Stanislaw Przybyszewski
De profundis
Stanislaw Przybyszewski

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Da blieb er plötzlich stehen: sein Herz krampfte sich heftig zusammen: in der Ferne sah er ein schwarzes, seidenes Kleid knistern ... Nein! es war nicht Agaj.

Die Unruhe bäumte sich in ihm hoch auf. Unruhe und würgende Sehnsucht.

Nein, nein – er mußte nach Hause gehen. Sich in's Bett legen. Er war ja todkrank.

Die Sonne schien ihm stechend in die Augen. Er fühlte die scharfen Strahlenstöße sich gellend ihm in die Nerven keilen. Es schwindelte ihn: er setzte sich auf eine Bank.

Ekelhaft, mitten auf der Straße ohnmächtig zu werden! fuhr es ihm plötzlich durch's Gehirn. Die Vorstellung von einem Auflauf, einer Tragbahre rüttelte ihn mit einem Male auf.

Er strengte sich an, die Menschen, die wie Schatten an ihm vorüberglitten, zu sehen, deutlich zu sehen, sie voneinander zu unterscheiden.

Da sah er plötzlich sie. Es kam ihm vor, als hätte er sie schon früher einmal vor seiner Bank auf- und abgehen gesehen.

Sie ging ruhig, grüßte freundlich nach allen Seiten und hatte rote Handschuhe an. Lange scharlachrote Handschuhe.

– Agaj! schrie er auf.

– Nun? was machst Du hier?

Er nahm sie schweigend unter den Arm und führte sie in ein abgelegenes menschenleeres Café.

Es war Macht in ihm.

– Wenn Du noch einmal – seine Stimme erstickte in Wut – wenn Du noch einmal mir Menschen auf den Hals schickst, werd' ich Dich, werd' ich ...

Sie sah ihn lachend an.

– Was denn?

Er beruhigte sich plötzlich. Seine Macht schmolz wie Glas im Feuer. Er lächelte wieder. Da schrak es wieder in ihm auf. Eine Erinnerung fühlte er lauernd kauern, und plötzlich jäh emporschnellen:

– Hast Du mir nicht gestern gesagt, daß ich Dich heute erwarten sollte?

– Nein!

– Lüg' nicht, Agaj, nicht jetzt, um Gotteswillen. Ich habe eine entsetzliche Angst um mein Gehirn ... Hast Du, – hast Du es wirklich nicht gesagt?

Sie schwieg.

– Sag' es, sag' – ich weiß ja nicht sicher. Alles verfließt in meiner Seele. Ich konnte nicht begreifen, warum ich dort auf Dich wartete.

Sie zuckte auf.

– Ja, ich habe es gesagt.

Er atmete schwer.

– Warum hast Du mich denn bestellt, wenn Du nicht kommen wolltest?

– Ich will nicht mehr mit Dir allein sein, sagte sie kalt.

– Nicht mehr?

– Nein!

Er sann nach und erhob sich.

– Ja, dann will ich nicht mehr mit Dir zusammen sein, Agaj. Ich kann nicht mit Dir zusammen sein, wenn Menschen dabei sind. Ich habe Ekel vor Menschen. Ich kann keinen Menschen außer Dir sehen. Nein, Agaj, ich will es nicht.

Sie faßte ihn an der Hand. Er setzte sich wieder. Sie war ernst und traurig.

– Kannst Du denn nicht zur Vernunft kommen? Verstehst Du nicht, daß Alles aussichtslos ist, verstehst Du's nicht?

– Warum aussichtslos?

– Weil ich Deine Schwester bin.

– Du lügst. Daran denkst Du nicht einen Augenblick. Du liebst die Qual, Du kannst Dich nicht genug an Deiner und meiner Qual sättigen ...

Sie schwiegen lange.

– Hör' Agaj, ist es ... ja – nicht wahr? Du liebst meine Frau sehr.

– Ja.

– Und wenn sie nicht da wäre?

– Vielleicht.

– Vielleicht?

Sie antwortete nicht.

Wieder Schweigen.

– Ich will bei Dir bleiben, sie sprach flehend. Ich will immer mit Dir zusammen sein, aber nicht allein. Das dürfen wir nicht. Ich bitte Dich darum.

– Hast Du Angst vor mir?

– Vor mir selbst. Und Du liebst mich doch. Kannst Du es nicht meinetwegen tun?

– Was denn?

– Du sollst nicht wollen, mit mir allein zu sein, – und ... und, sie senkte den Kopf – Du sollst mich nicht mehr berühren. Ich habe einen unaussprechlichen Ekel davor, sagte sie hart.

– Hast Du Ekel vor meiner Berührung?

– Ja!

Über seinen Körper rieselte es wie von einer glühenden, zu Perlen zerstäubten Metallmasse. Seine Seele schrumpfte wund zusammen. Er fühlte Scham und Ekel vor sich selbst. Er hatte das Weib berührt, das Ekel vor ihm – vor ihm empfand.

Er kam zu sich. Eine kalte, trockene Klarheit fühlte er in seinem Kopfe, wie Wetterleuchten zuckte wieder der stille Triumph der blutenden befreiten Seele auf.

– Ich danke Dir, daß Du jetzt endlich ehrlich bist ... Du hast Recht ... Nie werd' ich mehr darüber sprechen, noch Dich berühren.

Er sah nur die Krampe ihres Hutes. Ihr Kopf war tief gesenkt und die Hände in den roten Handschuhen weit über den Tisch gestreckt.

– Vielleicht sollen wir den Menschen aufsuchen, den Du mir zur Unterhaltung geschickt hast?

– Nein!

– Dann wollen wir andere Menschen aufsuchen.

– Nein!

Lange Pause. Er war ganz ruhig. Sein Fieber war mit einem Mal verschwunden. Er war wie von einem Bann erlöst.

– Nun, sieh doch auf! sagte er freundlich nach einem langen Schweigen. Jetzt können wir ruhig und vernünftig mit einander sprechen. Jetzt hast Du erreicht, was Du wolltest. Ja, Du kennst mich, Du weißt, wie schamhaft meine Seele ist. Meinetwegen kannst Du jetzt tausend Menschen aufsuchen. Ich habe auch kein Bedürfnis mehr mit Dir allein zu sein. Übrigens möcht' ich Dir den verfluchten Hut am liebsten vom Kopfe reißen. Diese große Krampe ist sehr bequem ... Ha, ha, ha ... Nun, Agaj, liebe Schwester, kannst Du mit Deinem Bruder nicht vernünftig sprechen?

Sie sah plötzlich zu ihm auf.

Er glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen.

– Agaj! sagte er langsam.

Die Tränen liefen über ihre Backen herab.

– Du weinst? fragte er kalt und ruhig.

– Nein! sagte sie rauh.

– Du weinst ja, ich sehe es doch! Und ich sitze und zerbreche mir den Kopf, warum Du eigentlich weinst. Ich glaube nicht an Deine Tränen. Deine Seele ist verlogen. Sie sucht nur krampfhaft nach neuen Martern ... Ha, ha, vielleicht hast Du die Fähigkeit, zu weinen, wann Du willst? Willst Du mich mit Deinen Tränen kirren?

Sie sah ihn an: ein Blick, der in würgendem Krampfe schrie. Aber nur einen Moment, im Nu sah er einen wilden Haß aus ihren Augen stechen, zu einem bohrenden, saugenden Licht sich weiten und heiße Brände in seine Seele werfen.

Es dauerte eine Ewigkeit. Dann zersprang gellend das Licht in ihren Augen, ihr Gesicht wurde hart, sie sah vor sich hin, dann starrte sie ihn wieder an mit einem glasigen Ausdruck, und plötzlich schoß der dumpfe Haß wieder auf, sie warf sich in's Sofa zurück.

