Wilhelm von Polenz
Wurzellocker Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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Viertes Buch

Zum zweiten Male erlebte Fritz Berting die Ankunft des Lenzes an seinem jetzigen Aufenthaltsorte. Der Vorfrühling stand der gartenreichen Stadt gut. Wie in einem Treibbeete auf lockerem Untergrunde, in sonniger Lage, trieb und sproßte es zeitig an den Hängen der breiten, fruchtbaren, von sandigen Hügeln umsäumten Thalmulde. Der Strom führte das Schneewasser des Gebirges zu Thale und brachte hie und da noch eine vereinzelte Eisscholle mit, die in seinen lehmigen Fluten allmählich schmolz. Feuchtigkeit stieg von der Thalsohle zu den Wolken auf und stand, in feine Schleier verwandelt, duftig vor dem Bilde. Noch gab es wenig Grün; die Erde lag unverhüllt in der sanften Nacktheit ihrer Linien, einfacher und reiner, ohne die Verkleidung des Laub- und Grasschmuckes. Aus der Ferne blickten metallfarbene Bergkegel herüber wie große, blaue, an der Spitze abgestumpfte Zuckerhüte.

In diese Landschaft bequem eingebettet lag die schöne, reiche Stadt. In den alten Teilen mancher Prunkbau, manch stolzes Palais, aus einer Zeit erhalten, wo man den rechten Bau an den rechten Platz zu stellen verstanden hatte. Massiv, wuchtig, bedeutungsvoll wirkten diese Monumente mit ihrer dunklen Patina, die Wetter und Ruß ihnen zur Erhöhung der Vornehmheit verliehen hatten.

An solchen sonnedurchwärmten Tagen, die der Sommer lange voraus in den grauen, unerfreulichen Halbwinter unseres Klimas als vielverheißende Boten hineinschickt, ist es schwer am Schreibtisch zu bleiben. Fritz Berting begann Geschmack zu finden an Ausflügen. Die Eisenbahn brachte einen schnell aus der Stadt hinaus; dann konnte man es ruhig dem Zufall überlassen, wo er einen hinführen würde. Überall gab es etwas in diesem gottgesegneten Lande, das des Weges lohnte; sei es ein unverhoffter Blick auf das weite, häuserbesäte, fruchtbare Flußthal, ein Stück stimmungsvoller Waldlandschaft, ein verschlafenes Dorf oder ein mit monumentalen Resten der Vergangenheit ausgestattetes Städtchen.

Fritz hätte gern bei solchen Touren Hedwig von Lavan zur Begleiterin gehabt. Er erzählte ihr von dem, was er unternommen und gesehen, in der Absicht, ihr den Mund wässerig zu machen. Aber niemals sprach sie den Wunsch aus, sich ihm anzuschließen.

Man hätte denken sollen, daß sich das Mädchen nach Zerstreuung sehne. Bekannte sah sie außer Berting kaum, höchstens den Arzt, der ihr zum Wächter gesetzt war.

Blieb Fritz einmal einen Tag aus, so konnte er sicher sein, am nächsten Morgen von ihrer Hand ein kurzes Billet zu finden, das ihn aufforderte, zum Luncheon zu kommen oder den Abend bei ihr zu verbringen.

Fritz brachte ihr außer Blumen häufig auch Bücher mit. Hedwig war bei ihrer Zufallsbildung mit einzelnen der großen Modernen noch gar nicht bekannt geworden. Von höchstem Reize erschien es ihm, zu beobachten, wie Ibsen auf sie wirken würde. Ja, er wagte sogar das Experiment, sie mit Nietzsche bekannt zu machen.

Hedwig verschlang die gebotene Kost und schien sie auch zu verdauen. Aber gerade das, was Fritz erwartet hatte, daß sie sich an diese Meister verlieren würde in Bewunderung, trat nicht ein. Sie blieb im Gemüte kühl und unerschüttert der Gespenster-Tragödie gegenüber, sie ließ ihr Inneres nicht überwältigen von der Schönheit des Zarathustra-Liedes.

Nur mit dem Verstande schien sie zu genießen, ohne die Seele hinzugeben. Rückhaltloses Bewundern-Können war ihr versagt. Dabei besaß sie doch für Schönheit die feinfühligsten Nerven, reagierte stark und unmittelbar auf jeden Eindruck, war durch und durch ästhetische Persönlichkeit. Welches Organ fehlte ihr denn, daß sie an der Oberfläche des Kunstwerkes haften blieb, unfähig wie es schien, bis zu seiner Seele durchzudringen?

Sie gab ihm Rätsel auf über Rätsel.

Es war in seinem Verhältnis zu Hedwig etwas, das den vollen Genuß des Beisammenseins nicht aufkommen ließ. Man konnte sich eine aufmerksamere und schneller fassende Schülerin nicht denken, als dieses Mädchen war. Aber an ihrer Wißbegier lag Fritz gar nichts. Viel lieber als ihr Lehrer zu sein, wäre er ihr Schüler gewesen.

Er fühlte, daß er von ihr tausenderlei Neues hätte erfahren können, vor allem über ihre eigene Persönlichkeit. Wozu in Büchern suchen, was der Mensch dem Menschen viel unmittelbarer gewähren konnte: das Erkennen und Erleben.

Hedwig verstand es, eine Mauer um sich zu ziehen; sie wußte eine Stimmung kühler Sachlichkeit zu verbreiten, die jede Annäherung ausschloß.

Man verkehrte äußerlich in der größten Vertraulichkeit, ohne Rückhalt und Gêne. In der Art, wie sie über die heikelsten Stellen, ohne eine Miene zu verziehen, hinweglas, wie sie in der Diskussion vor keinem Thema zurückschreckte, lag eine Immunität der Gefühle, die Fritz noch nie an einem weiblichen Wesen beobachtet hatte.

Er war es, der auf die Dauer diesen gewissermaßen aller Sinnlichkeit entkleideten, jenseits des Geschlechtlichen sich abspielenden Verkehr nicht mehr ertrug. Er verwünschte die geschwisterliche Wunschlosigkeit ihres Beisammenseins. Er haßte dieses Überwiegen des Verstandesmäßigen in ihrem Verkehr, die langen Auseinandersetzungen über allerhand abstrakte Dinge, wo man sich bestenfalls in der Ähnlichkeit des Geschmackes fand, sonst aber sich nicht näher kam. Er haßte sich vor allem selbst in der Rolle eines trockenen Dozenten. Was hatte er davon, wenn sie seinen Verstand, seine Kenntnisse, seine Belesenheit bewunderte! Er gab und gab, ließ seinen Geist die schönsten Luftsprünge machen ihr zu Ehren und erhielt nichts dafür zurück.

Dieses gemeinsame Schweben in den höchsten Sphären des guten Geschmackes versetzte einem den Atem. Er sehnte sich ordentlich danach, Hedwig einmal die Augen verwirrt niederschlagen, sie erröten zu sehen. Schließlich war sie doch ein Mädchen! Was steckte hinter diesem kühlen Blick, der unerschütterlichen Ruhe ihrer Haltung? Sie war doch nicht bloß Linie, Umriß, Profil! Wo steckte denn in ihr das Weib mit seinen Schwächen? Versteckte sie ihre schwachen Seiten so gut, oder hatte sie keine? –

Was fühlte, was empfand ein solches Wesen, wenn sie ganz allein, ganz unbeobachtet war? Gab es hinter ihrer glatten Stirn keine Sehnsucht, keine Träume, keine Sünden der Phantasie? War ihr Blut, das Fritz durch die zarteste Haut, die er jemals gesehen, in dem feinen, bläulichen Geäder der Schläfen rinnen zu sehen vermeinte, war es frei von jeder fieberischen Wallung? – Fühlte sie nichts in seiner Nähe? Sagte ihr keine Stimme ihres Inneren, daß er Mann sei und sie Weib, beide jung? – Fürchtete sie sich nicht vor ihm, sah sie nicht, welches Verlangen heiß in ihm aufschwoll? –

Fritz machte bei aller ungestümen Wißbegier doch keinen Versuch, ihrem Wesen das Sphinxgeheimnis zu entreißen. Die vollendete Freiheit, mit der sie sich auf gewagtem Terrain bewegte, schützte sie. Jedes grobe Wort, jede Rücksichtslosigkeit, ohne die es ein Erobern nicht giebt, verbot sich einem Geschöpf gegenüber, das durch das Außerordentliche seiner Lage gleichsam gefeit war.

Ob Hedwig von seinen Gefühlen etwas ahnte? – Einmal verriet er sich. Er hatte die Wiedergabe einer Klingerschen Radierung für sie gekauft und ihr überbracht: »An die Schönheit«, ein Blatt, das er über alles liebte. Hedwig wollte das Bild ihrem Schreibtisch gegenüber anbringen, war auf einen Stuhl gestiegen und hielt es probeweise gegen die Wand. Fritz sollte sagen, ob es so in der rechten Höhe sei. Irgendwie kam der Stuhl ins Wanken, und Hedwig wäre gestürzt, wenn er sie nicht aufgefangen hätte.

Für einen kurzen Augenblick lag sie hilflos in seinen Armen. Der Duft ihrer Haut, ihrer Haare, drang unmittelbar auf ihn ein. Er war wie betäubt, stammelte verwirrt einige sinnlose Worte. Sie machte sich los, und als sie auf ihren Füßen stand, lachte sie. Lachen in einem solchen Augenblicke! – – Während er sich mühsam zu fassen suchte, lag auf ihrem Gesichte unverkennbar der Ausdruck von übermütigem Hohn, als denke sie bei sich: ›Du wagst es ja doch nicht!‹ –

Von diesem Augenblicke an bekam das Verhältnis für ihn einen neuen schmerzlichen Stachel. Ein Verdacht bemächtigte sich seiner: Wurde hier mit ihm gespielt? Nutzte man ihn aus? War er vielleicht nur ein Lehrer für sie, Führer auf ästhetischem Gebiete, Berater in litterarischen Angelegenheiten? –

In ihrer Novelle spielte die Heldin mit einem Manne, wie die Katze mit der Maus, unbarmherzig, cynisch fast. Gab das nicht zu denken? Zwar gehörte Fritz Berting nicht zu denen, die einem Autor alle Sünden, welche er seinen Gestalten andichtet, selbst zutrauen; aber immerhin, einmal innerlich erlebt, in der Phantasie durchgemacht mußte der Dichter haben, was er gestaltete. Und hier war ein raffinierter, herzloser Frauentypus mit intimer Kenntnis, ja mit innerer Anteilnahme geschildert worden. Kam da nicht vielleicht derselbe lächelnde Triumph, derselbe spielende Hohn zum Ausdruck, mit dem sie ihn neulich im Augenblicke seiner Schwäche betrachtet hatte? –

Aber dann wieder von ihrer Liebenswürdigkeit in Bann geschlagen, vergaß er jeden Verdacht. Er sagte sich, daß alles Befremdende an ihr zu erklären sei durch Herkunft und außerordentliche Geschicke. Wahrscheinlich waren Glätte, Kälte, Schlangenklugheit, die sie unnahbar machten, Eigenschaften, welche ihr die Natur zum Schutze mitgegeben hatte.

Er hätte sie gern einmal herausgelockt aus sich selbst. Wenn sie auch sicher nicht die Erlebnisse hatte, die Michael Chubsky ihr zutraute, so war doch anzunehmen, daß sie Geheimnisse habe, Geheimnisse des Wesens, der Entwickelung, der Gefühle. Er wollte die Empfindungsseite ihrer Natur erkennen, nicht bloß immer die glatte Marmorfläche ihres Verstandes berühren.

Gar zu gern hätte er sie darum hinaus geführt ins Freie. Das ewige Zusammensitzen im Zimmer allein schon gab ihrem Verhältnis eine Art Blutleere.

Hedwig war eine gute Fußgängerin. Er wußte es doch, daß sie im vorigen Jahre mit Waldemar Heßlow Bergtouren unternommen hatte. Warum denn verhielt sie sich gegenüber seinen Vorschlägen zu Ausflügen stets ablehnend?

Der Grund, den sie anzuführen pflegte, daß sie dazu vom Hausarzt Erlaubnis haben müsse, erschien Fritz nicht stichhaltig. Sie wußte ja sonst diesem Mentor nur zu gut ein Schnippchen zu schlagen.

* * *

Durch Fritz Bertings Vermittelung hatte der »Impressionist« Hedwig von Lavans Manuskript angenommen.

Der Damen Tittchen wegen, die vorläufig noch nichts von ihrer Schreiberei wissen durften, wählte Hedwig ein indifferentes, männliches Pseudonym, das auszudenken Fritz ihr behilflich war.

Der »Impressionist« hatte jetzt seine eigenen Redaktionsräume. Sie bestanden aus Bureau und Empfangssalon.

Der Dichter Karol war ein großer Mann geworden. Fritz mußte daran denken, wie er den Verfasser des »Ghetto« – nicht viel länger als ein Jahr war es wohl her – in seiner elenden Bohémien-Bude aufgesucht hatte. Damals war ein Konversationslexikon bei weitem das wertvollste Stück seines Mobiliars gewesen. Heute war er Chefredakteur, empfing die Mitarbeiter in seinem Bureau, während der Salon reserviert blieb für »Damenbesuch«, wie er Fritz vieldeutig lächelnd zu verstehen gab.

Auch in Silbers äußerer Erscheinung kam die Veränderung seiner Lage zum Ausdruck. Er hatte den fettglänzenden Rock, ohne den man ihn nie gesehen, mit einem neuen vertauscht. An den Füßen trug er glänzende Lackschuhe, und aus der bunten Weste stach eine seidene Krawatte von greller Färbung mit einer unechten Nadel hervor.

Als sich Berting erkundigte, wie der »Impressionist« gehe, schmunzelte Silber. Das Blatt werde vorläufig wenig abonniert, sagte er, aber viel im Einzelverkaufe verlangt, und was die Hauptsache sei, es werde tüchtig darüber geschimpft.

Beim Verlassen der Redaktion begegnete Fritz auf der Treppe einer jungen Dame. Also wirklich! – Silber hatte nicht renommiert mit dem Damensalon, wie Fritz im stillen angenommen. Sie eilte ziemlich schnell an ihm vorüber und hatte den Schleier vor; aber er erkannte trotzdem das semmelblonde Haar und das stumpfe Näschen wieder. Es war die Verfasserin von »Epheuranken« und »Immergrün«.

Einige Tage darauf sah er Siegfried Silber im Kaffeehaus. Der kleine Mann kam ihm mit feierlicher Miene entgegen, verbeugte sich und sagte: »Ich gratuliere Ihnen und uns, Berting! Denn heute ist Ihr Geburtstag.«

Fritz mußte lachend die Thatsache zugeben.

Seit er mit seiner Familie auseinander war, hatte sich niemand um seinen Geburtstag gekümmert. Nur Alma machte eine Ausnahme. Sie hatte es sich auch heute nicht nehmen lassen, ihm in der Frühe ein Alpenveilchenstöckchen zu bringen und ein Paket. Fritzens Wirtin hatte ihr die Sachen abgenommen. Das Fräulein sei gleich wieder gegangen, erklärte sie, als Fritz sich nach dem Boten erkundigte. Das Paket enthielt einige Krawatten, jedenfalls von Alma selbst genäht, und ein Gedicht, das sie aus irgend einer Sammlung abgeschrieben haben mochte.

Später am Vormittag kam ein Livree-Diener, der einen Korb mit auserlesenem Obst für Herrn Berting abgab und einen Brief. Fritz glaubte erst, es sei Frau Hilschius, die ihn so freundlich bedenke, aber die begleitenden Zeilen zeigten Annie Eschauers Handschrift.

Annie schrieb, daß sie seit einiger Zeit bei ihrer Mutter zu Besuch sei, um sich von einem berühmten Nervenarzt behandeln zu lassen. Sie schicke ihm in alter Freundschaft diesen Geburtstagsgruß. Wenn er Zeit übrig habe, möge er sie doch einmal aufsuchen. Sie langweile sich sehr, da der Arzt ihr Liegen verordnet habe.

Nach der Art, wie man im vorigen Herbst in Binz auseinandergegangen war, schien sich Annie, wie ihm deuchte, die Wiederanknüpfung der Beziehungen doch allzu leicht zu denken.

Über eines wunderte er sich im stillen: woher nur wußte Annie seinen Geburtstag? Er konnte sich nicht entsinnen, ihr ihn jemals gesagt zu haben.

Als ihm jetzt Siegfried Silber gratulierte, kam ihm sofort der Gedanke, daß er geplaudert haben müsse. Der Chefredakteur des »Impressionist« verkehrte ja viel bei Frau Hilschius, der Patronin des ganzen Unternehmens.

»Woher ist Ihnen eigentlich mein Geburtstag bekannt, Silber?« erkundigte sich Fritz.

»In einigen Jahrzehnten wird es, so hoffe ich, eine Schmach sein für jeden Gebildeten, dieses Datum nicht zu kennen,« gab Silber zurück. »Vorläufig verrät uns der Litteraturkalender, wo und wann Fritz Berting das Licht der Welt erblickt hat.«

»So! – Und hält Frau Eschauer vielleicht den ›Kürschner‹?« –

Siegfried Silber war nur einen Augenblick lang verdutzt. Dann lachte er laut auf. »Ich will nicht leugnen, daß ich die Indiskretion begangen habe. Sind Sie mir deshalb gram, Berting? Wenn Sie nur wüßten, wie gut Sie bei der Dame angeschrieben sind! An Ihrer Stelle würde ich sie einmal aufsuchen.«

Fritz zuckte die Achseln. Er empfand wenig Lust, jenem zu erklären, weshalb ihm an einem Besuche bei Annie Eschauer sehr wenig liege.

Mit schlauem Augenzwinkern fuhr Siegfried Silber fort: »Man weiß ja. Sie haben Glück bei dem anderen Geschlecht. Ich hatte selbst Gelegenheit, Ihnen zu Ihrem Geschmack zu gratulieren, damals im Theater; Sie wissen wohl? Ich werde das reizende Gesicht niemals vergessen. Immerhin, wenn ich mir einen bescheidenen Ratschlag erlauben darf, sollten Sie eine Freundin wie Frau Annie nicht verschmachten lassen in Sehnsucht.«

Sprach mehr Arroganz oder mehr taktlose Neugier aus Silber? – Sein Mienenspiel war wie immer schwer zu durchschauen. Bald lächelte er dreist vertraulich, bald nahm er eine unterwürfige Haltung an.

Fritz hielt es für besser, die Unterhaltung abzubrechen über dieses Thema.

Noch keine Woche war seitdem vergangen, als er eine Einladung von Frau Hilschius zum Mittagessen erhielt. Gern hätte Fritz abgesagt; denn er argwöhnte, daß hinter dieser Einladung niemand anders stecke als Annie Eschauer, die das Wiedersehen mit ihm, wie's schien, erzwingen wollte. Aber er sagte sich, daß er Frau Hilschius nicht vor den Kopf stoßen dürfe. Hatte er doch ihre wiederholten Einladungen zu den Mittwochen unbeantwortet gelassen.

Zu seinem Staunen fand er Annie nicht im Empfangssalon; ihre Mutter entschuldigte sie mit erneutem Übelbefinden. Es waren da: der Sohn des Hauses, sein Vetter Marcus Hiesel und Siegfried Silber, also die Redaktion des »Impressionist« vollzählig. Dazu einer von den langhaarigen Poeten, dessen nom de plume Adalbert von Felseneck lautete, während er als Lebensversicherungsagent einfach A. F. Schmidt zeichnete.

Schließlich kam auch die blonde Verfasserin verschiedener lyrischer Bände. Diesmal befand sie sich in Begleitung ihrer Mutter, einer wohlgenährten Dame in einem steifen, bei jeder Bewegung krachenden Atlaskleide, die eigentlich nicht sehr wie eine Dichterin-Mutter aussah.

Siegfried Silber machte sich Fritz unangenehm bemerkbar, indem er sich als sein intimster Freund aufspielte. Er war in diesem Hause nach wie vor Hahn im Korbe. Bei Tisch erhob sich der bewegliche, kleine Mann und brachte einen Toast aus auf den »Impressionist«, seine Mitarbeiter und seine Gründer. Das Verdienst jedes einzelnen der Anwesenden um das Zustandekommen des Unternehmens wurde von ihm in blütenreicher Rede gewürdigt. Nicht einmal die finanzielle Fundierung durch Frau Hilschius und Marcus Hiesel blieb unerwähnt. Sein eigenes Verdienst als »Vater der Idee«, wie er sich bezeichnete, versäumte Siegfried Silber nicht, auf einen weithin sichtbaren Leuchter zu stellen.

Es war das erste Mal, daß Fritz eine gewisse Sympathie für Marcus Hiesel empfand; man konnte verstehen, daß er unter dem Kollegen Silber litt. Freilich in der Art, wie er trauernd das Gesicht tief in den breiten Rockkragen versenkte, und, die Stirn schmerzvoll runzelnd, leise stöhnte, lag soviel Pose, daß man der Echtheit seiner Seelenqualen nicht recht trauen durfte. Theophil Alois gab sich wie gewöhnlich Mühe, seinem Vorbilde möglichst nahe zu kommen.

Diese beiden Jünglinge schienen übrigens auf eine neue Methode verfallen zu sein, der Welt zu beweisen, wie hoch sie sich über alles Grobmaterielle erhaben fühlten. Die meisten Speisen ließen sie unberührt an sich vorübergehen, und an den Getränken nippten sie nur. Frau Hilschius, die sonst voll Bewunderung vor dem der Fleischlichkeit weit entrückten Wesen des Wiener Vetters stand, war im Grunde ihres gutmütigen Herzens betrübt, daß die jungen Leute sich solche Fasten auferlegten. Mit Sorge sah das mütterliche Auge, daß ihr Theophil bei dieser Lebensweise von Tag zu Tag bleicher wurde.

Heute erfuhr man auch den bürgerlichen Namen der Dichterin von »Eupheuranken« und »Immergrün«, die Berting neulich so kühn die Treppen zu den Redaktionsräumen des »Impressionist« hatte emporsteigen sehen; sie hieß: Mimi Beierlein. Fritz betrachtete sich die Mutter der niedlichen Blondine mit Interesse. Frau Beierlein sah genau so aus, als wäre ihr eine Unterhaltung über Eierpreise und Dienstbotennöte weit mehr nach dem Herzen gewesen, als die tiefsinnigen Reden über Litteratur, die zwischen Siegfried Silber und ihrem Töchterchen hin und her flogen.

Frau Hilschius, neben der Fritz Berting saß, klagte, Annies Befinden mache ihr schwere Sorgen. Worin das Leiden eigentlich bestehe, erklärte sie nicht, nur daß Annie große Schmerzen auszustehen habe, und daß der Arzt die Sache nicht für unbedenklich halte.

Umsomehr wunderte sich Fritz, als er aufgefordert wurde, die Kranke nach Tisch in ihrem Zimmer aufzusuchen.

Er fand Frau Eschauer in einem halbdunklen Raum auf dem Divan liegend. Auffällig war das den Atem benehmende starke Parfüm in dieser Krankenstube.

Annie richtete, um Fritz die Hand zu bieten, den Oberkörper ein wenig auf. Sie sagte mit schwacher Stimme, wie sehr sie sich freue, ihn wiederzusehen, und bat ihn, einen Stuhl zu holen und sich neben sie zu setzen.

Als Berting sich erst ein wenig an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, erschrak er, welche Veränderung mit Annies Zügen vor sich gegangen war. Die Frau schien in kurzer Zeit um Jahre gealtert. Die Augen tief umschattet, das Fleisch aufgedunsen, die Haut farblos, das ganze Gesicht wie verwischt.

Fritzens Mitleid war nicht erheuchelt. Alles Ärgerliche, was zwischen ihnen vorgefallen in Binz, war vergessen, da er sie so hilflos sah. Er erkundigte sich teilnehmend, was sie so heruntergebracht habe.

Annie schien jedoch Fragen nach ihrem Befinden nicht gern zu hören. Es werde vorübergehen, sagte sie; der berliner Winter wäre ihr schlecht bekommen, das sei alles. Hier hoffe sie sich bald wieder herzustellen.

Seine Gesellschaft schien sie zu beleben; die Stimme gewann an Kraft, die Züge, anfangs einer Larve ähnlich, belebten sich mit der Zeit.

Sie begann von den gemeinsamen Bekannten zu erzählen, die man von Binz her besaß. Freilich war es nicht viel Erfreuliches, was sie da zu berichten hatte. Der Bräutigam des jungen Mädchens mit dem Zungenfehler war falschen Spieles halber um die Ecke gegangen. Ein anderer von der nämlichen Clique war in einen Sittlichkeitsprozeß verwickelt und erschien so schwer kompromittiert, daß die Behörde ihn selbst gegen hohe Kaution nicht freigeben wollte. Und so ging es weiter. Annie sprach von diesen Dingen leichthin, wie man eine bekannte Anekdote um ihrer Pointe willen erzählt. Ihren Gatten erwähnte sie nicht, und Fritz sah keinen Anlaß, sich nach diesem Edlen zu erkundigen.

Wiederholt gab Annie zu erkennen, wie sehr sie sich freue, Fritz bei sich zu haben. Die Langeweile, zu der sie verdammt sei, wäre zu fürchterlich. Nur mit Hilfe von Morphiuminjektionen schlafe sie des Nachts. Und am Tage stehe es nicht viel besser um sie. Lesen dürfe sie auch nicht viel, der Augen wegen. Seine Novelle aber verschlinge sie doch. Fritz hatte schon ein Exemplar des »Impressionist« entdeckt, das neben ihr auf einem Sessel lag.

Annie war ganz die Alte, als sie sich jetzt über das Dioskurenpaar: Marcus und Theophil, lustig machte.

Vor allem goß sie die Schale ihres Spottes aus über einen Aufsatz ihres Bruders Theophil, der unter dem Titel: »Los vom Weibe!« die Notwendigkeit predigte, »hart bis zur Grausamkeit« gegen das andere Geschlecht zu sein. Er hatte an die Spitze seiner Auslassungen Nietzsches Wort gestellt: »Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!«

»Hat man je etwas Possierlicheres gehört!« rief Annie. »Der kleine Theophil! O, er kennt das Weib in- und auswendig. Arme Frauen, Theophil verachtet euch! – Wenn ihm eine Kellnerin einmal einen Kuß verkauft hat, so ist das, ich wette, das größte Abenteuer, dessen er sich rühmen darf. Aber man weiß ja, wer ihn verrückt gemacht hat: der Vetter Marcus mit der bleichen Seele. Ich wollte den guten Jungens vieles verzeihen, wenn sie nur nicht so furchtbar langweilig wären! Neulich hatte ich sie hier alle beide. Denken Sie, daß einer etwas zu sagen gewußt hätte! Sie saßen da, nagten die Lippen, blickten tiefsinnig und sorgenschwer drein, aber einfallen that ihnen nichts. – Da ist mir, weiß Gott, dieser Siegfried Silber lieber. Ein kleiner, krummer Jude! Aber der hat doch wenigstens etwas aus sich gemacht. Neulich habe ich ihm gesagt, er müsse auf reine Oberhemden halten und dürfe seine Nägel nicht abkauen, wenn er bei Damen Glück machen wolle. Haben Sie bemerkt, wie das gewirkt hat? Das Silberchen hat sein Häuschen sehr nahe zu mir gebaut. Alle seine Geheimnisse beichtet er mir. Kann sein, ich verschaffe ihm sogar eine Frau.«

»Geht Silber auf Freiersfüßen?« erkundigte sich Fritz.

