Stanislaw Przybyszewski
Der Schrei
Stanislaw Przybyszewski

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VI

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Gasztowt blickte auf und sah vor sich den »Führer«. Er war darüber gar nicht verwundert, er hatte sich schon lange mit dem Gedanken abgefunden, dass dieser Satan, der ihm gestern die teuflische Brille vor die Augen gesetzt hatte, ihn nicht mehr verlassen, dass er ihm auf Schritt und Tritt folgen würde.

Er wusste nun ganz gewiss, dass er auf seinen Befehl in dieser erbärmlichen Spelunke seine Seele nackt gespielt hatte, und ebenso sicher war es, dass er unter seinem Zwang sich in den Strom gestürzt hatte, um irgend ein Weibsbild aus den Fluten zu retten.

Er erinnerte sich, dass er schon lange auf ihn gewartet hatte, dass es ihn unbewusst danach verlangte, er solle sich zu ihm setzen, und war plötzlich erfreut, dass er – er mit seinem starken Willen – den »Führer« gezwungen hatte, an ihn heranzutreten.

»Sie erlauben, dass ich mich zu Ihnen setze?« wiederholte der Fremde seine Frage.

»Aber bitte – bitte – ich habe nichts dagegen,« und er wies höhnisch auf einen leeren Platz, wo kein Stuhl stand.

Der »Führer« sah sich ruhig um, nahm einen Stuhl vom Nebentisch und setzte sich zu Gasztowt.

»Weryho ist mein Name,« sagte er freundlich – und in Wirklichkeit wurden seine Züge weich und zuvorkommend – er verwandelte sich plötzlich in einen äusserst höflichen Antinous mit einladenden Weibsmanieren.

»Weryho?« grinste Gasztowt – »Weryho! Sehr guter Name – nun, ich bin sehr erfreut – Sie haben ein sehr interessantes Gesicht, ich möchte es malen – denn ich bin Maler« – platzte er plötzlich heraus.

Weryho, der »Führer«, lächelte.

»Ich weiss, ich weiss – von Ihren Bildern auf der Ausstellung konnte ich mich gar nicht losreissen.«

»Woher wissen Sie, dass ich Maler bin und jene Bilder gemalt habe?«

»Nun, das ist ganz einfach – ich war auf Ihrer Ausstellung und sah einen Menschen, der mit einer unglaublichen Intensität die Bilder anstarrte: So sieht nur der Schöpfer auf sein Werk! dachte ich mir gleich – Und als ich Sie heute hier eintreten sah – zu Studienzwecken, nicht wahr? – da habe ich Sie sofort erkannt. Und ohnedies hätten Sie sich mit Ihrer erstaunlichen Musik verraten – so spielt nur ein Mensch, der sieht, der selbst ein Maler ist . . . Ich war nur erstaunt, dass Sie mich so ostentativ mieden, als Sie das Geld für den Geigenspieler einsammelten!«

Gasztowt sah ihn frech und herausfordernd an und lächelte boshaft.

»Das werde ich Ihnen sofort sagen – ich wollte Sie für mich, eigens für mich aufsparen – Sie hielten ein Goldstück in der Hand – nicht wahr?«

»Gewiss! Ich wollte es in Ihren Hut werfen,« bestätigte Weryho ernst.

»Also sehen Sie!« Gasztowt zitterte in krankhafter Aufregung – »hätten Sie es in den Hut geworfen, so hätte ich auch das Goldstück vor dem Geigenspieler ausschütten müssen, um nicht den Schlusseffekt der erbärmlichen Komödie, die ich gespielt hatte, zu zerstören. Ich habe mich daher absichtlich von Ihnen abgewandt, denn ich wusste, ich würde dadurch Ihre Neugierde aufstacheln und Sie würden früher oder später an mich herantreten müssen – ja! müssen, um alles zu bezahlen, was ich hier gegessen und getrunken habe, – und aus dem Zustand, in dem ich mich befinde, können Sie ersehen, dass ich nicht wenig getrunken habe.«

»Das fügt sich ja prachtvoll!« sagte Weryho mit ausgesuchtester Höflichkeit. »Was für ein glücklicher Zufall, dass ich Sie hier getroffen habe! Ich trat an Sie heran, eigentlich nicht aus Neugierde, aber in dem brennenden Verlangen, Ihnen ein Bild abzukaufen, von dem ich geradezu besessen bin – das Bild mit dem Verbrecher, der über die Strasse rennt und dem jemand ein Bein stellt . . . Sie wissen doch!«

Weryho sprach mit so offener Herzlichkeit, dass Gasztowt ganz irre wurde – und gleichzeitig fühlte ersieh durch diese weiche, einnehmende Stimme seltsam befangen.