– Nun! Gott sei Dank ist Dein Fieber vorüber, sagte sie mit lachendem Hohn, jetzt kannst Du zu Deiner Frau zurückkehren und ihr die Erlebnisse mit Deiner Schwester erzählen.

– Ja, das werd' ich.

– Hast Du oft dieses Fieber? höhnte sie. Ich meine: betrügst Du oft Deine Frau unter dem Schutze dieses Fiebers?

– Sehr oft. Hier zum Beispiel habe ich ein Mädchen, ein Kind noch, bei dem ich jede Nacht schlafe.

Sie schrie leise auf. Er sah sie mit höhnischer Wut an.

– Hat es sehr weh getan? grinste er boshaft.

– Du lügst! schrie sie unterdrückt auf.

– Nein! Wozu sollt' ich lügen?

– So, so ... Warum bettelst Du denn bei mir?

– Ich bettle nicht. Hab' ich gebettelt? Davon weiß ich nichts ... Und, und, ich bitte Dich um Verzeihung für Alles, was vorgefallen ist. Ich empfinde mich so grenzenlos lächerlich. Eigentlich solltest Du mich nicht so schmerzhaft beschämen. Nun, ich hoffe, daß Deine Seele jetzt vor Freude jauchzt ...

Ihre Hände bewegten sich nervös.

Er wurde noch freundlicher.

– Wundervolle Handschuhe hast Du. Das sieht sehr pervers aus. Das ist à la Rops. Du hast überhaupt die Gestalt, die Rops immer zeichnet. Und auch die gierige, freche Unschuld ... Ha, ha, ha ... und Du verstehst Dich zu kleiden! Das Seidenkleid lieb ich sehr. Es ist ein solch wollüstiges Gefühl in den Fingerspitzen, ja, ja – Deine Seide stäubt mir Wollust in die Adern ... Nun, Du scheinst gar nicht auf mich zu hören ... Ich habe Dir auch nichts Interessantes mehr zu erzählen. Das, was an unserem Verhältnis interessant und pikant war, was nach Satanismus und Inzest schmeckte, ist ja nun vorüber. Jetzt können wir zu den zweifelhaften Freuden des Werktags zurückkehren.

Sie sah ihn plötzlich lange und durchdringend an. Ihre Augen funkelten in einem seltsamen Lächeln.

– Du hast Fieber, sagte sie langsam. Jetzt erst seh' ich, wie krank Du bist. Deine Augen sind eingefallen, Deine Augen glühen wie Kohlen, Dein Gehirn ist krank. Du kannst nicht mehr die Wirklichkeit von der Vision unterscheiden. Du siehst das Gras in meiner Seele wachsen. Und manchmal überhörst Du ganze Sätze. Ist es nicht so?

Er stutzte, dann lachte er boshaft auf.

– Ja, ja, ich verstehe Dich. Jetzt hab' ich natürlich Fieber, weil ich anfange, vernünftig zu sprechen. Ich habe Fieber, weil ich Deine quallüsterne Phantasie nicht erhitze. Ich verstehe Dich. Du hast Sehnsucht nach den irrsinnigen Worten meiner Liebe.

– Ja!

Es klang wie ein langer Satz.

– Ja? Ja? Das sagst Du so frech, nachdem Du meine Seele zertreten hast? Sagtest Du nicht vor ein paar Minuten, daß Du Ekel vor meiner Berührung hast? Nein, nein – meine Seele ist spröde, ich will mich nicht prostituieren vor Dir.

Er kam plötzlich in eine Ekstase von Raserei. Sein Gesicht fühlte er zucken und das Fieber befiel ihn von Neuem.

Er verlangte Wein.

– Willst Du mittrinken, Agaj?

– Ja. Viel – viel ...

Er suchte seine Ruhe zu bewahren. Sie bettelte mit den Augen.

Er trank schnell und stützte den Kopf in die Hände. Er hatte sie plötzlich beinah' vergessen. Sein Fieber ließ nach. Nur ein Schmerz, ein brandroter Schmerz glühte in seinem Hirn.

Da fühlte er von Neuem ihr Locken. Er merkte, daß sie ihm langsam näherrückte – noch näher und plötzlich preßte sie heftig ihr Bein an das seine.

Wieder empfand er die kurzen, schmerzhaften Zuckungen in seinem Kopf, wie von heftigen Hammerschlägen.

Sie saßen regungslos. Sie über den Tisch gebeugt, schwer und heiß atmend.

– Ich habe gelogen! flüsterte sie leise, trank das Glas leer, füllte es von Neuem, leerte es wieder.

– Trink doch! Ihre Stimme zitterte.

Es schwindelte ihm. Er hatte plötzlich Alles vergessen. Er fühlte nur die körperliche Wärme ihrer Glieder sich um ihn legen, er fühlte sie sich an seinen Körper schmiegen, heiß, sinnlos, zuckend ...

Sein Gehirn taumelte. Er fing an zu sprechen, leise, flüsternd. Er bebte am ganzen Körper. Seine Hände irrten unstet.

Ihre bettelnde Hand umkrallte die seine, zerwühlte fiebrig seine Finger und kratzte sie wund.

Da weiteten sich ihre Augen und sie sah ihn an mit einem Blick: ihre Seele verblutete in Angst und Verzweiflungsschmerz.

Er schwieg.

Beide kamen zum Bewußtsein.

Das Gespräch stockte. Sie sprachen gleichgültig über gleichgültige Sachen, von Zeit zu Zeit schwiegen sie lange, und dann kam es wieder von Neuem, ohne daß sie wußten, wer zuerst angefangen hatte.

– Und erinnerst Du Dich, Agaj, einmal als wir badeten? Ich habe Dir beim Auskleiden geholfen. Du hast Dich plötzlich gesträubt, und wurdest so furchtbar rot ... He, he: wir waren eigentlich keine Kinder mehr. Und mit einem Ruck empfand ich eine so grenzenlose Liebe zu Dir ... erinnerst Du Dich? Wir warfen uns in den Sand und preßten uns so wild aneinander, daß wir Beide vor Schmerz aufschrien. Dann nahm ich Dich auf meine Arme und trug Dich in's Wasser. Du warst so übermütig, wie es nur ein Weib sein kann, das plötzlich fühlt, daß es geliebt wird. Ich sollte Dich schwimmen lehren, aber Du sankst immer unter ... O Gott, jetzt, jetzt seh ich Dich wieder als die herrliche Agaj von zwölf Jahren, die mich so sinnlos geliebt hat. Jetzt siehst Du mich wieder so gut, so innig an, wie Du mich früher immer angesehen hast. Du höhnst nicht mehr, Du bist nicht mehr boshaft, und jetzt bin ich wieder Dein Hund, ich bin wieder Deine Sache, Du kannst mit mir machen, was Du willst, Du kannst mir die Seele aus dem Leibe reißen, und ich werde Dir noch dankbar sein dafür, weil Du, Du es bist ...

– Quäl' mich doch nicht, quäl' mich nicht so unerhört! flehte sie plötzlich.

Er lehnte sich zurück. Sein Kopf brannte. Seine Zunge war trocken und ein dicker, schleimiger Speichel sammelte sich in seinem Mund.

– Das ist furchtbar! hörte er sie leise sagen.

Der Abend kam, es wurde allmählich dunkel.

Sie saßen dicht aneinander gekauert.

– Es ist dunkel, sagte sie.

– Ja, es ist dunkel.

– Siehst Du den Mond durch die Zweige bluten?

– Still! still!

Lange sprachen sie kein Wort.