Annie erklärte jedoch, daß sie aus Gründen der Diskretion hierüber nichts weiter sagen dürfe. Aber Fritz war neugierig geworden. »Ist sie blond?« fragte er.

»Natürlich!« war die Antwort.

»Und kann das Versemachen nicht lassen?«

»Erraten! Aber lassen wir die Leutchen. Erzählen Sie mir lieber etwas von sich selbst, Fritz!« bat Annie und wandte sich auf ihrem Lager so, daß sie ihn ganz sehen konnte.

Berting hatte gute Gründe, ihr nichts zu erzählen von dem, was jetzt das tägliche Brot war seines Lebens, von seinem Verkehr mit Hedwig von Lavan. Er berichtete darum nur das Alleräußerlichste, von seiner Wohnung, von den Ausflügen, die er unternommen, und was ihm sonst gerade einfiel.

»Hören Sie auf!« rief Annie nach einiger Zeit. »Denken Sie, ich bin ein Bählämmchen? Mir machen Sie doch nicht weiß, daß Ihr Leben in Essen, Schlafen und Spazierengehen besteht!«

Fritz erwiderte mit dem Schein möglichster Unbefangenheit: »Doch, es ist so, gnädige Frau. Aus Essen, Schlafen und Spazierengehen; fügen Sie noch viel Schreiben und ein wenig Lesen hinzu, dann haben Sie alles beisammen, was mein harmlos idyllisches Dasein ausmacht.«

»Das ist nicht wahr!« rief Annie mit ungewöhnlicher Leidenschaft. »Ich sehe es Ihren Augen an, daß Sie lügen. Außerdem sagen es Ihre Bücher, daß es anders ist. Wer die Weiber so schildert, wie Sie, der hat auch Weiber gehabt. Ich will von Ihren Erlebnissen wissen, hören Sie, Fritz!«

Berting war in Verlegenheit, was er hierauf sagen solle. Annie selbst befreite ihn jedoch fürs nächste von der Notwendigkeit, zu antworten. Ein Schmerzanfall packte sie. Das Gesicht verzog sich, sie stemmte die Hände gegen den Leib und schloß die Augen. Fritz sprang entsetzt auf; er hatte das Gefühl, jemanden zu Hilfe rufen zu müssen. Zwischen den halbgeschlossenen Zähnen hindurch stöhnte Annie, er möge bleiben, gleich werde es vorüber sein.

Eine Zeit lang lag sie stumm und steif; dann richtete sie sich mühsam ein wenig auf, tränkte ein Tuch mit Eau de Cologne und hielt es sich vor. Das schien sie zu beleben.

Mit den peinlichsten Gefühlen saß Fritz dabei. Er begriff nicht, welchen Trost es Annie gewähren könne, ihn zum Zeugen ihrer Marter zu haben.

Sie hatte sich jetzt auf dem Divan ganz dicht bis zu ihm herangeschoben. In ihren Augen flackerte ein unheimliches Feuer. In flehendem Tone fuhr sie fort: »Seien Sie offen, Fritz, sagen Sie mir alles! Sie haben eine Geliebte, ich weiß es. Was ist da weiter dabei! Sie sind ein junger Mensch. Aber erzählen Sie mir von ihr! Ist sie hübsch? Lebt ihr beisammen? Was macht ihr den ganzen Tag? Zankt ihr euch oft? Denn immerfort könnt ihr euch doch nicht lieben. Erzählen Sie, erzählen Sie, Fritz! Sie sehen doch, ich vergehe vor Sehnsucht nach irgend etwas – nach Abwechselung. Es ist so furchtbar, hier liegen zu müssen. Sie haben ja keine Ahnung, wie mir zu Mute ist!«

Ihre Stimme war ganz heiser geworden. Sie griff nach einem Flacon, das sie zur Nase führte. Fritz schwieg und blickte wie gebannt in Annies schwer arbeitende Züge. Sie schien mit etwas Größerem noch als körperlichem Schmerz zu kämpfen.

Auf einmal wechselte sie den Ton, gequält lächelnd sagte sie: »Ach, ich sehe schon, auch mit Ihnen ist nichts los! Sie wollen einer armen Kranken nicht helfen. Dabei meine ich es so gut mit Ihnen – so gut! Ich würde Ihnen keine Vorwürfe machen, nicht den kleinsten Vorwurf, wenn Sie mir auch das Schlimmste sagten. Ich weiß ja, wie das Leben ist, habe Dinge durchgemacht, Dinge, daß ich mich über nichts mehr wundere. Aber so hier liegen Tag und Nacht, und immer nur seine eigenen Erlebnisse wiederkäuen, das, glauben Sie mir, Fritz, ist zum Verrücktwerden. Ich habe oft an Sie gedacht. Vielleicht hätte ich in Binz etwas netter gegen Sie sein können. Aber so ist man, wenn einen die Eifersucht quält; da weiß man einfach nicht, was man sagt und thut.«

Sie biß die Zähne zusammen; was sie nun sagte, war kaum noch verständlich für ihn.

»Es wird sehr bald wiederkommen. – Sie sollen es nicht mit ansehen diesmal. Versprechen Sie mir – Fritz – versprechen Sie mir, kommen Sie wieder! Lassen Sie mich nicht allein. Kommen Sie bald und dann erzählen Sie mir . . . . .«

Sie wand sich von neuem und vergrub den Kopf in das Kissen. Gleichzeitig winkte sie ihm mit der Hand, zu gehen.

* * *

Als Berting von dem Mittagessen bei Frau Hilschius nach Haus zurückkehrte, fand er auf seinem Schreibtische einen mit Bleistift geschriebenen Zettel vor. Heinrich Lehmfink hatte ihn aufgesucht, um seine Rückkehr anzumelden.

Heinrich Lehmfink! Er erschien Fritz gleich einem Wesen aus einer anderen Welt. Wie weit hatte er sich in der letzten Zeit innerlich entfernt von diesem alten Freunde. Würde man sich überhaupt je wieder verständigen können? –

Und doch zog es ihn mächtig, das ehrliche Gesicht Lehmfinks wiederzusehen, ihm die Hand zu schütteln und die vertraute Stimme, die ihm so oft guten Rat erteilt hatte, wieder zu vernehmen. Mochte sein Wesen altfränkisch sein, mochten sich seine Anschauungen, verglichen mit denen eines Michael Chubski, ausnehmen wie ein steifer, altdeutscher Holzschnitt neben einem modernen claire obscure, mochte er ein Hinterwäldler sein in seinem Aufzuge, im Vergleich zu Marcus Hiesels fin de siècle-Eleganz, eines hatte Heinrich Lehmfink vor ihnen voraus: er war Original, und er war ein Mann.

Fritz überlegte, ob er vielleicht noch heute Lehmfinks Besuch erwidern könne. Die Abende waren jetzt lang. Wenn man mit der Bahn führe, konnte man schnell draußen sein bei dem Freunde. Er machte sich sofort auf.

Heute fand er den Weg zu dem Quartiere ohne vorherige Erkundigung. Der Freund war jedoch nicht zu Haus. Fritz unterhielt sich mit dem aufmerksam gesprächigen Quartierwirt, der seinen Namen noch vom letzten Besuche her im Gedächtnis behalten hatte. Da ging eine Thür auf, in deren Öffnung eine schlanke Frau in Trauerkleidung erschien.

Ob sie recht gehört habe, fragte sie mit leicht schwäbelnder Aussprache, daß Herr Berting hier sei. Und als Fritz bejahte, lachte sie herzlich auf und sagte, sie sei Toni, Heinrichs Schwester.

Toni Lehmfink schien keine Person von vielen Umständen zu sein. Sie schüttelte Fritz kräftig die Hand und forderte ihn auf, ins Zimmer zu kommen und einstweilen mit ihr vorlieb zu nehmen, bis Heinrich zurückkehren werde.

Fritz betrachtete sie mit besonderem Interesse. Er hatte manchmal gelächelt über seines Freundes brüderliche Schwärmerei, die ihm von Verliebtheit nicht weit entfernt zu sein schien. Dieses große Mädchen also war Heinrichs »kleines Schwesterchen«! – Die Photographie hatte doch kein richtiges Bild von ihr gegeben. Tonis Gesicht war eines von jenen, bei denen der lebendige Ausdruck alles ist. Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, sie hübsch zu nennen; aber das Hübschsein konnten diese Züge entbehren, da sie den Stempel trugen der Eigenart.

Fritz konnte sich in dem Gesichte schnell zurechtfinden, weil er den Kopf des Bruders so genau kannte. Da war vieles sehr ähnlich, vor allem im Schädelbau, in der Augenstellung, in der Farbe von Haar und Haut. Aber alles war auch wieder anders, um eine Nuance feiner, beweglicher, anmutiger, mit einem Worte: weiblicher.

Toni hatte vor dem Bruder eine schnelles Vertrautwerden sehr erleichternde Eigenschaft voraus: die Verbindlichkeit. In kürzester Zeit ward es Fritz zu Mute, als kenne er sie seit lange. Sie sagte ihm, daß Heinrich ihr von ihm, als von seinem liebsten Freunde, schon viel erzählt habe, und daß es wirklich ein Ereignis bedeute für sie, ihn nun endlich persönlich kennen zu lernen.

Man sprach natürlich von ihrem Bruder. Toni bewunderte ihn offenbar sehr. Und doch lag in ihren Bemerkungen über Heinrich hie und da etwas wie Überlegenheit, ja fast etwas mütterlich Nachsichtiges. Man sah, daß dieses Mädchen selbst dem geliebten Bruder gegenüber ihr Urteil nicht in die Tasche zu stecken gesonnen sei.

Es wäre schwer gewesen, ihr Alter zu taxieren. Fritz wußte, daß sie etwa um ein Jahr älter war als Heinrich. Man sah ihr die Dreiunddreißigerin nicht an. Sie schien eine von jenen wetterfesten Persönlichkeiten, gegen deren karg zugemessene Reize die Jahre nicht grausam sind.

Dabei wußte man, daß das Leben diese Person nicht eben auf Rosen gebettet hatte. Im Hause des Stadtschreibers Lehmfink war der einzige Luxus der gute Unterricht der Kinder gewesen. Mit Hunger und Wissenschaft waren sie aufgezogen worden.

Toni hatte ihr Lehrerinnenexamen früh gemacht und war dann, um Geld zu verdienen, ins Ausland gegangen. Mehrere Jahre lang hatte sie an einer großen Schule in der Nähe von London deutschen Unterricht erteilt. Als der Vater gestorben war, kehrte sie nach Haus zurück, um die Mutter, die niemanden sonst besaß, zu pflegen.

Fritz war auf das angenehmste überrascht durch die vollendete Unbefangenheit, mit der sich dieses Mädchen ihm gegenüber gab. Von den engen, kleinstädtischen, subalternen Verhältnissen, aus denen sie stammte, merkte man ihr nichts an. Zimperlichkeit und Unbeholfenheit, die häufig Töchtern aus solchen Kreisen eigen sind, hatte sie wohl draußen in der Welt abstreifen müssen. Dabei war sie doch dem heimatlichen Charakter treu geblieben. Ihr Schwäbisch, das ausgesprochener war als das des Bruders, verlieh allem, was sie äußerte, noch die besondere Traulichkeit des Volkstümlichen.

Sie erzählte, daß sie zu dem Bruder gezogen sei, um ganz bei ihm zu bleiben. Seitdem sie nun auch die Mutter verloren hätte, fehle ihr Heimat und Arbeit. Da sie aber ohne Ziel und Zweck nicht zu existieren vermöchte, habe sie sich vorgenommen, Heinrich das Leben so angenehm und leicht zu machen, wie nur möglich. Sie wollte sich in Zukunft nicht mehr von dem Bruder trennen; es sei denn, daß er einmal heirate, und dazu wäre wohl wenig Aussicht.

Mit dem Verwöhnen des Bruders schien sie übrigens bereits einen glücklichen Anfang gemacht zu haben. Dem Zimmer merkte man's an, daß hier eine geschickte Frauenhand ordnend gewaltet hatte. Sie hoffe, sagte Toni, daß sie genug vom Haushalten verstehe, um dem Bruder eine Wirtschafterin zu sein und eine Köchin. Außerdem habe sie das Arbeiten mit der Schreibmaschine erlernt; denn ihr Ehrgeiz gehe dahin, ihm auch Gehilfin zu sein in seinem Beruf.

Fritz, der lange nichts über den Stand von Lehmfinks wissenschaftlichen Arbeiten gehört hatte, erkundigte sich, wie es eigentlich mit dem Werke stehe, in das Heinrich im vorigen Jahre vertieft gewesen.

»Ach, Sie wissen noch gar nichts!« rief Toni. »Hat er Ihnen denn das nicht erzählt?«

Fritz mußte ihr auseinandersetzen, daß man sich lange Zeit nicht gesehen habe, außerdem hätte Heinrich mit dieser Arbeit immer sehr geheim gethan.

»Nun, jetzt ist kein Geheimnis mehr darum!« sagte Toni und ging an den Schreibtisch. »Sein Buch ist soeben herausgekommen.«

Sie überreichte Fritz einen starken Band. Er las den Titel: »Deutsche Persönlichkeit«.

»Gelt, das ist eine feine Sache, Herr Berting!« rief Toni.

Fritz versuchte, in dem Buche zu blättern, doch gelang ihm das nur schlecht, da es noch unaufgeschnitten war.

»Für Sie ist ein gebundenes Exemplar da, Herr Berting. Ich weiß es genau. Heinrich hat auch etwas hinein geschrieben. Sie werden es vorfinden, wenn Sie nach Haus kommen; nehmen Sie einstweilen meines.«

Toni lief ins Nebenzimmer und brachte von dort ein gebundenes Exemplar zurück. »Das hat er mir geschenkt!« sagte sie voll Stolz.

Dann bat sie den Gast, es sich bequem zu machen. Wann Heinrich zurückkomme, sei unberechenbar bei seiner Wanderlust. Aber auf keinen Fall könne sie erlauben, daß Herr Berting gehe, ohne ihn gesehen zu haben. Jetzt müsse er sie jedoch entschuldigen, da sie für ein Abendessen sorgen wolle. –

Fritz setzte sich in Lehmfinks lederbezogenen Sorgenstuhl, dem großen Bismarckstiche gegenüber und nahm das neue Buch zur Hand.

Vor allem wollte er ergründen, welcher Plan diesem Werke zu Grunde liege, welchem Ziele es zustrebe; denn das wußte Fritz, wenn Heinrich Lehmfink mit einer Arbeit dieses Kalibers vor die Öffentlichkeit trat, dann hatte ihn innere Notwendigkeit getrieben und gewichtiger Ernst ihm die Feder geführt.

Er las zunächst die Überschriften der einzelnen Abschnitte. Sie zeigten, daß man es mit einem ganz subjektiven Buche zu thun habe, mit einem Buche, das ein Bekenntnis enthielt. Dieses Bekenntnis war die im inneren Kampfe errungene Weltanschauung des Autors. Doch nicht in dozierendem Tone war hier ein System vorgetragen, auch nicht mystisch verzückt in Prophezeiungen, sondern klar und eindrucksvoll in plastischer Form, die den Künstler verriet.

Es war ein Leitmotiv da, welches durch das ganze Buch zu klingen schien, das schon im ersten Kapitel mit dem einleitenden Satze angeschlagen wurde: »Die deutschen Naturen sind von allen die reichsten, und wir werden die führende Nation sein, sobald wir im einzelnen wie im ganzen Selbstzucht üben lernen.«

Wie Fritz Berting seinen Freund in diesem Worte erkannte! Selbst im Ästhetischen war für Heinrich Lehmfink die Frage der Fragen: das Sittliche.

Fritz schlug ein beliebiges Kapitel auf. Er stieß auf eines, das die Überschrift trug: »Was uns not thut«.

Auch hier wurde kein Rezept gegeben; aber der Autor suchte die oft verschütteten Quellen aufzudecken der Kraft, Reinheit und Schönheit, die in unserer Zeit und in unserem Volke liegen. Scharfe Worte fielen dabei gegen die Quellenvergifter.

Es wurde den Gebrechen der modernen Geistesverfassung nachgespürt. Es wurde das fin de siècle als ein Gefühl der Unzulänglichkeit nachgewiesen, als ein Sehnen und Drängen, aus sich und der Zeit herauszukommen, als die müde Todessehnsucht von übersättigten Menschen. Diese Weltanschauung glich einem feinen Glase, das einen Sprung hat. Die Kunst auf solchem Boden gewachsen war im geheimen krank. Den Intellektuellen fehlte Gesundheit und Natürlichkeit. Die Menschen waren veräußerlicht, mechanisiert, gedankenlos, puppenhaft, bei aller Regsamkeit ohne Leben, bei aller Bildung ohne Geist und Tiefe. Wir hatten äußere Produktivität im höchsten Maße, wir besaßen Virtuosen in Überzahl, aber wo blieb bei alledem die Seele? Was uns not thue: Beseelung. Wie war sie zu erreichen? Durch Selbstbesinnung. Verfeinerung der Nerven konnte uns nicht weiter helfen, sondern nur Wille. Dieser Wille mußte auf das Echte gerichtet sein; er würde es, wenn wir wieder ein reines Herz gewannen. Kultur war uns vonnöten, aber nicht der Sinne, sondern des Herzens. Durch Verinnerlichung mußten wir die angesammelten Kulturwerte lebendig machen.

Fritz Berting fühlte sich durch manches dieser Worte getroffen; vieles davon war wie gegen ihn persönlich gerichtet. Man würde sich mit diesem Buche noch auseinanderzusetzen haben. Es war eines von denen, die erst recht eigentlich zu leben begannen, wenn man es zugemacht hatte. Es war selbst Persönlichkeit und besaß daher zwingende Kraft. Es war ein stark hassendes und stark liebendes Buch und forderte darum ehrlichen Haß heraus und ehrliche Liebe.

Während Fritz in das Werk des Freundes vertieft war, merkte er nichts vom Fluge der Zeit, bis es schließlich selbst in der Nähe des Fensters so dunkel wurde, daß ihm die Zeilen in einander zu verschwimmen begannen.

Er dachte schon darüber nach, ob er nicht doch lieber gehen solle, um nicht lästig zu fallen, als Heinrichs Schritte und Stimme im Flur ertönten. Die Schwester berichtete ihm, wer zum Besuch da sei. Mit einem Ausruf lauter Freude trat er ein.

Der längere und stärkere Handdruck, mit dem man sich begrüßte, genügte, um wortlos vieles auszudrücken.

Lehmfink sah das aufgeschlagene Buch auf dem Fensterbrette liegen. Er konstatierte lächelnd, daß es Tonis Exemplar sei. »So schnell hast du sie beide kennen gelernt,« sagte er, »meine alte Schwester und mein junges Buch!«

Fritz sagte ihm, begünstigt von der Dunkelheit, die offenes Aussprechen immer erleichtert, welch starken Eindruck er von dem empfangen habe, was er soeben gelesen. Der Autor erwiderte nicht viel, aber Fritzens Worte schienen ihm wohlzuthun.

Toni rief zu Tisch. Ein kleiner Raum auf der anderen Seite des Flurs war als Eßzimmer eingerichtet.

Während des Essens hatte Fritz Gelegenheit, Ähnlichkeit und Gegensatz im Wesen von Geschwistern, bedingt durch Blutsverwandtschaft und durch Geschlechtsverschiedenheit, an einem nicht alltäglichen Menschenpaare zu beobachten.

Toni schien die lebhaftere, wandlungsfähigere Natur von den beiden. Ihr Temperament war impulsiver, ihr Fühlen und Urteilen unmittelbarer. Fritz kannte seinen Freund als einen selten lauteren, treuen, goldechten Charakter; Tonis offenes Naturell ließ dieselben Vorzüge erkennen, strahlte sie jedoch angenehmer, wärmer und gleichmäßiger aus, während Heinrichs rauhe Schale, seine Schwerfälligkeit, sein Eigensinn, einem den Weg zu den Schätzen seines Herzens manchmal schwer machten.

Die Geschwister waren miteinander durch gemeinsame Interessen, wie durch gemeinsame Erlebnisse innig vertraut.

Es hatte für Fritz etwas Bitteres zu denken, daß ihm ein solches Verhältnis versagt geblieben war. Die losen Beziehungen, die er mit Konstanze aufrecht erhielt, erschienen diesem innigen Zueinanderstehen von Bruder und Schwester gegenüber wie Karikatur.

Seinem Blicke entging es übrigens nicht, daß selbst dieses einzigartige Verhältnis eine Seite hatte, die vom Komischen nicht allzuweit entfernt war. Toni, die Heinrich seine »kleine Schwester« zu nennen pflegte, übersah mit ihren hellen Augen den Bruder in mehr als einer Beziehung. Und er, im Vollgefühl männlicher Überlegenheit, hatte keine Ahnung davon. Häufig hielt er es für notwendig, die Schwester über Dinge aufzuklären, die sie, wie Fritz vermutete, viel besser wußte als er, einfach weil sie mehr Mutterwitz besaß. Der Schalk saß ihr im Nacken, das schien klar. Aber ihre Pietät für den geliebten Bruder war so groß, daß sie sich in Gegenwart eines Fremden nicht mit dem Zucken einer Wimper gegen seine Belehrung auflehnen wollte.

* * *

Seit jenem gemeinsamen Besuche auf dem Kirchhofe hatten Fritz und Alma einander nicht wieder gesehen. Er wollte ihr das Monatsgeld zur Bezahlung der Miete persönlich in die Wohnung bringen, hatte aber den Gang immer und immer wieder aufgeschoben.

Eines Morgens, als er noch bei der Toilette war, kam seine Wirtin ins Zimmer und berichtete, dieselbe junge Person sei draußen, die neulich das Alpenveilchenstöckchen gebracht habe. Ob sie vorgelassen werden solle? Sie sehe recht traurig aus, fügte die Frau in mitleidigem Tone hinzu.

Was war zu machen? Der Besuch kam Fritz ebenso unerwartet wie ungelegen. Schnell warf er einen Rock über und sagte, das Fräulein möge kommen.

Alma sah sehr bedrückt aus. Er hieß sie sich setzen, und brachte ihr, weil gerade nichts anderes zur Hand war, von dem Obst, das Annie neulich geschickt hatte. Alma lächelte melancholisch, dankte jedoch.

Wie er sie so dasitzen sah: bleich, matt, mit gedehnten Zügen, überkam ihn jenes Gefühl unsagbaren Unbehagens, ein Gemisch von Furcht und Selbstvorwurf, das ihr Anblick ihm neuerdings immer verursachte. Man war so gänzlich hilflos, als Mann, ihrem Zustande gegenüber. Man kam sich so dumm vor, so schlecht, und das ganze Verhältnis so herabgewürdigt, gleichsam ins Fratzenhafte verwandelt.

Er wollte sie nicht noch ängstlicher und verlegener machen, als sie offenbar schon war, und tadelte sie darum nicht, weil sie die alte Verabredung, ihm keinen Besuch zu machen, gebrochen hatte. Daß sie irgend eine Frage oder Bitte habe, vermutete er; vielleicht brauchte sie das Monatsgeld. Er setzte sich zu ihr, nahm ihre Hand und erkundigte sich, was sie zu ihm führe.

Alma erzählte, anfangs zaghaft, allmählich jedoch an Sicherheit gewinnend, es sei ihr am Tage zuvor etwas begegnet, das sie für notwendig halte, Fritz mitzuteilen. Ein Herr habe sie aufgesucht in ihrer Wohnung, angeblich Vertreter einer Konfektionsfirma, der geschickte Hausnäherinnen suche.

Soweit sei die Sache nicht auffällig gewesen; solche Besuche wären ihr auch schon früher vorgekommen; inzeiten guten Geschäftsganges, wie jetzt, suchten sich die Firmen oftmals die Arbeitskräfte gegenseitig abspenstig zu machen.

Aber der Herr habe etwas an sich gehabt, fuhr Alma fort, was ihr ihn je länger, je verdächtiger gemacht hätte. Er sei Jude gewesen; aber wie ein richtiger Kaufmann habe er nicht ausgesehen und auch nicht gesprochen. Nach allen möglichen Dingen hätte er gefragt, die mit seiner Offerte gar nichts zu thun gehabt; so zum Beispiel: wer ihr die Wohnung bezahle, ob sie einen Freund besitze, und ob der gestatten würde, daß sie nach auswärts gehe.

Um den verdächtigen Menschen los zu werden, habe sie schließlich energisch erklärt, daß sie gar nicht daran denke, sich zu verändern. Aber auch daraufhin sei er nicht gegangen, habe vielmehr erzählt, er komme im Auftrage einer Person, deren Namen er nicht nennen dürfe, einer hochgestellten Dame, die von Almas traurigen Verhältnissen gehört habe, großes Mitleid mit ihr fühle und dafür sorgen wolle, daß es ihr in Zukunft besser ergehe. Dabei habe er Geld blicken lassen. Eine einzige Bedingung stelle die Wohlthäterin, daß Fräulein Lux die Stadt verlasse, und tiefstes Schweigen gegen jedermann sei Voraussetzung.

Hier machte Alma eine Pause. Das Erzählen schien sie sehr zu erregen, sie wischte sich wiederholt die Stirn und schöpfte tief Atem. Fritz, der mit gespanntester Aufmerksamkeit ihrem Berichte gefolgt war, bat sie fortzufahren.

Sie habe natürlich das Geld zurückgewiesen, sagte Alma. Darüber sei der Herr sehr ungehalten geworden. Viel habe er noch in sie hineingeredet und sie schließlich gebeten, wenigstens reinen Mund zu halten, damit er zum Dank für seine gute Absicht nicht etwa noch Unannehmlichkeiten bekomme.

Sie wisse nun gar nicht, was das heißen solle; das ganze Vorkommnis sei ihr äußerst unheimlich.

Fritz hatte sofort einen ganz bestimmten Verdacht gefaßt. Er ließ sich den angeblichen Vertreter der Konfektionsbranche von Alma näher beschreiben.

Das Mädchen gab eine Schilderung, die wie eine gut getroffene Photographie von Siegfried Silber wirkte. Alma hatte sich alles gemerkt: die beweglichen Züge, die unruhig blitzenden Augen, die spitzen Ohren, die roten, vollen Lippen, die scharf gebogene Nase. Und mit angeborener Nachahmungsgabe ließ sie den ganzen Menschen in Sprache, Haltung, Bewegungen vor Fritz lebendig werden.

