petersburg und dann als Governeß nach Amerika gegangen.«

»Und ich – ich weiß nicht, was ich sagen soll!« rief Käthchen. »Daß solch ein Tag kommen könnte, habe ich nie, nie geahnt!« rief sie, in das lauteste Weinen ausbrechend. »Und eben habe ich mich mit Elard verlobt, und er ist so gut, und dann bin ich so grob gegen ihn gewesen, und dann hebe ich dich auf dem Bahnhofe angelogen, und doch habe ich für alles, alles nichts gekonnt, und ich weiß gar nicht, was sich die Weltgeschichte mit mir vorgenommen hat. O Tante, Tante, Tante Lina, ich bin das unglücklichste Geschöpf auf Gottes weitem Erdboden!«

Sie hatte sich damit der Tante von neuem um den Hals geworfen, und diesmal ließ die Wackere das schluchzende Kind da hängen, ja zog es nur noch fester an sich und fragte begütigend und beruhigend:

»Elard? Ist das der Sohn des Nachbars, mit dem sich dein Papa gezankt hat?«

»Ja, ja, wie ich es dir schon in der Droschke sagte. O, ich bin zu schlecht gegen ihn gewesen, nachdem er zu gut gegen mich war, und dann ist er in Groll weggegangen, und ich mußte nach dem Bahnhofe, um dich abzuholen.«

Die Tante Lina lächelte. »Wenn der junge Mann respektabel und wohlmeinend ist, und wenn du ihn liebst, sollst du ihn haben. Euch scheint es übrigens auch früh in eure junge Seligkeit hineingeregnet zu haben! Nun, sei nur still; ich habe meine eigene, meine allerpersönlichste Erfahrung in dergleichen Angelegenheiten.«

Die Tante seufzte bei den letzten Worten, aber durch Käthchen Nebelungs Tränenregen schien plötzlich wieder die Sonne, und der Bogen des Friedens wölbte sich auch mit über die deutsch-amerikanische Mädchenerzieherin von Vassor College.

»O Gott, Gott, o Himmelstante, so habe ich dich mir wahrlich nicht vorgestellt!« rief Käthchen durch das funkelnde Gestiebe lachend. »O Herzenstante, was wird Elard zu dir sagen! Wie gut wirst du Elard gefallen!«

»Ja, ja, es ist möglich; wir wollen das aber gelassen abwarten; jetzt führe mich nur erst nach meinen Gemächern, Kathy. Ich wiederhole es, ich empfinde nach der langen Fahrt das dringendste Bedürfnis, mich zu waschen.«


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