Sie preßten sich noch enger an einander, noch fester, sie umklammerten sich, und in ihrem Schweigen, in ihrer Umarmung war Schmerz.

Plötzlich riß sie sich los.

– Jetzt geh ich nach Hause, sagte sie hart.

Er fuhr rasend auf.

– Wenn Du jetzt gehst, jetzt – jetzt ... dann ... dann ... wirst Du mich nicht mehr sehen.

Eine entsetzliche Angst zitterte in seiner Stimme.

– Agaj! Wenn Du nur eine Spur von Liebe hast, so geh nicht jetzt, ich werde wahnsinnig ...

– Wir haben wieder Deine Frau vergessen, lachte sie hart.

– Machst Du mir einen Vorwurf aus meiner Frau? Ich werde sie nie mehr sehen, wenn Du es willst, ich werde sie vergessen, wenn Du es befiehlst ...

– Gott, wie krank Du bist! höhnte sie.

– Ich bin nicht krank. Ich liebe Dich. Ich – ich ... Du Agaj verlaß mich nicht, Du wirst es bereuen, es wird schlimm mit mir werden.

Er flennte wie ein Kind.

– Nun fängst Du an, sentimental zu werden. Sie lachte heiser auf.

In einem Nu kroch seine Seele zusammen. Als erstarrte Alles in ihm zu Eis.

Er sah sie lange sprachlos an, dann setzte er sich wieder.

Sie betrachtete ihn mit einer grausamen Neugierde.

Sie schwiegen sehr lange.

– Kann ich Dich begleiten, oder willst Du allein nach Hause gehen? fragte er trocken.

– Ich werde allein gehn. Geh' Du auch, Du bist ernstlich krank.

– Was ich zu tun habe, darüber hab' ich selbst zu bestimmen. Er lächelte gehässig. Sie sah ihn lange an.

– Gott, wie entsetzlich dumm Du bist! sagte sie endlich. Wie ekelhaft seid ihr alle – ihr Männer.

– Ich habe nur Prostituierte so von Männern sprechen gehört. Sie hassen auch den Mann.

– Du bist brutal!

– Du viel mehr.

– Ich hasse Dich! Ich will Dich nie mehr sehen.

– Ich auch nicht.

Aber als sie gehen wollte, faßte er sie an der Hand.

– Verzeih' mir, ich bin krank.

– Ja, ja, fahr nur schnell zu Deiner Frau zurück. Bei ihr wirst Du schon Dein Fieber verlieren.

Sie sah ihn höhnisch an.

– Du willst wohl, daß ich mich zuerst von meiner Frau trenne? Dann wirst Du wohl Mut bekommen? Ha, ha, ha – Wie feig, wie feig Du bist!

Sie schien es zu überhören.

– Du wirst doch wohl endlich einmal die Mutter besuchen? Wie? Sie ist morgen Vormittag zu Hause.

– Nein! Danke!

Sie ging an die Tür.

– Du gehst wirklich, Agaj?

– Ja.

Plötzlich blieb sie stehen. Ihre Augen funkelten in wildem Haß.

– Ist es wahr, daß Du hier ein Mädchen hast, ein Kind noch, wie Du sagtest?

– Ja, ich habe mir meine, verstehst Du? meine frühere Agaj aufgesucht.

– Das ist ja wundervoll! Oh, wie ich Dich hasse!

– Verrate Dich doch nicht immer!

Sie machte die Türe auf.

– Du, Du, Agaj, warte ein wenig ... Ich habe Dir etwas Interessantes zu sagen. Er lachte boshaft, ging auf sie zu und flüsterte ihr leise ins Ohr:

– Weißt Du, daß Du heute Nacht bei mir in meinem Bette lagst?

Sie stieß ihn zurück und verschwand.

Er wurde ganz ruhig.

Nun war Alles vorüber. Nun mußte er nach Hause gehen. Und er konnte zu seiner Frau fahren, ohne Agaj ein Wort zu sagen.

Er trat auf die Straße.

Der Tag war zu Ende. Es war schon ganz dunkel, und aus dem Dunkel mühten sich die Glutaugen des elektrischen Lichtes hervor.

Menschen gingen in großen Scharen an ihm vorüber. Sie gingen wohl in's Theater.

Er lächelte.

Der Weg ging durch einen Park. Kein Mensch. Eine starre, öde Stille.

Er ging ganz langsam. In seinem Körper war wohl nicht ein Muskel, der ihn nicht schmerzte.

Plötzlich bemerkte er eine schwarze Masse, die auf ihn zuzugleiten schien, er sah nicht, daß sie ging.

Er blieb erstarrt stehen.

Die schwarze Masse war einen Schritt von ihm entfernt und blieb auch stehen.

In sinnloser Angst sah er hin.

Aus dem Dunkel quoll leuchtend ein Gesicht hervor mit gräßlich verzerrten, entstellten Mienen und qualvoll aufgerissenen, blutigen Augen.

Das war er selbst!

Das Gesicht schien sich zu bewegen, es öffnete den Mund, bewegte ihn, einen Schrei hörte er gellen ...

Er stürzte sich in Wahnsinn auf den Andren los.

Aber die schwarze Masse schien zurückzuweichen und blieb wieder stehen.

Die Augen rissen sich noch weiter auf – über das Gesicht glitt ein höhnendes Grinsen.

Er wollte zur Seite weichen, der Andre verstellte ihm den Weg.

Die Augen sogen sich gierig ihm in's Blut – seine Augen. Sie starrten ihn an, dann sah er den Andren langsam näher rücken, noch näher, das Gesicht berührte fast das seine: er schrie auf, schloß die Augen zu und fing an zu laufen, sein Kopf dröhnte, klopfte, barst: er stürzte hin.

Als er zu sich kam, schleppt' er sich zu einer Bank und setzte sich hin.

Ein Paroxysmus von wüstester Verzweiflung raste durch seinen Körper.

Das ist Wahnsinn! zuckte es ihm durch's Gehirn.

Er fühlte den Andren hinter seinem Rücken.

Er stand auf und fing an zu gehen, sein Herz schlug nicht mehr. Die Verzweiflung kippte um in ein blödes, irres Brüten.

Er glaubte Schritte zu hören. Es war da. Dicht hinter ihm.

Plötzlich verlor er das Bewußtsein. Er hörte nichts, und empfand nichts mehr.

Als er nach Hause kam, setzte er sich im Speisezimmer vor den gedeckten Tisch, stützte seinen Kopf mit beiden Armen und verfiel in einen brütenden Halbschlaf.

– Wollen Sie etwas essen?

Er sah entsetzt auf, starrte lange gedankenlos hin, endlich erkannte er das Dienstmädchen.

– Wollen Sie etwas essen? wiederholte das Mädchen und sah ihn mitleidig an.

Er schüttelte den Kopf und starrte sie unaufhörlich an.

– Sie sind sehr krank, sagte sie endlich. Soll ich den Arzt holen?

– Den Arzt?

– Ja, den Arzt.

Er besann sich lange.

– Nein! Ich will nicht. Lassen Sie mich nur hier sitzen.

Aber sie ging nicht.

– Ich habe Angst, sagte sie nach einer Pause.

– Angst?

Sie nickte stumm.

Er raffte sich auf.

– Nein, nein! Haben Sie keine Angst. Man darf keine Angst haben.

Er faselte und betastete im Sprechen alle Gegenstände.

– Es ist die zweite Seele, die Angst hat, und ich liebe die Menschen, die eine zweite Seele haben.

Er fing an im Zimmer herumzugehen und sprach unaufhörlich.

Das Mädchen sah ihn mit steigendem Entsetzen an.