Jeder Zweifel war ausgeschlossen über die Identität des kleinen Silber mit Almas aufdringlichem Besucher.

Aber was um Himmels willen hatte der Mensch gewollt? Welches Interesse konnte Siegfried Silber daran haben, Alma aus der Stadt zu entfernen, Alma, mit der er nie etwas zu schaffen gehabt, die er ein einziges Mal im Theater aus der Ferne bewundert hatte! Was konnte es bedeuten, daß er, der gewiegte Geschäftsmann, für einen so unsinnigen Plan Geld – wie Alma behauptete, sogar viel Geld – übrig hatte?

Fritz lobte Alma wegen ihres klugen Verhaltens und sagte ihr, sie solle mit niemandem weiter von der Angelegenheit sprechen. Im Laufe des Nachmittags versprach er ihr, sie zu besuchen. Mit dieser Aussicht, über die sie glücklich war, entließ er das Mädchen.

Siegfried Silber nahm zunächst eine erstaunt beleidigte Miene an, als ihn Berting in seiner Wohnung aufsuchte und ihm auf den Kopf schuld gab, er habe unter falschem Prätext Alma dazu zu bringen versucht, für Geld aus der Stadt zu verschwinden. Auf Fritzens kurze Frage, ob er diesen Sachverhalt anerkenne, erklärte Silber nach einigem Zögern, er wolle nicht bestreiten, bei Fräulein Lux gewesen zu sein und mit ihr gesprochen zu haben; über den Zweck seines Besuches jedoch müsse er jede Auskunft verweigern.

Fritz ärgerte die stolze Miene, die der kleine Mann bei diesen Worten annahm, umsomehr, als er diese Haltung für Schauspielerei hielt. Es war ihm nicht entgangen, daß der Mensch bei seinem Eintritte erbleicht war, und daß auch jetzt seine unruhigen Augen höchst unbehagliche Empfindungen ausdrückten.

Als Fritz durchblicken ließ, daß er das Zimmer nicht zu verlassen gedenke, bevor er nicht volle Klarheit in dieser Angelegenheit erlangt habe, erwiderte der Redakteur des »Impressionist«: »Ich gebe zu, daß mein Besuch bei Fräulein Lux sonderbar erscheinen mag . . . . .«

»Nicht sonderbar, mein Lieber!« unterbrach ihn Fritz, »direkt unverschämt!«

Ein giftiger Blick traf Fritz aus dunklen Augen. Dann schüttelte sich Siegfried Silber und lächelte. »Wenn Sie mich beschimpfen wollen, Berting, so kann ich das nicht ändern. Aber es trifft mich nicht, nein, ganz und gar nicht!«

»Wie kommen Sie dazu, dem Mädchen Geld anzubieten? Das will ich wissen! Wie kommen Sie dazu, in meinen intimsten Verhältnissen herumzuschnüffeln? Sie scheinen ein Spion zu sein. Und hier wollen Sie sich noch aufspielen als der Beleidigte! Nun weiß ich wenigstens, was ich von Ihrem Charakter zu halten habe. Pfui!«

Silber nahm mit einem Male eine tief betrübte Miene an. »Es thut mir sehr leid,« sagte er halblaut und senkte dabei die Augen, »daß ich so von Ihnen verkannt werde. Wenn Sie wüßten, was ich mit meinem, ich will es zugeben, auf den ersten Augenschein etwas ungewöhnlichen und leicht mißzuverstehenden Besuch bei Fräulein Lux bezweckt habe, wenn Sie meine innersten Motive in dieser heiklen Angelegenheit kennten, Sie würden das Wort ›unverschämt‹ zurücknehmen, ich weiß es. Sie würden es zurücknehmen, Berting, und höchstens sagen, daß ich unvorsichtig gewesen, daß ich übereilt gehandelt, daß ich mich von einer, wie soll ich es nennen, übertriebenen Generosität habe verleiten lassen, eine Mission zu übernehmen, die, wenn sie glückte, mir Dank erwarb, da sie mißglückt ist, mir dagegen, wie wir es jetzt sehen, die ärgsten Vorwürfe und Verdächtigungen einträgt, und noch schlimmer, mir einen Freund – so durfte ich Sie doch früher nennen – zu entfremden droht.«

Fritz war in Verzweiflung über diesen Schwall von Phrasen. Der Verdacht, daß hinter solchen Entschuldigungen eine raffinierte Intrigue stecke, die beschönigt werden solle, wuchs bei ihm, je länger jener redete.

»Wollen Sie mir nicht gefälligst sagen,« rief Fritz »was Sie für einen Zweck verfolgt haben bei der ganzen Sache? Ich kenne Sie zur Genüge, Silber, um zu wissen, daß Sie nichts thun ohne Nutzen.«

»Sie zeigen damit, daß Sie mich eben nicht kennen. Hier war Idealismus im Spiele.«

»Idealismus?«

»Ja, der Idealismus der Freundschaft.«

»Welcher Freundschaft?«

»Sie mögen es mir nun übel nehmen oder nicht, Berting; ich sah, oder ich glaubte, zu sehen, daß mit Ihnen in der letzten Zeit eine Veränderung vor sich gegangen sei. Es lastete etwas auf Ihnen, wie eine Benommenheit, ein seelisches Alpdrücken – mit einem Worte, Sie waren nicht mehr der Alte. Ganz besonders habe ich das bemerkt neulich, als wir bei Frau Hilschius zusammen dinierten; auch anderen ist es aufgefallen. Nun können Sie Ihren Freunden doch nicht verwehren, daß sie sich um Sie sorgen. Ich halte das für das gute Recht der Freundschaft, und ich habe mir die Frage vorgelegt, was der Grund sein könne Ihrer Verstimmung. Daß Sie nicht in der glücklichsten äußeren Lage sind, weiß ich; aber ich sagte mir, das kann einen Mann von Bertings Kaliber unmöglich deprimieren. Blieb also nur eines: die Liebe. Wir haben uns über diesen Punkt schon einmal ausgesprochen; Sie werden sich entsinnen. Ich bin soweit Kenner in diesen Dingen, um zu wissen, daß unter Umständen ein Liebesverhältnis für eine fein empfindende Künstlernatur, wie Sie, zur Last, ja zum Ruin werden kann. Von Fräulein Lux wußte ich weiter nichts als das, was man auf den ersten Blick sieht, daß sie hübsch ist. Ich wage aber zu bezweifeln, daß physische Vorzüge allein einem Manne wie Ihnen genügen können. Und sehen Sie, Berting, darauf und darauf allein, gründete sich meine Vermutung, daß Ihr Kummer einen delikaten Grund habe. Habe ich falsch geraten? Ich glaube nicht! Was ich wollte, und was mir leider mißglückt ist, war einfach. Sie zu befreien von einem Drucke, unter dem ich Sie leiden sah. Das war die gute und selbstlose Absicht, die mich geleitet hat, und die von Ihnen so schmählich mißverstanden worden ist.«

»Wissen Sie, daß ich Ihnen kein Wort glaube, Silber!« sagte Fritz, der während der ganzen Rede des Menschen hatte an sich halten müssen, nicht loszubrechen. »Abgesehen davon, daß ich Ihnen nie und nimmer das Recht eingeräumt habe, sich als mein Freund zu gerieren, traue ich auch Ihren selbstlosen Absichten nicht. Sie sind von jemandem geschickt! Und ich glaube zu wissen, von wem. Es wäre mir nur interessant, zu erfahren, welchen Dank Sie von Frau Eschauer erwarten für den Gang?«

Silber zuckte zusammen bei der Frage. Es war das erste Mal, daß Fritz ihn die Fassung verlieren sah. Sein beredter Mund war plötzlich verstummt. Der gekrümmte Rücken wurde runder, die Schultern senkten sich tiefer. Es hatte fast den Anschein, als schäme sich der Mensch.

»Wenn Sie es nun einmal wissen,« sagte er schließlich kleinlaut, »dann wäre es Dummheit, zu leugnen. Aber um eines möchte ich Sie doch inständig bitten: trauen Sie mir keine niedrigen Motive zu, Berting! Daß ich eine Unbesonnenheit begangen habe, will ich gern zugeben. Wenn Ihnen etwas daran liegt, will ich auch bekennen, daß ich mich in Dinge gemischt habe, die mich nichts angehen. Aber lassen Sie den Verdacht fallen, als hätte ich um irgend eines Vorteils willen den Gang zu Fräulein Lux unternommen. Er ist mir, das können Sie glauben, schwer genug geworden. Aber sehen Sie, es ist eine Dame im Spiele, eine kranke Dame. Ich habe, wenn Sie denn durchaus mein Motiv wissen wollen, aus Mitleid gehandelt.«

»Erst sollte es Freundschaft sein, jetzt ist es gar Mitleid! Was soll man Ihnen glauben?«

»Wenn Sie gehört hätten, wie Frau Annie mich bestürmt hat! Ich sage Ihnen, die Frau ist außer sich vor Eifersucht. So, nun wissen Sie alles! Wenn ich Ihnen vorhin nicht die Wahrheit gesagt habe, so geschah das, weil es sich um ein fremdes Geheimnis handelt. Ich hielt es nicht für mein Recht, die Herzensangelegenheiten einer Dame ans Licht zu ziehen. Nun ist es doch geschehen! Ich habe müssen indiskret sein, um mich vor Ihnen zu rechtfertigen. Ich hoffe, Berting, Sie glauben mir nun!«

Die letzten Worte wurden mit starkem Pathos gesprochen. Silber hatte seine ganze selbstgefällige Sicherheit wiedergewonnen. Diesem Menschen war nichts anzuhaben. Wie er es verstanden hatte, die Sache so zu wenden, daß er als der Edelmütige dastand! Man hätte mehr als die Spürkraft und Beharrlichkeit eines erfahrenen Detektivs besitzen müssen, um seiner aalglatten Schmiegsamkeit beizukommen. –

Auf dem Schreibtisch, vor dem diese Unterhaltung geführt wurde, stand die Photographie eines jungen Mädchens. Fritz bemerkte das Bild erst jetzt und konstatierte, daß es niemand anders darstelle als Fräulein Mimi Beierlein. Siegfried Silber, dem so leicht nichts entging, fing seinen Blick auf und lächelte selbstbewußt.

»Sie wundern sich vielleicht, dieses Bildchen hier zu sehen,« sagte der Redakteur des »Impressionist« und nahm die Photographie zur Hand, die er sorgfältig abwischte und mit einer zärtlichen Geste wieder auf ihren Platz zurückstellte.

»Ganz und gar nicht!« erwiderte Fritz. »Fräulein Beierlein ist ja Ihre Mitarbeiterin geworden, wie ich aus der letzten Nummer ersehen habe.«

»Ach mein Gott, ja! Was thut man nicht aus Höflichkeit! Das Gedicht ist ja nicht gerade litterarisch, aber es ist doch auch nicht geradezu schlecht. Und eine so allerliebste Verfasserin – Sie verdenken mir das wohl, Berting?«

»Bewahre! Ich mische mich nicht in Ihre Angelegenheiten, Silber. Und es wäre mir lieb, wenn Sie das gleiche mir gegenüber beobachteten in Zukunft.«

* * *

Während der letzten, bewegten Tage war Fritz nicht dazu gekommen, Hedwig von Lavan aufzusuchen. Jetzt holte er es nach, traf sie aber nicht an. Das pausbäckige Dienstmädchen meinte, das gnädige Fräulein sei zum Herrn Doktor gegangen, eine Erklärung, die Fritz schon mehr als einmal zu hören bekommen hatte, wenn Hedwig nicht zu Haus war.

Er setzte sich in ihr Zimmer. Auf dem Tische lag ein dicker, roter Band: »The Egoist« von George Meredith. Fritz kannte das Buch, ja, es gehörte zu seinen Lieblingen. Es war eines von denen, die er gern zur Hand nahm, um darin nach Laune einzelne Passagen nachzulesen. Und auch heute that er so.

Darüber verging eine Stunde.

Hedwig schien recht lange bei ihrem Mentor zu bleiben. Fritz erhob sich zum Gehen. Er hatte bei dem herrlichen Wetter einen Ausflug vor, den er sich nicht entgehen lassen wollte.

Am nächsten Morgen fand er die üblichen Zeilen von Hedwig vor. Sie sprach ihr Bedauern aus, daß man sich verfehlt habe, gleichzeitig lud sie ihn zum Essen ein.

Fritz hatte für diesen Tag bereits eine Verabredung mit Heinrich und Toni Lehmfink. Er begab sich daher zu Hedwig, um ihr zu sagen, daß er nicht abkommen könne. Sie bedauerte das und fragte nebenbei, ob er für den ganzen Nachmittag und Abend versagt sei.

Dann legte sie ihm Fahnen vor von ihrer Novelle. Sie hatte noch niemals Korrekturen gelesen und bat um Unterweisung darin.

Fritz blieb zum Luncheon. Hedwig erzählte, daß sie Briefe habe von den Tanten. Danach gehe es Amanda Tittchen besser; die Ärzte hätten ihr die Heimreise gestattet. Man müsse also auf baldige Rückkehr der Damen gefaßt sein.

Lachend fügte Hedwig hinzu, sie sei bereits dabei, all die Scheußlichkeiten, die sie aus den Zimmern entfernt habe, wieder an ihren Platz zu bringen, überhaupt das ganze Hauswesen in die altgewohnten Gleise zurückzuleiten. Das Ende der schönen Freiheit nahe mit Macht heran. Die alten Jungfern dürften um Gottes willen nicht merken, daß während der Abwesenheit der Katze die Mäuse in der Wohnung getanzt hätten.

So machte sie sich auf Kosten ihrer Pflegemütter lustig. Fritz berührte dieser Ton unangenehm. Sicherlich waren die Damen Tittchen komische Figuren, aber es schien nicht gerade Hedwigs Sache, mit ihren Wohlthäterinnen Spott zu treiben.

War es nicht, als spränge dieses junge Ding mit den Menschen um, wie ein Spieler mit seinen Figuren, ohne jeden Herzensanteil? –

Fritz bildete sich ein, die Frauen ein wenig zu kennen. Sie hatten sich ihm in mannigfaltigster Gestalt gezeigt. Allen schien doch gemeinsam: Unmittelbarkeit des Gefühls, die Mitteilsamkeit der wärmeren, offeneren Natur.

Aber Hedwig von Lavan warf all seine Kennerschaft über den Haufen. Ihr Wesen und Verhalten gab beständig beunruhigende Rätsel auf. Was hätte er darum gegeben, auf kurze Minuten nur sie mit seinen Blicken durchdringen zu können, um endlich einmal zu entdecken, was hinter der lieblichen Maske ihrer Züge sich verberge.

Er hatte manchmal ihren kühlen, grauen Augen gegenüber das Gefühl, Modell zu sitzen. Derselbe überlegene Hohn, mit dem sie die Menschen ihrer Umgebung behandelte, schien ganz versteckt auch dann um ihre Mundwinkel zu zucken, wenn sie mit ihm sprach.

Unbefriedigter denn je schied er heute von ihr, und der Gedanke, daß er den Nachmittag mit dem Geschwisterpaar Lehmfink verbringen werde, bedeutete ihm in dieser Stimmung geradezu Trost.

Heinrich schlug einen Spaziergang vor über die Berge, nach einem beliebten, ganz von Wald umgebenen Ausflugsort, der sich gerade jetzt, wo am Nadelbaum der Maiwuchs sproßte, und die Buche im Schmucke des jungen Laubes stand, aufs beste präsentieren mußte.

Während Toni sich für den Gang zurecht machte, hatten die beiden Freunde eine kurze Unterredung. Heinrich erkundigte sich nach Almas Befinden; Fritz gab zur Antwort, daß es ihr gut gehe. Er versuchte, dem wenig behaglichen Thema zu entfliehen! Lehmfink jedoch ließ sich so nicht abfertigen. Er äußerte sein Staunen, daß Fritz noch keinerlei Vorbereitungen getroffen habe, Alma die schwere Zeit, welche immer näher heranrückte, zu erleichtern. Er wies den Freund auf die Größe der Verantwortung hin, die er auf sich nehme, wenn dem Mädchen ein Unfall zustoße.

Es war für Fritz wunderlich, hier mit nüchtern verständigen Worten Dinge berührt zu hören, an die er sich nicht einmal in Gedanken herangewagt hatte, von einer Art Aberglauben beseelt, als könne durch das Nicht-daran-denken das Unabwendbare hinausgezögert werden.

Lehmfink riet, Alma, wenn es erst soweit sein werde, in einer Frauenklinik unterzubringen. Dann stieß Toni zu den beiden, und damit verbot sich das Weiterführen dieser Unterhaltung von selbst.

 

Sie hatten zu dreien Platz genommen im ländlich einfachen, nur mit einem Holzzaun umgebenen Garten einer Restauration. Die alten Kastanienbäume, deren zart rosagelbe Blättchen eben die klebrigen Hüllen sprengten, gaben noch wenig Schatten. Aber man hatte das Haus hinter sich zum Schutze gegen die Frühlingssonne. Vor ihnen lief die Straße vorbei, dahinter, jenseits des Wassers, erhob sich ein mäßig hoher, steiler Berg, der mit Fichten und Tannen bewachsen war. Von dem felsigen Gipfel leuchteten, einer Mütze gleich von hellgrüner Farbe, luftige Buchenkronen auf silbergrauen Stämmen in den blauen Himmel hinein.

Der vordere Teil des Gartens war schon ziemlich besetzt von Gästen, die aus der Stadt gekommen waren, im Wagen, per Rad oder mit der Eisenbahn, die wenigsten zu Fuß; denn die Entfernung war schon ziemlich groß.

Fritz und das Geschwisterpaar unterhielten sich damit, die Kommenden und Gehenden bei sich Revue passieren zu lassen, zu beobachten und wohl auch zu kritisieren. Heinrich und Fritz, die über Jahr und Tag in diesem Lande lebten, hatten sich bereits so an die Aussprache der Eingeborenen gewöhnt, daß sie ihnen kaum noch auffiel. Tonis Ohr war minder abgestumpft gegen das Außerordentliche dieses Idioms. Es gewährte ihr Belustigung, das Völkchen von munteren Ausflüglern in seinen Äußerungen harmloser Gemütlichkeit zu belauschen.

Man sprach über die große Verschiedenheit der einzelnen deutschen Stämme. Fritz Berting nahm für die Niedersachsen die reinste Sprache und die feinste Lebensart in Anspruch. Toni trat für Gradheit und kerniges Wesen des Schwabenvolkes ein. Heinrich stellte die Behauptung auf, daß es eine der vielen großen, in der Zukunft zu lösenden Aufgaben sei, einen festen deutschen Typus zu entwickeln, ohne die Stammeseigenart zu verwischen.

Doch vertiefte man sich nicht weiter in das Thema. Der Trubel, der ringsum herrschte, ließ eine intimere Unterhaltung kaum aufkommen.

Viele Familien hatten ihre Kinder mitgebracht, die spielend zwischen den Tischen hin und her liefen. Hier schien ein Eldorado zu sein für Liebespärchen. Dazwischen sah man Schüler, Touristen und Stadtdamen, die zum ersten Male ihren Teint der Frühlingssonne aussetzten. Die Kellner hatten alle Hände voll zu thun. Der Wirt machte glänzende Geschäfte.

Soeben schien wieder ein Eisenbahnzug angekommen zu sein, der neuen Nachschub heranbrachte.

Fritz betrachtete sich die verschiedenartigen Gestalten, als sein Blick gefesselt wurde durch ein Paar, einen Herrn und eine Dame, die getrennt gingen von dem übrigen Troß.

Diese zierliche Gestalt im schicken, grauen Straßenkleide, der große, bartlose Mensch neben ihr im Bummelanzug mit dem hellen Schlapphut – – – Fritz Berting mußte an sich halten, nicht einen Ruf der Überraschung auszustoßen, als er nicht weiter als zwanzig Schritt von sich, jenseits des niederen Zaunes, Hedwig von Lavan und Waldemar Heßlow vorüberschreiten sah.

Er saß wie erstarrt. Der Gedanke, aufzuspringen und jenen nachzueilen, kam ihm zu spät. Schon war die Vision verschwunden.

Heinrich Lehmfink wunderte sich über Fritzens verstörtes Aussehen und fragte, ob ihm etwas fehle. Fritz, dem im Augenblick keine andere Entschuldigung einfiel, sagte: er glaube, sich erkältet zu haben; ihm sei nicht wohl zumute.

Das Geschwisterpaar zeigte sich ernstlich besorgt und beriet, was zu geschehen habe.

Fritz hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt. Er wollte unter allen Umständen herausfinden, was das eben Gesehene zu bedeuten habe. Die Spur der beiden hier weiter zu verfolgen, schien zwecklos. Am meisten Aussicht sie zu überraschen hatte man wohl, wenn man sich in der Nähe des Bahnhofs postierte; denn, da sie mit der Bahn gekommen, würden sie wohl auch von dort wieder abfahren.

Er erklärte, daß er nach Haus zurückkehren wolle; die Freunde sollten sich jedoch ja nicht durch ihn in ihrem Vergnügen stören lassen. Aber die Geschwister wollten davon nichts hören. Sie begleiteten ihn zum Bahnhof. Fritz verwünschte im stillen ihre wohlgemeinte Fürsorge.

Als ob er einen Schlag vor den Kopf bekommen hätte, ging er einher. Hedwig hinterging ihn! Mit diesem widerwärtigen, aufgeblasenen Gesellen Heßlow, der keinen anderen Vorzug hatte als seine muskulöse Figur, hinterging sie ihn. War es denn möglich? Wer weiß, wie oft sie sich hinter seinem Rücken bereits mit dem Schauspieler getroffen haben mochte!

Heinrich Lehmfink hatte festgestellt, daß der nächste stadtwärts gehende Zug sehr bald eintreffen werde. Fritz, der seinen vorhin gefaßten Plan, hier auf das Pärchen zu warten, längst wieder aufgegeben hatte, löste ein Billet und saß kurz darauf im Coupé.

Er wollte Hedwig von Lavan nicht wieder sehen, nie im Leben wieder! Sie war ihm widerwärtig, ekelhaft, verächtlich.

Die Eifersucht erfaßte ihn, schüttelte ihn wie ein Fieber. Er konnte nur den einen qualvollen Gedanken denken: Was treiben die beiden jetzt? – Seine Phantasie malte ihm die äußersten Möglichkeiten körperhaft deutlich vor. Er hätte aufschreien mögen, zähneknirschend die Fäuste ballen vor ohnmächtig blöder Wut. Seine Gedanken, wie zügellose, gierige Hunde, eilten immer wieder zurück zu diesem Bilde in verzweifelter, selbstquälerischer Wollust.

Er wußte, daß er lächerlich war, daß seine Eifersucht sinnlos sei, zwecklos und unberechtigt. Welches Recht hatte er denn auf Hedwig? Sie war frei. Wenn sie sich wegwerfen wollte, konnte er sie daran hindern? –

Aber daß sie so geschmacklos war, gerade sie! Daß sie den Unterschied nicht sah zwischen ihm, Fritz Berting, und einem Waldemar Heßlow! Daß sie sich hatte übertölpeln lassen von niedrigster Sinnlichkeit, sie, der er zugetraut, daß sie das feinste Gefühl besitze für Nuance, und die empfindlichsten Künstlernerven.

Zu denken, daß man sie hätte haben können! Zu denken, daß man es vielleicht nur versehen hatte durch Zartgefühl! Daß man mit aller Verfeinerung und Geisteskultur schließlich doch den kürzeren gezogen hatte stupider Brutalität gegenüber, die skrupellos auf das eine Ziel losgegangen war und es auf kürzestem Wege erreicht hatte.

Als Fritz in der Stadt ankam, stand er vor der Frage, was er nun eigentlich thun solle. Auf dem Bahnhof lauern, bis das Paar zurückkam, und ihnen dann nachlaufen? – Er wollte sich nicht noch lächerlicher machen, als er es schon war.

Er ging ins Kaffeehaus und versenkte sich in Zeitungen. Bald fand er jedoch, daß er nicht imstande sei, aus den gedruckten Zeilen irgendwelchen Sinn herauszulesen. Er verließ das Café und begab sich in seine Wohnung. Auf dem Tische fand er noch Hedwigs Brief vom Morgen aufgebrochen liegen.

Der Anblick ihrer Handschrift stellte ihm die ganze Persönlichkeit im Nu vor die Seele. Er sah sie an ihrem Schreibtisch in dem kleinen Zimmer sitzen und diese Zeilen auf das Papier werfen, mit ihrem undefinierbaren Lächeln um die schmalen, verschlossenen Lippen. Jetzt hatte dieses Lächeln schon eher einen Sinn für ihn bekommen; Spott hieß es und List.

Wie oft mochte sie sich schon auf seine Kosten belustigt haben! Vielleicht gab es ihren Zusammenkünften mit dem Galan erhöhten Reiz, daß sie ihn betrügen konnte. Vielleicht gehörte sie zu jenen raffiniert grausamen Naturen, die einen Zusatz von Gefahr brauchen, um Wollust zu empfinden.

Wie er sie haßte, wie er diese kühlen, grauen Augen, diese glatte Stirn, diese zarte Haut haßte als heimtückische Verführer seiner Sinne! Wenn er das Mädchen hier gehabt hätte, er hätte sie schlagen können, würgen wollen, um ihr zu zeigen, daß auch er brutal, roh, gemein zu sein vermöge, da ihr am Manne das Tier allein zu imponieren schien.

Die Erinnerung an manche in ihrer Gesellschaft verbrachte Stunden trieb ihm die Schamröte ins Gesicht. Was hatte er nicht alles in Hedwig hineinphantasiert! Welche Feinheit des Empfindens und des Geschmackes, welche Unberührtheit des Wesens. Für ihn war eine musikalische Wirkung ausgegangen von ihr. Zu Versen hatte sie ihn inspiriert. Diese Verse! – Angeschmachtet hatte er sie wie der grünste Junge. Zu übersinnlicher, sentimentaler Liebe hatte ihn eine Person hingerissen, die, wenn man ihr hinter die Maske blickte, die Instinkte einer Dirne offenbarte.

Zu welchen Hoffnungen und Erwartungen sublimster Art hatte er sich nicht verstiegen, verleitet durch ihre Lieblichkeit, die wie ein zartes Deckblatt die Fäulnis dieser jungen Knospe verbarg. Führer auf geistigem Gebiete hatte er ihr sein wollen. Ihren Geschmack läutern, ihren Horizont erweitern, ihren Stil durchbilden. Das waren einige seiner Absichten gewesen. Wie war sie ihm voll Aufmerksamkeit und Wißbegier gefolgt, hatte alles, was er ihr rückhaltlos bot, gierig aufgenommen, klug sich zu eigen gemacht! Und welche haarscharfe Linie hatte sie dabei zwischen dem Lehrer und dem Freunde zu ziehen gewußt; wie hatte sie mit erstaunlicher Geistesgegenwart verhindert, daß der Lehrer je seine Stellung vergesse, daß er sich Rechte anmaße des Freundes!