»Ich zitterte vor Angst,« fuhr Weryho fort, »es hätte mir jemand zuvorkommen können – aber das lasse ich unter keinen Umständen zu – Ich muss es haben und gebe Ihnen jetzt gleich eine kleine Anzahlung« – er legte vor Gasztowt ein paar Goldstücke hin – »und werde mir das Bild heute abholen und die ganze Summe bar bezahlen . . . Sie sind jetzt sehr aufgeregt und gereizt, Sie wären imstande, den gewöhnlichsten Handel als eine Beleidigung aufzufassen, aber Sie würden anders denken, wenn Sie wüssten, mit welcher zitternden Angst ich daran dachte, das Bild könnte schon verkauft sein.«

Gasztowt lächelte unsicher und befangen und steckte das Geld automatisch in die Tasche.

Mag sich nun die ganze Schande endlich einmal ganz und gar erfüllen! dachte er, und das erleichterte ihn –

»Nur eine heisse Bitte habe ich und werde Ihnen unendlich dankbar sein, wenn Sie sie mir nicht abschlagen. Wollen Sie heute mein Gast sein? Ich habe so vieles mit Ihnen zu besprechen – nur nicht hier – gehen wir wo anders hin – hier ist die Luft so dick, dass man sie schneiden könnte . . . Kommen Sie!«

»Es ist hier wirklich nicht auszuhalten!« bestätigte Gasztowt mechanisch und betastete die Westentasche: – der Ring war da – er war sehr erfreut, er brauchte ihn nicht mehr zu verpfänden.

Sie bezahlten und traten auf die Strasse hinaus.

Hier aber besann sich Gasztowt plötzlich, dass er den Geigenspieler um ein Goldstück betrogen hatte, er liess Weryho stehen und ging ins Café zurück.

Er traf ihn wirklich noch am Tische, wie er noch immer sein Geld durchzählte und dabei murmelte:

» Ein Goldstück fehlt – ein Goldstück!« |

»Hier ist es!« Gasztowt warf ihm das Goldstück hin.

Der Andere sah ihn forschend an, mit kaltem, gleichgültigem Blick.

Gasztowt wich erstaunt zurück: er erkannte plötzlich in diesem Menschen den Droschkenkutscher von gestern.

»Ah! Schön von Ihnen – Sie wollen wohl die gestrige Droschke bezahlen . . . Ach, wegen dieser Kleinigkeit brauchten Sie sich nicht zu bemühen . . .«

Gasztowt überlief es kalt: dieses Gesicht lachte nicht, im Gegenteil, es war fast finster, aber nie früher hat er ein Gesicht gesehen, das von einem so höhnischen, satanischen Lachen umspielt gewesen wäre – er sah deutlich, wie es sich unter würgendem Lachen verzerrte, die gelbe Haut, die wie ein Lederhandschuh die Backen umprallte, faltete sich mit bösem, gehässigem Grinsen, und aus den Augen, die wie zwei Scheibchen aus glattpoliertem, bläulichem Stahl aussahen, stach giftiger Hohn heraus.

»Ah! Verzeihung! Vielleicht brauchen Sie selbst Geld? Was sehen Sie so verängstigt und erschrocken aus? Warum zittern Sie so? Sie brauchen sich nicht zu genieren, Sie sind ebenso elend und ausgestossen wie ich – nur haben Sie die schönen Gesten eines Grandseigneur, Sie belieben ein wenig Philanthropie zu mimen, Sie würden sich sogar auf dem Markt nackt ausziehen, um die Geste noch zu unterstreichen, Sie würden sogar Ihre Seele feilbieten, um nur das Prestige des Menschenwohltäters nicht zu verlieren – nun, wenn es Ihnen Spass macht!«

Kalte Schauer rieselten Gasztowt über den Rücken, er hätte vor Scham in die Erde versinken mögen.