– Ihre Schwester war vor einer halben Stunde hier, rief sie in ihrer Angst.

Er horchte plötzlich auf.

– Meine Schwester?

Das brachte ihn wieder zur Besinnung.

Er setzte sich hin, aber von Neuem versank er in ein stumpfes Grübeln.

Plötzlich fuhr er wild auf.

– Ist hier Niemand außer uns Beiden?

– Nein, nein, stammelte sie und wich zurück.

– Aber hier – hier ... Sehen Sie nicht? Fühlen Sie nichts?

Er sprang hoch wie von einem Krampf emporgeschnellt. Seine Augen waren geschlossen.

Plötzlich riß er gewaltsam die Augen auf: er sah das Mädchen totenblaß sich an einem Stuhl halten.

Er empfand eine tiefe Scham, starrte sie lange an und versuchte, freundlich zu lächeln.

– Ja, ja, Sie haben Recht. Ich bin krank. Vielleicht sehr krank ...

Er dachte lange nach.

– Vielleicht sollen wir an meine Frau telegraphieren, daß sie sofort kommen solle? ..

Das Mädchen atmete glücklich auf.

– Ja, ja, tun Sie das nur. Schreiben Sie nur das Telegramm. Ich werde auf die Post laufen.

Sie lief umher und suchte nach Tinte.

– So. Hier ist Alles ... schreiben Sie nur schnell. Es ist bald zehn Uhr.

Da kam es ihm plötzlich vor, daß nun Alles vorüber sei. Er fühlte sich mit einem Mal so klar und so stark.

Er war erstaunt über dies Wunder.

– Nein, nein, es ist nicht nötig, wir wollen noch bis morgen warten. Übrigens bin ich sehr müde. Ich werde mich jetzt schlafen legen. Ich fühle, daß ich sofort einschlafe.

In der Tür blieb er stehen.

– Wenn ich in der Nacht weggehen sollte, so ängstigen Sie sich nicht. Ich werde nämlich, wenn es schlecht geht, einen Arzt aufsuchen.

Er trat in sein Zimmer und setzte sich auf das Sofa.

Sein Gehirn war noch immer klar. Vielleicht war das mit dem zweiten Gesicht nur eine Fieberkrise, und jetzt würde er wieder gesund werden, dachte er.

Er grübelte.

Er erinnerte sich plötzlich an den Abend, an dem sein eignes Portrait einen so furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Er wurde glücklich.

Diese Erinnerung rettete ihn. Alles wurde ihm klar: im Unbewußten war der Eindruck stecken geblieben, und nun drang er nach Außen unter dem Einfluß des Fieberparoxysmus.

Ein jauchzender Jubel weitete sein Gehirn. Er hatte Lust sich auf die Knie zu werfen und Gott zu danken für die Erlösung.

Er ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab.

– Gott! Was ist das? schrie er plötzlich auf.

Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt Papier und darauf in flüchtiger, unsicherer Schrift ein Telegramm an seine Frau:

»Komm sofort. Es geschieht etwas Furchtbares mit mir!«

Es war seine eigne Schrift.

Eine dumpfe tierische Angst wirbelte in ihm auf: er hatte die ganze Zeit nicht ein Wort geschrieben. Er wußte genau, daß er eine Feder nicht angerührt hatte.

Er sank hin, aber immer wieder mußte er auf das entsetzliche Blatt hinstarren.

Kein Mensch außer ihm konnte es geschrieben haben. Das war seine eigne Schrift.

Da fingen plötzlich die Buchstaben an, sich zu rühren, sie lösten sich von dem Papier los, sie wurden lebendig, schwirrten vor seinen Augen in irren Kreisen, Alles um ihn fing an, sich zu bewegen: er warf sich lang auf die Erde und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Seele kauerte: jetzt wird es kommen. Er fühlte sich eingeengt, die Wände rückten näher, Alles im Zimmer schob sich ihm näher, umstellte ihn, versperrte ihm den Ausgang. Er kroch eng in sich zusammen.

Vor seinen Augen stieg das furchtbare Portrait auf, es wuchs über den Deckel hinaus, schon schielte es aus dem Buch hervor, schon zwinkerte es boshaft mit den Augen.

Er sprang auf: vor ihm stand er selbst. Das Gesicht war schmerzzerfurcht und die blutigen toten Augen starr auf ihn gerichtet.

Er war wie eingewurzelt in den Boden.

Da sah er sein Gesicht zucken, alle Muskeln liefen, alle Fibern klopften, die Zähne schlugen hörbar aneinander, die Augen schlossen sich krampfhaft und rissen sich wieder weit auf: er stürzte aus dem Zimmer, als wäre er von tausend Furien gepeitscht, lief über die Straßen aufs Feld, weiter noch in den Wald hinaus: er stürzte zusammen.

– Was nun? Was nun? zuckte es unablässig in seinem Gehirn, da verlor er die Herrschaft über sich, vergrub sich in das feuchte Moos, tiefer noch, er verscharrte sich in die weiche Erde: nun war er geborgen!

Er lachte in heißem Triumph, dann schrie er mit allen Kräften auf: er hörte sich, er fühlte auch einen heftigen Schmerz in der Lunge: er besann sich lange auf sich selbst. Ja, er hatte geschrien! Er versuchte, die Ursachen seines Lungenschmerzes herauszufinden ...

Da rüttelte sich sein Gehirn auf. Er setzte sich hin und dachte nach. Jetzt fühlte er nichts mehr: nur eine weite, blöde Ruhe. Er suchte sich Rechenschaft über seine Gedanken zu geben, er fühlte etwas mühsam in seinem Gehirn arbeiten: er wußte nicht, worüber er dachte, er suchte sich qualvoll darauf zu besinnen, aber vergebens.

So saß er in einer stumpfen Resignation. Er wußte nicht, wie lange er so saß.

Plötzlich fühlte er Fieberfrost, so heftig, daß er seinen Körper nicht bemeistern konnte, er drohte auseinander zu fallen.

Er stand auf, fing an zu laufen und schlug den Körper mit den Armen, so hatte er immer als Knabe getan, wenn ihn gefroren hatte.

Dann lief er wieder im Kreise herum und schlug dabei immer mit den Armen auf die Brust.

Mit einem Ruck blieb er stehen.

Das Kind! Mein Kind! schrie er auf. Mein Kind wird mich retten, es wird mich retten – mein Kind, mein Kind, mein Blut!

Er horchte: eine öde, taube Stille.

Wo war er? wo war er nur?

Angst packte ihn.

Er lief auf das freie Feld hinaus.

Ein blutiger Schein am Himmel! Der Himmel brennt, zuckte es ihm durch den Kopf. Götterdämmerung! Jetzt wird der Menschensohn heruntersteigen, um das Gericht zu halten.

Er stand und starrte unablässig nach dem Feuerschein am Himmel.

Eine Erinnerung mühte sich qualvoll aus der Nacht seiner Seele.

Er atmete glücklich auf: dort lag die Stadt. Und dies da am Himmel – das ist ja der Schein des elektrischen Lichtes.

– Mein Kind, mein Weib, meine Erlösung! fuhr es ihm wieder durch das Gehirn.

Er schnellte auf. Eine unerhörte Energie ergoß sich über seinen Körper. Er schritt mit weiten, triumphierenden Schritten der Stadt zu.

Oh, er kannte seine Erlösung, er kannte die Sonne, die in seinen Wahnsinn mit reinigender Macht hinabtauchte.

Plötzlich packte ihn ein furchtbares Grauen: Gott! Allmächtiger Gott, wenn sie nicht da ist?

