Wilhelm Raabe
Else von der Tanne
Wilhelm Raabe

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Die Kinder und die Irren hält Gottes Hand fest auf ihren Wegen; – seinen Weg durch den verschneiten Wald konnte der Pfarrer von Wallrode nur durch ein Wunder finden. In seinem zerrütteten Gehirn war jetzt seltsamerweise nur alles liebliche Frühlings- und Sommerglück der letzten elf Jahre lebendig. Wo er brusttief in dem aufgehäuften Schnee versank, da hatte die kleine Else aus den Stengeln der gelben Butterblumen Ketten geschlungen und das uralte Kinderlied vom guten Bischof Buko von Halberstadt den Pastor von Wallrode gelehrt. Wo die große Eiche, die tausend Jahre lang allen Ungewittern trotzte, niedergebrochen war, hatte Else von der Tanne in jungfräulicher Schöne ruhig und still gestanden und dem fernen, fernen Rollen und Donnern in der Ebene gelauscht, wo die Schweden unter ihrem General-Leutnant Königsmark sich mit den Kaiserlichen jagten. Vor dem Eingange der schwarzen Höhle, in welcher sich die Gemeinde, um der Wut des Feindes im Jahre sechzehnhundertneununddreißig zu entgehen, verborgen hatte, stand ein Wolf; aber er griff den irrenden Wanderer so wenig an, wie er die irre Justine angegriffen hatte; mit winselndem Geheul wich er in das Innere der Grube zurück.

Als der Prediger in den Bezirk der hohen Tanne gelangte, hörte das Sausen und Brausen in den Lüften und Wipfeln plötzlich auf, und als Friedemann Leutenbacher das Licht der Hütte des Meisters Konrad durch die Stämme schimmern sah, endete auch der Schneefall, und es wurde nach all dem Aufruhr zwischen Himmel und Erde ganz still. Aber in dieser unerwarteten gespenstischen Pause fühlte der nächtliche Wanderer erst im vollsten Maße die übermenschlichen Anstrengungen und Mühen des zurückgelegten Pfades. Die Pulse klopften, die Knie und Hände erzitterten, mit einem tiefen Seufzer griff Friedemann Leutenbacher nach einem überhängenden Baumzweig, um sich aufrecht zu erhalten. Heiß und keuchend war sein Atem, seine Augen, von der Gewalt des Windes ausgetrocknet, brannten, rings um ihn her belebte sich die Schneedämmerung und die Finsternis des Forstes mit tausendfachen wirbelnden Gestalten seiner fiebernden Phantasie – er hätte in seiner Angst laut aufschreien mögen und vermochte doch keinen Ton hervorzubringen! Es war ihm, als kämpfe er noch immer gegen den Sturm und die Gefahren des Weges an, um das ruhige Licht in der Hütte zu erreichen; und es war ihm, als weiche dieses Licht immer weiter, weiter, weiter zurück; und es war ihm, als werde er ihm in alle Ewigkeit so zum Tode erschöpft und in solch namenloser Angst folgen müssen.

Dieser Zustand währte wohl eine Viertelstunde lang; dann endete er, wie der Sturm geendet hatte.

»Else von der Tanne stirbt! Else von der Tanne ist tot!« sagte der Prediger von Wallrode im Elend mit tonloser Stimme und schritt durch den Raum, der ihn von der Hütte des Meisters Konrad trennte.

Nur fußtief lag der Schnee hier zwischen den Stämmen, aber gegen die Hütte selbst war er in desto gewaltigeren Massen getrieben worden. Der Pfarrherr von Wallrode, vermochte es kaum, sich einen Weg zu dem niedern, engen Fenster zu bahnen; endlich gelang es ihm doch, und er stand und blickte stier und starr in das Gemach, allein die Scheiben waren so sehr vom Hauch beschlagen, daß er nur unbestimmte Schatten sah; er mußte die mühevolle Arbeit von neuem beginnen, um zu der Tür der Hütte zu gelangen.

