Wilhelm Raabe
Else von der Tanne
Wilhelm Raabe

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Als der Pfarrer Friedemann Leutenbacher in diesem Augenblick auf dem Kirchhofe erschien, wurde auch er bedenklich angesehen und von den erregten Pfarrkindern bedrohlich angegangen, den beiden Fremden den Kirchhof und die Kirche zu verbieten. Kaum vermochte sein heiliges Amt, sein schwarz' Predigergewand und die erhobene Bibel, seinen zürnenden Gegenworten Folge und Gehorsam zu schaffen und dem Magister Konradus sowie der schönen Tochter einen freien Weg zu der Tür des Gotteshauses zu bahnen. Als er sogar die Hand der Jungfrau faßte, sie die zertretenen Stufen hinaufzuführen, da ballte sein Dorf die Fäuste und schrie auf, als müsse nun der blaue Himmel herabstürzen.

Aber der Pfarrer zu Wallrode im Elend sah und hörte nicht; mit erklingendem Herzen führte er Else von der Tanne in sein Gotteshaus und bestieg gleich einem Schlafwandler die nach der letzten Zerstörung roh wieder aufgerichtete Kanzel.

Ihm nach drängte sich der größere Teil der Gemeinde in die Kirche und füllte den Raum mit Gemurr' und Gemurmel. –

Grünes Gezweig rankte sich durch den verkohlten Dachstuhl, durch die scheibenlosen Fenster und die Mauerrisse. Mit dem Grün, der Sonne und der Luft war auch das flatternde, summende, zwitschernde Leben eingedrungen; – lieblich und glänzend war der Tag, lieblich und glänzend war das Gesicht Elses unter der Kanzel, und der Pfarrer Friedemann Leutenbacher sah nicht die Gesichter seiner Gemeinde. Ihm war zumute, als sei er im Wald, mitten im sichern, sonnigen, beseelten Walde und habe nur Else von der Tanne, um zu ihr zu reden. So begann er seine Johannispredigt und wußte nicht, was zu derselben Zeit vor der Tür der Kirche vorging.

Da war ein junges Weib zu einem frischen Grabe gesprungen, hatte drei Hände voll Erde davon aufgegriffene und sie auf die Schwelle der Kirchentür gestreut. Ein wüster, wildblickender Bub von zwanzig Jahren war nach der Linde vor dem verbrannten Gemeindehause gelaufen und hatte von dem Baum, an welchem im Jahre vierundvierzig Hatzfelds Kürassiere den Ortsvorsteher aufhängten, einen dürren Zweig gebrochen. In atemlosem Laufe kam er mit demselben zurück und warf ihn auf die Schwelle der Sakristeitür. Nun waren die Hexe und der Zaubermeister in dem Gotteshause gebannt; – solange die Erde von dem neuen Grabe und der Ast vom Baume des Gehängten auf den beiden Schwellen lagen, konnte kein unheiliger Fuß sie überschreiten.

In herzklopfender Erwartung lauerten die auf dem Friedhofe zurückgebliebenen Leute aus Wallrode im Elend auf das, was nun geschehen werde, jetzt da der eine Zauber durch den andern Zauber gebrochen und zunichte gemacht worden war. In dem Sonnenschein auf und zwischen den Gräbern saßen und standen sie, starr die beiden Pforten im Auge haltend, selber bösen, schadenfrohen, heimtückischen Geistern und Kobolden so ähnlich als möglich. Gierig warteten sie auf das Ende des Gottesdienstes.

In der Kirche gab der Prediger Friedemann Leutenbacher den Leib, der für die Welt gebrochen und das Blut, das für sie vergossen wurde; – alle, die auch ihr Teil Schuld an Elses Tode trugen, tranken aus dem Becher, welchen die Lippen der Jungfrau berührt hatten.

Als der Pfarrer das schlechte Zinngefäß dem süßen Munde der Jungfrau darbot, durchrieselte ihn ein heiliger Schauer, ein Gefühl unendlichen Glückes. Es war Friede in seiner Seele wie auf der Erde; sein Leben war nicht in die Zeit des fürchterlichsten aller Kriege gefallen; in eine einzige Minute fiel die Wonne eines ganzen Daseins, und als dieser Augenblick vorübergegangen war, hatte Friedemann Leutenbacher auf Erden nichts mehr zu erwarten.