Er fing an zu laufen, er vergaß seinen Körper. Er selbst war nur ein großes, klopfendes Herz, er fühlte es den Boden berühren und in wilden Sprüngen aufschnellen; er kam in die Stadt.

Da schlich er langsam wie ein Dieb: er fühlte, daß sein Ende komme, wenn sie nicht da sei.

Schließlich kroch er fast. Er wagte nicht an das Denkmal heranzukommen: er sah es in dumpfer Stille aufragen, kalt, grausam wie sein Schicksal, er sah es sich in einen großen Dunstkreis auflösen, der zu schwirren und zu kreisen anfing, er fühlte den Boden sich um ihn drehen, heftiger, schneller noch, er taumelte ... da plötzlich: aus den kreisenden Dunstringen quollen ihm zwei Augen.

Eine unermeßliche Freude zerriß ihm mit flackerndem Licht das Gehirn: er klammerte sich um ihren Arm, er preßte sie an sich, zerrte an ihr, streichelte, liebkoste sie und lachte in irrer Seligkeit.

Nun war alles Furchtbare versunken und vergessen: er hielt sie fest, er wagte nicht ihren Arm loszulassen.

– Ich habe gestern auf Dich gewartet, die ganze Nacht, sagte sie leise.

Er zitterte und konnte kaum gehen: die Freude hatte ihn gelähmt.

– Jetzt bin ich erlöst. Durch Dich – durch Dich! Er kicherte. Ich hätte heute sterben müssen, aber jetzt bin ich erlöst. Du hast mich wiedergeboren, sagte er grübelnd.

Sie sprach etwas.

– Ein Vampir? hörte er heraus.

Er blieb erschreckt stehen.

– Aber weißt Du nicht, daß wir nur durch einander wiedergeboren werden? sagte sie geheimnisvoll.

– Du – Du ... auch? stammelte er.

Sie antwortete nicht.

– Bist Du hier? Hier? fragte er entsetzt. Er betastete sie mit der Hand.

– Bist Du da? fragte er wieder.

Er fing an zu stottern und zu zittern.

– Ja, ich bin hier. Ich fasse jetzt Deine Hand. Fühlst Du sie? Oh, wie Deine Hand brennt!

Er beruhigte sich.

– Bist Du Agaj? fragte er nach einer Weile.

– Ist das Dein Vampir?

Er nickte stumm.

– Du bist nicht Agaj? fragte er wieder nach einer langen Pause.

– Nein!

Endlich kamen sie an.

Diesmal kam es ihm vor, als ob sie durch eine endlose Flucht von Korridoren gingen, durch eine trostlose, verlassene Öde von Zimmern. Er hörte das leise Echo seiner Schritte, wie ein rhythmisches, taubes Herzklopfen.

– Ich habe nicht Angst! sagte er plötzlich.

Eine lange Zeit verging.

– Hier! sagte sie endlich.

Er atmete auf.

– Oh! Ich bin so fürchterlich müde! Er konnte nicht unterscheiden, war es seine, war es ihre Stimme?

Er fing an zu zittern.

– Ich bin bei Dir! Sie hielt seine Hand fest.

Nie hatte er eine so dunkle Stimme gehört. Das war Agaj's sammetdunkles Fleisch.

Sein Herz krampfte sich zusammen.

– Sprich, sprich zu mir! er preßte ihre Hand.

– Du bist so krank, Du bist so krank, wiederholte sie leise und preßte ihre Wange an seine.

So saßen sie lange, lange auf dem Rand des Bettes.

Er wurde ruhig und weich wie ein Kind.

– Wie gut Du bist! Wie unendlich gut! flüsterte er auf ihre Lippen.

– Jetzt leg Dich hin. Ich werde bei Dir schlafen. Ich werde Dich halten. Sieh', sieh', Du bist jetzt so ruhig, Dein Fieber ist weg.

Sie entkleidete sich und legte sich neben ihn.

– Ich werde Dich in meine Haare einwickeln, flüsterte sie und machte ihr Haar auf ... Mein Haar ist so lang, es reicht mir über die Knie ...

– Dein Haar ist weich wie Seide! Oh, viel weicher noch.

– Ist Dein Haar schwarz? fragte er nach einer Pause.

– Nein!

– Sind Deine Augen schwarz?

– Nein!

– Sie schwiegen lange.

– Ich werde Dich auf Deine Brust küssen, sagte sie plötzlich. Deine Brust glüht, und meine Lippen sind so kühl.

Sie küßte ihn.

– Noch, noch! bat er flehend.

Sie küßte ihn über die ganze Brust, dann verschränkte sie ihre Hände um ihn, das Haar ergoß sich in seidener Flut über seinen Körper, sie legte ihren Kopf an seine Brust.

– Du wirst nicht von mir gehen? fragte sie ängstlich.

– Nein, nein ... oh', jetzt ist Alles vorüber.

*

Nun war es wohl Mittagszeit. Er fühlte, daß er jetzt endlich werde etwas essen können. Das machte ihn glücklich. Nun war er auch Agaj los.

Er lächelte. Er lächelte jetzt immer still und geheimnisvoll.

Es klingelte.

Er schrak empor und begann zu zittern.

Das war sie! Ja, sie! Er fühlte sie.

Agaj trat ein. Ihr Blick fraß sich ihm in's Mark.

Sie setzte sich ihm gegenüber und sagte lange kein Wort.

Plötzlich warf sie den Kopf auf und sagte höhnisch:

– Wo hast Du Dich denn gestern vor mir versteckt?

– Ich habe mich gar nicht versteckt, sagte er ruhig. Ich wollte Dich einfach nicht mehr sehen.

Er erschauerte. Aus der Hölle der abgründigen Augen dieses Weibes schoß ein kranker Haß hervor.

– Du warst die ganze Zeit bei dem Mädchen! Er glaubte ein Knirschen zu hören ... Du warst bei ihr die ganze Nacht und gestern ... sie brach plötzlich ab.

– Ja, ich war bei ihr. Er lachte boshaft. Berührt Dich das eigentlich? Ha, ha, Du bist ja eifersüchtig.

– Ich erlaube Dir nicht, ich will nicht, daß Du ein fremdes Weib berührst, ich will es nicht, verstehst Du, ich will es nicht!

Sie schrie es mit kurzen, gedämpften Schreien.

Er ließ den Kopf sinken und stützte ihn mit beiden Händen.

– Meine Seele ist scheu und schamhaft, sagte er langsam und sehr leise. Du hast sie scheu gemacht. Du warst roh ... sieh, ich bin einmal auf der Straße gegangen, und da fühlt' ich mich nur als ein großes klopfendes Herz. Das ist ein Symbol für mein ganzes Wesen. Ich bin auch in Wirklichkeit nur ein großes klopfendes Herz. Und dieses Herz hat eine entsetzliche Scham. Die Scham ist das kalkige Gehäuse, in das sich ein solches Herz für immer wie eine Schnecke verkriechen kann. Die Scham macht kalt und scheu und hat Ekel vor den Menschen. Jetzt fühl' ich kein Herz mehr, es ist verborgen, es schrumpft zusammen, es verkroch sich in dem Kalkgehäuse ...

Er sah zu ihr auf. Er glaubte in ihren Augen große Tränen zu bemerken. Er war nicht sicher.

Wieder ließ er den Kopf sinken.

– Sieh' jetzt zum Beispiel. Ich glaube, ich habe Tränen in Deinen Augen gesehen, aber selbst meine Scham ist scheu, sie glaubt nicht an Deine Tränen.

Da sank sie ihm plötzlich zu Füßen. Sie faßte seine Hände und küßte sie in einer Tollwut von Leidenschaft.