Er pochte, doch zuerst regte sich nichts darinnen; er pochte zum zweitenmal, und dann hörte er den schweren Tritt des Magisters.

»Wer ist da? Hier innen ist der Tod – das Leben ist entwichen aus diesem Haus.«

»Öffne, Vater«, sagte der Prediger von Wallrode.

Der Meister Konradus schob den Riegel zurück, und Friedemann Leutenbacher trat in die Hütte; stumm wandte sich der Meister, und Friedemann stand vor der Leiche Elses von der Tanne. – – – – –

Sie lag auf ihrem Lager wie eine Schlafende; der Vater hatte ihr bereits die Arme über der Brust ins Kreuz gelegt; sie schien zu lächeln, und die Ruhe des bleichen Gesichtes war mehr als jegliches Mienenspiel irdischen Behagens, irdischen Glückes.

Das zahme Reh stand neben dem Bett und hatte seinen schlanken Hals, sein Köpfchen auf die Decke gelegt, die weiße Waldtaube, welche vor zwei Jahren aus dem Neste gefallen und von Else aufgezogen war, saß zu Häupten des Lagers auf dem Bettpfosten und sah auf die bleiche Herrin.

»Um fünf Uhr, als der Sturm anhub, ist sie gestorben«, sagte der Vater. »Ich dachte nicht, daß es so bald sein würde; sie ist aber ohne Schmerzen fortgegangen, hat den großen Sturm nicht mehr erlebt; – – sie ist tot.«

»Sie ist tot!« wiederholte Friedemann Leutenbacher, der Pfarrherr zu Wallrode im Elend, und kniete neben dem Lager nieder. Der Meister Konrad setzte die Lampe, welche er bis jetzt über das stille Haupt der Tochter hielt, auf den Schemel und stand in der Dämmerung am Fußende des Bettes, ohne sich zu regen.

Ohne das Gesicht zu erheben, sprach der Prediger nach einer Weile:

»Saget mir mehr von ihrem Abscheiden, Vater; als ich gestern abend Abschied nahm, sagte sie, sie würde leben, eine Stimme in ihrem Herzen habe es ihr versprochen.«

Der Vater neigte das Haupt:

»Sie lebt – die Stimme, welche sie vernahm, spricht keine Lügen. Sie lebt; wir aber sind tot und werden sie nimmer wiedersehen.«

Ein Schauer lief über den Leib des Predigers; der Meister Konrad fuhr fort:

»In der vergangenen Nacht litt sie große Schmerzen; ich hielt ihre Hand und wich nicht von ihr, bis zum Morgen. Als der Morgen kam, schlief sie ein und schlummerte wohl drei Stunden; dann erwachte sie, grüßte mich und wußte nichts mehr von den Qualen der Nacht. Sie sorgte um ihre Tiere, Reh und Täublein, und sah sie neben ihrem Bett essen. Ich aber sah, daß sie kränker war denn je; sie selber wollte weder essen noch trinken, ihre Stimme war wie ein Hauch. Sie sprach von dem heiligen Feste und sorgte um Euere Predigt, so Ihr, Friedemann, dem armen Volke im Dorfe zur Weihnacht halten würdet. Er soll meiner nicht gedenken, sprach sie – die Liebe Gottes ist über allem; – er soll das Vergangene von sich werfen und soll der Kinder gedenken und zu den Alten reden wie zu den Kindern; wir sind so glücklich, glücklich gewesen in ihrem Wald, und als sie die Steine auf uns warfen und mich trafen, wußten sie nicht, was sie taten. Er soll um meinetwillen den armen Leuten nicht länger zürnen, redete sie weiter, ich werde es gewißlich in meinem Herzen fühlen, wenn er morgen hart zu ihnen spricht. – – Ich erinnerte sie an das Versprechen, so Ihr über dieses ihr gestern gegeben hattet, und sie lächelte und sagte, sie wisse es. Um Mittag kam die alte Justine, die seit dem Johannistage ihre Freundin ist, um sich an unserm Herde zu wärmen, und die blieb bei uns bis zu einbrechender Dämmerung. Da der Kranken Zustand nicht schlechter geworden zu sein schien, so war allmählich wieder Ruhe in meine Seele gekommen, und ich saß am Fenster und hatte Platonis hohes Buch Phädon vor mir aufgeschlagen; die Sanduhr zeigte vier Uhr nach Mittage an. Da tat die Justine plötzlich einen Schrei und hob beide Arme, und ich war aufgesprungen und sah auf meine Tochter.

