Wilhelm Raabe
Eulenpfingsten
Wilhelm Raabe

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Viertes Kapitel

Ja: Willkommen! stand rosenumkränzt über der Vorsaaltür der Wohnung der Familie Nebelung, und unter dem freundlichen Begrüßungswort durch war der Rat in seinen kühlen Salon gehopst, sein Kind vom Flügel aufscheuchend. Wir wissen schon, was Fräulein Käthchen der Tante Lina auf der schönen Aussicht davon erzählte; aber es macht uns Vergnügen, selber noch einmal den diplomatischen Biedermann außer sich im Kreise herum rennen zu sehen.

Er lief im Kreise in dem Gemache umher, und zwar mit einem gewissen zirpenden Entrüstungsgekicher:

»He, he, hi, – Alexis – ein Hering – mein Herr und sein hochseliger Herr Vater, mein durchlauchtigster Pate – Alexius der Zwölfte – ein Hering! – Beide Heringe, und ich auch ein Hering – ein wahnsinniger Hering! Der elende Spießbürger, der nichtswürdige, unverschämte Stinkkrautkrämer!« usw. Nun war die Tochter auf den Abgrund in der Gasse aufmerksam gemacht worden, und alles übrige hatte sich in atemlosem Auskeuchen dran geschlossen.

»Geh, hol meinen Mantel,
Geh, hol mir meinen Stock,«

hatte das liebe Mädchen kurz vorher in süßer Unbefangenheit gesungen, und nach seinem Hut und nach seinem Stock hatte der Papa jetzt wirklich geschrien; Käthchen konnte es der Tante recht gut schildern.

Luft! Luft! Luft! Der Mann, dessen Gang und Wandel in den Gassen von Frankfurt sich der regierende Bürgermeister zum Muster genommen hatte, stürzte auf die Pfingstweide hinaus mit den Sprüngen wahrlich nicht eines wahnsinnigen Herings, sondern eines toll gewordenen Heuschrecks. Er lief auf der Pfingstweide im Kreise umher, doch besser wurde ihm nicht in der frischen Luft, die der Platz bietet. Die Aufregung trieb ihn weiter, trieb ihn zurück, trieb ihn in das Allerheiligentor, jagte ihn die Fahrgasse hinunter, jagte ihn über die Mainbrücke und durch Sachsenhausen – allen Sachsenhäusern zum Erstaunen – und durchs Affentor auf die Landstraße, auf den Weg nach Darmstadt. Die Tante und Käthchen sahen ihn auf der Brücke; und wir – wir lassen ihn jetzt rennen in der fröhlichen Hoffnung, späterhin doch noch ein Stück Weges ruhiger mit ihm zu gehen.

»Wo will er nun hin? Was hat er vor? Was hat er meinem Kinde – ich meine seinem, gesagt?« fragte drüben hinterm Garten- und Laubengitter der Professor Nürrenberg, dem aus der Haustür springenden Nachbar nachstarrend. Der Kommerzienrat Nürrenberg saß noch immer auf seinem Stuhle; aber er erschien schlaffer zusammengesunken und jetzt, auf das lebhafte Wort des Sohnes, stöhnte er:

»Weißt du, was ich wollte, Elard?«

»Nun?«

»Ich wollte, ich hätte heute nachmittag Leibweh oder sonst dergleichen gehabt und wäre diesmal nicht in den Garten hinuntergegangen. Nachher wäre uns dieses nicht passiert.«

»Und ich wollte, das ganze Weltall bekäme das Bauchgrimmen, da es für solch ein paar hirnwütige alte – na, einerlei – Platz in sich hat!« rief der gute, aber augenblicklich etwas bewegte Sohn. Er sah dabei noch immer dem Legationsrat nach, obgleich dieser schon längst verschwunden war, im Staube der Hanauer Landstraße. Plötzlich überkam es ihn wie eine Eingebung von oben. Seinen Vater seinen Gewissensbissen überlassend, sprang er ins Haus, schon im Laufe die Joppe vom Leibe reißend. In sein Gemach fallend, fuhr er in einen anständigeren Rock und in die Stiefel. Er warf sich in beides sozusagen hinein, er hatte die volle Absicht, sich selber nicht die geringste Zeit zur Besinnung und Überlegung zu lassen. Blaue, gelbe und rote, doch zumeist lichtblaue Funken und Flammen tanzten vor seinen Augen.