Sie wühlte ihn auf mit ihrer heißen Gier, mit den bettelnden Küssen, seine Leidenschaft kroch wieder hervor, drängte sich wütend in jeden seiner Nerven.

Aber er beherrschte sich mit einer unnatürlichen Macht und entzog ihr leise seine Hände.

Da warf sie sich auf ihn, klammerte sich an ihn, biß sich in ihm fest, erstickte ihn mit ihrer kranken Raserei.

Es schwindelte ihn. Kopfüber stürzte er sich in diese Hölle von Glück und Grauen.

– Du – Du liebst mich? stammelte er mühsam.

Sie hing an seinen Lippen. Sie sog an ihnen, sinnlos, gierig, sie konnte sich nicht sättigen.

Da sprang sie plötzlich auf, sie kochte vor Wut.

– Du bist ja kalt, kalt! ... Man muß Dich erobern ... Ihre Stimme bebte und war heiser. Ha, ha ... wir haben die Rollen vertauscht. Du bist jetzt ein Weib. Ha, ha, ha ... es ist wohl pikant, sich einmal als Weib zu fühlen? ...

Sie biß ihn mit dem ätzenden Hohn. Er starrte sie an, dann wurde seine Seele stumpf. Er sah sie nur dastehen mit dem breiten, gespreizten Hohn.

– Und, und ... sie stockte ... Was hab' ich mit Dir zu tun? Geh' doch zu Deinem Mädchen, schrie sie rasend auf.

Er bemerkte plötzlich, daß sie ein graues Kleid an hatte.

– Warum hast Du nicht Dein schwarzes seidenes Kleid an?

Sie sah ihn erstaunt an. War er wirklich krank? Spielte er Komödie?

– Das reizt Dich zu sehr auf, sagte sie endlich frech. Du darfst Dich nicht aufregen. Deine Nerven sind zu schwach für den sexuellen Erethismus, in dem Du ewig lebst. Das reibt Dich auf.

Er sagte kein Wort.

Sie schwiegen lange.

Plötzlich stand sie auf und trat dicht an ihn heran.

– Du kommst heute um zehn Uhr Abends zu mir, sagte sie scharf. Die Mutter ist verreist.

– Ich komme nicht! fuhr er rasend auf.

– Du kommst! wiederholte sie lächelnd.

Eine Tollwut kam über ihn.

– Ich schwöre Dir, daß ich nicht komme, schrie er heiser auf. Ich schwöre! er stampfte mit den Füßen.

– Du kommst! sagte sie sehr ernst.

Die Wut zersprengte ihm sein Gehirn. Er hatte eine tierische Lust, dies Weib zu morden. Es schrie etwas in ihm dies Wort: Morden! Die Sinne vergingen ihm. Ein Schwindelgefühl wirbelte wie ein feuriges Feuerscheit in seiner Seele. Er ballte die Fäuste und ging auf sie zu.

– Du wirst heute um zehn Uhr zu mir kommen, sagte sie leise und ging aus dem Zimmer.

– Ich werde nicht! brüllte er auf und warf sich auf den Boden. Die Seele war ihm aufgerissen und blutete aus tausend Wunden. Er wälzte sich auf dem Boden und vergrub in wütender Ohnmacht seine Hände in den Teppich.

Mit einem Mal entdeckte er ihn wieder, ihn – sich selbst.

Sein Blut stockte, er fühlte ein Stechen und Prickeln in den Haarwurzeln, er war gebadet in Angstschweiß.

Er kroch wie ein Tier auf Händen und Füßen in eine Ecke und starrte unverwandt hin: dies gräßliche verzerrte Gesicht! Sein eignes Gesicht.

Er schloß die Augen und drückte sich krampfhaft an die Wand.

– Jetzt würde er es nicht mehr los werden. Er mußte sich daran gewöhnen.

Er fing an, lange und leise vor sich hin zu stammeln.

Er wurde plötzlich neugierig auf sein Gesicht, er machte die Augen auf: es war verschwunden.

Aber er fühlte es um sich. Es war da. Es füllte das ganze Zimmer. Er war wie eingehüllt in sich selbst.

Eine unendliche Verzweiflung senkte sich ihm langsam fressend und zerstörend in die feinste Pore seines Organismus.

Da schnellte er auf und fing an wild zu lachen. Sein Lachen kreilte ihm wie ein tierisches Wiehern in den Ohren.

– Gut, gut, ich habe nichts dagegen, durchaus nichts dagegen. Jetzt werd' ich nie mehr einsam sein. Immer Gesellschaft, immer Gesellschaft! In meiner eigenen Gesellschaft! He, he ... kann ich eine bessere bekommen?

Mit einem Ruck wurde sein Gehirn gelähmt. Sein Bewußtsein schwand.

Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer.

Er sprang auf in wilder Hast. Es war schon halb zehn. Ohne eine Sekunde zu überlegen, lief er zu Agaj.

Vor dem Hause blieb er stehen und lächelte. Er sprach sehr freundlich mit sich selbst und ging hinauf.

Sie stand zitternd vor der Tür.

Er sah Alles mit einer übernatürlichen Deutlichkeit. Hektische Flecke glühten auf ihren Wangen: sie waren eingefallen. Sie atmete unruhig, sie rang nach Atem. Sie stand vor ihm in einem schwarzen seidenen Ballkleide, auf den nackten Armen hatte sie lange rote Handschuhe, die über die Ellenbeuge reichten.

– Sieh', sieh' mich an. Ich habe mich für Dich geschmückt. Du liebst mich so, sag' es, sag'!

Sein Gehirn kam in einem Nu in's Gleichgewicht. Er fraß an diesem schlanken Leib.

– Wie schlank Du bist, murmelte er leise. Wie ein Panther ... wie ein glänzendes, geschmeidiges Tier ... Und wie Du Dich bewegst! ...

– Küß' mich hier – hier! sie zeigte auf den nackten Arm. Du hast seit zehn Jahren meine Arme nicht nackt gesehen.

Sie lachte hysterisch.

– Ich gebe Dir heute das Abschiedsfest. Ich reise heute Nacht weg, weit weg aufs Meer.

– Auf's Meer? wiederholte er dumpf. Es kam ihm so selbstverständlich vor, daß sie aufs Meer wollte.

– Komm, komm, setz Dich! Hier ist viel, viel Wein! Wir werden trinken heute ...

Sie lachte lange, dann beugte sie sich zu ihm, legte den Kopf auf seine Brust und flüsterte leise:

– Ich gebe auch mir das Abschiedsfest. Ich komme nie wieder zurück ... Gib, gib mir Deine schmalen Knabenhände, Deine teuren, goldnen Hände ... Oh, wie ich sie liebe! Sieh' ich bin Deine Agaj, – die Agaj, die Dir wie ein Hund folgte, die sich wie eine Katze an Deinem nackten Leibe rieb ... Ich – ich fühle Dich so deutlich hier, hier, an meinem ganzen Körper fühl' ich Dich ... Und meine Seele ist so stolz ... Nie sah ich einen Mann außer Dir. Ich weiß nicht, wie sie aussehen. Es kamen so viele her, aber ich wußte nicht, daß sie Männer sind – das waren Hunde, Gegenstände, geschlechtslose Neutra. Nur Du – Du immer vor meinen Augen, immer um meinen Leib ... Und sieh, meine ganze, unbefleckte Seele, sie gehört Dir, immer hat sie Dir gehört ... Nicht eine Sekunde schlich sich dahinein der Gedanke an einen Anderen ... Bist Du nicht stolz auf eine solche Seele? Bist Du nicht stolz auf einen solchen Besitz? Ich bin an Dir emporgewachsen – in der schwülen Treibhaushitze Deines Leibes, Deiner Seele, Deines Pulsschlags bin ich groß geworden ... Ich atmete Dich, ich ging wie eingewickelt in Dich ... Du, Du ... mein Blut, mein Mann Du!