Hedwig schien sich wundervoll auf die Kunst zu verstehen, Geist und Sinnlichkeit, Lernen und Genießen in getrennten Scheuern zu sammeln.

Aber bei all den wütenden Anklagen, die der Eifersüchtige gegen die schleuderte, von der er sich betrogen fühlte, gab es doch auch eine Stimme in ihm, die zur Nachsicht mahnte.

War denn Hedwigs Schuld wirklich klar erwiesen?

Fritz las noch einmal ihren Brief durch. Sie hatte ursprünglich offenbar die Absicht gehabt, den Nachmittag mit ihm zu verbringen. Vielleicht war die Sache ganz harmlos so verlaufen, daß der Schauspieler Hedwig besucht hatte, nachdem Fritz gegangen, und bei dem schönen Wetter hatten sich die beiden zu einem Ausfluge gefunden. Vielleicht! – Denn warum war ihm der nämliche Wunsch, mit ihr auszufliegen, so oft standhaft verweigert worden?

Der Gedanke kam Fritz, sofort in Hedwigs Wohnung zu gehen. Sie konnte kaum zurück sein. Wenn man hörte, welche Erklärung heute für ihr Ausbleiben vorgebracht wurde! – Vielleicht gab das einen Fingerzeig.

Der Wunsch, Hedwig nicht so schlecht zu finden, wie er sie sich in der letzten Stunde gemacht hatte, beflügelte seine Schritte.

Das pausbäckige Mädchen nahm eine erstaunte Miene an, als Berting an der Thür erschien und fragte, ob Fräulein von Lavan zu Haus sei. Das gnädige Fräulein sei in der Stadt, zu Besorgungen, lautete die nach einigem Überlegen zögernd gegebene Antwort. Wann sie fortgegangen sei, erkundigte sich Fritz. Vor einer Stunde etwa, den ganzen Nachmittag über wäre sie zu Haus gewesen, hieß es. Der Eifer, mehr zu sagen, als gefragt war, allein schon verriet die Lüge.

Berting wußte genug. Die Zofe war also mit im Komplott.

Er ging. Wohin jetzt? –

Einen Augenblick dachte er daran, Alma aufzusuchen. Aber der Gedanke erschien ekelhaft. Sollte Alma ihn trösten, daß er Hedwig verloren hatte? –

Schließlich blieb er in dieser Stadtgegend, schlenderte die Straße auf und ab und hielt seine Augen auf die Passanten gerichtet. Es wäre doch interessant gewesen, festzustellen, wann sie zurückkehren würde, ob allein oder in Begleitung. Wer weiß, vielleicht nahm sie den Verehrer gar mit zu sich ins Haus! –

Wieder kam die Eifersucht über ihn, diesmal als tiefe, dumpfe Verzweiflung. Sein Stolz lehnte sich kaum noch auf, er knirschte nicht mehr vor Haß und Verachtung, viel lieber hätte er weinen mögen über seine Ohnmacht.

Was wollte er noch hier? Sich vergewissern über das, was er ganz genau wußte! Hedwig anhalten, zur Rede stellen, seine Eifersucht zeigen, dem glücklichen Rivalen den Triumph versüßen! –

Sinnlos war es, ganz sinnlos, was er vorhatte, und seiner ganz unwürdig. Aber er konnte nicht anders. Es hielt ihn fest, es zog ihn zu seiner eigenen Qual hin zu dem, was Demütigung werden mußte für ihn.

Er hatte irgendwo einmal ein Blatt gesehen von einem modernen Meister, die Eifersucht darstellend: einen kahlen, eunuchenartigen Männerkopf, einäugig, stieren, leeren Ausdrucks. Das Bild der Impotenz, des Entmanntseins. Der Künstler hatte das schreckliche Gefühl an der Wurzel gefaßt, den Fluch, die Lächerlichkeit des Hungrigen, der mit wässerndem Munde verdammt ist, dem glücklichen Schmausen anderer zuzuschauen.

Die Straßenlaternen brannten schon; Fritz Berting ging noch immer auf und ab. Und wenn er die Nacht auf der Straße hätte zubringen müssen, er wollte es durchsetzen, Hedwig zu sehen.

Eine Droschke kam die Straße herauf. Sie fuhr langsam und hielt schließlich. Fritz trat in den Schatten einer vorspringenden Ecke und beobachtete mit verhaltenem Atem.

Hedwig entstieg dem Wagen. Er erkannte sie sofort, obgleich sie in einen langen, weiten Mantel von dunkler Farbe gehüllt war. Sie blieb neben dem Wagen stehen und fragte den Kutscher nach dem Fahrgeld.

Inzwischen war Fritz aus seinem Versteck vorgetreten. Hedwig suchte beim Schein der Wagenlaterne in ihrem Portemonnaie. Sie bemerkte Fritz erst, als er grüßend vor ihr stand.

»Sie!« –

»Ja, wenn Sie gestatten! Darf ich Ihnen vielleicht mit kleinem Gelde aushelfen?«

»Nein, ich danke! Was wollen Sie denn hier so spät?«

»Das möchte ich Sie fragen!«

»Ach, ich war nur bei Doktors. Die haben mich so lange aufgehalten.«

»Ich denke, Ihr Doktor wohnt gleich hier um die Ecke herum – wie?«

Da das Mädchen hierauf nicht sogleich antwortete, fragte er den Kutscher: »Wo kommt denn die Fahrt her?«

Der Mann, in der Ansicht, daß ihm vom Preise abgehandelt werden solle, erklärte, billiger könne er es nicht machen bei der Entfernung, und nannte die Stadtgegend, aus der man komme.

»Wohnt nicht Waldemar Heßlow dort herum?« fragte Berting halblaut, nur für Hedwig verständlich.

Das Mädchen schwieg, drückte dem Kutscher ein Geldstück in die Hand, zog ihren Mantel fester um sich und schritt nach der Gartenthür, die sie aufschloß.

Als sie schnell hindurchschlüpfen wollte, vertrat ihr Fritz den Weg. »Ein paar Worte nur!« sagte er.

»Was ist denn mit Ihnen heute? Was wollen Sie von mir?« erwiderte Hedwig, wobei ihre Stimme kaum merklich zitterte.

»Sie haben den Nachmittag mit Waldemar Heßlow verlebt? Leugnen Sie das?«

»Leugnen – wozu? Aber was fragen Sie, wenn Sie es wissen?«

»Und sind mit ihm in seiner Wohnung gewesen?«

»Warum nicht?«

»Was ist das für ein Mantel, den Sie anhaben? Heute Nachmittag trugen Sie den nicht.«

»Er ist Heßlows. Ich wollte mich nicht erkälten bei der Nachtfahrt. Morgen schicke ich ihn wieder zurück, oder vielleicht holt er ihn sich selbst. Wissen Sie nun genug?«

Damit wollte Hedwig nach dem Hause enteilen. Fritz sprang ihr nach und faßte sie am Handgelenk.

»Hedwig, sich so wegzuwerfen! Es ist abscheulich, gemein – ich habe keine Worte!«

»Wenn Sie wüßten, mein Lieber, wie Ihnen moralische Entrüstung schlecht steht!«

»Ich brauche nur ein Wort zu sagen, und Ihr Renommee ist hin. Sie haben aufgehört Dame zu sein!«

»Und ich brauche nur ein Wort zu sagen, und Sie sind lächerlich vor aller Welt. Lassen Sie mich los! Ich will zu Bett gehen. Ich bin müde; dieses Wetter macht müde!«

Fritz Berting stampfte mit dem Fuße auf. Er ließ ihren Arm nicht fahren. Wenn er nur irgend etwas gewußt hätte, womit er diese Person hätte verwunden können, so recht tief verwunden!

»Denken Sie denn, daß Heßlow Ihnen Treue halten wird? Nicht einmal jetzt ist er Ihnen treu, ich wette.«

»Gott, sind Sie geschmacklos und dumm! Wer sagt denn, daß ich mir aus Treue etwas mache?« Sie brach in ein Lachen aus, das heftiger wurde, je länger er ihren Arm drückte. Schließlich gab er sie frei.

Hedwig lief schleunigst zum Haus. Als sie auf den Entreestufen stand und die Hausthür aufgeschlossen war, rief sie ihn mit Namen.

»Was wollen Sie noch?« fragte er.

»Frieden machen. Wollen Sie morgen zum Luncheon zu mir kommen?«

»Sind Sie verrückt?«

»Kommen Sie doch nur! In spätestens acht Tagen sind die Tanten zurück, und dann geht Fastenzeit an für mich Ärmste. Wollen Sie nicht?«

Fritz wandte ihr den Rücken. Er hörte noch ein höhnisches Gekicher hinter sich drein.

* * *

Er war fertig mit Hedwig von Lavan, das verstand sich von selbst; aber mit dem, was sie ihm angethan hatte, war er noch lange nicht fertig. Es schien ihm das Bitterste, das Schmachvollste, was er jemals erlebt. Er kam nicht los davon in Gedanken. Es war nicht Eifersucht, mehr ein melancholisches Grübeln, ein selbstquälerisches Immer-von-neuem-durchleben seines Irrtums.

Was seinen Stolz am meisten kränkte, sein Selbstbewußtsein am tiefsten erschütterte, war der Gedanke, daß er sich so hatte täuschen lassen. Er glaubte doch Menschenkenntnis zu besitzen und hatte sich immer eingebildet, ein Frauenkenner zu sein. Hier war er genasführt worden wie der allergrünste Anfänger. Eigentlich nur Zufall, plumper Zufall hatte ihm schließlich die Augen geöffnet. Wäre dieser Zufall nicht gewesen, so würde er die Rolle des nützlichen Freundes und schöngeistigen Lehrers, die ihm das Fräulein gütigst angewiesen hatte, ruhig weitergespielt haben.

Über ihre Falschheit konnte man noch am ersten hinwegkommen, seit man sie in ihrem wahren Wesen durchschaut hatte. Schlimmer war das Bewußtsein, ein großes Kapital von Hoffnungen, einen Einsatz von Illusionen in sie hineingesteckt und verloren zu haben. Er merkte es jetzt erst, was er bei dieser Katastrophe einbüßte, was mit Hedwig von ihm ging, was sie ihm an guten Kräften gekostet hatte.

Gewarnt war er oft genug worden durch Stimmen seines Inneren. Hatte er sich nicht wiederholt selbst gesagt, daß er bei diesem Verkehr mehr gebe, als er jemals zurückerhalten konnte? Aber das Rätsel ihrer Persönlichkeit hatte ihn immer und immer wieder angereizt. Der Traum, doch noch einmal zum Kern dieses melusinenartigen Wesens durchzudringen und ihre schlummernde Psyche zu wecken, war ihm zum Verführer geworden.

Berting liebte die Abrechnungen nicht, weder die pekuniären, noch die moralischen. Auch als er noch im Besitze von Geld war, hatte er ohne Budget gelebt. Aber immer konnte man beim besten Willen nicht darum herum kommen, eine Summe zu ziehen.

Ein Gefühl kam über ihn, wie es einen manchmal im Traum quält, als gehe man auf ganz dünner Decke über schwankendes Moorland. Der nächste Schritt schon mochte das Versinken bringen. Weit und breit kein Mensch, dessen Hilfe man hätte anrufen können.

Wohin trieb sein Leben? Was hatte er in der letzten Zeit gewonnen? War er nicht viel ärmer als zuvor?

»Sublime Sensationen«, wie es Chubsky genannt haben würde, hatte ihm Hedwig von Lavan suggeriert. Hielt er, nachdem dieser Rausch der Nerven verflogen war, irgend etwas Gutes, Erfreuliches in Händen, irgend etwas, woran er sich hätte erheben können? –

In einen trostlosen Sumpf hatte ihn ein zwitterhafter Kobold gelockt, um ihn mit verwirrten Sinnen hohnlachend dort im Stich zu lassen.

Er hatte Alma verlassen, weil ihm das Mädchen geistig nicht genügte, und weil er meinte, daß sie ihn auf ein tieferes gesellschaftliches Niveau herabziehe. Bei Hedwig hatte er das zu finden geglaubt, was Alma fehlte: Haltung der Dame, Kultur des Geistes und Geschmackes.

Was hatte er bei diesem Wechsel schließlich eingetauscht? War er gestiegen, oder war er nicht vielmehr jählings gestürzt aus lächerlicher Einbildung zur platten Erde.

Bis zur Selbstverachtung herabdrücken konnte einen das schmachvolle Bewußtsein, daß man die treue, in schwerer Zeit erprobte Freundin verachtet, preisgegeben und verraten hatte um eines Wesens willen, das sich, bei Lichte besehen, als Spuk auswies und Phantom.

Zu Alma trieb es ihn jetzt mit verjüngter Zärtlichkeit. Fritz sah das Mädchen mit neuen Augen, die gelernt hatten, das Echte zu suchen, weil sie noch schmerzten vom Erkennen des Zerrbildes. Er fand melancholischen Trost in dem Gedanken, seine Untreue gut machen zu können.

Alma wußte gar nicht, wie ihr geschah. Sie hatte zwar niemals die Hoffnung gänzlich aufgegeben, daß der Liebste ihr eines Tages zurückkehren würde; denn sie trug ein geduldiges und unverzagtes Herz in der Brust. Der Glaube an die Kraft der Liebe war ihr angeboren. Nie, selbst in der schlimmsten Zeit seiner Vernachlässigung nicht, hatte sie geglaubt, daß sie ihren Fritz für immer verloren habe. Jeden Abend betete sie, daß Gott sein Herz wenden und ihn ihr zurückbringen möge. Nun sah sie ihre Bitte herrlich erfüllt.

Sie forschte nicht, wie und wodurch sein Sinn gewandelt worden sei; sie ließ sich an dem genügen, was sie erlebte: daß er wieder zu ihr kam, sie mit Aufmerksamkeiten überschüttete, und, so gut er es verstand, für ihr Wohlergehen Sorge trug.

Ihr Kummer war wie weggewischt, die bitteren Gefühle wie ausgelöscht. Nichts trug sie ihm nach. Über das Vergangene nachzugrübeln, war diesem Geschöpfe ebenso wenig gegeben, wie weit voraus zu sorgen für die Zukunft. Sie lebte auch in ihren Gefühlen aus der Hand in den Mund. Der Geliebte hielt wieder zu ihr, nun war alles gut!

Den schmerzhaften Stunden, die bald für sie kommen mußten, sah Alma getrosten Mutes entgegen. Sie hatte einen neuen Grund, sich auf die Mutterschaft zu freuen; durfte sie doch jetzt hoffen, daß das Kind das Band der Neigung zwischen ihr und dem Geliebten fester knüpfen werde.

Fritz hatte auf Heinrich Lehmfinks Anregung hin neuerdings Schritte gethan, Alma in einer Frauenklinik unterzubringen. Er stieß jedoch auf verschiedene Schwierigkeiten. Die öffentlichen Anstalten waren wohl bereit, sich eines Falles wie des von Alma Lux anzunehmen, doch wäre das Mädchen dort mit dem Gros untergeordneter Wöchnerinnen aus den niedersten Ständen zusammen gekommen. Privatanstalten aber waren unerschwinglich teuer. Schließlich wurde Fritz durch Lehmfink mit einem jungen Mediziner bekannt gemacht, einem Assistenzarzt an dem größten Krankenhause der Stadt. Es gelang, den Mann für den Fall zu interessieren. Durch Doktor Mosch erhielt Fritz die beruhigende Zusicherung, daß Alma mit besonderer Rücksicht behandelt werden solle.

Es war vorauszusehen, daß die Geldausgaben groß sein würden in der nächsten Zeit. Dazu herrschte in seiner Kasse wieder einmal völlige Ebbe. Fritz überschlug alle Möglichkeiten, die ihm blieben, Geld heranzuschaffen. Zunächst dachte er natürlich an den Erwerb aus der Feder.

Es war ihm gar nicht nach Dichten zumute. Viel lieber hätte er irgend eine rein mechanische Arbeit verrichtet. Seine Phantasie war vertrocknet; sein Selbstbewußtsein, der Glaube an seine Kraft, gelähmt. Er kam sich vor wie ein Vogel mit gebrochenen Schwingen; nur zu gut wußte er, woher ihm die Wunde gekommen war.

Von seiner jüngsten Novelle erschien eben der Schluß im »Impressionist«. Wenn man nun versuchte, diese Arbeit, sobald sie dort frei würde, noch einmal zu verkaufen! Unglücklicherweise hatte er sich jedoch gebunden, die Novelle nicht vor Ablauf eines Jahres anderwärts abdrucken zu lassen. Und dazu stand er sich mit Siegfried Silber seit der letzten Auseinandersetzung nicht gerade auf bestem Fuße. Doch entschloß er sich, an ihn zu schreiben, um die Freigabe der Novelle zu erwirken. In einem kurzen Antwortschreiben lehnte der Redakteur des »Impressionist« ohne Angabe von Gründen diese Bitte ab.

Nun blieb nur noch Weißbleicher. An ihn sich zu wenden war ebenfalls peinlich. Der Verleger betrachtete den »Impressionist« nach wie vor als feindlichen Einbruch in seinen Geschäftskreis und hatte Fritzens Beteiligung an dem Unternehmen als eine Art Untreue vermerkt.

Berting wunderte sich daher nicht, daß er vom Chef der Firma Weißbleicher äußerst kühl empfangen wurde. Sein Vorschlag, ein Buch von George Meredith für den Verlag zu übersetzen – ein Plan, den er über Nacht gefaßt – fand bei dem Geschäftsmann nur mitleidiges Lächeln. Es stellte sich heraus, daß Weißbleicher von dem großen englischen Romancier überhaupt noch nichts gehört hatte.

Da aber gerade vom Übersetzen die Rede war, kam dem Verleger ein Einfall. Er hatte da vor einiger Zeit das Übersetzungsrecht erworben an einem französischen Roman, von dem er sich Erfolg versprach. Eine Dame, der er das Buch zum Übersetzen gegeben, hatte es ihm zurückgeschickt mit dem Bemerken, es sei ihr zu unanständig. Weißbleicher meinte, der Verfasser des »Geschlecht« werde vielleicht weniger prüde sein.

Fritz ließ sich das Buch geben. Er hatte von dem Autor schon etwas gelesen. Er war einer von jenen französischen Prosaschriftstellern, die ohne die Ambition Dichter zu sein, leidlich interessante Bücher schreiben. Diese Art beherrscht das Handwerkszeug ihres Metiers in hohem Grade, und sie erreicht mehr als mancher vielleicht begabtere Kollege diesseits des Rheines, weil sie auf den Schultern steht einer Schule, und vor allem, weil sie klug genug ist, in Ermangelung von Eigenart sich auf die Tradition zu stützen. So war auch dieses Buch gut geschrieben und technisch äußerst geschickt gemacht. Daß es frivol war, verstand sich von selbst.

Nachdem man eine Zeit lang hin und her gefeilscht hatte, kam der Vertrag zustande. Fritz nahm mit einem Honorar vorlieb, das nicht im Verhältnis stand zum Umfange des Buches. Er war froh, wieder Arbeit zu haben, wenn sie auch minderwertig war. Das Übersetzen half ihm vielleicht äußerlich wenigstens über seine Verstimmung hinweg. Er füllte Bogen auf Bogen, und Weißbleicher war ganz erstaunt, wie schnell die Sache vonstatten ging.

Fritzens Lebensweise schien zurückkehren zu wollen zu jenen Zeiten, wo er mit Alma zusammen in dem Vorstadtquartier bei Frau Klippel gewohnt hatte. Den ganzen Tag Schreiberei, nur in den Abendstunden, die er jetzt regelmäßig bei Alma zu verbringen pflegte, ein wenig der Arbeit abgestohlene Freiheit.

Aber damals war es doch ganz anders gewesen; damals hatte er mit tiefer Anteilnahme am eigenen Werke geschaffen. Jetzt war er herabgesunken zum Übersetzer. Nur das Bewußtsein, Geld verdienen zu müssen, konnte ihn an der einmal übernommenen Aufgabe festhalten, die ihm je länger je widerwärtiger wurde.

Hie und da sah er Heinrich Lehmfink, der, wenn er zur Stadt kam, selten verfehlte, ihn aufzusuchen. Sie gingen dann, einer alten Gewohnheit folgend, ins Café. Die Zeitungen, welche bei Lehmfink, seit er den Journalismus verlassen hatte, stark in den Hintergrund getreten waren, bekamen neuerdings wieder Interesse für ihn, da jetzt über sein Werk »Deutsche Persönlichkeiten« die Besprechungen zu erscheinen begannen.

In dem nämlichen Kaffeehaus hatte der »Impressionist« sein Hauptquartier aufgeschlagen. Siegfried Silber, Theophil Alois und Marcus Hiesel saßen nur wenige Tische von ihnen. Dazu hatten sich neuerdings auch die beiden langhaarigen Poeten aus Frau Hilschius Salon gesellt.

Es war nicht ohne Interesse, diese Corona zu beobachten. In der Kleidung herrschte der Stil von Marcus Hiesel vor. Im übrigen regierte Siegfried Silber. Zu Fritzens Belustigung versuchte der kleine Mann, jetzt, wo er es erreicht hatte, Chef einer Clique zu sein, eine gewisse Bourgeois-Würde anzunehmen. Doch blieb sein seriöses Gebaren nur Pose; es gelang ihm schlecht, die angeborene Fahrigkeit und Lautheit mit dem weihevollen Gebaren in Einklang zu bringen, welches Marcus Hiesel in diesem Kreise zur Mode erhoben hatte.

Für Heinrich Lehmfink war natürlich der Unterschied zwischen dem Dichter Karol und dem Chefredakteur des »Impressionist« weit auffälliger als für Fritz Berting, der die verschiedenen Stadien dieser Mauserung aus nächster Nähe mit angesehen hatte. Fritz erzählte ihm, was er von Silbers Aspirationen auf die Hand von Fräulein Mimi Beierlein, einziger Tochter einer wohlhabenden Hausbesitzerswitwe, wußte.

Lehmfink nickte zufrieden. »Bravo! So mußte es kommen! Erinnerst du dich, Berting, was ich dir hier an dieser Stelle von Siegfried Silber gesagt habe?«

Fritz entsann sich sehr gut des erwähnten Gespräches.

»Er macht schneller Karriere, der Edle, als ich es selbst seiner Fixigkeit zugetraut hätte!« meinte Lehmfink.

* * *

Das französische Buch, das Berting übersetzte, war typisch für den Pariser Sittenroman mittlerer Qualität. Das Buch durfte immerhin Anspruch erheben, zur Litteratur gerechnet zu werden, wenn auch nur zu der des Augenblicks.

Der Roman war eine von jenen letzten Muscheln, welche die große, naturalistische Woge, die über das französische Schrifttum hingegangen ist, ans Land geworfen hatte. Er atmete nicht den menschlich-animalischen Dunst, den Brodem von Schweiß, Blut, Kohlenstaub, Pulverdampf und von Kloakengerüchen, die aus dem gigantischen Cyklus der Rougon-Macquart aufsteigen. Es herrschte bei diesem raffinierten Epigonen mehr der betäubende Duft des Treibhauses vor. Der Autor war geschmackvoller und lieferte feinere Detailarbeit als der große Al-Fresko-Maler Zola mit seiner dunklen Palette. Und die exakte Wirklichkeitsanalyse eines Stendhal, die solide Gesellschaftskenntnis eines Balzac war hier schon umgeschlagen in impressionistische Nervenzerfaserung und Seelenriecherei.

Beim Übersetzen eines Buches lernt man den Autor ganz anders kennen als beim bloßen Durchlesen. Man denkt ihm ja alle seine Gedanken doppelt nach, im fremden und im eigenen Idiome. Man belauscht ihn recht eigentlich in der innersten Werkstätte.

Fritz war erstaunt, mit wie wenig Eigenem und mit wie viel geschickter Mache dieses Werk zusammengestellt war. Die Erscheinung gab ihm zu denken.

War es heutzutage nicht recht leicht gemacht, ein lesbares Buch zu schreiben? Man mußte nur etwas Phantasie, Kombinationsgabe, Geschmack und Sinn für das Aktuelle besitzen. Man konnte auch ganz gut fremde Autoren für sich dichten lassen. Unendlich war ja der Schatz von Gedanken, Kenntnissen und Beobachtungen, den die Vergangenheit allen zugänglich angesammelt hatte. Wie unsäglich schwer war es dagegen, etwas zu geben, das die persönliche Note trug, etwas, das Aussicht hatte, auch nur einige Jahrzehnte zu überdauern!

Er sprach jetzt oft mit Heinrich Lehmfink über solche Fragen. Des Freundes Buch und die Urteile der Presse gaben Anlaß dazu.

Lehmfink gehörte nicht zu den Autoren, welche die Zeitungen gierig durchstöbern nach günstigen Urteilen über ihre Werke. Er wollte mit seinem Buche weniger das Wohlgefallen erregen, als auf den Willen des Lesers wirken.

Das schwache Echo, welches seine »Deutsche Persönlichkeit« in der Öffentlichkeit fand, hätte ihn erschrecken können. Die politischen Tageszeitungen schwiegen das unbequeme Buch einfach tot. Ihnen paßte es nicht, weil es allen Richtungen bittere Wahrheiten sagte, und weil es nichts grimmiger angriff als Schlagworte, allgemein geltende Doktrinen und Schablonen, Dinge, von denen sie lebten. Die wissenschaftlichen Revuen wollten auch nichts davon wissen; ihnen war das Buch zu wenig zünftig. Wenn sie es erwähnten, so bedauerten sie den Mangel an Methode darin; nannten den Autor, falls sie höflich waren: einen Dilettanten, falls grob: einen Querkopf. Ein Waschzettel war dem Buche nicht beigegeben; daraus erklärte sich die Ratlosigkeit mancher Feuilletons ihm gegenüber. Man redete daran vorbei, benutzte wohl auch das zu besprechende Werk als Seil, auf dem man dem Publikum allerhand verblüffende Kunststücklein vorführte.

Ein Erfreuliches hatte die Aufnahme des Buches für den Autor; sie bewies ihm, wie notwendig es gewesen sei, es zu schreiben.

Fritz Berting hielt es für seine Pflicht, die Kultur der Gegenwart, welche Lehmfink seinem Empfinden nach allzu scharf kritisiert hatte, in Schutz zu nehmen. Das scheine ihm ein Fehler an dem schönen und in vielem so gerechten Buche, daß es gegenwartfeindlich sei, daß es unter Mißachtung des Gewordenen in die Vergangenheit flüchte, deren Größe es gegen die Moderne ausspiele.