›Der Tod! Der grimme Tod!‹ schrie die Alte im Wahnsinn und stürzte aus der Hütt' hinaus in den Wald und floh wie gejagt von tausend Larven und Schrecknissen; aber meinem Kind saß der Tod am Herzen. Heimtückisch war er herangeschlichen, und ich hatte es nicht gemerket. Sie lag mit offenen Augen und sah mich an, wie sie es noch nie getan hatte; – sie regte sich nicht, sie sprach nicht mehr; aber sie kannte mich und wollte mich durch ihre Augen trösten; – gegen fünf Uhr ist sie gestorben. Ich habe sie vergeblich in der Wildnis verborgen – weh, es ist keine Rettung in der Welt vor der Welt – – um fünf Uhr ist sie gestorben, und der große Sturm erhob seine Stimme im Wald, sie aber hörte dieselbe nicht; – sie ist sicher und lebt; aber wehe uns!«

Jetzt erhob der Prediger von Wallrode im Elend das Gesicht von der Leiche; er ließ die Hand auf den kalten Händen der toten Else liegen und rief:

»Jawohl, wehe uns! Es ist geschehen – Gottes Wille ist vollbracht. Er hat seine Hand abgezogen von der Erde, er hat die Völker verstoßen und uns vernichtet – es ist keine Hoffnung und kein Licht mehr in der Welt und wird auch nimmer wieder kommen. Wir haben uns gesträubet gegen seine mächtige Hand und sind geschlichen wie Diebe in der Nacht mit unserm und der Erde letztem Schatz und Edelstein, ihn seinem Auge zu verbergen: Er aber hat uns aufgefunden, über uns gehauchet und uns geschlagen mit der Geißel des Zornes; er hat unser gelachet und gegriffen, was sein war. Wer will sich nun fürder wehren? Es ist nicht nütze und verlohnet der Mühe nicht! Lasset der Sünde und der Schande Strom schießen und brausen; – wer will noch Dämme bauen gegen des Herren Willen? Der Herr spottet der Erde, und seinem Lachen lauschet der Antichrist in der Tiefe, stehet und ruft den Seinen: Wacht auf, wachet auf, ihr Fürsten der Nacht! – Der Schein Gottes gehet aus der Welt; stehet zu den Riegeln, ihr Gewaltigen, die Pforten des Abgrundes aufzuwerfen – unser ist das Reich.«

»Der Schein Gottes ist für uns aus der Welt gegangen – für uns ist das letzte Fünklein erloschen. Mein Kind lebt; aber wir, die wir Atem holen, liegen unter dem Fuße des Todes.«

Friedemann Leutenbacher hatte sich von den Knien erhoben; noch einmal sah er die tote Else mit einem langen Blicke an; dann schritt er aus der Hütte, und der Magister Konrad machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten; er fragte ihn nicht, wohin er gehe, er wußte es nicht, daß der Prediger von Wallrode ihn neben der Leiche der Tochter allein ließ.

Der Wind hatte seine Stimme wiederum erhoben; doch nicht so laut denn zuvor. Im Kreise schritt Friedemann Leutenbacher um die Hütte an der hohen Tanne, rang die Hände und rief den Namen:

»Else! Else!«

Ihm antwortete niemand, sogar den Widerhall schien der Schnee im Walde erstickt zu haben. Die Nacht war jetzt so dunkel wie jene andere furchtbare Nacht, deren Nahen der Prediger so wild in seinem Schmerz verkündet hatte. Das Licht in der Hütte war plötzlich verschwunden, sei's, daß die Lampe erlosch oder daß der Meister Konrad sie an eine andere, verborgenere Stelle gesetzt hatte; – Ehrn Friedemann Leutenbacher verlor sich in der Wildnis.