»Nun, greifen Sie nur zu!« Die Stimme des Anderen pfiff und keuchte, als ringe sie mit Lachkrämpfen.

»Warum lachen Sie?« fuhr Gasztowt ihn wütend an.

»Ich? Ich lache? Dass ich nicht wüsste,« entgegnete jener kalt und gleichgültig, »ich lache nie! Es kann sein, dass mein Gesicht lacht, meine Augen lachen, meine Zähne grinsen – ich selbst lache nie!«

Und jetzt sah Gasztowt ein furchtbar verzerrtes, giftiges, höhnisches Lachen, das ihm von der Gesichtsmuskulatur losgelöst erschien – das Lachen an sich, das Lachen, das aus abgründiger Tiefe einer unterirdischen Quelle hervorzukriechen schien – und eine solche Macht der Verachtung entsprühte ihm, dass Gasztowt sich umschaute, wo er sich vor diesem Lachen verstecken könnte. Aber auf der Türschwelle sah er Weryho, der ihn ungeduldig und mit verhaltenem Zorn anherrschte:

»So kommen Sie doch endlich!«

Gasztowt gehorchte demütig, es wäre ihm nicht eingefallen, dagegen Widerspruch zu erheben.

Auf der Strasse blieb Weryho stehen und sah auf seine Uhr.

Er wurde mit einem Male äusserst liebenswürdig.

»Aber ich habe mich so zudringlich an Sie angekrallt, und Sie sind wohl sehr müde?«

»Nicht im geringsten,« antwortete Gasztowt barsch, denn er war wütend, dass er so widerspruchslos einem fremden Willen folgen musste.

»Ich bin über alle Massen erfreut, dass Sie mir meine Bitte nicht abgeschlagen haben – ich bin Ihnen dafür sehr, sehr dankbar; Sie wissen nicht, was Ihre Gesellschaft für mich bedeutet – es kam mir nur vor –«

»Nichts konnte, nichts brauchte Ihnen vorzukommen,« unterbrach ihn Gasztowt heftig – »höchstens die Tatsache, dass ich eine Zeitlang völlig betrunken war, sonst hätte ich die erbärmliche Komödie dort in der Kneipe nicht aufgeführt.«

»Eine Komödie?« Weryho war höchst erstaunt.

»Aber selbstverständlich! Noch dazu eine ganz gemeine! Haben Sie nicht den dummen Clowntrick bemerkt? Ich habe, als ich zu spielen anfing, meinen Hut abgeworfen, scheinbar deswegen, weil er mich belästigte, in Wirklichkeit äffte ich nur den »dummen August« nach: ›Bitte, meine Herrschaften, jetzt aufpassen – jetzt kommt was Feines!‹« Gasztowt lachte heiser auf: »Wie kann man sich nur so sinnlos betrinken!«

»Hm!« Weryho sprach mit der diskreten, vornehmen Stimme eines gewiegten Diplomaten – »Sie sind ein grosser Künstler und als ein solcher haben Sie das Recht, ungerecht gegen sich zu sein – ich habe etwas ganz anderes bemerkt, das mich die Tiefe Ihrer Seele in einem ganz anderen Lichte erschauen liess.«

»Oh! was Sie nicht sagen! Und wie gewählt Sie sich ausdrücken. Ich bin wirklich neugierig – vielleicht sind Sie in das niederträchtige Komödienspiel noch tiefer eingedrungen, als ich es bewusst beabsichtigt habe . . . Ha, ha, ha . . . Legen Sie nur los – Sie sind ein aussergewöhnlicher Menschenkenner . . .«

»Ich bemerkte,« fuhr Weryho mit derselben diskreten und schonenden Stimme unbeirrt fort, »dass Sie jedesmal, wenn Sie sich etwas zu essen oder zu trinken bestellten, zuerst die Westentasche betasteten. Daraus habe ich gefolgert, dass Sie sehr wenig oder gar kein Geld bei sich hatten.«