Mit einem dumpfen, verworrenen Lärm stürzte seine Gemeinde aus der Kirche, und die auf dem Kirchhofe Zurückgebliebenen schrien ihr entgegen, was sie getan hatten, die Hexe und den Hexenmeister zu fangen und festzuhalten. Ein Schrei tierischer Wut und Lust erhob sich; einen Kreis schloß das Volk um die Kirchtüren.

In dem Gotteshause war der Prediger zu dem Meister Konrad und seiner Tochter getreten; sie vernahmen das Geschrei, und Ehrn Friedemann bat die Fremden, ein wenig zu harren, bis die armen, blöden Leute sich nach Haus verlaufen und den Weg geräumet haben würden. Er ahnete nicht, wie sehr diese Zögerung die dräuende Gefahr verstärkte. Die finstere Vermutung des lauernden Haufens ward zur Gewißheit; es zweifelte auf dem Friedhofe nun niemand mehr, daß die Fremden dem Bösen eigneten, und es war niemand, der nicht mit Eifer einen Brand, ein Holzscheit oder Reisigbündel zu ihrem Scheiterhaufen getragen hätte.

»Gebannt! Gebannt! Sie kann nicht heraus! Sie können nicht heraus! Hex'! Hex'! Hex'! In Christi Namen wollen wir sie nicht mehr dulden! Gebannt! Gebannt!« lief's von Mund zu Mund, und immer wilder wurden Mienen und Gebärden. Man riß Stöcke aus den Hecken und Zäunen, man griff Steine vom Boden auf; aus den nächsten Hütten holte man Äxte, Dreschflegel und Mistgabeln. –

»Gebannt, gebannt! Hex', Hex', Hex'! Sie können nicht heraus, holt sie, schlagt sie, ins Feuer mit der Zauber'schen und dem Hexenmeister!« –

»Sie weichen nicht; lasset uns gehen; sie werden nicht wagen, uns anzufallen«, sagte der Meister Konrad, und Else nickte und flüsterte: »Gott wird uns schützen, jetzt wie immer; ja, lasset uns gehen!«

Den Pfarrer faßte eine fürchterliche Angst; schon hatten sich der Vater und die Tochter gegen die Pforte gewendet, und er konnte nur so schnell als möglich an ihre Seite eilen, ihnen durch seine Gegenwart und Autorität Schutz zu geben.

Zwischen dem Vater und dem Prediger trat Else von der Tanne auf die Schwelle; aber all ihr Mut sank vor dem Geschrei, dem Geheul, mit welchem sie empfangen wurde. Das Blut wich aus ihren Wangen und flutete ängstlich in wilder Hast nach dem Herzen zurück. Sie wankte und faßte krampfhaft den Arm ihres Vaters, und durch die nahenden Ohnmachtsschauer vernahm sie dumpf das widrig-abscheuliche Geheul und den schrecklichen Ruf:

»Hex'! Hex'! Hex'! Schlage tot! Schlage tot!«

Mit erhobenen Händen sprang der Prediger Friedemann Leutenbacher in seinem schwarzen Chorrock vor und rief um Frieden und schrie, daß er sprechen wolle, daß man ihn hören solle.

Seine Gemeinde jedoch, gepackt und geschüttelt vom Wahnsinn der Zeit – seine Gemeinde, außer sich, toll, rasend, wußte nichts mehr von irgendeinem Band, das sie an Himmel und Erde fesselte. Der Ruf des Pfarrers verhallte ohnmächtig, wirkungslos in dem Tumult, dem Geschrei nach dem Blute der beiden Fremden.

»Schlage tot! Schlage tot! Reißt sie von der Schwelle, reißt sie vom Gottesacker – stürzt sie in den Mühlenteich! Schlage tot! Hex', Hex'! Schlage tot!«