Lehmfink stellte in seinem Werke die Behauptung auf: die letzten Decennien hätten bei allem äußeren Fortschritt schlecht gewuchert mit dem überkommenen Erbe auf geistigem Gebiet. Fritz verteidigte dagegen die Decadence als eine Erhöhung und Verfeinerung unserer Genußfähigkeit und damit als eine Weiterbildung und Bereicherung der menschlichen Natur nach der Geschmacksseite hin. Lehmfink konnte darin einen Ersatz nicht erblicken für das, was wir in Kraft, Gesundheit und solider Bildung zurückgegangen seien gegen die Weltanschauung der Väter. Er warf der Moderne Seichtheit vor.

»Nehmen wir eine Erscheinung heraus: den Naturalismus. Ich klage ihn nicht der Unsittlichkeit, des Schmutzes an; das wäre kein ästhetisches Werturteil. Seine Mängel liegen für mich im Geistigen. Er ist Oberflächenkunst, daher das Milieu seine Force und das Seelische seine Renonce. Gewisse Erscheinungen hat er begriffen, solche, zu denen scharfe Sinne gehören: alles Physiologische zum Beispiel. Der Metaphysik gegenüber versagt er. Seine Kunstwerke haben Breite und doch keinen Horizont. Mir ist beim Naturalismus immer zumute wie in einem großen Saale mit allzuniedriger Decke. Er hat keine Höhe des Glaubens und keine Tiefe des Fühlens, will keine haben. Seine Dramen kennen nicht große, einfache Probleme, die doch nach Hebbel das A und O sind der Tragödie. Sie dringen nicht vor bis an die Wurzel des wahrhaft Erschütternden, zum Ethos; darum reißen sie nicht fort, begeistern, entflammen nicht, sondern verstimmen nur.«

Fritz warf dieser Behauptung des Freundes einen einzigen Namen entgegen: »Ibsen«.

»Um für Henrik Ibsen ein gerechtes Maß zu finden, muß man ihn nur einmal neben einen anderen Großen stellen: Shakespeare. Dann sieht man sofort, was des Norwegers Stärke und was seine Schwäche ist. Er hat nicht die große, eine Welt umfassende Liebe, den heldenhaften Optimismus, der das Leben bis zu seinen dunkelsten Abgründen durchschaut und es dennoch bejaht. Bei aller Modernität der Probleme ist Ibsen ein alter, schulmeisternder Tüftler, gehalten gegen den ewig jungen Hamlet-Dichter. Und es ist nicht wahr, daß Ibsen uns eine neue Moral gegeben hätte; er hat uns höchstens gezeigt, wo die herrschende morsch und faul zu werden beginnt. Den Ruhm des Arztes will ich ihm nicht abstreiten, des Spezialisten, der ausgezeichnete Diagnosen zu stellen versteht. Aber das gottbegnadete, jugendstarke Ingenium ist er nicht, das uns einen Born der Schönheit und Läuterung aus sich schenkt, wie Dante, Shakespeare, Goethe. Alle diese Großen standen mitten drin im Leben, in ihrer Zeit, ihrem Volke, kämpften, litten, liebten, jubelten, fühlten mit ihren Zeitgenossen. Sie zogen sich nicht zurück in die einsame Höhle der Selbstsucht, wie jener Nordländer es thut, der den Ereignissen kalt, und den eigenen Geschöpfen herzlos gegenübersteht. Was Ibsen in meinen Augen richtet, ist sein Egoismus. Leider hat dieser Ideologe den größten Einfluß gehabt auf unsere Litteratur. Ganz andere Lehrer hätte ich gewünscht für die junge Generation!«

»Ich glaube nicht,« sagte Fritz, »daß die Revolution unseres Geisteslebens durch fremde Größen hervorgerufen ist. Gewisse Einflüsse vom Auslande will ich nicht leugnen. Aber die Eruption wäre gekommen auch ohne Zola, Ibsen, Tolstoj und andere.«

»Gewiß, sie mußte kommen, ebenso wie die Erhebung des vierten Standes. Der Naturalismus und der Sozialismus sind Geschwisterkinder. Beide haben die Luft gereinigt. Beide hatten Berechtigung als Opposition gegen Verfluchung, Philistertum, Versumpfung des Alters. Solange sie jung und stürmisch waren, konnte man ihnen Sympathie nicht versagen; aber jetzt sind sie beide auf dem besten Wege, selbst fette Bourgeois zu werden. Der wissenschaftliche Sozialismus zeigt genau dieselbe Erscheinung wie die naturalistische Dichtung; er bleibt an der Oberfläche haften. Es ist für Mannigfaltigkeit und Originalität bei ihm kein Raum. Darum wird er auch nie und nimmer imstande sein, uns eine Kunst zu schenken. Das ist der Fluch der radikal demokratischen Systeme, daß sie, die auf Freiheit abzielen, doch schließlich in der Fesselung des Individuums enden müssen, weil der Masseninstinkt, dem sie schmeicheln, das Aristokratische haßt. Tod der Persönlichkeit, nicht ihre Befreiung ist das Ende.«

»Nietzsche müßte eigentlich dein Mann sein, Lehmfink. Ich wundere mich, daß du ihn in deinem Kapitel: ›Führende Geister‹ nicht aufgenommen hast.«

»Nietzsche hat kein Führer sein wollen und ist auch keiner geworden. Seine Worte sind haarscharfe Messer ohne Griffe; man kann sie nicht nutzen. Er ist Artist von höchster Form. Tänzer, Dichter und darum – Lügner. Wenn ich an ihn denke, habe ich immer die Vision eines wundervollen Feuerwerkes. Ihn in Ruhe zu lesen, ist vielleicht der höchste Genuß, den irgend ein Moderner gewährt. Aber es bleibt eben beim Genuß. Um Reformator sein zu können, fehlt ihm etwas; das ist: ein Tropfen von Martin Luthers bestem Herzblut, von Luthers gesunder, starker Bauernart. Nietzsche ist ein Tänzer, wie ich sagte. Er hat auch weder jene Treue, noch jene Glut, die das Leben einsetzt für die Lehre. Er besitzt nichts von der Liebe dessen, mit dem er sich so oft verglichen, Jesu Christi. Er hat keine Inbrunst, und er hat daher auch keine Thaten. Er lebt uns seine Lehre nicht vor; darum wird er Bewunderer haben aber keine Jünger. Denn nur die That reißt fort, das Wort allein läßt kalt.«

»Er wollte keine Jünger haben. Er suchte die Größe in der Einsamkeit. Du wirst seiner Bedeutung nicht gerecht, Lehmfink.«

»Das Größte, was er uns gegeben hat, ist etwas scheinbar Negatives, eine kritische Leistung. Ich meine die Hiebe, die er gegen die Sklavenseligkeit des Christentums geführt hat. Seine Kritik der Abkehr vom Leben, der Fleischabtötung, der Askese, jener kriechenden Tugend, die noch bezahlt sein will, trifft die Heuchelei ins Kernholz. Dem Gekreuzigten hat er nichts anzuhaben vermocht; aber die knechtsseligen Verwässerer seiner Lehre hat er für alle Zeiten gebrandmarkt mit unauslöschlichem Hohn. Das ist Nietzsches Verdienst um das Christentum.«

»Ja, liebster Lehmfink, erhoffst du denn vom Christentum noch irgend etwas? Ist es denn nicht längst tot? Ich kann mir nicht helfen, mir kommt es vor wie ein Petrefakt in unserer Zeit.«

»Es ist eine meiner stillen Hoffnungen, Berting, daß das Christentum, nämlich das aus theologischer Umarmung befreite Christentum, einen Grundpfeiler bilden wird des menschlichen Zukunftsbaues. Und auch davon bin ich überzeugt: das Christentum wird germanischen Gepräges sein, oder es wird nicht sein. ›Die Freiheit eines Christenmenschen‹, die Luther wohl geahnt, die er uns aber nicht zu verschaffen vermocht hat, müssen wir uns noch erkämpfen, nicht in Religionskriegen, aber in geistigen Schlachten. Zivilisation ohne Religion ist nicht denkbar. Es ist ein Mangel der Moderne, eine ihrer Oberflächlichkeiten, daß sie irreligiös ist. Zwei Sünden werfe ich den Jungen vor, zwei Todsünden: daß sie kein Verhältnis gefunden haben zur Religion, und das gleich schwere Verbrechen: daß sie dem Vaterlande kühl gegenüber stehen. Dadurch beweisen sie nicht – wie sie glauben mögen – geistige Überlegenheit, sondern Gedankenlosigkeit und Befangenheit in falschem Freisinn. Aus Religiosität und Heimatsliebe wird der Mensch der Zukunft seine Kräfte ziehen.«

»Du vergißt eines, Lehmfink, worauf ich die größte Hoffnung setze.«

»Und das wäre?«

»Die Kunst!«

»Gut, es sei! Die Kunst auch!«

»Nein, nicht ›auch‹! – Die Kunst wird das ganze Leben durchdringen, beherrschen, heiligen, oder wir werden niemals eine wirkliche Kultur haben.«

»Das wird Sache der Persönlichkeit sein.«

»Wieso der Persönlichkeit?«

»Kunst wird von Künstlern gemacht, denke ich. Wenn wir unter den Künstlern wieder Persönlichkeiten haben werden, dann werden wir auch eine Kunst bekommen. Zur Persönlichkeit aber können wir gelangen, das weißt du aus meinem Buche, nicht durch Willkür, sondern durch Selbstzucht. Ihr Modernen habt ein äußerst empfindliches, ästhetisches Gewissen; keiner von euch würde sich eine Sünde des Geschmackes verzeihen. Was euch not thut, ist ein wenig soziales Gewissen. Auch der Künstler muß sich einordnen in das große Ganze, die Gemeinsamkeit. Daraus mag er dann wieder hervorblühen in seiner Eigenart. Einen anderen Weg sehe ich nicht zur Genesung. Also erzieht euch zu Persönlichkeiten, ihr Künstler!«

* * *

Alma war nun im Krankenhause untergebracht. Fritz erhielt von ihrem Befinden regelmäßig Nachricht durch Doktor Mosch, der ihre Aufnahme dort vermittelt hatte. Es gehe ihr gut, hieß es; sie sehe getrost ihrem Stündlein entgegen und lasse ihn grüßen.

Die peinliche Erwartungsstimmung, in der man sich befand, suchte Berting los zu werden durch Arbeit. Abschnitt auf Abschnitt der Übersetzung konnte er dem Verleger abliefern.

Seine Erholung war der Verkehr mit dem Geschwisterpaar Lehmfink. Täglich fuhr er jetzt zu ihnen hinaus.

Toni und Heinrich Lehmfink gehörten zu den eben nicht häufigen Menschen, die es vertragen, daß man sie in der vollen Nüchternheit des Alltags sieht. Je näher man sie in der Beschränktheit ihrer Verhältnisse kennen lernte, desto bewunderungswerter erschien die Art, in der sie sich mit dem Leben abfanden. Sie hatten jene stolze Fassung und schlichte Seelengröße, welche die Armut umwandeln in ein Staats- und Ehrenkleid.

Es bedeutete für Fritz stets erneuten Genuß, mit dem ungewöhnlichen Paare zu verkehren, Menschen, die sich äußerlich so ähnlich schienen, und die im Grunde doch so sehr verschieden waren. In ihrer Neigung zueinander und Sorge füreinander lag etwas Rührendes und Imponierendes zugleich.

Ein Vergleich zu dem traurigen Verhältnis, in dem er zu seiner Familie stand, lag für Fritz sehr nahe. Der Briefwechsel, der zwischen ihm und Konstanze noch ein klägliches Dasein fristete, war so ziemlich das Gegenteil von dem liebevollen Verstehen und Sich-gegenseitig-fördern, das er an Heinrich und Toni so sehr bewunderte.

Fritzens häufige Besuche bei seinem Freunde entsprangen nicht zum wenigsten dem Wohlgefallen, das er an Toni Lehmfink fand. Sie war für ihn ein neuer, interessanter Frauentypus. Nicht, daß ihr Wesen mystische Rätsel aufgegeben hätte, im Gegenteil, es war das Anziehende an dieser durchaus unkomplizierten Persönlichkeit, daß sich bei ihr das Äußere mit dem Inneren deckte, daß sie sich in den Grenzen hielt ihrer Herkunft und ihres Geschlechts. Toni war einer von jenen seltenen Menschen, die, ohne ein Mischmasch zu sein aus allerhand blendenden Eigenschaften, doch ungemein vielseitig sind. Den eigentlichen Regulator ihres Wesens bildete nicht ein scharfer Verstand, auch nicht ein starkes Temperament, sondern der Takt eines feinfühlenden Herzens. Fritz hatte einen harmonischeren Charakter noch nicht kennen gelernt.

Der Verkehr mit diesem frischen, ehrlichen Wesen hatte so gar nichts die Sinne Beunruhigendes. Auch das war eine neue Entdeckung für Berting. Er, der die Mutter früh verloren, dem nicht das Glück geblüht hatte, in den Schwestern Freundinnen seiner Jugend zu besitzen, kannte das Weib eigentlich nur als Geschlechtswesen. Seine Erlebnisse mit Weibern, die leichten Siege, die er über sie davongetragen, aber auch seine Beschäftigung mit der Physiologie und der materialistischen Philosophie hatten ihm das andere Geschlecht immer nur von der einen grobsinnlichen Seite gezeigt. Inzwischen hatte er manche neue erstaunliche Erfahrung gemacht an den Frauen, und sein Selbstbewußtsein, Kenner zu sein auf diesem Gebiete, war bis zu einem gewissen Grade erschüttert.

Es unterhielt sich so angenehm mit Toni. Ihr ging zwar des Bruders Gelehrsamkeit und Bildungstiefe ab, aber sie besaß dafür zum angenehmen Ersatz geistige Regsamkeit und Humor. Bei ihr lief das Gespräch nicht Gefahr, in eine grundstürzende Kontroverse mit These und Antithese auszuarten, wie es so oft passiert bei Männern von gleichem Bildungsniveau. Toni war imstande, zuzuhören, ohne zu widersprechen, ja sogar zuzustimmen, oder auch die Unterhaltung nur um des Vergnügens gegenseitiger Mitteilung willen harmlos in leichten Wellen dahinfließen zu lassen.

Fritz erfuhr im Verkehr mit der Schwester seines Freundes, daß man zu einem weiblichen Wesen in ein Verhältnis treten kann, an dem Verliebtheit nicht den geringsten Anteil hat. Daß Toni an ihm und seinem Umgang Wohlgefallen finde, war unzweifelhaft. Ihre offene, ungenierte Art zu blicken und zu sprechen, schloß dabei doch alles Herausfordernde aus. Er begann staunend zu ahnen, welches Behagen der kameradschaftliche Verkehr von Mann und Frau zu gewähren vermag.

Berting fühlte, daß er zu Toni Lehmfink über Dinge hätte sprechen können, die er selbst Heinrich nicht anvertraut haben würde. Er wußte, daß sie die Tugend diskreter, feinfühlender Teilnahme in hohem Grade besitze. Noch ganz unklar, als eine Sehnsucht nur, stieg in ihm das Bedürfnis auf, sein Herz zu entlasten, ein Geständnis abzulegen. Und wenn von jemand, so glaubte er von Toni Lehmfink, daß sie Verständnis haben werde für das Besondere seiner Lage.

Aber Fritz sagte sich auch, daß er sich in dieser Beziehung Zurückhaltung auferlegen müsse. Er kannte Heinrichs Auffassung zu gut, die nicht duldete, daß seiner Schwester gegenüber irgend etwas erwähnt werde, was seiner strengen Auffassung von Wohlanständigkeit widersprach.

Nimmermehr hätte der Bruder es gebilligt, daß Toni erfahre, in welchen Verhältnissen Fritz lebe, welche Erlebnisse er gehabt, und welchen Ereignissen er entgegensehe.

 

Einige Tage früher als erwartet, erfolgte Almas Entbindung. Fritz erfuhr das Ereignis durch eine Notiz, die ihm Doktor Mosch zugehen ließ. Alma sei von einem Mädchen entbunden worden; alles wäre normal verlaufen, hieß es.

Er war Vater.

Wunderliches Gefühl! Wie viele Menschen gab es, die sich nach solchem Glücke sehnten! Was aber sollte er damit anfangen? Für ihn war es nur eine Last, eine Fessel, ein Bleigewicht.

Jenes Gefühl des Stolzes, der Wonne, von dem man in den Büchern las, daß es das Herz des jungen Vaters schwellen solle, erschien bei ihm gewandelt ins Gegenteil. Er hätte sich schämen mögen. Und wenn er gar an das dachte, was die Vaterschaft in Zukunft noch an Widerwärtigkeiten für ihn bringen mußte, dann graute ihm.

Alma und das Kind zu sehen, fühlte er kein Bedürfnis. Was sollte er auch jetzt bei ihnen! –

Früh am Morgen hatte er die Nachricht erhalten, gegen Mittag suchte er Doktor Mosch auf, um von ihm Näheres zu erfahren.

Der junge Mediziner gratulierte dem Vater. Das kleine Fräulein, behauptete er, sei eine Schönheit. Ihre Stimme besitze einen wundervollen Klang. Noch allerhand andere angenehme Eigenschaften wußte er dem Säuglinge nachzurühmen.

Verspottung hatte Fritz gerade gefehlt!

In der ärgerlichsten Stimmung kehrte er nach Haus zurück. Die Arbeit, mit der er sich zu betäuben versuchte, wollte heute auch nicht vom Flecke rücken. So entschloß er sich denn, Lehmfink aufzusuchen. Heinrich mußte die Sache ja doch erfahren. Vielleicht wußte der ein Wort des Trostes für ihn.

Er fand das Geschwisterpaar zu Haus. Erst nach einiger Zeit jedoch gelang es ihm, den Freund allein zu sprechen; bis dahin hatte Tonis Anwesenheit das Geständnis unmöglich gemacht.

Auch Lehmfink beglückwünschte ihn, in anderer Weise jedoch als Doktor Mosch. Schwer könne er sich in den Seelenzustand eines jungen Vaters versetzen, meinte er. Vor dem Rätsel einer neuen Existenz, die aus unserer Liebe ihren Ursprung genommen, müßten alle kleinlichen Sorgen und peinlichen Gefühle schweigen. Er denke sich das Bewußtsein, einen Menschen erzeugt zu haben, erschütternd und beseligend zugleich, alles in allem wohl das Außerordentlichste, was dem Manne widerfahren könne.

Heinrich Lehmfink zeigte sich tief ergriffen; wenn ihm selbst ein Kind geboren worden wäre, es hätte ihm kaum näher gehen können. Fritz war geradezu betreten durch die ungewöhnliche Auffassung des Freundes.

Sie wurden in der weiteren Aussprache gestört durch Toni, die mit dem Kaffeezeug zu ihnen zurückkehrte.

Berting fühlte, daß er heute ein schlechter Gesellschafter sei, und brach zeitig auf. Toni setzte ihn noch vor dem Gehen in Verlegenheit, indem sie fragte, was ihm fehle; er mache den Eindruck von Kummer. Er habe Ärger im Beruf gehabt, war seine Ausrede.

Heinrich Lehmfink gab ihm ein Stück Wegs das Geleit. Er kam noch einmal auf das vorige Gespräch zurück. Fritz solle nicht etwa denken, daß er das Schwierige seiner Lage verkenne. Er wisse ganz genau, daß jetzt mancherlei Sorgen an ihn, Fritz, herantreten würden. Da möge er vor allem nicht vergessen, daß er Freunde besitze. Wenn er sich etwa in Geldschwierigkeiten befinde, so könne er, Heinrich, wohl verlangen, dasselbe thun zu dürfen, was Fritz einstmals an ihm gethan habe.

Berting dankte und meinte, er hoffe, von dem gütigen Angebot keinen Gebrauch machen zu müssen.

Am nächsten Morgen erhielt er ein paar Zeilen von Alma, mit Bleistift auf ein Stück zerknittertes Papier gekritzelt. Kaum, daß Fritz den Sinn der Worte herauszubringen vermochte.

Alma schrieb, es gehe ihr gut. Sie sei so glücklich. Das Kindchen hätte die Brust genommen. Es habe den Kopf ganz voll krauser Härchen und sehe Fritz ähnlich. Sie danke ihm von ganzem Herzen für alles und hoffe, ihn bald, recht bald zu sehen, um ihm das Töchterchen zeigen zu dürfen.

Die paar Worte enthielten die ganze Alma. Sie sich zu denken mit dem Kinde an der Brust, seinem und ihrem Kinde! – – Heinrich Lehmfink hatte schon recht: es war etwas Großes und Ergreifendes um dieses plötzliche Auftauchen eines neuen Lebewesens aus dem Nichts.

Er schrieb ein paar Worte an Alma, sagte ihr, sie solle sich nur ja recht halten. Wenn sie irgend einen Wunsch habe, möge sie ihn äußern; er wolle alles für sie thun. Aber besuchen könne er sie jetzt nicht. Das sei, wie ihm der Assistenzarzt gesagt habe, nicht angängig.

Mit dem Arbeiten wurde heute wieder nichts. Es war ihm so wunderlich weich und nachdenklich traurig zu Mute, fast zum Weinen. Der Gedanke an die junge Mutter mit seinem Kinde an der Brust verfolgte ihn in jede Beschäftigung hinein. Er ärgerte sich schließlich über sich selbst. Lächerlich geradezu, sich von einer sentimentalen Regung so übermannen zu lassen! –

Das Ende war, daß er wiederum zu Lehmfink hinauspilgerte. Da das Wetter schön war und der Tag doch irgendwie untergebracht werden mußte, ging er zu Fuß.

Der Freund war zur Stadt gefahren, hatte aber zurückgelassen, daß Fritz, falls er käme, auf ihn warten solle. Er habe ihm wichtige Mitteilungen zu machen.

Worauf sich diese Mitteilungen bezögen, konnte Toni nicht sagen. Der Bruder hätte einen Brief erhalten, aber nichts von seinem Inhalt verraten. Doch habe sie den Eindruck, als müßten die Nachrichten gute sein.

»Es wird sich um sein Buch handeln,« meinte Fritz.

»Wollen wir ein wenig spazieren gehen?« fragte Toni. »Nicht weit, damit Heinrich, wenn er zurückkommt, nicht lange zu warten braucht.«

Fritz war einverstanden. Toni machte sich schnell zurecht. Dann ging man.

Es war ihr Lieblingsweg, den sie einschlug. Er führte zunächst einen steilen Felshang hinan über ein Hochplateau, von dem aus man eine Rundsicht genoß auf das breite, mit unzähligen Ortschaften besäte Flußthal, in dessen Mitte die Stadt in ihren eigenen Dunst gehüllt lag. Nach der anderen Seite hin dehnten sich Hügelreihen, und dahinter einzelne blaue Kuppen des fernen Gebirgsstockes. Von diesem Punkte aus ging der Weg wieder thalab in einen Grund, dessen Hänge mit uraltem Tannenforst bestanden waren.

Toni Lehmfink trug Matrosenhut, leichte Sommerbluse, ein Paar feste Schnürschuhe und einen glatten Rock von starkem Stoff, den sie zum Gehen aufgeschürzt hatte. In diesem Aufzug gefiel sie Fritz am besten. Er paßte zu ihrer Erscheinung, an der wenig Fülle und Weichheit, aber eine gewisse Einfachheit der Linien auffällig war, die in freier Bewegung schön zur Geltung kam.

Sie hatte Fritz erzählt, daß sie in England mit Passion Sport getrieben habe. Die Wirkung davon war zu erkennen an ihrem elastischen Gange, ihrer straffen Haltung, an der geschmeidigen Beweglichkeit ihrer Gliedmaßen. In diesen Dingen war sie dem Bruder weit überlegen. Heinrich, der auf Grund seiner Kurzsichtigkeit um die körperliche Schulung des Militärdienstes gekommen war, gewöhnte sich zum Kummer der Schwester immer mehr die schlechte Haltung des deutschen Gelehrten an.

War nicht auch Toni ein Beleg für die Wahrheit, die Fritz zu dämmern anfing, daß das von Thoren fälschlich als »das schwache« bezeichnete Geschlecht, das härtere, dauerhaftere, ja, das eigentlich unzerstörbare sei? Im Schlechten und im Guten hatte er das an allen Frauen, die er näher kennen gelernt, erfahren: an Alma, an Hedwig, an Annie, und jetzt wieder an Toni.

Man sprach heute wenig. Toni, die sonst die Unterhaltung selten zum Einschlafen kommen ließ, blieb schweigsam, sodaß es Fritz aufzufallen begann. Doch war das Schweigen zwischen ihnen nicht peinlich. Im engen Zimmer kann zwischen zwei Menschen das Stummsein quälend wirken wie ein unheimliches Gespenst. In freier Natur sprechen tausend andere Stimmen für uns.

Fritz ahnte jedoch, daß Tonis Schweigen etwas zu bedeuten habe; es lag Unsicherheit darin und Befangenheit, die man an ihr am allerwenigsten gewöhnt war. Fast schien es, als habe sie eine Frage auf dem Herzen, die nicht den Weg über die Lippen finden konnte. Er sah sie im Gehen einmal von der Seite an, wobei ihre Blicke einander begegneten. Toni errötete.

Ob Heinrich gesprochen, ob er der Schwester das Geheimnis des Freundes mitgeteilt hatte? –

Und wenn es so war, wie dachte Toni darüber? Welchen Eindruck hatte ihr die Neuigkeit gemacht? Verdammte sie ihn? War sie imstande, ihn und seine Lage zu begreifen? –

Sie hatten den waldigen Grund durchschritten und befanden sich wieder auf dem Rückwege.

Tonis Schritte wurden langsamer. Mit einem Male blieb sie stehen. Indem sie Fritz mit leuchtenden Augen ansah, stieß sie hastig hervor: »Heinrich hat mir alles gesagt, Herr Berting!« – Dann schritt sie mit zu Boden gesenktem Blicke eilig weiter.

Fritz hätte mehr als eine Frage an sie richten mögen; doch fürchtete er, ihre Schamhaftigkeit zu verletzen. Er ahnte, daß es ihr ungeheure Überwindung gekostet haben müsse, sich ein solches Wort abzuringen.

Nach einiger Zeit fragte Toni mit leiser Stimme: »Wie geht es dem kleinen Kinde?«

Fritz sagte ihr, daß Mutter und Kind sich, wie er höre, ausgezeichnet befänden.

»Sie haben das Kindchen noch nicht gesehen?« rief das Mädchen erstaunt.

Er erwiderte, daß er noch nicht Gelegenheit dazu gehabt, und wenn er offen sein solle, die Gelegenheit auch nicht gesucht habe.

»Das verstehe ich nicht!« war Tonis Antwort.

Fritz suchte ihr zu erklären, daß er gar nicht wisse, wie er sich einem so kleinen Wesen gegenüber benehmen solle.

»Das ist unnatürlich!« meinte Toni in ehrlicher Entrüstung.