»Eine überaus scharfsinnige Beobachtung!«

»Und als dieser Geigenspieler . . .«

»Droschkenkutscher!« rief Gasztowt höhnisch, – »den Sie sehr gut kennen . . .«

»Es geht mich nichts an, was er im Nebenberuf ist – jede Nacht spielt er in der ›wilden Marderkatze‹.«

»Aber Sie kennen ihn?«

»Ebensoviel und ebensowenig wie Sie – aber um auf die Sache zurückzukommen! Als der unverschämte Kerl mit dem Sammelteller an Sie herantrat, wusste ich, dass Sie tatsächlich kein Geld besassen, denn Menschen wie Sie geben in solchem Falle ihr Letztes, selbst wenn sie dann ein paar Tage hungern sollten.«

Gasztowt wartete gespannt, was er jetzt zu hören bekäme.

»Sie haben wieder Ihre Westentasche betastet, aber diesmal haben Sie unbewusst an der Stahlkette gezogen.«

Davon wusste Gasztowt wirklich nichts.

»Und Sie haben den Ring herausgezogen, der an der Kette hängt . . .«

»Den Ring?« Gasztowt erschrak heftig.

»Nun, nun, beruhigen Sie sich,« Weryho nahm seinen Arm – »glauben Sie ja nicht, dass ich mich in das Geheimnis, das irgendwie mit dem Ring verbunden ist –«

»Ein Fluch!« schrie Gasztowt plötzlich unbewusst auf und erschrak noch heftiger, begann zu zittern.

»Meinetwegen ein Fluch! Was geht mich das an? Beruhigen Sie sich doch – ich will mich wirklich nicht in Ihre Geheimnisse hineinstehlen – ganz im Gegenteil – jedes Geheimnis, um das ich weiss, verliert für mich allen Zauber, wird nur langweilig und widerwärtig . . .

»Wir beide sind fanatische Liebhaber der Strasse, nicht wahr? Nun, sehen Sie, ich liebe die Strasse, weil ich sie nicht kenne, weil sie mir ein tiefes Geheimnis ist, und deswegen liebe ich Ihre Bilder, weil Sie um das Geheimnis wissen, aber es nicht verraten wollen; heute haben Sie es mir auf eine Sekunde in Ihrem Spiel preisgegeben, aber so spärlich, dass ich mit noch grösserer Spannung dem Rätsel auf die Spur zu kommen trachte . . .«

Er nahm den Hut ab, rieb sich nachdenklich die Stirn – bedeckte sich wieder, reichte Gasztowt das Zigarettenetui.

»Aber Sie sind wohl sehr müde und ich belästige Sie mit meinem Geschwätz?«

»Durchaus nicht – im Gegenteil – äusserst interessant« – antwortete Gasztowt bissig.

»Ja, ja, Sie sind ein höflicher Mensch . . . Und wie glücklich ich bin, dass ich Sie getroffen habe und gerade heute! Ihre Musik hat mir so unendlich vieles gesagt, was ich in Ihren Bildern in tiefster Mühe gesucht habe. Sie hat mir erst die Augen geöffnet – und Ihre Musik: den geheimen Schlüssel zu Ihren Bildern, verdanke ich Ihrem geheimnisvollen Ring . . . Ja, ja! Jetzt habe ich es – die höchste Offenbarung verdanke ich dem Ring . . . Unterbrechen Sie mich nicht – jetzt weiss ich es!«

»Was wissen Sie denn wieder?« lachte Gasztowt höhnisch.

»Oh! oh! mein Herr, glauben Sie nicht, dass ich Ihre Seele erforschen will – nichts liegt mir ferner – aber ich glaube nicht, dass Sie in der ›Marderkatze‹ eine Komödie gespielt haben – ganz, ganz im Gegenteil: Ihre blutigste Tragödie, wenn Sie wollen – Sie haben eine gewaltige, heroische Tat vollbracht – lieber wollten Sie Ihre Seele von allen Schleiern entblössen, sie öffentlich ganz nackt zeigen mit allen ihren Wunden und Schwären, als sich von dem geheimnisvollen Ring trennen – und doch sollte der Ring, als Sie der Hunger aus dem Atelier hinausgejagt hatte, als Pfand dienen, nicht wahr?«