Er wanderte und wußte nicht wohin.

Durch tiefen Schnee und über kahle Flächen, Berg auf und ab, weiter und immer weiter jagte ihn die unendliche Angst seiner Seele. Er fiel und richtete sich empor; er zerriß die Hände und die Gewänder und das Gesicht an den Dornen; er sank von neuem zu Boden und sagte abermals:

»Er hat mich in Finsternis geleget wie die Toten in der Welt.«

Allmählich war es bitter kalt geworden, und nur noch einmal gelang es dem Unglücklichen, sich zu erheben und weiter zu schwanken. Ohne es zu wissen, stieg er immer mehr aus den Tälern empor, zu jener Höhe, von welcher man die weiteste Aussicht aus dem Walde in das Land hatte, von welcher er Elsen von der Tanne Städte und Dörfer, Fluß und Bach bis in die weiteste Ferne gedeutet hatte. Er hörte eine ferne Glocke, nannte den Namen eines Fleckens und strich mit der Hand über die Stirne und sagte, daß es Mitternacht sei.

Er stand schaudernd in dem pfeifenden, eisigen Winde und legte lauschend die Hand an das Ohr wie jemand, der erwartet, daß man seinen Namen rufen wird. Nachdem er lange Zeit so gestanden hatte, schüttelte er das Haupt und sank langsam in sich zusammen.

Sein Kopf ruhte auf einem Felsstück, sein Leib streckte sich lang, seine Hände mit den blutroten Narben um die Gelenke kreuzten sich über der Brust – Friedemann Leutenbacher, der Prediger am Worte Gottes zu Wallrode im Elend, glaubte jetzt, er liege in seinem Sarge und der Deckel über ihm; während er aber dumpf darum grübelte, wie es komme, daß er noch von sich wisse und denke, entschlief er und ging in einem Traume fort, ging hinüber auf dem Wege, den Else von der Tanne gegangen war.

Seine Wunden waren geheilt, seine Ketten abgefallen, die Mauern seines Gefängnisses waren gebrochen, und die Pforte war aufgerissen. Else von der Tanne hatte dem Prediger Friedemann Leutenbacher das Glück gebracht, als ihr Vater sie, ein hold klein Kindlein, auf dem Arm in den Wald trug, um sie vor der bösen Welt zu retten; Else von der Tanne hatte das Glück Friedemann Leutenbachers nicht mit sich fortgenommen, als der Welt Elend und Jammer sie doch ausfand und ihr das Herz zerbrach; – Else von der Tanne führte die Seele des Predigers aus dem Elend mit sich fort in die ewige Ruhe. Ihnen beiden war das beste gegeben, was Gott zu geben hatte in dieser Christnacht des Jahres eintausendsechshundertvierzigundacht. –

Der Magister Konradus hat sein Kind begraben mitten in der Wildnis, fern von den Menschen; des Predigers Leiche aber haben die Bauern am zweiten Weihnachtstage nach langem Suchen gefunden, sie aus dem wüsten Walde hinab ins Dorf getragen und sie neben der Kirche in die Erde gelegt.

Der Meister Konrad hat den Winter durch noch in der Hütte gewohnt um des armen Rehes und der Taube willen; aber im Frühling, als die Tiere seiner nicht mehr bedurften und endlich jedermann wußte, daß der Friede geschlossen sei zu Osnabrück, ist er fortgegangen. Die alte, arme, irre Justine ist ihm am Bettelbrunnen begegnet, hat seinen Schatten vor ihm am Boden und einen schwarzen aufrechten Schatten ihm folgen sehen und gesagt, das letzte sei der Tod gewesen.

Heute sind von dem Dorf Wallrode im Elend nur noch geringe Trümmer im Wald zu erblicken; es ist nicht auszusagen, nicht an den Fingern herzuzählen, was niederging durch diesen Krieg, welcher dreißig Jahre gedauert hat.


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