»Nicht beim Manne! Wir kommen uns den Kindern gegenüber einfach hilflos vor. Ein Bekenntnis unserer Schwäche und Einseitigkeit. Oder ist es einer jener Punkte, in denen Mann und Frau einander ergänzen sollen? Wer weiß, die Abneigung unseres Geschlechts gegen das kleine Kind ist vielleicht von der Natur gewollt. – Meinen Sie nicht?«

Toni gab ihm keine Antwort hierauf. Den ganzen übrigen Weg legten sie schweigend zurück.

Berting dachte an ein Gespräch, welches er neulich mit Toni Lehmfink gehabt hatte. Es schien ihm eine Art Erklärung zu geben für ihre Auffassung.

Sie hatte damals von einer Freundin in England gesprochen, deren Lebensberuf es sei, fremde Kinder, Waisen, oder auch solche von armen Eltern zu sich zu nehmen. Einen edleren Beruf, hatte Toni gemeint, könne sie sich nicht denken. »Kinder zu Menschen machen« – sie hatte diesen Ausdruck gebraucht –, wer dafür leben dürfe, sei glücklich zu preisen. »Aber,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu »nicht jede Frau hat dazu die Möglichkeit, wenn es auch im stillen der heiße Wunsch einer jeden ist.« –

Das hatte sie gesagt, als sie noch keine Ahnung haben konnte von seiner Vaterschaft. Was mochte die Erkenntnis, daß er gering achte, was ihr als das Höchste auf der Welt erschien, in dieser stark empfindenden Brust für Gedanken wachgerufen haben. Ihr: »das ist unnatürlich!« war aus voller Seele gekommen.

Fast mußte er fürchten, daß Toni ihm seine Äußerung als Gefühlsroheit auslege. Doch beruhigte sie ihn dieser Sorge wegen. Kurz ehe sie in den Garten eintraten, sagte sie: »Ich habe eine große Bitte, Herr Berting! Lassen Sie mich Ihr Töchterchen sehen! Und auch Alma, von der mir Heinrich viel erzählt hat, möchte ich gern besuchen. Ist das möglich?«

Sie hielt ihm dabei die Hand hin. Nur einen Augenblick zögerte er; dann verstand er, daß sie ihm nicht bloß ein Versprechen abnehmen, sondern vor allem ein Zeichen großen Vertrauens geben wollte.

Er sagte, daß er sich aufrichtig freue, sie mit Alma und dem Kinde bekannt machen zu dürfen.

Man fand Heinrich Lehmfink in der Wohnung. Er umarmte seine Schwester und schüttelte Fritz besonders warm die Hand. »Seht ihr mir nichts an?« fragte er, bedeutungsvoll lächelnd.

»Du siehst aus, als hättest du mindestens ein Zehntel des großen Loses gewonnen,«»meinte Fritz.

»Dazu gehörte, daß ich in der Lotterie spielte. Aber insofern hast du recht; es ist Glückstorkel dabei.«

»Heinrich!« rief Toni atemlos. »Was ist mit dir? Sag's schnell!«»

»Ich dachte, man sähe mir's an. Fritz behauptet ja immer, ich hätte etwas Dozierendes an mir. Andere Leute scheinen das auch gefunden zu haben. Es ist mir die venia docendi, auf deutsch: eine Professur angetragen worden für Litteratur« . . . .

»Wo?« rief Toni.

Heinrich Lehmfink warf einen Blick auf die Photographie F. Th. Vischers, die auf seinem Schreibtische stand; dann sagte er: »In der Heimat!«

»Heinrich!«

Toni fiel dem Bruder um den Hals. »Die Eltern – Heinrich! – Wenn sie das erlebt hätten!« Sie schluchzte an seiner Brust.

Berting trat ans Fenster. Er wollte nicht stören. Wie reich waren Menschen, wie beneidenswert reich, deren erster Gedanke, wenn ihnen Großes widerfuhr, die Eltern sein durften.

Es dauerte geraume Zeit, bis alle soweit beruhigt waren, daß Heinrich zusammenhängend erzählen konnte, wie die Sache gekommen sei. Er war selbst völlig überrascht worden durch die Anfrage, die er heut früh von dem heimatlichen Ministerium erhalten hatte. Ein Bekannter, mit dem er ehemals im Vischerschen Kreise zusammengekommen war, jetzt ein Mann in maßgebender Stellung, mochte wohl seine Hand dabei im Spiele gehabt haben. Doch, meinte Lehmfink, dürfe er von sich sagen, niemals um jenes Herrn Gunst gebuhlt zu haben. Und seinem neuesten Buche könne man doch auch kaum ein Schielen nach akademischen Ehren vorwerfen.

»Du bist köstlich!« rief Fritz. »Verteidigst dich wohl gar, daß du die Stelle nicht zurückgewiesen hast. Du wärst imstande gewesen, abzuschreiben . . . . .«

»Wenn ich wüßte, Protektion sei dabei im Spiel, würde ich unbedingt ablehnen.«

»O, du, du! Man könnte sich grün ärgern über dich, wenn man sich nicht noch viel mehr freuen müßte, daß es solche Kerle giebt! Leicht hast du es dem Erfolge, weiß Gott, nicht gemacht, dich aufzufinden. Aber warum soll denn nicht ausnahmsweise einer, der etwas kann, auch ohne jede Reklame zu dem Posten gelangen, auf den er gehört!« –

»Eine große Sache ist es und bleibt es, mein lieber Fritz, plötzlich festen Grund zu fühlen unter den Füßen, nachdem man so lange mit den Wellen hat kämpfen müssen, manchmal gleich einem Ertrinkenden; du weißt es ja, wie es mir ergangen ist. Ich denke an Berlin, an unsere gemeinsamen Illusionen und Pläne. – Und du, meine kleine Schwester, was sagst denn du eigentlich? Wirst du nun endlich Respekt bekommen vor dem Bruder?«

Toni umarmte ihn von neuem. »Ich bin noch gar nicht zu Verstande gekommen, Heinrich. Was geben wir nur an heut abend? Ich glaube, ich könnte heute über die Stränge schlagen. Was geben wir nur an?«

»Berting soll entscheiden,« sagte Lehmfink.

Fritz schwieg. Toni begriff, was sein Schweigen zu bedeuten habe.

»Nein, Heinrich, wir wollen ganz still beisammen bleiben,« sagte sie. »Das wird schließlich allen am meisten nach dem Herzen sein, vor allem Herrn Berting. Gelt, Sie bleiben? Ich werde für Abendbrot sorgen.«

Das war wieder einmal ihre Geistesgegenwart des Herzens. Im Nu hatte sie erkannt, daß dem Freunde nicht nach Feste-feiern zumute war.

Toni ließ die beiden Männer für eine Weile allein.

»Du bist so still, Berting!« sagte Lehmfink. »Fehlt dir etwas?«

»O, nichts! Man ist solch ein fürchterlicher Egoist. Dein Glück sollte mich doch wahrhaftig alles vergessen machen . . .«

»Verzeih! Wie konnte ich nur! – Mit keinem Wort habe ich nach Alma gefragt und der Kleinen. Ich war der Egoist. Verzeihe nur!«

»Ach, Lehmfink!« sagte Fritz mit einem tiefen Seufzer, »Schwabenland liegt weit von hier. Nun hat man sich eben erst gefunden, und da heißt es schon auseinandergehen. Das ist der Tropfen Wermut für mich im Becher deiner Freude.«

* * *

Ein Brief aus Berlin brachte für Fritz große Überraschung. Seine Schwester, Frau Wedner, schrieb ihm, sie seien im Begriff, nach dem Salzkammergut zu fahren, und hätten ihre Rundreisebillets so eingerichtet, daß sie die Fahrt unterbrechen könnten, um Fritz auf ein paar Tage zu besuchen.

Berting war sehr wenig erbaut von dieser Aussicht. Es würden verlorene Tage für ihn sein. Denn was hatten sie einander noch zu sagen, die Schwester und er, nach dem, was vorgefallen war? Was hatten sie überhaupt gemein miteinander außer der Blutsverwandtschaft! –

Seiner Schwester abzuschreiben, war unmöglich; denn ihrem Briefe zufolge mußten sie jetzt bereits unterwegs sein. Sie hatten Wohnung im Hotel bestellt: Fritz wurde gebeten, abends dorthin zu kommen.

Es war ein wunderlicher Augenblick für Fritz, als er Konstanzens Gesicht seit sieben Jahren zum ersten Male wiedersah. Zuletzt hatte man sich bei der Beerdigung Juliens, der ältesten Schwester, gesehen.

Frau Wedner, jetzt Ende der dreißig, gehörte zu den Erscheinungen, die sich gut konservieren. Wenn sie, wie heute, durch die seelische Erregung Farbe und glänzende Augen hatte, konnte sie sogar für anziehend gelten mit ihrer schlanken Gestalt und dem schönen, blonden Haar.

Fritz war es sehr lieb, daß sein Schwager bei der ersten Begegnung nicht zugegen war; seine Anwesenheit würde die Befangenheit nur erhöht haben. Man war so schon verlegen genug, Konstanze noch mehr als Fritz.

Es wurde zunächst von den fernliegendsten Dingen gesprochen. Frau Wedner war unnatürlich redselig und lachte viel.

Fritz erkundigte sich nach dem Befinden Arthurs, seines Neffen, ihres einzigen Kindes. Er erfuhr, daß Arthur in Unterprima sitze. Wedner, der doch gewiß hohe Anforderungen stelle, sei sowohl mit dem sittlichen Verhalten, als mit den wissenschaftlichen Leistungen des Jungen zufrieden. Trotz seiner Jugend huldige Arthur einer sehr ernsten Richtung.

Fritz war von Herzen froh, daß Wedners den ernst gerichteten Jüngling nicht mitgebracht hatten, der jedenfalls ein fürchterlicher Musterknabe war.

Konstanze erwähnte nebenbei, daß sie sich mit Arthur in Gmünden treffen wollten, wo die Sommerferien gemeinsam verbracht werden sollten. Warum die Schwester, als sie das ungefragt erzählte, erröten mußte, war nicht recht einzusehen.

Wo sich sein Schwager heute abend aufhalte, fragte Berting nicht. Früh genug noch würde man sich sehen. Er fand es erstaunlich taktvoll von Wedner, dessen hervorragendste Eigenschaft Feingefühl sonst gerade nicht war, daß er die Geschwister wenigstens für den ersten Abend allein gelassen hatte.

Man verabredete für den nächsten Tag, daß Fritz zu bestimmter Stunde ins Hotel kommen solle; den weiteren Tagesplan wollte man dann besprechen.

Fritz trug keinen unangenehmen Eindruck von der Begegnung mit der Schwester davon. Es hatte ihn doch etwas wie Heimaterinnerung ergriffen vor Konstanzens Gesicht, das so ganz den Familientypus darstellte. Stimme, Lachen, Gesten, bestimmte Redewendungen erinnerten an längst vergessen geglaubte, bis zur Kinderstube zurückdatierende Dinge und Erlebnisse. Das stand jetzt auf einmal wieder vor ihm, als sei es gestern gewesen.

Er glaubte, bei der Schwester ähnliche Gefühle bemerkt zu haben. Konstanze war ja im Grunde eine gutmütige, harmlos freundliche, des Wohlwollens fähige Person, nur durch ihren Gatten in Unduldsamkeit hineingetrieben.

Von Fritzens Leben und seiner Kunst hatte man gar nicht gesprochen. Das war ihm lieb. Der Gegensatz der Anschauungen war so hoffnungslos unüberbrückbar, daß es am besten schien, man unterhielt sich nur über indifferente Dinge. Fritz hatte sich ein gleiches Verhalten Wedner gegenüber vorgenommen. Szenen wie jene in Berlin, wo die Schwäger im Zorne auseinander gegangen waren, brauchten sich nicht zu wiederholen. Bekehren würde ja doch keiner den anderen.

Am anderen Morgen kaufte Fritz einen Strauß Rosen und trug ihn ins Hotel, um ihn seiner Schwester aufs Zimmer zu schicken. Er nahm an, daß die Reisenden so früh noch nicht auf sein würden.

Als er das Hotel betrat, lief er im Entree seinem Schwager beinahe in die Arme, der mit einem Knaben von etwa sechzehn Jahren die Treppe herabkam.

Wedner schien überrascht, Fritz zu sehen und sagte wenig höflich: soviel er von Konstanze wisse, habe man sich doch auf eine viel spätere Stunde verabredet. Berting wies zur Erklärung des früheren Kommens auf seine Rosen. Der bleiche Jüngling blickte ihn mit erstaunt neugierigen Augen an. Die Ähnlichkeit mit Wedner war so groß, daß er in ihm seinen Neffen Arthur erkennen mußte.

Er schaffe den Jungen eben auf die Bahn, sagte der Schwager, da er mit einer befreundeten Familie vorausreisen solle. Die Droschke stand auch bereits vor dem Hotel. Wedner trieb zur Eile an, obgleich der Portier versicherte, es sei noch viel Zeit.

Fort fuhren Wedner senior und junior, ohne daß zwischen Onkel und Neffe mehr als einige gleichgiltige Fragen und verlegene Antworten gewechselt worden wären.

Allmählich wurde es Fritz klar, was dieser sonderbare Vorgang eigentlich zu bedeuten habe. Konstanzens Erröten, als sie erzählt hatte, man wolle sich mit Arthur in Gmunden treffen, Wedners Ärger, daß ihm der Schwager so zeitig über den Hals gekommen war, das Verdutztsein des Neffen, der den Onkel Fritz wie ein Wundertier angestarrt hatte – – Fritz mußte laut lachen, als er endlich die Erklärung zu diesen rätselhaften Erscheinungen fand.

Der Junge hatte vor ihm versteckt werden sollen. So gefährlich war er, Fritz Berting, in den Augen seiner nächsten Verwandten! Arthur hätte sich doch vielleicht anstecken können bei dem verlorenen Sohne der Familie, bei dem Onkel, der die schlechten Bücher schrieb.

Natürlich steckte Wedner dahinter. An Konstanzens Erröten sah man es ja, wie schwer ihr die Lüge geworden. Arme Schwester! Fritz ahnte, daß sie um seinetwillen manches erleiden mochte von dem Gatten.

Das nächste Zusammensein stand naturgemäß unter dem Bewußtsein dieses Erlebnisses. Man aß gemeinsam im Hotel zu Mittag. Fritz ließ keinerlei Verstimmung merken. Konstanzens anfängliche Verlegenheit sagte ihm, wie peinlich ihr die ganze Angelegenheit sei.

Der Schwager gab sich Mühe, liebenswürdig zu sein; doch fehlte seiner Höflichkeit der Herzenston. Fritz war überzeugt, daß Wedner ihm nie verzeihen würde, heute früh bei einer offenkundigen Lüge ertappt worden zu sein.

Berting fand, daß sich die Züge des Schwagers nicht zu ihrem Vorteil verändert hatten. Der Fanatiker kam mehr und mehr bei ihm auch in der äußeren Erscheinung zum Ausdruck. Der Blick der tiefliegenden Augen war stechender geworden; der Zug von Eigensinn und Mißgunst um die Mund- und Nasenpartie hatte sich verstärkt.

Wedner, der sich früher durch eine breite, aufdringliche Suada ausgezeichnet hatte, war heute ziemlich zurückhaltend, überließ den Geschwistern die Unterhaltung. Gleich nach Tisch ging er. In Fritzens Gesellschaft schien er sich ebensowenig wohl zu fühlen, wie dieser in der seinen. Fritz und Konstanze hatten den Nachmittag für sich. Am nächsten Tage schon wollte das Ehepaar weiter reisen.

Berting schlug seiner Schwester vor, ihr die Hauptstraßen und wichtigsten Gebäude der Stadt zu zeigen. Konstanze war damit einverstanden.

Sie bewies viel mehr lebendiges Interesse, als er ihr zugetraut hätte. Sowie sie sich frei wußte von ihrem Manne, war sie eine ganz andere Person, empfänglich, ja bis zu einem gewissen Grade freimütig.

In einer Kunsthandlung, an der sie vorbeikamen, war eine Ausstellung moderner Bilder. Konstanze sprach den Wunsch aus, hineinzugehen.

Auch hier wieder hatte Fritz Gelegenheit, sich über ihr durchaus laienhaftes, aber bei aller Naivität treffendes Urteil zu freuen. Es stellte sich heraus, daß sie überhaupt noch nichts gesehen hatte von neueren Meistern. Wedner nahm sie nicht mit in Ausstellungen. Auf den Gedanken, daß man als erwachsene Person auf eigene Faust einem Interesse nachgehen könne, schien sie nicht gekommen zu sein.

Ihr Benehmen gegen Fritz war ziemlich widerspruchsvoll. Meist wog einfaches schwesterliches Wohlwollen vor, wie es ihr von Herzen kam. Dann plötzlich schien etwas Fremdes aus ihr zu sprechen, etwas Kleinliches, Mißtrauisches. Fritz wußte, woher das kam. Ihr Gatte hatte sie so gut geschult, daß seine Auffassung sie selbst dann hypnotisierte, wenn er nicht zugegen war.

Ein paarmal machte sie Versuche, den Bruder auszuholen über sein Leben. Fritz zweifelte keinen Augenblick, daß auch das auf eheherrlichen Befehl zurückzuführen sei. Das Talent zum Schnüffeln kannte man ja an Wedner.

Berting hatte etwas Ähnliches erwartet und war daher auf der Hut. Von seinem Geheimnisse durfte Konstanze nichts erfahren, so unnatürlich es auch erschien, der einzigen Schwester das wichtigste Ereignis seines Lebens zu verheimlichen. Aber sein Herr Schwager sollte ihm nicht noch einmal mit dem Vorschlage kommen, Alma mit Geld abzufinden.

Konstanze fand, daß Fritz schlecht aussehe; er sei so mager und hohlwangig. Ob er denn genug esse, fragte sie. Im Anschluß daran erkundigte sie sich schüchtern nach seinen Geldverhältnissen. Fritz antwortete, er habe zu leben. Daß er schlecht aussehe, und daß seine Kleider abgetragen seien, wußte er selbst; Konstanze brauchte ihn darauf wahrlich nicht erst aufmerksam zu machen. Er war zu stolz, der Schwester seine Lage zu bekennen.

Zum Abendessen traf man sich mit Wedner. Er befand sich in sichtlich gehobener Stimmung. Wie er sagte, war er mit Gesinnungsgenossen beisammen gewesen zu einer kleinen Konferenz. Was die Zusammenkunft bezweckt habe, deutete er nicht an. Aber Fritz konnte es sich ungefähr denken. Es war wohl das, was Konstanze als »seinen Kampf gegen die modernen Nuditäten« bezeichnet hatte.

Fritz war boshaft genug zu erwähnen, daß sie gemeinsam in einer Ausstellung neuerer Meister gewesen seien. Wedner spitzte die Ohren. Was für Bilder man gesehen habe, forschte er. Fritz nannte einige Namen:

»Böcklin, Klinger, Liebermann, Stuck!« –

Wedner fuhr auf: »Sezession! – Und solchen Schund siehst du dir an, Konstanze!« Ein vernichtender Blick traf sie. Die arme Frau schwieg bestürzt. Daß ihr die Bilder gut gefallen hatten, wagte sie natürlich nicht zu sagen.

Am nächsten Morgen hatte Fritz noch eine Stunde allein mit seiner Schwester. War es die Abschiedsstimmung, welche Konstanze weich gemacht hatte? Sie zeigte sich besonders liebreich. Es schien fast, als wolle sie dem Bruder irgend etwas eröffnen, was sie auf dem Herzen hatte.

Zu sehen, daß sie unter Wedners unzarter Behandlung leide, war eben nicht schwer. Aber konnte man ihr helfen? – Konstanze hatte sich ihr Schicksal selbst gewählt. Durch ihre Nachgiebigkeit war sie zum Echo und Schatten geworden des Gatten. Selbst wenn dazu aufgefordert, würde Fritz es abgelehnt haben sich in die Verhältnisse dieser beiden einzumengen. Er vermied daher alles, was die Schwester zu einem Geständnisse hätte ermutigen können.

Schließlich kam Konstanze noch mit einer Bitte, die auf Fritz zunächst einigermaßen befremdend wirkte. Sie fragte den Bruder, ob es ihm nicht möglich sei, bessere Sachen zu schreiben.

Fritz erkundigte sich, was sie denn von seinen Sachen kenne. Da stellte es sich heraus, daß sie überhaupt noch keine Zeile von dem Bruder gelesen hatte. Wedner verbiete ihr seine Bücher.

Dann bedaure er, ihren Wunsch nicht ernst nehmen zu können, meinte Berting.

Konstanze ließ das Thema trotz Fritzens deutlicher Verstimmung nicht fahren. Sie verstehe ja gar nichts davon, sagte sie; aber sie denke es sich ebenso leicht, etwas Gutes zu schreiben, wie etwas Schlechtes. Was die anständigen Menschen von einem dächten, sei doch schließlich nicht gleichgiltig. Wedner habe ihr gesagt, es gäbe jetzt eine ganze Richtung in der Litteratur, welche mit Absicht alles Böse, Häßliche, Unanständige beschreibe, um die Menschen zu verführen. Es sei genau dasselbe wie in der Politik mit der Sozialdemokratie, die alles umstürze. Ob denn Fritz zu dieser Menschenklasse gerechnet sein wolle? Und dann möchte sie ihm noch ganz im Vertrauen sagen, was Wedner ihr verraten hätte, daß man jetzt vorhabe, gegen diese ganze Richtung energisch von oben her vorzugehen. Wedner müsse es wissen; denn er habe Fühlung mit hochgestellten Personen. Fritz solle doch bedenken, in was für Gefahr er sich ganz unnützer Weise begebe. Ein so begabter Mensch wie er habe die Pflicht, von seinen Gaben den rechten Gebrauch zu machen. Außerdem glaube sie auch bestimmt, daß es sich ebenso gut bezahlt mache, ja vielleicht sogar noch besser, so zu schreiben, wie es sich gehöre.

Was sollte man nun darauf sagen? Es war so gut gemeint von Konstanze! Sollte man versuchen, sie aufzuklären? Aber wo anfangen?

Sie sprachen ja verschiedene Sprachen.

* * *

Noch während die Wedners da waren, hatte Fritz einen Brief von Alma erhalten, in welchem sie bat, das Krankenhaus doch nun endlich verlassen zu dürfen. Es sei so langweilig, im Bett zu liegen, wenn man sich gesund fühle. Sie denke den ganzen Tag nur immer an ihn, halte es nicht mehr aus vor Sehnsucht, ihm die Kleine zeigen zu dürfen.

Berting suchte Doktor Mosch auf und trug ihm Almas Wunsch vor. Der junge Mediziner hatte keine Bedenken, die junge Mutter aus der Anstalt zu entlassen; natürlich müsse sie sich in der nächsten Zeit noch sehr schonen und geschont werden.

Im Laufe des nächsten Tages erfolgte der Umzug; gegen Abend kam Fritz, Alma zu begrüßen. Er hätte ihr gern ein Geschenk mitgebracht zur Anerkennung ihrer tapferen Haltung; aber er mußte mit leeren Händen kommen. Die Rechnung der Klinik war erschreckend hoch gewesen. Alles, was er zur Zeit besaß, hatte er hingegeben und war noch einen Teil darüber schuldig geblieben.

Seinem Kinde gegenüber konnte Fritz beim besten Willen nicht jenes Gefühl des Entzückens empfinden, das Alma als selbstverständlich voraussetzte. Steif und wortlos stand er vor dem Waschkorbe, in welchem man das Baby in Ermangelung einer Wiege untergebracht hatte. Wenn er etwas empfand gegenüber diesem winzigen Wesen mit dem mißvergnügten Ausdruck seines faltigen Altmännergesichts, so war es Unbehagen, ja eine Art physischen Ekels. Die kleine, warme Stube war erfüllt von der säuerlich faden Ausdünstung des Kindes in der frühesten Lebensperiode. Berting, Gerüchen gegenüber ungemein empfindlich, mußte sich zusammennehmen, nicht Widerwillen merken zu lassen.

Alma hantierte mit dem winzigen Bündel von Gliedern und Leinwand, als sei es zeitlebens ihr Beruf gewesen, Kinder zu warten. Ganz ungeniert gab sie der Kleinen vor Fritzens Augen die Brust, wickelte sie aus und ein, versorgte sie mit frischen Windeln, mit jener herzhaften Freudigkeit der jungen Mutter, der alle Unannehmlichkeiten zum Vergnügen werden.

Obgleich Alma den Geliebten mit gewohnter Wärme begrüßt hatte, merkte Fritz doch sehr bald, daß er für sie in den Hintergrund trete im Vergleich zu dem Kinde. In Almas ganzer Erscheinung hatte sich eine Wandlung vollzogen, von der sie selbst wahrscheinlich nichts ahnte, die aber Fritz sofort stark auffiel.

Ihre knospenhafte Frische und Lieblichkeit war unwiederbringlich dahin. Und dieser physischen Veränderung, die zunächst in die Augen sprang, schien auch eine Wandlung ihres ganzen Wesens zu entsprechen. Früher war Zärtlichkeit die treibende Kraft in ihr gewesen; die Liebe hatte alle anderen Kräfte und Gaben ihrer Natur gleichsam aufgesogen. Und jetzt durch einen natürlichen Prozeß, in seiner Art ebenso gesetzmäßig wie der ist, durch welchen aus der Knospe die Blüte und aus der Blüte die Frucht treibt, war in Alma die Geliebte zur Ruhe gegangen, hatte der Mutter Platz gemacht.

Fritz wußte nicht einmal, ob er das bedauern solle. Es war melancholisch zu beobachten, wie schnell auch hier der anmutige Frühling sich in reifen Sommer verwandelte, von dem der Blätterfall des Herbstes nicht ewig weit entfernt ist. Aber was halfen alle sentimentalen Betrachtungen, wenn man es mit dem nüchternen Leben zu thun hatte! –

An die Lebensprosa sollte der junge Vater an diesem Abende auch noch in anderer Weise erinnert werden. Alma setzte ihm auseinander, daß es ihr für die Pflege des Kindes an dem Allernotwendigsten fehle. Das bißchen Babywäsche war von der Wirtin geborgt, die auch einmal ein kleines Kind gehabt hatte. Aber das langte nicht für die Dauer. Außerdem wünschte Alma sich eine Wiege, eine Badewanne und verschiedene andere Gegenstände, von denen sie sagte, daß sie in der Wochenstube unentbehrlich seien.

Fritz hätte lachen können, wenn die Sache nicht einen verwünscht ernsten Hintergrund für ihn gehabt hätte. Woher das Geld nehmen? Und hinter diesen Ausgaben drohten neue, größere: wenn das Kind erst heranwachsen und alles das brauchen würde, was Martin Luther in der Erklärung zur vierten Bitte spezialisiert hat.

Alma suchte ihn zu trösten, als er ihr die Schwierigkeiten seiner Lage offen auseinandersetzte. Sie wolle so sparsam leben wie nur irgend möglich. Sie sei ja nun auch wieder kräftig oder werde es wenigstens bald ganz sein. Dann könne sie an ihre Arbeit gehen. Nun es dem Kinde gelte, würde sie doppelt fleißig schaffen. Denn der Kleinen dürfe nichts abgehen; eher wolle sie selbst darben.