Stöcke und Steine, Erdklöße von den Gräbern, Totengebeine, welche die Schaufel des Totengräbers aufgeworfen hatte, alles was zur Hand war, wurde gegen den Meister Konradus, sein Kind und den Pfarrherr von Wallrode im Elend geschleudert. Und aus der Hand des Buben, welcher den dürren Zweig vom Galgenbaume brach, die Hex' und Unholdin in die Kirche zu bannen, flog ein scharfkantiger Kiesel und traf die Jungfrau auf die linke Brust, daß sie mit einem Schrei zusammenbrach und bewußtlos in die Arme des Vaters sank. Einige Tropfen roten Blutes traten auf ihre Lippen, und gräßlich jauchzte das Volk, als es die schlanke herrliche Gestalt zusammenknicken und sinken sah. Aber mit einem Schrei, der schier nicht aus einer Menschenbrust zu kommen schien, sah der Pfarrer Friedemann Leutenbacher Else von der Tanne fallen und das Blut über ihre Lippen brechen. Auch er vergaß sich, wie sein Dorf, er kannte sich nicht mehr; tausend Fratzen tanzten vor seinen Augen, alle die Narben, die er an seinem Körper und in seiner Seele trug, brannten in diesem Augenblick wie höllisches Feuer; vom Wahnsinn gepackt und geschüttelt wurde auch er. Von den Stufen der Kirchtür war er herabgesprungen, mit gewaltiger Faust hatte er den Mörder Elses von der Tanne zu Boden geschlagen und verfolgte mit einem Totengräberspaten, den er einer andern Hand entriß, das entsetzte Volk über die Gräber. Verwirrt, betäubt, verstört entfloh die Menge, und der Gottesacker war leer; – nur aus der Ferne blickten die atemlosen Bewohner von Wallrode stier und starr nach der Pforte des Friedhofes und nach der Mauer, die ihn umschloß. Schaudernd erwachend, ließ der Prediger den Spaten sinken und kniete mit dem Vater neben der verwundeten Jungfrau.

Bleich und regungslos, mit geschlossenen Augen, doch ohne den geringsten Zug des Schmerzes im Gesicht, lag Else von der Tanne auf den Stufen der Kirchtür in den Armen ihres Vaters. Die kleinen Vögel, welche der Lärm aus den Bäumen des Friedhofs verscheucht hatte, kamen zurück, hüpften von Zweig zu Zweig und reckten zwitschernd die Hälse und sahen neugierig herab auf die stille, traurige Gruppe, wußten sie aber so wenig zu deuten wie den Aufruhr und das schreckhafte Getös vorhin: harmlos spielten sie ihr heiteres Sommerdasein im Sonnenlicht und grünen Gezweig weiter. Der Magister und der Prediger trugen die bewußtlose Jungfrau zuerst in das Pfarrhaus, wo sie den heißen Tag über lag und niemanden kannte. Erst als der Abend nahete, erwachte sie und seufzte tief und sah fragend sich um. Langsam kam die Erinnerung, und als sie kam, schloß Else schaudernd und erzitternd die holden Augen zum zweitenmal. In der sanften Kühle des Abends trugen der Meister Konrad und der Pfarrer Friedemann Leutenbacher die verwundete Maid auf ihren Wunsch in den Wald zurück, und alles Jammers waren sie voll. Niemand folgte ihnen als das alte Weiblein, welches schon am frühen Morgen am Wege saß und so warnend sang. So rot war der Schein der Abendsonne, daß man nicht sah, wie bleich, wie bleich die Stirn der Jungfrau war; – als die Träger der leichten Last die ersten Bäume des großen Waldes erreichten, ging der Mond auf, und das Reh stand und wartete auf die Herrin – – – – –

»Er hat mich in Finsternis gelegt wie die Toten in der Welt!« wiederholte Ehrn Friedemann Leutenbacher zu Wallrode im Elend, trat an seinen Tisch und zeichnete drei Kreuze unter die Predigt für das Weihnachtsfest des Jahres sechzehnhundertachtundvierzig. Martina hatte jetzt das Lämpchen auf den Tisch gestellt, ohne deshalb anzufragen, sie hatte auch einen Laib Brot und ein Messer neben die Predigt gelegt; – die weiße Katze saß aufrecht im Stuhl des Pfarrers und sah mit grünlich leuchtenden Augen in das Licht und auf das Brot. In diesem Augenblicke pochte jemand an das Fenster, und Ehrn Friedemann fuhr zusammen, als habe ihn die Hand des Todes berührt. Einen kurzen Moment zögerte er, dann aber öffnete er das Fenster, welches der Wind ihm fast aus der Hand riß. Heulend drang der Sturm in das Gemach und trieb den Schnee bis auf den Tisch. Die Lampe erlosch, die Blätter der Predigt wurden durcheinandergeworfen und in die Ecken gewirbelt; mit einem entsetzten Satz verkroch sich die Katze unter dem Ofen.