»Na, Junge, – aber wohin denn?« rief der Alte aus der Laube ihm nach; doch der Junge hörte nicht, er stürzte über die Gasse, er sprang in das Haus, er stürmte die Treppe empor, er – ging zum Nachbar, oder vielmehr zur schönen Nachbarin.

»Nun sehe einer an, müßte ich ihn nun nicht auf der Stelle enterben?« sprach der Kommerzienrat Florens Nürrenberg grinsend.

»Mein Fräulein – Fräulein Käthchen! –«

»O Herr Doktor – Herr Professor – Sie? Jetzt? O, das ist gut – nein, das wollte ich nicht sagen – Herr Professor, ist das nicht entsetzlich?«

»Freilich, – gewiß, ganz gewiß ist es entsetzlich! Ein Dämon, – der nichtswürdigste aller Dämonen hat uns dies heute, gerade in dieser Stunde eingerührt. Ich bitte Sie, Fräulein Käthchen, fest überzeugt zu sein –«

»Daß Sie nichts dafür können. O, liebster Himmel, ich auch nicht –«

Wir saßen mit in der Droschke, wissen, was Fräulein Katharina Nebelung der Tante Lina über diesen Besuch mitteilte und werden wieder einmal in unserer Überzeugung gestärkt, daß den Worten der jungen Damen nicht unter allen Umständen zu trauen sei. Unter gewissen Umständen lügen sie nur zu gern; – ob sie etwas dafür können, wissen wir freilich nicht.

»Käthchen,« rief der junge Ästhetiker (er nannte das Fräulein in diesem Momente zum erstenmal auch im Wachen kurzweg beim Taufnamen), »Käthchen, wenn es ganz einfach nur zwei alte Narren wären, so könnte uns die Geschichte ganz gleichgültig sein; es sind aber zwei wirklich gute Freunde, und da bin ich Psychologe genug, um unter diesen Umständen einen ewigen Haß vorauszusehen. Der eine Bösewicht bedeutet uns sicherlich einen wochenlangen – mondenlangen Jammer; der ist imstande, uns von dieser Stunde an aus dem guten Frankfurt das richtige Verona zu machen und uns nichts übrig zu lassen, als –«

Er brach ab; aber Fräulein Käthchen Nebelung fragte kläglich:

»O Gott, Sie meinen meinen Papa?« setzte die Gedanken- und Bilderreihe des Professors der Ästhetik stumm fort, fand leider sehr viel logischen Zusammenhang darin, nahm sich jedoch fest vor, keinesfalls ihre Rettung bei dem Schlaftrunk des Paters Lorenzo zu suchen, sondern im Gegenteil so wach als möglich zu bleiben.

»Und ich muß noch dazu in einer halben Stunde nach dem Main-Weser-Bahnhof, um die Tante abzuholen. Er ist nach der Pfingstweide, und mich schickt er allein hin – und ich habe die Tante in meinem Leben nicht gesehen – und sie kommt, und die Droschke hat er schon heute morgen bestellt, – alles ist bereit; wir haben wochenlang darauf hin gearbeitet, und alles ist über den Haufen geworfen – da sollte man doch an Gott und der Welt verzweifeln!«

»Liebes Käthchen«, flüsterte der Sohn Montagues.

»O Elard!« hauchte die Tochter Capulets, und so – hatten sie es denn, wie sie es lange gern gewollt hatten, und – so ist das Schicksal! Manchmal ist es recht nett und arrangiert dergleichen Angelegenheiten auf das zuvorkommendste, wenngleich immer auf seine Weise. Die beiden jungen Leute hätten noch gut ein Jährchen bis in einen neuen Frühling hinein schämig und verlegen, bis über die Ohren verliebt, sinnig und so dumm wie denkbar umeinander herumgehen können, wäre nicht der Witz und der Zorn der Erzeuger dazu getreten. Aber nicht nur der Witz und die Wut der Väter, sondern ganz speziell der deutsche Fürst und Held höchstseligen Angedenkens, Alexius der Dreizehnte, der Vater eines ganzen, mit seinem Absterben vom Erdboden verschwundenen Volkes. Dieser herrliche Selige trat herzu, legte segnend den beiden Kindern die Hände auf die Häupter, fügte ihre Hände ineinander, drückte ihre Lippen gegeneinander und machte sowohl den Legationsrat von Nebelung, sowie den Kommerzienrat Nürrenberg – zu Großvätern –, letzteres selbstverständlich nach der gehörigen Zeit und unter den althergebrachten und teilweise sogar noch aus dem blinden Heidentum überlieferten geistlichen und weltlichen Zeremonien und Formalitäten.