»Blödsinn – unerhörter, idiotischer Blödsinn!« – Gasztowt geriet in eine sinnlose, wütende Erregung – »besoffen war ich! Und mit der Schlauheit eines Säufers wollte ich Ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen, und da ich kein anderes Mittel fand, spielte ich die Komödie mit dem Ring auf – ich habe ihn ganz zufällig an die Stahlkette angehängt, weil ich keine Uhr habe – wozu sollen das alle Menschen wissen? Und aus dieser lächerlichen Tatsache wollen Sie irgend ein heroisches Mysterium herleiten?! Ha, ha, ha! Das ist wirklich unglaublich!«

»Ja! Das ist unglaublich! Denn dieser lächerlichen Tatsache, dieser niederträchtigen Komödie, wie es Ihnen beliebt, Ihre wirklich grosse und heroische Tat zu benennen, verdanke ich die schauerlichste Offenbarung, die mir je zuteil werden konnte: in Ihrer Musik habe ich den Schrei der Strasse gehört, denselben Schrei, der wahrscheinlich den Geheimschlüssel zu dem tiefsten Verständnis Ihrer Bilder bedeutet.«

»Den Schrei?!« Gasztowt blieb stehen – seine Beine zitterten, wankten, er taumelte und sinnloser Schreck und Entsetzen fuhren ihm in die Glieder.

»Den Schrei?!« lallte er und starrte Weryho abwesend an.

»Ja, ja! Was zittern Sie so? Was sind Sie so erschrocken – um Gottes willen – was ist Ihnen denn?«

Weryho bemühte sich angelegentlich um ihn: »Oh! – ich verstehe – diese Aufregung, diese Übermüdung!«

Gasztowt beherrschte sich plötzlich.

»Ich bin durchaus nicht übermüdet – im Gegenteil: ich fange an jetzt nüchtern zu werden – ich, ich bin nicht im geringsten müde – durchaus nicht . . .«

»Oh, mein Herr, Sie beschämen mich mit Ihrer Güte, dass Sie auf mein Geschwätz hinhören . . .«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich Ihre Ausführungen interessieren – Bitte, fahren Sie nur fort –« grinste Gasztowt. Und jetzt wuchsen der Schreck und die Angst in Milliarden von feinsten Wurzelfäserchen selbst in seine verzweigtesten Kapillargefässe hinein . . .

»Nun gut! Also sehen Sie – ich habe diesen Schrei in Wirklichkeit gehört – aber damals kam er mir lächerlich und trivial und abgeschmackt vor – erst in Ihrer Musik bekam er für mich eine ungeahnte Tiefe – eine unerhörte Perspektive, ein Etwas, das mich zum ersten Mal bis ins Mark durchschauert hat mit einem Grauen und Entsetzen, dass jedes Härchen auf meinem Haupt sich in die Höhe reckte – ich fühlte es deutlich . . . Aber sind Sie wirklich nicht müde? wir sind übrigens bald am Ziel – interessant dieses Gewirr von engen Gässchen, nicht wahr?«

Gasztowt antwortete nicht.

»Also sehen Sie – Sie werden mich sicher verstehen . . . Was konnte mich zum Beispiel eine solche Geschichte angehen – eine alberne, gewöhnliche Sache, wie sie sich tagtäglich ereignet, und deren man Hunderte zum Überdruss in den Zeitungen lesen kann – eine ganz ordinäre, blöde Szene, deren Zeuge ich gestern zufällig war . . . interessiert es Sie?«

»Was für eine Szene?« fragte Gasztowt gereizt, mit innerem Beben . . .

»Ach, wie zerstreut ich bin, Sie haben ja die Sache nicht mit angesehen! Also ich ging gestern das Stromufer entlang und kam so an die Brücke – Sie wissen schon . . .«

»Nein, ich weiss nichts!« Gasztowt beherrschte sich mühevoll.