Sie wühlte sich mit ihrem Kopf in seine Brust, dann lachte sie still auf.

– Aber trink, trink doch!... Was meinst Du, wenn wir uns heute ganz und gar betränken? Sie kicherte vergnügt, wie ein Kind. Erinnerst Du Dich, wie wir einmal bei unserem Onkel waren, und uns in seinem Weinkeller einschließen ließen? Gott war das furchtbar! Wie?

Sie tranken sich zu und leerten die Gläser, dann nahmen sie sich an den Händen.

– Agaj, Agaj, – ich kenne Dich nicht wieder. Du bist, wie Du früher warst ...

Sie starrte wie abwesend vor sich hin.

– Du, du ... sagte sie leise. Jetzt sind wir wieder eingeschlossen in einem dumpfen Keller ... Huh, wie grausig!

Sie kicherten Beide.

– Und Du – Du, mein Liebling ... Huh, huh, die Nacht, die Nacht! Hörst Du die Eulen? Hörst Du die Fledermäuse gegen die Fenster schlagen? Und die gräßlichen Kröten, die im Keller herumkriechen ...

– Hu, hu, kicherte er irrsinnig.

– Sind wir vielleicht Beide wahnsinnig? fragte sie plötzlich ängstlich ... Aber das ist ja jetzt gleichgültig ... Du, Du, küß mich hier ... sie knöpfte hastig ihre Taille auf ... Das hast Du einmal vor zehn Jahren getan. Das gießt sich wie flüssiges Feuer über den ganzen Körper. Die Schauer kriechen wie lange, kalte Schlangen über den Leib ...

Sie verstummte und zitterte heftig. Er küßte sie mit kranker Leidenschaft auf ihre Brust.

– Noch mehr! Sie war ganz von Sinnen.

Er zerriß ihr Hemd und sog an ihrer Brust.

Sie zuckten. Eine zerstörende Wollustekstase riß ihnen die Nerven entzwei.

Sie schrie plötzlich leise auf.

– Laß', laß', keuchte sie heiser. Mein Kopf birst ...

Sie warf sich von ihm weg, aber im nächsten Moment setzte sie sich wieder dicht an ihn heran.

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, drückte ihn fest an ihre Brust und flüsterte ihm leise in's Ohr:

– Wenn wir jetzt stürben ...

Aber im selben Nu rückte sie wieder von ihm weg und lachte.

– Oh Du! Du! Warum sagst Du mir jetzt nicht, daß ich sentimental bin? Du hattest jetzt eine so prachtvolle Gelegenheit, Dich an mir zu rächen. Oh ja, Du verschmähst es – Deine Seele ist groß und schön. Ich liebe Deine Seele, ich liebe die tiefe Schwermut Deiner Seele, ich liebe die Tiefe und den Abgrund in Dir. Alles wächst zu einem endlosen Abgrund in Dir, Alles in Dir wird so furchtbar tief und schmerzhaft. Du bist mir so heilig mit Deinen Visionen. Sag', sag', hast Du oft Visionen? Du, Du bist der Einzige, der Qual und Schmerz in sich hat! Und Du wehrst Dich nicht dagegen, Du wehrst Dich nicht gegen den Schmerz, Du liebst ihn auch, wie ich ... Oh, laß', laß' mich Alles sagen. Ich habe so gedürstet, ich habe so gelechzt, Dir dies Alles zu sagen ... Ich liebe Dich, weil es Dich ekelt vor Glück ... Ich liebe Dich, weil Du die Vernunft hassest und Dich tausendmal lieber in den Abgrund stürzest ...

Sie hing sich ihm um den Hals und rieb langsam ihr Gesicht an dem seinen.

– Und Du liebst mich jetzt. Ich fühle wie grenzenlos Du mich liebst. Deine Seele klopft mir entgegen, Dein Blut fließt in meine Adern über, und Dein Geist strömt in mich über, Dein Geist mit der ganzen Hölle von Schmerz, mit der abgründigen Tiefe von Qual. Hörst Du mich sprechen? Hörst Du Dich in mir sprechen? Du hast mich sprechen gelehrt, Du hast Deine Worte in meine Seele gepflanzt ...

Sie wiegte sich leise an seinem Körper.

– Und ich hasse die Vernunft. Ich habe keine Vernunft. Ich habe Ekel vor der niedrigen bürgerlichen Vernunft, die den Schmerz wie die Pest fürchtet ... Kleine, besorgte Bürgerfrauen, kleine Bürgerfräulein haben Vernunft ... Oh, wie sie vernünftig sind! ...

Sie kicherte leise.

– Nicht wahr? Kleine Bürgerfräulein, die in kleiner, enger, vernünftiger Atmosphäre aufgewachsen sind, die müssen wohl vernünftig sein ... Ha, ha, ha ... Aber ich bin das Kind Deines Geistes ...

Sie waren Beide wie verzückt. Sie kamen in einen Zustand von einer visionären, somnambulen Ekstase, ihre Seelen wogten in einander über.

Sie schwiegen, eng aneinander gepreßt.

– Oh, ich hätte es nie gedacht, daß es so unendlich gut ist in Deinen Armen ...

Wieder Schweigen.

Plötzlich rückte sie von ihm weg.

– Du – Du ... warst Du wirklich bei dem Mädchen?

– Wie?

– Warst Du bei ihr?

Er raffte alle seine Kräfte zusammen ...

– Nein!

– Du lügst, sagte sie traurig ... aber ich bin Schuld daran ... war ich roh zu Dir?

– Nein, nein ... Nein, Du warst es nicht ... Du bist mein, Agaj ... Du ... Du ...

Er sank an ihr nieder und küßte ihre Füße.

Sie nahm ihn auf, hielt seinen Kopf in den Händen und sagte wie irrsinnig:

– Das ist das Ende vom Liede ...

– Das ist das Ende vom Liede, wiederholte er.

Lange Pause.

– Aber nicht zusammen ...

– Wie?

Sie lächelte irre.

– Nicht zusammen ... Verstehst Du mich nicht?

Er dachte nach.

– Warum nicht?

– Wir würden einander stören.

– Ja.

Lange Pause.

Sie fuhr auf.

– Nein! wir wollen nicht traurig sein! Trink, trink!

Sie tranken hastig.

Und wieder saßen sie lange, dicht an einander gekauert.

– Hör' Agaj, gibt es keinen Ausweg?

– Nein! Jetzt nicht mehr.

– Und ... und, wenn wir Beide wegfahren und, – wenn Alles wie ein Alp abgeschüttelt ist? ...

– Ich kann nicht Dein sein!

– Warum nicht?

– Ich weiß es nicht ... Nein, es geht nicht ... Sprich nicht darüber, es ist nutzlos, sagte sie müde.

– Ist es Vernunft?

– Nein, nein! Ich habe Ekel vor der Vernunft. Es ist etwas, was ich nicht kenne. Ich sehne mich bis zum Wahnsinn nach Dir ... Du bist der größte Mensch, den ich kenne, Du bist mein größter Künstler, und ich würde mit Freude Deine ganze herrliche Menschlichkeit, Deine ganze gewaltige Kunst für ein Stück Deiner nackten Haut geben ... Sieh', sieh meine Arme, sie sind so schmal, aber sie haben Muskeln von Stahl ... Wie oft hab ich Dich nicht mit diesen Armen in meinen Nächten umfaßt und an mich gepreßt! ... Sieh meinen schmalen Körper, wie oft hat er sich nicht über den Deinen gewunden! ... und, und ... sie stotterte verwirrt ... im letzten Momente trennt uns etwas, reißt uns auseinander ... Das ist wohl dasselbe Blut ... Fühlst Du es nicht?