»Sollte ich den Jungen nun nicht auf der Stelle enterben?« hatte der fröhliche Rottweiler Expatrizier wahrlich nicht ohne seine Gründe gesagt, als er den Sohn über die Hanauer Landstraße schlüpfen sah. Glücklicherweise aber kicherte er dabei, und zwar auf eine viel gemütlichere Art, als der giftigere diplomatische Nachbar in seinem Salon. Während der brave Herr Florens seine Blumentöpfe zum zweitenmal die Revue passieren ließ, kicherte er, und zwar wie jemand, der sich zwar auch an einem anderen geärgert hat, aber doch die beste Hand in diesem Ärgernis behalten hat. Er zog dabei auch den Kopf zwischen die Schultern und ging bucknackig mit seiner Gießkanne und seiner Pfeife, als ob er sich als den schlauesten unter den augenblicklich den Erdball bewohnenden Menschen wohl zu taxieren verstehe. Nachher versank er in seiner Laube hinter der Oberpostamtszeitung und tat, als nähme er weiter keine Notiz von der Welt, – dem war jedoch nicht also. Drüben fiel noch ein Kuß, und dann sagte Käthchen schämig:

»Das ist nun gut und wäre also in Ordnung; aber die Knie zittern und das Herz bebt mir, daß ich fast umkomme. Was wird der Papa sagen, und was werde ich zu ihm sagen, wenn er nach Hause kommt?«

»Ha – ja – o!« seufzte Elardus.

»Und dann die Tante! Ich habe eine entsetzliche Angst, wie diese unbekannte Tante ausfällt. Denke dich nur in unsere Lage, wenn sie alle Eigenschaften unserer Familie in sich vereinigt und bei uns wohnt!«

»Ich denke gar nichts, Kind«, rief der Professor der Ästhetik. »Wie könnte ich in diesem Moment denken? Im Notfall ziehen wir beide aus und überlassen dieses alte Gesindel sich selber und seiner eigensten Liebenswürdigkeit. Du gehst mit mir nach Heidelberg, da mieten wir ein Häuschen mit einem Garten unter dem Heiligenberg und leben in den Blumen und im Grün –«

»Bis es Winter wird; o ja, das ist ganz reizend, ganz entzückend,« rief Käthchen, »aber jetzt kommt erst die Tante Lina, und ich muß nach dem Weser-Bahnhof, ehe wir mit der Neckar-Bahn abfahren können!«

»Ich werde dich jedenfalls begleiten.«

»Nein, nein, unter keinen Umständen, um Gottes willen nicht! Das wäre was Schönes! Daß du dich nicht unterstehst, mir gar nachzulaufen.«

»Aber Liebchen?« stammelte der Ästhetiker ein wenig verblüfft.

»Ich bitte dich, bester Elard, sei nicht böse, sei nicht gleich böse, – es geht ja nicht. Denke nur, was ich antworten sollte, wenn mich unter den jetzigen Umständen die Tante fragte, wer du eigentlich wärest? Ach Himmel, und sag nur, hat dich denn dein Herr Vater gesehen, als du eben hierher kamest?«

Herr Elard Nürrenberg sah über die Schulter; dann schlich er zu der Balkontür und blickte nach dem väterlichen Besitztum hin. Die Landstraße ist ziemlich breit, und der Professor führte kein Opernglas in seiner Tasche wie der Kommerzienrat. Dafür aber fühlte er den süßen Atem der Geliebten an seiner Wange, als sie, auf den Zehen stehend, ihm über die Schulter guckte, und er wendete sich, zog sie von neuem in seine Arme und rief:

»Ei, laß ihn treiben, was er will! Wahrscheinlich wird er ruhig seine Blatt- oder Kaffeeläuse von seinen Kakteen rauchen.«