»Nun! diese Brücke, die unsere Stadt – unsere, diese, die Sie malen, von der anderen – der dort!« – er wies mit verächtlicher Gebärde auf die andere Seite hin– »würdevoll abgrenzt – da sah ich plötzlich, wie mir gegenüber am anderen Ufer ein Weib stehen blieb, dann sich mühsam weiterschleppte, das Brückenjoch hinauf, dort wieder stehen blieb und in das hochgehende Wasser hinunterstarrte . . . Nun, ich wusste von vorneherein, dass jetzt etwas geschehen würde, und ich hatte mich nicht geirrt, es geschah wirklich etwas unglaublich Triviales: das Weib sprang über die Brüstung und stürzte sich in den Strom . . . Requiescat, dachte ich und wollte weitergehen – aber da geschah etwas ganz Unglaubliches, etwas, was mich im Boden festwurzelte – im ersten Augenblick wusste ich nicht, was geschehen war, denn es dämmerte schon – ich sah nur einen Kopf, wie er in wilden Sätzen der Stelle zusteuerte, wo das Weib verschwunden war – der Kopf schien ganz für sich zu existieren, es fiel mir nicht ein, mir einen Rumpf hinzuzudenken – es war nur ein springender, in unglaublicher Kraftanstrengung mit den schäumenden Wellen ringender Kopf – jetzt wurde es mir begreiflich, dass es sich um eine Rettungsaktion handelte . . . aber – aber . . . was sind Sie so blass geworden?«

»Wie können Sie wissen, dass ich blass geworden bin!« Gasztowt zitterte wie Espenlaub.

»Das kann ich natürlich nicht sehen, aber so was fühlt man . . .« Weryho schien höhnisch zu grinsen – »aber, um auf diese seltsame Sache zu kommen: also die dumme Tatsache, dass sich ein Weib ertränken wollte, bekam für mich ein bedeutungsvolles Relief erst durch diesen Kopf – immer musste ich an ihn denken und suchte nach dem Menschen, zu dem dieser Kopf gehören könnte – und da! denken Sie sich mein Erstaunen – als Sie da in der Kneipe plötzlich den Hut wegwarfen – da!«

»Schweig!« schrie Gasztowt ihn herrisch an.

Sie sahen sich lange an in verbissener, schmerzhafter Spannung – dann gingen sie weiter in tiefstem Schweigen.

Aber in Gasztowt kochte die letzte Neugier über, er konnte nicht länger an sich halten:

»Und haben Sie den Schrei gehört?« fragte er geheimnisvoll und erschauerte.

»Freilich habe ich ihn gehört, aber gestern war er mir nichts weiter, als eben der lächerliche Schrei eines Weibes, dem im letzten Augenblick das Wasser doch ein wenig zu kalt wird – gehört, wirklich gehört in seiner ganzen majestätischen Gewalt, die Himmel und Erde durcheinanderrüttelt, habe ich ihn erst heute . . .«

»Wann? Wann?« Gasztowt fieberte – »wann haben Sie den Schrei gehört?«

»Heute! Mit diesem furchtbaren Schrei haben Sie Ihre Musik heute beendet – ich bin Ihnen unendlich dankbar für diesen Schrei – die triviale Sache des versuchten Selbstmordes eines Weibes, das Sie übrigens gerettet haben, bekam für mich eine unerhört tiefe Perspektive von Grauen, von Verzweiflungswahnsinn, ohnmächtigem Sich-Hinstrecken nach herrischem Lebenskampf – die ganze Strasse heulte und brüllte in verendender Agonie, in verreckendem Todeskampf . . . Unerhört, unerhört!«

Weryho geriet in furchtbare Aufregung:

»Jetzt – jetzt nur noch das Letzte: Jetzt werden Sie den Schrei malen – Sie müssen ihn malen – ich flehe Sie fussfällig an – für mich werden Sie ihn malen – Sie, der gewaltigste Künstler, den je die Erde getragen hat – Sie werden noch einmal den Schrei hören.«

Er erfasste plötzlich Gasztowts Hand und küsste sie inbrünstig.

Gasztowt entriss ihm die Hand, als hätte ihn eine giftige Natter gebissen.

»Jetzt werden Sie das Weib sehen – jetzt werden Sie den Schrei hören, Sie werden mir ihn malen – malen! Sie müssen, müssen ihn malen . . .«

Gasztowt hörte die Stimme jetzt wie aus einer weiten Ferne – nun schien es ihm, er würde gewaltsam durch eine Mauer hineingeschoben in einen engen Gang, er tappte herum, tastete sich vorwärts, bekam eine Klinke zu fassen, öffnete eine Tür und trat in einen kleinen, lichtüberschwemmten Saal . . .


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