»Wer ist da? Was will man zu solcher Stund'?« rief der Pastor; zwei dürre Hände klammerten sich an das Fensterkreuz und eine alte, alte, keuchende Stimme kreischte:

»Gebet mir ein Stück Brot für meine Nachricht: Else von der Tanne muß sterben in dieser Nacht.« Der Pfarrer von Wallrode sprach kein Wort, er fiel schwer nieder auf beide Knie und faßte ebenfalls das Fensterkreuz mit beiden Händen. Die Stimme draußen fuhr fort:

»Die schöne Else muß sterben; ich aber kann's nicht; gebet mir ein Stücklein Brot. Der Wolf ist mir ausgewichen auf meinem Weg, der fallende Ast hat mich nicht treffen dürfen, der Schnee hat mich nicht verschüttet im wilden Walde. Ich bin so alt, so alt – und die schöne, junge Else muß sterben. Gebet mir ein Stück Brot!«

Der Prediger hat sich wieder erhoben, er tastete mechanisch und reichte dem gespenstischen Wesen da draußen, welches die schöne junge Else um den Tod beneidete, den schwarzen Laib und das Messer.

»Im Namen Gottes und aller seiner guten Geister Dank!« kreischte die Stimme, und dann kam ein neuer Sturmesstoß und jagte solche neue gewaltige Lasten des Schnees heran, daß die Lichter der Hütten, dem Pfarrhaus gegenüber, gänzlich verschwanden. Nun war es fast, als habe der Sturm das alte Weib wieder entführt, wie er es brachte.

Vergeblich rief der Prediger den Namen desselben, der Schall seiner Stimme ging in dem Brausen und Zischen verloren. Niemand antwortete, eine Minute lang war's dem Pfarrer, als ob es gar keine Menschenstimme, nicht die Stimme jenes alten Weibes, das am Johannistag am Wege saß, gewesen sei, welche ihm das Wort, daß Else von der Tanne sterbe, ins Fenster gekreischt habe. Ein böser Geist, welcher auf den Sturmwolken fuhr, hatte es ihm ins Ohr geschrien; eine Menschenstimme konnte solch kalt, grimmig Erschrecken nicht einjagen, konnte solche furchtbare Vernichtung nicht bringen.

Else, die schöne, junge Else stirbt! Else stirbt! Else stirbt! – Der Pfarrer von Wallrode im Elend faßte mit beiden Händen die Stirn; – war es doch Wahrheit? War die Stunde da, die kommen mußte? War die Stunde gekommen, die seit dem Tage Johannis des Täufers langsam, drohend, unabwendbar heranschlich?

»Sie stirbt – Else von der Tanne stirbt!« stöhnte der Pfarrherr. Er tastete nach der Tür und wankte hinaus.

Auf der Flur stand Martina mit ihrer Lampe.

»Um Jesu willen, Ehrwürden, was ist Euch geschehen? Was wollt Ihr tun? Ehrwürden, wollt Ihr fort? Bei diesem Wetter?«

Ehrn Friedemann schien die treue Dienerin gar nicht zu erblicken; er ging an ihr vorüber, er stand vor dem Haus im Sturm und tiefen Schnee; mit dem Mantel verhüllte er das Gesicht und schritt durch das Dorf, dem Wind und Flockengewirbel entgegen, dem Walde zu. Das Gebell der Hofhunde verhallte hinter ihm; er war allein mit seinen wilden Gedanken in der wilden Nacht.

Von dem freien Felde zwischen dem Dorf und dem Forste hatte der Wind den Schnee so rein weggefegt, daß der kahle, schwarze Boden nackt in dem seltsamen Dämmer dalag, und entsetzlich war dieser Wind auf diesem Gange. Er trieb den Atem in die Brust zurück, als wolle er sie zersprengen, wütend griff er in die Haare, die Mantelfalten des Wanderers, um ihn zu Boden zu werfen, in rasenden Sprüngen und Sätzen schnaubte er gegen das Dorf Wallrode hinab und jagte das weiße Gestäube vor sich her.

Als der Pfarrherr den Rand des Waldes erreichte, hätte er sich selber zu Boden werfen mögen, um die keuchende Brust ausatmen zu lassen. Wie Schlachtendonner rollte es durch das Gebirge – Geächz' und Stöhnen, Gekrach' und Geknirsch', wie von den Grenzen der Erde her!

Wo das hübsche Reh die blutende Else mit fröhlichen Sprüngen und Schmeichelgebärden empfing, lag der Schnee mannshoch; im Walde konnte der Sturm nicht also sein Spiel mit ihm treiben; – in manchen Gründen war die Luft so still wie hinter einer hohen Mauer, und nur das Gebrüll zu Häupten und das Ächzen und Wiegen der Stämme war hier ein Zeichen, wie's von Wipfel zu Wipfel, von einer Höhe zur andern in die Ebene hinausfuhr.


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