»Ach, lieber Elard, ich will ihm eine so gute Tochter sein!«

»O, und ich, mein Käthchen, will deinen Papa –« er brach ab und zog eine ziemliche Quantität Luft in sich, stieß sie wieder heraus und mit ihr unwillkürlich seine wirklichen augenblicklichen Gefühle für den Legationsrat: »Herrgott, es mag nun sein, wie es will, der Wüterich trägt doch die Schuld an aller Verwirrung. Ich will mich gern als Sühneopfer auf den Altar seines Ingrimms legen, Käthchen; aber wenn du ihn vorhin drüben in der Laube gesehen und gehört hättest, so würdest du ihn sicherlich später unsern Buben und Mädeln nicht als Muster der Sanftmut aufstellen.«

Der Geliebte wußte wahrscheinlich nicht, wie weit er sich vorwagte; aber die Geliebte machte es ihm klarer, indem sie sich aus seinen Armen loswand und, an den Tisch tretend und in einem Bilderwerk die Blätter umschlagend, sagte:

»Dein Papa muß doch wohl ebenso heftig gewesen sein, wie der meinige.«

»Liebes Mädchen, ich versichere dich –«

Doch das liebe Mädchen drückte plötzlich das Taschentuch auf die Augen, brach in das bitterlichste Schluchzen aus und stotterte und stammelte:

»Ja, und es ist recht böse von dir, – und gerade in diesem Augenblick! Du solltest doch mehr Mitleiden haben – mit mir und mit ihm. Er ist auf die Pfingstweide gelaufen; – wenn ihn sein Asthma befällt, pflegt er immer auf die Pfingstweide zu laufen. O Gott, was soll ich tun. Mein armer Papa, was habe ich getan? O Gott, Gott, Gott, und eben saß ich noch so ruhig am Klavier, und jetzt hat sich die ganze Welt verändert; du bist gekommen, und ich bin wie im Traume, und jetzt hat sich die ganze Welt wieder verändert. Und ich muß nach dem Bahnhof, die Tante Lina kommt, und ich wollte, ich wäre gestorben und bei meiner Mutter!«

Der Heidelberger Professor faßte sich in die Haare und fing an, im Zimmer herumzurasen wie vorhin der Papa Legationsrat. Er versuchte vergeblich, das Tuch von den Augen der holden Weinenden wegzuziehen; er küßte die Hände, die das Tuch hielten, aber es half alles nichts; der Krampf mußte heraus. Elard beschwor den ganzen Olymp zum Zeugen, daß er nicht wisse, was er eigentlich verbrochen habe. Er rief alle Sonnen und Sterne her, um sich bestätigen zu lassen, daß ihm die Welt sich nur ins Himmlische in der letzten Viertelstunde verändert habe, und daß er gern und willig und herzlich die beiden alten Sünder zur Rechten und zur Linken der Hanauer Landstraße für alles, was sie gesagt und getan haben möchten, abküssen werde. Er erhob die Schwurfinger zur Decke und schwor, daß es nimmer einen Schwiegersohn besser als er gegeben habe und geben werde; es half ihm alles nichts. Das einzige, wozu er seine in Tränen untergehende Verlobte brachte, war das Wort: »Vergib mir nur; – vielleicht ist es nur körperlich.«

Und jetzt gerade fuhr die bereits am Morgen von dem Legationsrat bestellte Droschke an der Haustür vor, und jetzt gerade fingen die Vigilienglocken des Pfingstfestes an zu läuten in Frankfurt am Maine.

Das war eben Eulenpfingsten, und Käthchen Nebelung suchte, wie der Papa, ihren Hut und nahm ihr Sonnenschirmchen; und als der Geliebte sie die Treppe hinunter führte, stützte sie sich mehr auf das Geländer als auf ihn. Er durfte sie zwar in den Wagen heben, aber statt alles Weitern bekam er nur eine matte, kalte Hand und das zitternde Wort: »Lebe wohl, lieber Elard. Ich will es versuchen, wieder ruhiger – wieder glücklich zu werden!«

Da stand er und sah dem Wagen nach. Er hätte nun wieder nach Hause gehen können; der Papa würde ihm gern ein Blatt der Oberpostamtszeitung zur Abendlektüre überlassen haben.

»Lache nicht diesmal, Zeus!« ächzte der Unglückselige, ganz als Alexis; und dann rannte er dem Allerheiligentor zu.

Derweilen stiefelte der Legationsrat, Herr Alex von Nebelung, allgemach im immer ruhigeren Tempo der Isenburger Warte entgegen, und hinter ihm erklangen außergewöhnlich friedlich und melodisch die Glocken von Sachsenhausen.


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