 

Mit der Frühpost erhielt Berting eine auf schönem, starkem Elfenbeinkarton gedruckte Anzeige zugesandt. Frau Rentiere Magdalene Beierlein zeigte die Verlobung ihrer Tochter Mimi mit Herrn Redakteur Siegfried Silber an, und Herr Siegfried Silber gestattete sich auf der anderen Seite des Blattes seine Verlobung mit Fräulein Mimi Beierlein, einziger Tochter der verwitweten Frau Magdalene Beierlein, ergebenst kundzugeben.

Fritz nahm zwei Visitenkarten und schrieb darauf: ›p. f.‹ Für manche Gelegenheiten sind die fremdländischen Höflichkeitsformeln äußerst bequem. »Herzliche Glückwünsche« wären ihm in diesem Falle nur schwer aus der Feder geflossen.

Der kleine Silber war schon seit Wochen nicht mehr in Fritzens Gesichtskreis getreten. Durch den Lebensversicherungsagenten und Dichter A. F. Schmidt, der unter dem Namen Adalbert von Feldeneck schrieb, hatte Fritz bei einer zufälligen Begegnung erfahren, daß Siegfried Silber sich inzwischen habe taufen lassen. Diese Messe war ihm Rom also doch wert gewesen.

Für Berting war die Konfession eines Menschen im Grunde äußerst gleichgiltig. Ihn belustigte nur dieser neue Beweis von Silbers erstaunlicher Wandlungsfähigkeit. Seit den zwei Jahren, wo man sich kannte, war das bei dem Dichter Karol nun schon die wievielte Häutung? –

Am Tage darauf erschien der Redakteur des »Impressionist« in Person bei Fritz. Er dankte zunächst für den freundlichen Glückwunsch und erklärte, mit Berting über Geschäfte sprechen zu wollen.

Es sei nötig, dem »Impressionist« eine völlig neue Verfassung zu geben. Das hänge zusammen mit den pekuniären Verlusten, welche die Familie Hilschius-Eschauer getroffen hätten, von denen Berting ja wohl gehört haben werde.

Fritz hatte nichts gehört. Er war schon seit Monaten nicht mehr in das Haus der Frau Hilschius gekommen. Seit Annies mißglücktem Versuch, sich in seine intimsten Angelegenheiten zu mischen, hatte er die Beziehungen zu dem ganzen Kreise absichtlich vernachlässigt.

Siegfried Silber war äußerst erstaunt oder gab sich wenigstens den Anschein, es zu sein, als er Berting über diese Dinge nicht informiert fand. »Dann wissen Sie also gar nicht, daß Rudolf Eschauer Pleite ist, und daß Frau Annie in der Klinik liegt?«

Die schlechten Nachrichten über Annie trafen Fritz weit mehr als die Kunde vom Bankerott ihres Gatten. Daß der Bankier Eschauer zur verwegensten Sorte der Börsenspekulanten gehöre, hatte man schon früher gehört; sein Geschick konnte keinen Anspruch erheben auf Mitleid. Aber Annie, die lustige Annie, hoffnungslos krank! Daß es ihr schlecht gehe, und daß sie Schmerzen leide, hatte er neulich mit eigenen Augen gesehen; doch glaubte er, ihre zähe Lebenskraft werde das überwinden. Nun hörte er von Silber, daß sie an dem qualvollsten Frauenleiden, welches es giebt, unheilbar darnieder liege. Es paßte so gar nicht zu ihrer Person, sie sich mit dem Tode ringend vorzustellen. Fritz vergaß über dieser erschütternden Nachricht allen Groll, den er jemals gegen Annie im Herzen getragen hatte.

In den Konkurs Eschauer war Frau Hilschius dadurch hineingezogen worden, daß sie ihrem Schwiegersohne unvorsichtiger Weise ein Kapital anvertraut hatte. Die Witwe sah sich gezwungen, ihre Ausgaben einzuschränken; und der »Impressionist« verlor eine wichtige Geldgeberin. Markus Hiesel, der andere Pfeiler des Unternehmens, war ebenfalls wankend geworden; auch er wollte sich von dem Blatte zurückziehen, um nach Wien zurückzukehren. Siegfried Silber ließ gelegentlich einfließen, daß er Hiesel die Abstandssumme, welche er im Falle seines Austritts zu zahlen sich verpflichtet hatte, natürlich nicht schenken werde.

Theophil Alois Hilschius wollte sich seinem Idol anschließen und in Wien leben. Die Zumutung, zu arbeiten, die ihm bei der Verschlechterung seiner Vermögensverhältnisse von verschiedenen Seiten nahe gelegt worden war, hatte Theophil als seiner durchaus unwürdig mit Entrüstung zurückgewiesen.

Durch die letzten Ereignisse hatte sich die Lage des »Impressionist« vollständig verändert. Litterarisch habe das Blatt nur gewonnen, behauptete Silber, dadurch, daß es die beiden impotenten und dabei anspruchsvollen Muttersöhnchen los geworden sei. Es bestehe der Plan, das Unternehmen auf eine gänzlich neue Basis zu stellen.

»Ganz im Vertrauen gesagt« – Silber flüsterte das, obgleich sie ganz allein im Zimmer waren – »Weißbleicher interessiert sich für das Geschäft.«

Das sei doch kaum möglich, meinte Fritz. Weißbleicher, der ärgste Gegner des »Impressionist«, dem das Blatt die leistungsfähigsten Autoren weggekapert hatte, Weißbleicher, der Silber am liebsten wegen unlauteren Wettbewerbs verklagt hätte! – –

»Vielleicht hat er eingesehen, daß er unserer Konkurrenz nicht gewachsen ist, und daß es ratsamer erscheint, uns zum Freunde zu haben,« meinte Silber mit schlauem Augenzwinkern. »Das Blatt geht in den Verlag Weißbleicher über.«

»Und Sie?«

»Ich trete in die Firma ein. Finden Sie die Lösung nicht genial, Berting? Weißbleicher versteht das Geschäft, ich die Litteratur. Wir werden uns wundervoll ergänzen. Der »Impressionist« behält seinen Titel, ich bleibe Redakteur. Außerdem gedenken wir dem Verlag eine litterarische Agentur anzugliedern, in der wir Feuilleton-Romane vertreiben wollen. Das Neue, wodurch wir uns unterscheiden von ähnlichen Unternehmungen, ist, daß hier einmal litterarisches Verständnis, wirklich moderne Gesichtspunkte und Geschäftsgeist großen Stiles Hand in Hand gehen sollen. Warum, frage ich, soll es denn in der Litteratur nicht möglich sein, mit dem Geschäft idealen Sinn und mit dem Idealismus Geschäftsroutine zu verbinden? – Das litterarisch-künstlerische Niveau des »Impressionist« soll das denkbar höchste, auserlesenste sein und bleiben; aber den Annoncenteil gedenken wir bedeutend zu erweitern. Vielleicht, daß wir den allerextremsten Naturalismus etwas gegen früher einschränken. Für den Anfang war das ja ganz gut und wirksam. Aber nun ist genug Aufsehen gemacht; jetzt dürfen wir die Tonart um eine Nuance zarter anschlagen. Übrigens entspricht das nur der allgemeinen Entwickelung. Wenn Sie die Blätter aufmerksam verfolgt haben, Berting, muß Ihnen aufgefallen sein, daß der Naturalismus auf allen Gebieten den Höhepunkt bereits überschritten hat, ja zum Rückzug bläst. Die litterarischen Wetterzeichen deuten schon wieder auf Wind aus einer ganz anderen Richtung. Dem muß eine aktuelle Revue, wie wir sein wollen, selbstverständlich Rechnung tragen. Wir werden, das erkläre ich von vornherein, uns nicht auf eine bestimmte Kunstformel festnageln lassen; wir wollen vielmehr mit Bewußtsein eklektisch sein; unser Programm wird eine gewisse Elastizität besitzen und damit dem Zeitgeist Rechnung tragen. Innerhalb dieser Grenzen aber wollen wir alles pflegen, was stark, neu, originell und zukunftverheißend ist. Natürlich rechnen wir dabei auf Ihre Unterstützung, lieber Berting. Ich hoffe, daß Sie uns Gelegenheit geben werden, Ihren Namen noch bekannter zu machen, als er schon ist. Wir dürfen Sie doch zu unseren Mitarbeitern zählen, nicht wahr?«

Fritz dankte für soviel Ehre, lehnte jedoch ab.

»Über den Preis, den Ihnen der »Impressionist« für Ihre Novelle gezahlt hat, können Sie doch wahrhaftig nicht klagen!« meinte Silber. »Wir würden denselben Satz weiter zahlen, nur an Sie, heißt das; bei keinem anderen Autor gehen wir so hoch. Ist das nicht eine glänzende Offerte? – He!«

Fritz sagte, es sei unnütz, weiter zu verhandeln.

»Was haben Sie, Berting?« rief Silber. »Sie haben etwas gegen mich!«

Fritz zuckte die Achseln. Er hatte keine Lust, jenem auseinanderzusetzen, daß er alles andere eher ertragen wolle als Abhängigkeit vom Geldsacke des Parvenüs.

»Ich kann Ihr Verhalten wirklich nicht verstehen,« fuhr Siegfried Silber fort. »Weißbleicher sagt mir, daß Sie fortgesetzt in Geldnöten seien und hier, wo Ihnen in wohlgemeintester Absicht Gelegenheit geboten wird, Geld zu verdienen, viel Geld . . .«

Berting erklärte in nicht mehr mißzuverstehender Weise, es bleibe bei dem, was er gesagt habe. Er bat, ihn nicht weiter mit Offerten zu belästigen, die ihm widerlich seien.

Wie unter einem Schlage zuckte Siegfried Silber zusammen. Dann sagte er, bleich bis in die Lippen: »Sie sind sehr stolz, Berting, sehr stolz! Früher waren Sie anders. Als ich noch nichts besaß, als niemand etwas von mir wissen wollte, da haben Sie sich meiner angenommen. Jetzt, wo ich mich revanchieren will, stoßen Sie die hilfreich ausgestreckte Hand zurück. Das nenne ich Stolz und nicht einmal klugen Stolz. Daß es Ihnen nur nicht so geht wie Ihrem Freunde, dem Herrn Doktor Lehmfink, der es vor lauter Einbildung und Überhebung zu nichts bringt und im ganzen Leben nicht zu etwas bringen wird . . .«

Berting lachte laut heraus. Es bereitete ihm das innigste Vergnügen, Silber mitteilen zu können, wozu es Heinrich Lehmfink soeben in der ehrenhaftesten Weise gebracht habe.

Der kleine Mann spitzte die Ohren. In seinen beweglichen Zügen las man eine Mischung von Überraschung und Neid und den Wunsch, seinen Ärger zu verbergen. Mit süßsaurer Miene erklärte er, daß Herrn Lehmfink in Anbetracht seiner kümmerlichen Lage solcher Erfolg ja nur zu gönnen wäre.

Silber fing an, sich unbehaglich zu fühlen. Er sah nach der Uhr und besann sich auf einmal, daß er »dringende, redaktionelle Geschäfte« zu erledigen habe. Ehe er ging, erklärte er, noch einmal auf seine Bitte zurückkommen zu müssen. Er hoffe, daß Berting anderen Sinnes werden würde. Jedenfalls halte er seine Offerte aufrecht.

Zum Abschied drückte er Fritzens Hand lebhaft und lächelte vertraulich, als gehe man im schönsten Einvernehmen auseinander. Dann verschwand er mit eingezogenem Kopfe und gekrümmtem Rücken schnell.

 

Es blieb für Berting nunmehr kein anderer Ausweg, als sich in seinen Geldnöten an Heinrich Lehmfink zu wenden. Schwer genug wurde ihm der Schritt. Er fand es jedoch minder demütigend, seines Freundes Schuldner zu sein, als aus Siegfried Silbers Hand ein noch so schönes Honorar zu empfangen.

Lehmfink schaffte sofort das Notwendige, und so kam Fritz in die Lage, Almas Bedürfnisse für die Wochenstube zu befriedigen. Nun überwand er auch seinen Widerwillen gegen die Säuglings-Atmosphäre und ging jeden Tag auf kurzen Besuch in Almas Wohnung.

Er war mit dem Verhalten der jungen Mutter nicht zufrieden; sie strengte sich mit allerhand nebensächlicher Arbeit über Gebühr an. Die Wartung des Kindes allein hätte ihr genug zu schaffen gegeben, und nun hatte sie es sich überdies in den Kopf gesetzt, die ganze Säuglings-Ausstattung auf der Maschine zu nähen. Fritz hielt ihr vor, was der Arzt gesagt hatte, daß in ihrem eigenen Interesse Schonung dringend geboten sei. Alma erwiderte darauf nur, ihr habe niemals etwas Ernsthaftes gefehlt, und es sei unnötig, für Arbeit, die sie selbst verrichten könne, den Kaufleuten Geld an den Hals zu werfen.

Mit Passion schnitt sie zu, nähte und säumte sie, als müsse das winzige Ding in der Wiege bereits jetzt auf Jahre hinaus mit Leibwäsche versorgt werden. Sie war von der Manie der jungen Mutter besessen, den kleinen Schreihals zu verwöhnen und darüber schließlich sich selbst zu vergessen.

Während sich Alma früher Fritzens Wünschen blindlings untergeordnet hatte, war mit der Mutterschaft ein neuer Geist über sie gekommen. Sie, die ehemals nur selten eine eigene Meinung geäußert hatte, wußte ihm klar zu machen, daß er in dem, was das Kind betraf, nur ein Laie sei, und daß sie sich da nichts hineinreden lassen werde.

So war es auch in der Tauffrage. Fritz hielt es im Grunde seines Herzens für äußerst überflüssig, das Kind taufen zu lassen. Für Alma wiederum bedeutete es gar nichts, daß ihr Töchterchen im standesamtlichen Register als Hulda Ernestine Alma eingetragen war – Namen, die sie selbst ausgewählt hatte. – Solange das Kindchen nicht mit dem heiligen Taufwasser benetzt war, galt es ihr nicht als richtiger Mensch. Sie verlangte Taufe in der Kirche, von einem ordentlichen Pastor in Talar und Beffchen, und Paten sollten auch dabei sein.

Fritz sah, daß er hier einem jener weiblichen Wünsche gegenüberstand, die man mit Vernunftgründen am allerwenigsten widerlegen kann. Er schickte sich seufzend in das Unabänderliche und besorgte selbst die Anmeldung bei dem zuständigen Geistlichen. Heinrich und Toni Lehmfink, denen er etwas zaghaft die Patenschaft antrug, nahmen ohne Zögern, ja mit offenbarer Freude an.

Heinrich allerdings würde persönlich bei der Tauffeier nicht zugegen sein können, da er seiner Habilitierung halber eine unaufschiebbare Reise in die Heimat unternehmen mußte.

Toni führte ihre Absicht, das Kindchen zu sehen, nunmehr aus. Fritz hatte den Besuch bei Alma angemeldet. Ihr zu sagen, daß sie das Kind herausputzen möge, war bei dieser Mutter nicht nötig. Fritz selbst hielt sich fern. Er meinte, daß Toni und Alma, allein gelassen, ungenierter als in seiner Gegenwart, miteinander verkehren würden.

Es war derselbe Tag, an dem Heinrich abreiste. Fritz war auf den Bahnhof gekommen zum Verabschieden; dann hatte er die Schwester des Freundes bis zu Almas Thür geleitet.

Am Nachmittage fuhr er zu Toni hinaus, um sich von ihr erzählen zu lassen, welchen Eindruck sie von ihrem zukünftigen Patchen gewonnen habe. Auch auf das, was sie von Alma sagen würde, war er natürlich sehr gespannt.

Toni erklärte, sein Kommen erspare ihr einen Brief; sie sei eben darüber gewesen, an ihn zu schreiben. Fritz glaubte, zu bemerken, daß das Mädchen heute etwas ungewöhnlich Gedrücktes, Unsicheres habe, was doch sonst gar nicht in ihrer Art lag. Sollte der Besuch bei Alma doch vielleicht eine zu starke Zumutung für sie gewesen sein? –

Fast etwas kleinlaut fragte er, wie sie Mutter und Kind gefunden habe. Und zum ersten Male empfand er etwas wie Vaterstolz, als Toni Lehmfink ihm mit Thränen in den Augen sagte, welch glücklicher, von Gott gesegneter Mensch er sei, solch herziges, gesundes, gutes und reines Geschöpfchen sein nennen zu dürfen. Sie schüttelte ihm beide Hände mit der ihr eigenen, unwiderstehlichen Herzlichkeit.

»Aber über etwas anderes muß ich ganz ernsthaft mit Ihnen sprechen, Herr Berting!« fuhr Toni fort. »Es betrifft die Mutter. Ich glaube, Alma lebt sehr unvernünftig.«

Fritz erwiderte darauf, er wisse das; aber er sei völlig machtlos Almas Eigensinn gegenüber.

»Wenn Sie Mutter und Kind lieb haben,« fuhr Toni fort, »dann müssen Sie hier ernsthaft eingreifen. Ich kann nur sagen, mich hat, was ich gesehen habe, sehr besorgt gemacht.«

Ob sie glaube, daß Alma leidend sei, erkundigte er sich. Daß sie angegriffen wäre, habe er ja auch bemerkt; aber das sei doch vielleicht nur natürlich.

»Ich glaube, Sie nehmen die Sache zu leicht!« erwiderte Toni und errötete dabei über und über.

»Ja, mein Gott!« rief Berting, »Doktor Mosch hat mir doch gesagt, es sei alles normal verlaufen!«

Toni stand auf und trat ans Fenster, ihm den Rücken zuwendend.

Fritz begriff, daß er ihr Zartgefühl verletzt hatte. Das war ihm in der Lebhaftigkeit so herausgefahren. Esel, der er gewesen! Sollte er um Verzeihung bitten? Vermehrte man damit nicht das Peinliche der Situation? –

Toni kehrte bald zu ihm zurück. Sie mochte in seiner Miene das Betretensein lesen. »Gelt, Sie nehmen es sich nicht zu Herzen, Herr Berting!« Damit reichte sie ihm die Hand. Was war man für ein gefühlsroher Barbar, gehalten gegen ein solches Geschöpf! –

Dieses Mißverständnis zwischen ihnen war vorübergegangen wie der Schatten, den eine Wolke wirft. Tonis Augen strahlten wieder in Freundlichkeit.

»Ich möchte Ihnen nicht unnötige Angst machen,« sagte sie. »Aber ich glaube, ein wenig Blick zu besitzen, für Gesundheit und Krankheit; denn ich habe in meinem Leben viel leiden gesehen. Ich will Ihnen ganz offen sagen, Herr Berting, was mir an Almas Fall Sorge macht. Es ist etwas, was ein Arzt, vor allem ein junger, kaum beachten wird; aber wir Frauen sehen in solchen Dingen schärfer, selbst, wenn wir ungelehrt sind. Die junge Mutter giebt zuviel Kraft ab an den Säugling; das ist es. Ich hoffe, noch ist kein Schaden geschehen; aber höchste Zeit wird es, eine Änderung zu treffen. Ich war eben dabei, Ihnen deshalb zu schreiben. Schriftlich lassen sich dergleichen Dinge leichter sagen . . .«

Toni hielt einen Augenblick im Sprechen inne und seufzte. Man konnte ihrer Miene die Überwindung ansehen, welche diese Aussprache sie gekostet hatte.

»Also, meine Meinung ist die,« fuhr sie fort, »Alma muß die Kleine entwöhnen. So, nun habe ich es Ihnen gesagt, nun wissen Sie es!«

Fritz erhob sich. Er dankte Toni von ganzem Herzen für ihren Rat. Sogleich wollte er gehen und das Nötige veranlassen. Toni gab ihm Grüße mit an Alma und das Kind.

Er hatte es sich, selbst ganz erfüllt von der Richtigkeit dessen, was Toni ihm auseinander gesetzt, leichter vorgestellt, auch Alma davon zu überzeugen, als er es in Wirklichkeit fand.

Das Kind entwöhnen! Die Kleine mit künstlicher Nahrung groß ziehen! – Alma war entrüstet über solches Ansinnen.

Wer ihm denn diesen Gedanken eingegeben habe, forschte sie; denn das gehe doch nicht von ihm aus. Fritz sagte ihr, daß Toni Lehmfink ihn auf die Gefahren aufmerksam gemacht hätte, welche das Stillen haben könne.

»So, das Fräulein – Fräulein Lehmfink! Das habe ich mir gedacht!«

Fritz erwiderte, daß er Toni sehr dankbar sei für den Wink.

»Die versteht wohl gerade etwas von der Sache!« rief Alma höhnisch.

Alma schwieg beharrlich zu allem, was er weiter vorbrachte. Sie war beleidigt. Fritz verwünschte es jetzt, daß er Tonis Namen genannt hatte. Wer dachte denn aber auch immer gleich an Almas Neigung zur Eifersucht! Er kam in gelinde Verzweiflung. Wieder einmal stand man einer jener Launen gegenüber, wo, wie er aus Erfahrung wußte, weder in Güte, noch mit Gewalt etwas auszurichten war.

Schließlich entschloß er sich, Doktor Mosch in dieser Angelegenheit zu fragen. Am heutigen Abend war es jedoch zu spät dazu.

Am nächsten Morgen suchte er den Arzt auf. Der junge Mediziner nahm eine ironische Miene an, als Fritz ihm, ohne zu sagen, von wem seine Weisheit stamme, die Gefahren auseinandersetzte, die das Selbstnähren für die junge Mutter im Gefolge haben könne. Auf Fritzens Wunsch kam er sofort mit in Almas Wohnung.

Auch Doktor Moschs Urteil lautete schließlich auf Entwöhnung. Er gab an, in welcher Weise der Übergang zur künstlichen Nahrung zu erfolgen habe, damit dem Säugling kein Schaden widerfahre.

Alma nahm die Weisungen des Arztes ohne Widerspruch auf. Auch dem Verbot, in der nächsten Zeit mit der Nadel oder gar an der Nähmaschine zu arbeiten, fügte sie sich ohne Murren.

Berting war durch ihr Verhalten auf das angenehmste überrascht; er hatte sich auf eine Thränenszene gefaßt gemacht. Mit dem Erfolge des ärztlichen Besuches konnte er zufrieden sein.

Er schrieb ein paar Zeilen an Toni Lehmfink, in denen er ihr mitteilte, daß alles ihrem Ratschlage gemäß geordnet sei.

* * *

Siegfried Silber hatte an Berting geschrieben. Dem Briefe lagen eine Anzahl Druckbogen bei. Fritz hatte geglaubt, nach der Unterhaltung von neulich seien die Beziehungen zwischen ihm und dem Redakteur des »Impressionist« endgiltig abgebrochen. Aber unter dem Briefe stand zu lesen: »In aufrichtiger Verehrung Karol.«

Silber schrieb, er könne nicht umhin, Berting die beiliegenden Bogen zuzuschicken, weil er zu genau wisse, daß ihr Inhalt ihn aufs lebhafteste interessieren werde. Sie stammten von einer Novelle, die der »Impressionist« demnächst bringen wolle. Die Verfasserin sei niemand anders als Fräulein Hedwig von Lavan, die entdeckt und in die Litteratur eingeführt zu haben, Berting das Verdienst zukomme.

Der Brief fuhr fort: »Zu meinem Befremden höre ich von Fräulein von Lavan, die ich auf Grund der Einsendung des Manuskripts zu besuchen mir erlaubt habe, daß die junge Dame in keinerlei Verbindung mehr mit Ihnen steht. Ich bedauere das für beide Teile, ohne mir herausnehmen zu wollen, dem Anlaß dieser Entfremdung nachzuforschen. Jedenfalls bleibe ich Ihnen verbunden dafür, daß Sie mich auf dieses Talent seinerzeit aufmerksam gemacht haben. Die scharfe Beobachtungsgabe der jugendlichen Verfasserin ist geradezu stupend. Diese neueste Arbeit bedeutet eine starke Talentprobe. Das Thema ist heikel; aber der Esprit, mit dem es behandelt wird, versöhnt uns mit dem Gewagtesten. Manche Situationen sind so lebenswahr geschildert, daß man an persönliches Erlebnis glauben möchte, wenn das nicht aus anderen Gründen fast unmöglich erschiene. Jedenfalls wird es Sie, lieber Berting, interessieren, von dieser eigenartigen Federzeichnung Kenntnis zu nehmen. Und ich bin aufs äußerste gespannt, ob unser Urteil, wie über so vieles, auch über die Arbeit von Fräulein von Lavan sich trifft.«

Berting hatte beim Lesen dieses Schreibens das Gefühl, daß Schadenfreude dem Absender die Hand geführt haben müsse. Er faßte sofort einen ganz bestimmten Verdacht gegen Hedwigs von Silber so sehr gepriesene Novelle. Und richtig, als er die Druckbogen zu lesen begann, fand er seine Vermutung vollauf bestätigt: Hedwig hatte in diesem neuesten Werke ihn, Fritz Berting, und ihre Erlebnisse mit ihm geschildert.

Er war da bis herab auf gewisse Äußerlichkeiten der Toilette genau beschrieben, so daß ihn jeder Bekannte sofort wiedererkennen mußte. Auch Waldemar Heßlow kam in Gestalt eines körperlich robusten, geistig unbedeutenden Operntenors ziemlich durchsichtig dargestellt vor. Die Heldin war als angehende Schauspielerin eingeführt. Sie amüsiert sich eine Weile damit, den einen Liebhaber gegen den anderen auszuspielen; dann giebt sie beiden den Laufpaß.

Fritz konnte sich eines unbehaglichen Gefühles nicht erwehren, als er sich so zum Gegenstande einer nichts weniger als freundlichen Persiflage gemacht sah. Eine wunde Stelle in seiner Erinnerung, die noch nicht lange vernarbt war, begann von neuem zu schmerzen. Nicht daß er für Hedwig von Lavan noch etwas Tieferes gefühlt hätte, aber er schämte sich, daß er sich von einer Person, deren Charakter sich ihm immer unzweideutiger enthüllte, so hatte düpieren lassen.

Daß ein Schriftsteller die intimsten Erfahrungen seines Lebens künstlerisch verwertete, war nichts Außergewöhnliches. Alles kam in solchem Falle auf das Wie an.

Das hier war ein Abklatsch nach dem Leben. Berting fand in der Novelle ganze Gespräche wieder, die er in Wirklichkeit mit Hedwig geführt hatte.

Glich solches Verhalten nicht im Grunde dem indiskreten Vorlesen von Briefstellen, die für keine anderen Ohren und Augen als die des Empfängers berechnet sind? –

Wunderlich, daß ihm Hedwig selbst die Augen öffnen sollte über die tiefste Schwäche ihres Wesens.