– Ja, jetzt fühl' ich es.

Sie raffte sich plötzlich zusammen.

– Ja, Du, Du ... Lach' doch!

Er lachte.

– Sind wir verrückt? fragte sie.

– Ja.

Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Ihre Gesichter verzerrten sich schmerzhaft.

– Geh', geh', flehte sie schluchzend. Der Wahnsinn kommt, der Wahnsinn kommt ... Geh', geh!

– Ich bleib' bei Dir! sagte er hart.

Sie starrte ihn in entsetzlicher Angst an.

– Dein Wille schwillt ... sie kam in eine furchtbare Erregung. Dein Wille schwillt so gräßlich an. Jetzt bekommst Du Macht über mich ... Du bist so gräßlich stark ... Geh', geh' ... mein Kopf kracht und meine Brüste glühen ... Feuer in meinem ganzen Körper.

Sie sank an ihm nieder und umklammerte seine Beine.

Seine Seele brach plötzlich in einer stumpfen Verzweiflung. Das Empfinden hatte sich von seinem Willen losgelöst, er wurde machtlos. Eine dumpfe öde Leere gähnte in seinem Gehirn.

Sie setzte sich auf seinen Schoß, lehnte ihren Kopf an seine Brust und weinte.

Dann nahm sie seinen Kopf, küßte ihn auf den Mund, auf die Augen und sah ihn fortwährend an mit einem Blick, in dem die Verzweiflung in ein brütendes Jenseits vom Schmerze zerbrochen war.

– Jetzt geh', geh!

Er erhob sich mechanisch. Seine Seele war taub.

Sie führte ihn an's Fenster.

– Sieh' das Meer! Wie gut wäre es, mit Dir da unten zu liegen – in Deinen Armen, Deinen Armen ... aber ich liebe Deine Frau. Sie würde den Schmerz nicht überleben ... nein, nein! es müßte furchtbar sein, mit diesem Schmerz an Dich zu denken. Ich muß allein.

– Ja, sagte er nachdenklich.

Sie führte ihn hinunter. Sie traten in den Garten.

Sie blieben stehen.

Plötzlich stürzte sie sich auf ihn, sog sich tief in seinen Hals, biß sich mit den Zähnen fest und riß ihm die Haut auf.

Er stöhnte leise.

Er hörte, daß die Tür zugeworfen wurde, er fühlte einen heftigen Schmerz, er griff mit der Hand nach dem Hals: seine Hand wurde blutig.

Er lächelte.

Sein Gehirn war leer.

Er ging mit weiten, festen Schritten.

– Sie wartet auf mich am Denkmal, schoß es ihm durch's Gehirn.

Er machte eine weite abwehrende Handbewegung und lächelte wieder.

Über seine Seele ergoß sich ein stiller, endlos weiter Triumph.

*

Als er nach Hause kam, machte er mechanisch das Fenster auf, setzte sich auf das Fensterbrett und starrte in die Tiefe.

Jemand ging mit einer Laterne über den Hof.

Das Licht, dies taube Irrlicht in der Tiefe interessierte ihn sehr.

Der Andre war im Zimmer. Er sah ihn grinsen, er sah das fürchterliche, verzerrte Gesicht. Aber er hatte keine Angst mehr. Er zuckte verächtlich mit den Achseln.

Und wenn ich mich in tausend Ich's spaltete, würd' ich doch allein bleiben. Agaj ist ja nicht mehr.

Da ist das Meer – und da unten dieser steinige, gepflasterte Abgrund.

Er wich unwillkürlich zurück und machte Licht an.

Ein Brief auf dem Tisch. Er riß ihn auf. Von seiner Frau.

»Mein Gott, was ist mit Dir? Warum schreibst Du nicht ein Wort? Ich sterbe hier vor Angst um Dich.«

Er lächelte und küßte dreimal den Brief. Dann setzte er sich aufs Bett.

Er empfand wieder einen brennenden, stechenden Schmerz. Er ging an die Waschtoilette und wusch sich die Wunde aus. Sein Rock war über und über blutig.

Er nahm ihn ab. Das sah ekelhaft aus. Dann löschte er das Licht und legte sich aufs Bett.

Plötzlich fühlte er wieder den Menschenknäuel sich heranwälzen. Langsam, wie ein kauerndes Gebetmurmeln. Es kam näher, es schwoll an, wie ein irres Stammeln, dann ging es wie ein röchelnder Marterseufzer durch die Luft.

Und jetzt wieherte es gell auf, ein höllisches Hohngelächter zerriß die Luft, schwoll an, ballte sich zusammen, wirbelte sich in die Tiefe und schoß dann mächtig, jäh empor in einem schreienden Würgegesang:

De profundis ...

Es war wie eine tollgewordne Qual, die die mageren, knochigen Hände aus den Gelenken emporwarf und nach Erlösung schrie.

Und plötzlich, langsam hob sich ein Weib empor in weitem, scharlachrotem Mantel, sie wuchs empor hoch über das ganze Erdenall, auf dem schmerzverzerrten Gesichte ein ödes, versteinertes Lächeln.

Und da sah er den Knäuel sich lösen, einen Strom von Menschen sah er sich rings um das Weib gießen, Menschenpaare in ekelhafter Kopulation mit verrenkten Gliedern, schmerzhaft in einander verflochten und verwachsen. Er hörte ein tierisches Gewieher, berstend in geschlechtlicher Qual, er sah Gesichter verzückt in tollen Wollustorgien, Leiber sah er, zerfressen von Gift, mit eklen Wunden bedeckt, und unten, ganz unten sah er sich selbst mit blutiger, zerquetschter Stirn, mit geballter Faust, zerrissen von einer Verzweiflungsagonie und schreiend, mit berstender Lunge emporschreiend ...

Und aus den lechzenden, gierigen Schreien, aus dem Schmutz und Ekel der geschlechtlichen Orgie, aus all der verreckenden Qual löste sich von Neuem der wahnsinnige Schicksalsgesang von Menschen, die unwissend aufeinandergeworfen, an einander gekettet werden, Menschen, die in einander wachsen und sich nicht lösen können: ein wirbelnder Sturm von Verzweiflungsschreien:

De profundis ...

Er sprang aus dem Bett.

Noch klangen die letzten Töne in seinen Ohren. Sein Gehirn war wirr, vergebens versuchte er einen Gedanken zu fassen.

So saß er lange regungslos.

Das erste Morgengrauen fraß mühselig an dem Dunkel des Zimmers.

– Aber, mein Gott, wo bleibt denn Agaj? fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf.

Er stand auf und blieb mitten im Zimmer stehen.

Ah, Agaj hat sich sicher im Garten versteckt, hinter der alten Pappel ... Sie versteckt sich immer hinter dieser Pappel.

Er kicherte und schlich leise auf den Zehen an's Fenster.

Nun muß ich ganz leise die Verandatür aufmachen ... He, he ... Sie hat sich hinter dem Garten versteckt ... Sie hat sich auf das Meer versteckt ... Sie ist selbst das Meer ... Aber ich werde sie schon finden ...

Nur leise, leise ... sonst entflieht sie mir ...

Er kroch auf die Fensterbrüstung.

– Ich werde sie schon finden ... Nur ganz leise ... Oh ... da ... da ist sie ...

Er stand im Fenster mit weit vorgestreckten Armen.

Agaj! schrie er lachend auf.

Er stürzte in die Tiefe.


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