War es nicht ein Charakterfehler, der sie auch als Künstlerin verdarb? Haftete ihr nicht ein großer Mangel an bei aller äußeren Verfeinerung, bei allem Schliff des Wesens, Mangel an Takt, an jenem Takt, der eine Eigenschaft ist des Herzens, den man vor allem beim Weibe sucht, und der das einfachste, ungebildetste Mädchen auszeichnen kann?

Fehlte Hedwig nicht jene Ehrfurcht vor dem eigenen Thun, jene zarte Scheu, welche die Seele ebensowenig den Blicken der Menge preisgeben wird wie den Leib? Jene Schamhaftigkeit des Schaffenden, die das Kunstwerk selbst gewissermaßen zum Schleier macht des inneren Erlebens?

Offenheit und Freimut gehörten zur Kunst, gewiß! Aber dies hier ging einen Schritt weiter. Bei Hedwig von Lavans neuestem Erzeugnis hatte man es mit Zuchtlosigkeit zu thun.

Diese Erfahrung fiel zusammen mit Gedanken, die Berting gerade in der letzten Zeit stark beschäftigten. Er hatte den französischen Roman nunmehr zu Ende übersetzt und atmete auf, als diese ihn im Grunde anwidernde Arbeit erledigt war.

Nun konnte er sich endlich einer Sache widmen, die ihn schon lange im Geiste beschäftigt hatte: Heinrich Lehmfinks Buch.

Wenn man die Quintessenz dieses Werkes in ein einziges Wort zusammenfassen wollte, so hieß die Fahne, die darin weithin sichtbar aufgepflanzt wurde: durch Selbstzucht zur Persönlichkeit.

Es war nicht immer leicht, dieses Leitmotiv aus jedem einzelnen Teile herauszuhören; der Autor hatte es in die verschiedensten Gewandungen gekleidet. Lehmfink wußte, daß nichts auf den Leser stärker wirkt, als was er sich selbst aus einem Buche gewinnt. Darum octroyierte er keine Systeme und Lebensregeln, gab keine langatmigen Referate, sondern versuchte durch Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit zunächst das Interesse zu fesseln. Vor allem war es das Beispiel der großen, originellen Persönlichkeit, in dem er der Grundidee plastische Gestalt zu verleihen suchte. Aber auch an ganzen Epochen illustrierte er sein Thema, wies nach, wie Mangel an Persönlichkeit und Verfall identisch sind.

Die bisherigen Besprechungen hatten nach Bertings Ansicht den Kern des Buches sämtlich unberührt gelassen, mochten sie lobend sein oder tadelnd. Sie hatten nicht die induktive Methode Lehmfinks beachtet und seinen erzieherischen Zweck, sondern sich einfach an das äußerlich Stoffliche gehalten.

Der eine Kritiker hatte sich an Lehmfinks Heine-Gegnerschaft gestoßen, der andere an seiner Bismarck-Bewunderung. Ihr subjektiver Gegensatz zum Autor in einer Einzelfrage beherrschte dann die Würdigung des ganzen Werkes. Ein anderer wiederum nahm das Buch einfach für seine Partei in Anspruch, wo doch Lehmfink alles andere hatte geben wollen als die Programmschrift einer bestimmten Richtung.

Solchen Mißverständnissen entgegenzutreten, meinte Fritz, sei es nunmehr an der Zeit. Er selbst schien dazu der Berufene. Kannte er doch die Absichten, die Lehmfink mit der Publikation der »Deutschen Persönlichkeit« verfolgt hatte, wie kein anderer. Waren ja manche Kapitel darin direkt aus Debatten hervorgegangen, die er mit ihm gehabt hatte. Ja, es fanden sich Stellen, die eingestandenermaßen für Berting, oder auch gegen ihn geschrieben worden waren.

Fritz beabsichtigte mit dem, was er schreiben wollte, nicht bedingungslos dem Werke zuzustimmen. Lehmfink wäre der letzte gewesen, dem diese Art von Kritik zugesagt hätte. Es galt eine ehrliche Auseinandersetzung von Mann zu Mann.

In vielem würde Berting mit dem Buche ebensowenig wie mit dem Verfasser sich jemals einigen können, das wußte er. Über den Wert ästhetischer Kultur, über den Sinn der Dekadenz, die Judenfrage, über Nietzsche und anderes würden sie ewig getrennter Meinung bleiben.

Aber konnten solche Differenzpunkte verhindern, daß Berting die Weltanschauung Heinrich Lehmfinks als ein Ganzes auffaßte und würdigte, und daß er dem hohen Ethos, welches das Werk erfüllte, Respekt zollte! –

Den umfangreichen Aufsatz, der auf diese Weise zustande kam, schickte Fritz an seinen alten Bekannten, den Schriftsteller Maximilian Nackede in Berlin, der vor Jahresfrist eine litterarische Korrespondenz gegründet und Fritz schon einige Male um Beiträge dazu ersucht hatte.

Nackede quittierte umgehend den Empfang des Artikels und erklärte, ihn baldigst bringen zu wollen.

* * *

Berting hatte sich bei den von Doktor Mosch für die Wochenstube getroffenen Anordnungen beruhigt; er nahm als selbstverständlich an, daß Alma ihnen nachlebe.

Aus diesem Wahne riß ihn ein Brief von Toni Lehmfink. Sie schrieb, daß sie Alma aufgesucht und in keinem guten Zustande gefunden habe. Die junge Mutter lasse die Vorschriften des Arztes völlig außer acht. Die künstliche Nahrung für die Kleine verkomme unbenutzt, und die Nähmaschine sei offenbar gebraucht worden. Die Folgen zeigten sich in Almas Entkräftung und auch in einem bedenklichen Stillstand der Entwickelung des Kindes.

Fritz wurde gebeten, sofort nach Almas Wohnung zu kommen, wo er die Schreiberin antreffen werde. Der Brief war ihm durch einen Boten überbracht worden.

Tonis Brief schien in seiner Knappheit noch allerhand Schlimmes wegzulassen. Fritz war aufs höchste bestürzt und eilte sofort nach Almas Wohnung, das Ärgste befürchtend.

Er fand Toni Lehmfink, eine große Schürze vorgebunden, mit Flaschen hantierend. Sie machte ihm, sowie er eintrat, Zeichen und wies auf das Bett. Dort lag Alma sorgfältig zugedeckt und schlief. Die Vorhänge waren herabgelassen; es herrschte angenehmes Dämmerlicht in dem Raume. Dabei strich die warme Sommerluft ungehindert durchs Fenster.

Fritz, vom schnellen Gehen noch ganz atemlos, erkundigte sich, wie es stehe. Toni beruhigte ihn; wirkliche Gefahr, hoffe sie, sei nicht vorhanden.

Toni war seit gestern abend da und hatte die Nacht auf dem Sofa zugebracht. Das Schlimmste sei der Eigensinn der Kranken, teilte sie Fritz im Flüstertone mit. Gestern habe es eine ernste Szene gegeben. Almas Mißtrauen gegen sie sei ihr gänzlich unverständlich.

Fritz hielt es für weiser, Toni keine Erklärung von Almas Benehmen zu geben; er ahnte, daß ihm nichts anderes zu Grunde lag als Eifersucht.

Toni gab dem Kinde eben zu trinken. Sie machte den Vater darauf aufmerksam, mit welchem Appetit sein Töchterchen der Flasche zuspreche. Mit freudestrahlender von tiefem Interesse durchglühter Miene stand sie dabei und sah dem Würmchen zu, es hie und da durch einen Handgriff unterstützend.

Berting sah in Tonis Zügen, wie sie sich über die Wiege seines Kindes beugte, plötzlich gänzlich neue Eigenschaften und Möglichkeiten. Toni hatte für ihn oft etwas knabenhaft Herbes gehabt, etwas Sprödes, eine gewisse harte Sachlichkeit, zu der sie wohl das Leben erzogen hatte.

Hier strahlte ein Neues aus ihr, dessen sie sich offenbar selbst gar nicht bewußt war, ein Urgefühl, das innerste Wesen ihres Geschlechts: die Liebe zum Kinde. Das gab dem großgewachsenen, hageren Mädchen mit den energischen Zügen eine milde Anmut, beseelte das ganze Geschöpf und machte sie beinahe schön.

Als das Kind sich satt getrunken hatte, wischte ihm Toni mit einem Läppchen den Mund aus und deckte ein Tuch über die Wiege. Dann machte sie sich darüber, die Flasche auszuspülen. Schweres Atmen rief sie an das Bett; aber Alma hatte nur im Schlafe geseufzt. Toni rückte die Kissen der Schlummernden ein wenig zurecht und kehrte dann zu dem Kinde zurück.

Fritz schaute ihrem Walten eine Weile voll Staunen zu. Mit welcher großartigen Selbstverständlichkeit sie alle Handgriffe that! Wunderbare Wesen, diese Frauen! Das Gewöhnlichste noch vermochten sie zu adeln, wenn sie ihre Seele hineinlegten.

Alma mochte ruhig sein! Für sie bedeutete Toni Lehmfink alles andere als eine Rivalin, viel eher eine Bundesgenossin. Toni hatte in Fritz Bertings Leben eine neue Erfahrung gebracht, in sein Empfinden etwas Großes gepflanzt: Achtung vor dem Weibe. Ja, Alma hätte Grund gehabt zu tiefster Dankbarkeit. Ihr Geliebter sah sie in einem reineren und schöneren Lichte, seit Toni sich als Schwester zu ihr geneigt hatte. –

Der Tauftag war herangekommen. Alma durfte nicht mit zur Kirche gehen. Es war eine schwere Aufgabe, ihr das begreiflich zu machen; bis zum letzten Tage noch versuchte sie, das Aufstehen zu erzwingen.

Während Toni Lehmfink zu einer Besorgung für kurze Zeit in die Stadt gegangen war, hatte Alma das Bett heimlich verlassen und war im Zimmer zusammengebrochen. Toni fand sie ohnmächtig neben der Wiege liegend.

Von diesem Augenblicke an war eine schwere Apathie über die Kranke gekommen. Sie nahm an der Taufe kein Interesse mehr, ließ Toni alles vorbereiten, wie sie es für recht hielt. Der Blumenstrauß, den Fritz ihr brachte, als er kam, um Toni und den Täufling zur Kirche abzuholen, wurde von der Kranken nur mit einem matten Lächeln entgegengenommen.

Berting, der noch nichts von der vorausgegangenen schweren Ohnmacht wußte, äußerte auf der Fahrt zur Kirche seine Verwunderung darüber, daß Alma bei dem Abschied von der Kleinen so über alles Erwarten ruhig gewesen sei. Toni sagte, gerade diese Gleichgiltigkeit, so bequem sie auch im Augenblicke sei, mache sie besorgt. Sie bat Fritz, einen zweiten, womöglich älteren Arzt heranzuziehen, da Doktor Mosch den Fall von Anfang an nicht richtig erkannt zu haben scheine.

Die Taufe war so nüchtern wie möglich. Der Geistliche eilte mit seiner Rede, da draußen zwei weitere Taufgesellschaften warteten. Die Hebamme war schlechter Laune über eine Feier, bei der es so wenig Paten gab und so einfach zuging. Die große, leere Kirche wirkte andachtertötend.

Für Berting wäre die Zeremonie unerträglich gewesen, hätte er nicht Toni gehabt. Sie hielt den Täufling über den Stein; sie antwortete auf die Fragen des Geistlichen mit kräftigem »Ja«; sie bischte die Kleine zur Ruhe, als sie anfangen wollte zu schreien. Wenn an dem sonst völlig stimmungslosen Vorgang doch etwas war, was die Bezeichnung »festlich« verdiente, so ging es von Toni Lehmfink aus, von der Innigkeit und Freudigkeit, mit der sie hier wie überall ganz bei der Sache war.

Den Nachmittag verbrachte Fritz Berting auf der Suche nach einem Arzt. Mehrere lehnten den Fall rundweg ab, da die Kranke bereits in Behandlung sei. Endlich fand sich ein älterer Mediziner bereit, die Wöchnerin zu besuchen, unter der Bedingung, daß Doktor Mosch seine Einwilligung gebe. Berting versprach, diese zu schaffen.

Er traf Doktor Mosch nicht zu Haus und mußte ihm seine Bitte daher schriftlich hinterlassen. Für die Nacht konnte er ruhig sein; denn Toni hatte versprochen, bei Alma zu bleiben. Frühzeitig sollte er Nachricht erhalten über das Befinden der Kranken.

Fritz wartete am nächsten Morgen voll Spannung auf die versprochene Mitteilung, als zu seiner Überraschung Toni Lehmfink selbst in sein Zimmer trat. Er sagte sich sofort, daß Außerordentliches sie zu solchem Gange veranlaßt haben müsse.

Die beiden Ärzte hatten sich miteinander in Verbindung gesetzt und waren heut früh an Almas Bett erschienen zur Konsultation. Das Resultat war ein ernstes. Der ältere Arzt hatte entschieden, daß Alma ins Krankenhaus geschafft werde. Wie Toni mit begreiflicher Zurückhaltung andeutete, schien sich bei der Wöchnerin ein Leiden entwickelt zu haben, das einen sofortigen operativen Eingriff notwendig machte. Toni hatte noch dem Transport Almas zum Krankenwagen beigewohnt; dann war sie hierher geeilt, um Fritz zu benachrichtigen.

Es war das erste Mal, daß Berting Toni die Fassung verlieren sah. Das Mädchen hatte sich auf seinem Sofa niedergelassen und bedeckte die Augen mit dem Taschentuch.

Fritz ließ sie sich ausweinen. Er begriff, daß ihre Schwäche körperliche Ursachen habe. Die letzten Tage mußten furchtbar anstrengend für sie gewesen sein. Sie hatte sich aufgeopfert. Schmerzlich war es, daß man ihr soviel Güte nicht zu vergelten vermochte. Ja, Fritz mußte sogar mit der Bitte um einen neuen Dienst an sie herantreten. Was sollte mit dem Kinde werden? Wollte Toni ihm diese Sorge abnehmen, wenigstens solange Alma im Krankenhause war? –

Der Gedanke an das Kind elektrisierte Toni. Ob sie das kleine Wesen fürs nächste ganz zu sich nehmen dürfe, fragte sie.

Berting war beschämt, als Toni ihm für die nur zu gern erteilte Erlaubnis dankte, als widerfahre ihr das größte Glück.

Er begab sich nach dem Krankenhause. Dort mußte er lange antichambrieren. Fräulein Lux sei im großen Frauensaale untergebracht, hieß es, und es entspräche nicht der Ordnung des Instituts, männlichen Besuch dort einzulassen.

Zufälligerweise traf er den Arzt, den er selbst zu Alma gerufen hatte. Der Herr Sanitätsrat erklärte, die Operation sei normal verlaufen, die Kranke jedoch äußerst geschwächt vom Blutverlust. Über den voraussichtlichen Verlauf der Krankheit sich zu äußern, vermied der vorsichtige Mann. Der Fall sei nicht hoffnungslos; mit dieser wenig tröstlichen Redensart wurde Fritz entlassen.

Doktor Mosch, zu dem er sich nunmehr begab, legte vor allem das Bestreben an den Tag, sich von Schuld reinzuwaschen. Er habe den Fall durchaus nicht leicht genommen. Die Kranke sei allein schuld an der Verschlimmerung ihres Zustandes durch Außerachtlassen der ärztlichen Vorschriften. Er gab dann ein Bild des Krankheitsverlaufs, mit sehr vielen technischen Ausdrücken gespickt.

Was nützte alles das! Fehler waren begangen worden. Es erschien müßig, sie jetzt noch feststellen zu wollen.

Innere Unruhe, wie er sie noch nicht gekannt hatte, trieb Fritz von einem Orte zum anderen. Den Versuch, zu arbeiten, gab er bald auf. Im Café, wohin er sich zum Zeitungslesen begeben hatte, litt es ihn nicht lange. Schließlich lenkte er seine Schritte wieder nach dem Krankenhause.

Es erging ihm dort ähnlich wie am Morgen. Über Almas Befinden war nur ganz Allgemeines zu erfahren. Mit der Kranken zu sprechen, sei nicht gestattet; das würde nur in ganz besonderen Fällen den nächsten Anverwandten genehmigt.

Berting verwünschte es jetzt, daß er, als man ihn gefragt, welche Beziehungen er zu Fräulein Lux habe, gesagt hatte, er sei ihr Bräutigam. Vielleicht, wenn er sich als Bruder ausgegeben hätte, würde man ihn vorgelassen haben.

Die Vorsteherin der Frauenabteilung, ein dürres, altjüngferliches Wesen, mit der zu sprechen ihm endlich gelang, behandelte ihn nichts weniger als achtungsvoll.

Fritz kochte innerlich. Es war klar, daß Prüderie ihm den Weg versperrte zu Alma. Doch nahm er sich zusammen; mit Eifer war hier gar nichts auszurichten.

Er bat, ob man nicht in diesem einen Falle eine Ausnahme von der Regel machen könne. Die Vorsteherin, durch seine Beharrlichkeit doch endlich schwankend gemacht, erklärte, den kontrollierenden Arzt, der in einiger Zeit kommen müsse, fragen zu wollen; sie selbst könne solche Verantwortung nicht auf sich nehmen.

Berting hatte eine weitere Stunde im Sprechzimmer zu verbringen. Es war inzwischen Abend geworden.

Endlich kam der Erwartete. Es war ein älterer Herr von knapper, aber nicht unfreundlicher Sprechweise. Fritz eröffnete ihm rückhaltlos seine Lage. Der Arzt lächelte; dann gab er Anordnungen, aus denen Berting ersah, daß sein Wunsch erfüllt werden solle.

Eine junge Schwester von sympathischer Erscheinung kam herzu. Sie sei die Pflegerin von Nummer einundzwanzig, hieß es. Fritz, der ihr übergeben worden war, folgte ihr durch einen langen Gang.

Als man vor der Thür des Frauensaales angelangt war, faßte er sich ein Herz und fragte, was sie von dem Befinden der Kranken halte. Die Schwester zögerte mit der Antwort. Fritz, der ihr stilles Gesicht voll Spannung beobachtete, glaubte, dort etwas wie Mitleid zu lesen.

»Der Herr Sanitätsrat meinte heute früh, es sei nicht aussichtslos,« erklärte sie mit wohllautender Stimme; »aber seitdem ist das Fieber trotz Digitalis und Eisumschlägen langsam im Steigen. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß das Fräulein Sie nicht erkennen wird.«

Sie schritt vor ihm durch die Thür. Man trat in einen großen Saal, in welchem, nur durch schmale Gänge unterbrochen, Bett an Bett stand. Es herrschte das Schweigen der Nachtruhe in dem weiten, kahlen Raum, der keinen Anfang zu haben schien und kein Ende. Berting folgte der lautlos vor ihm hergleitenden Schwester durch den langen Mittelgang. Nummer einundzwanzig befand sich in der Ecke. Hohe Bettschirme von dunklem Stoff umgaben Almas Lager, so daß sie wie in einem kleinen Zimmer für sich, abgeschlossen von den übrigen Kranken, lag.

Fritz trat an das Bett und blickte forschend in Almas Gesicht. Es zeigte wenig Veränderung. Die Wangen waren hoch gerötet, die Augen ungemein lebhaft, der Atem flog. Man hatte ihr das Haar zu zwei starken Zöpfen geflochten, die ihr auf den Schultern lagen. Sie trug die weite Nachtjacke der Anstalt mit langen Ärmeln.

Die Schwester öffnete die Jacke der Kranken am Hals und nahm den Fieberthermometer aus der Achselhöhle. Dann machte sie auf einer mit einem Netz von Linien bedeckten Karte ihren Eintrag und ließ Fritz die Fieberkurve betrachten. Der höchste soeben erreichte Punkt zeigte 41° Celsius.

»Das ist wohl sehr hoch?« erkundigte sich Fritz zaghaft.

»Der Herr Sanitätsrat hat angeordnet,« erwiderte die Schwester ausweichend, »daß wir, falls einundvierzig Grad überschritten würden, Eisbad geben sollen.« Sie legte den Thermometer wieder in die Achselhöhle, dann flößte sie der Kranken einen Schluck Eiswasser ein, schließlich maß sie den Puls und machte auch hierüber einen Eintrag.

»Ich gehe jetzt zu einer anderen Kranken gleich nebenan,« sagte die Schwester in gedämpftem Tone; »vielleicht reichen Sie von zehn zu zehn Minuten einen Löffel hiervon« – sie wies auf das Eiswasser –. »Der Durst ist sehr groß. Wenn sonst irgend etwas gebraucht wird, rufen Sie mich, bitte!«

Damit verschwand sie geräuschlos; von außen rückte sie den Bettschirm so, daß Berting mit der Kranken völlig unbeobachtet war.

Er ließ sich auf dem Stuhle nieder, der neben dem Bette stand, und griff nach Almas Händen. Sie waren glühend heiß.

»Alma!« rief er, »Alma!« Die Kranke antwortete nicht. Das schnelle, den ganzen Körper erschütternde Atmen ging weiter. Dabei lag sie ganz still, fast steif, das Auge geradeaus gerichtet wie auf einen fernen Punkt.

Er näherte sein Gesicht dem ihren, um zu sehen, ob sie ihn erkennen würde. Aber der Ausdruck ihrer Züge wechselte nicht. Unheimlich war es, das große, weitgeöffnete Auge mit seiner tiefleuchtenden, bis an den Rand schwarzen Iris aus der Nähe zu beobachten.

Berting gab nach einiger Zeit den Versuch auf, sich mit der Kranken zu verständigen. Almas Gedanken mußten weit, weit entfernt sein, an einem Orte, zu welchem ihm, dem Gesunden, der Eintritt versagt war. Dabei waren ihre Sinne wach; denn sie nahm willig, ja mit einer gewissen Befriedigung das gereichte Eiswasser an. Nur für ihre Umgebung schien ihr das Bewußtsein zu fehlen.

Noch niemals hatte Fritz Berting an dem Lager eines schwer Kranken gesessen. Als seine Mutter verschied, war er noch Kind gewesen. Sein Vater und seine Schwester Julie waren fern von ihm gestorben. Und ihn selbst hatte Krankheit auch niemals bis an den Rand des Grabes geführt.

Was er hier sah, wirkte auf ihn wie eine fremde Welt: das milde, dem Alltag entrückte Wesen der Schwester in seiner stillen Abgeschlossenheit, der große, weite Saal im Dämmerlicht, mit seinen endlosen Reihen einfacher Bettstätten. Wie viele arme Kranke hier wohl mit dem Tode rangen? An wie vielen Lagern saß unsichtbar ein Engel und zählte die zugemessenen Schläge des Herzens, bis ihre Zahl voll war und er das Uhrwerk zum Stillstehen brachte.

Wie wenig merkte man äußerlich von den Kämpfen, die sich im Einzelgefecht des Sterbelagers gegen den einen allgemeinen Feind abspielten! Ab und zu nur erklang ein tiefer Seufzer, ein Stöhnen, ein im Fieberdelirium ausgestoßener Ruf oder ein gequälter Hustenanfall durch die Nacht; dann wieder alles still, daß man das Atmen der Nächstliegenden vernehmen konnte.

Eine Thür ging; dumpfe Schritte kamen den langen Mittelgang herauf; Schatten von vorüberschreitenden Gestalten malten sich an der lichten Decke. Man machte nicht weit von Nummer einundzwanzig halt. Fritz hörte ein Rücken, ein Schieben. Es klang, als höben sie etwas Schweres und senkten es dann. Darauf wieder Schritte und Schatten an der Decke; die Thür ging, und alles war wie zuvor.

Ein eisiges Gefühl überkam den Lauschenden. Wen mochten sie da in der Stille der Nacht, wie Diebe ihren Raub, hinausgeschafft haben? –

Die Schwester kam zurück. Sie maß das Fieber. Mit einem Seufzer reichte sie Fritz den Thermometer. In der kurzen Zeit wieder um ein zehntel Grad gestiegen »Wir müssen baden!« erklärte sie.

Fritz sah ein, daß er gehen müsse. Er fragte, wo er sich wohl aufhalten könne, während man Alma bade. Die Schwester riet ihm, in der Morgenstunde wiederzukommen; das Fieber werde dann hoffentlich gefallen sein und die Kranke sich vielleicht bei Bewußtsein befinden.

Es war gegen Mitternacht, als Fritz Berting das Krankenhaus verließ. Wohin zu dieser Stunde? – Schlaf würde er nicht finden!

Mehrere lange Straßenzüge, einen ganzen Stadtteil durchschritt er, ohne Ziel, ja, ohne recht zu wissen, wo er sich befinde. Er wurde von einem unbewußten Drange getrieben, der Stadt zu entfliehen; es jagte ihn weg von den Häusern, den Menschen.

Bald kam er in freie Gegend und schließlich langte er am Ufer des Stromes an. Dem Laufe des Wassers folgend, schritt er auf einem gemauerten Steindamme hin.

Blitzartig durchzuckte ihn eine Erinnerung. So war er schon einmal durch die laue Augustnacht geschritten, unter dem lichten Sternenhimmel, genau diesen Weg. Vor zwei Jahren war es gewesen, wenige Wochen, nachdem er mit Alma hier gelandet.

Derselbe Mond spiegelte sich in den gleitenden Wellen. Es war alles wie damals. Ein leichter, weißlicher Nebel lag über dem ganzen, weiten Flußthale gebreitet, Häuser, Essen, Gärten und Felder verhüllend. Über der schlafenden Stadt erhob sich, einem matten Halbmond gleich, der leuchtende Himmelsausschnitt. Er allein, ein einsamer Wanderer; neben ihm das still rinnende Wasser, ein Bild des Lebens, unaufhaltsam, rätselhaft, in seiner wechselnden Vergänglichkeit ewig.

Wie sich die Gegend heute vieldeutig ausnahm! Wie wunderlich nachdenklich ihm zumute ward!

Hier war ihm damals bei nächtlichem Spaziergange der Gedanke aufgegangen zu seinem Buche. Hier war die Inspiration über ihn gekommen mit Kraft, Wonne, Begeisterung, Siegesbewußtsein der neuen Idee. Wo waren diese Gefühle hin? Schienen sie nicht zerronnen wie jene Wellen von damals? –

Alles, alles hatte heute nacht einen neuen Sinn für ihn, bekam tiefere Bedeutung, wurde lebendig, weil er die Nähe des größten aller Zeichendeuter gespürt hatte, des Todes.

Wie klein, wie lächerlich klein, nichtig und eitel erschien ihm in diesem Lichte gesehen alles, was ihm eben noch so ungeheuer wichtig gewesen war: sein Streben und Dichten, seine ehrgeizigen Pläne und Hoffnungen! Wie viel größer, ernster und tiefer war das Leben als alle Schilderungen, alle Wiedergaben! Wie versank in solchem Augenblicke das, was er selbst und unzählige seiner Kollegen anbeteten, was sie unter dem Namen »Litteratur« als Beruf, Lebenszweck, Stein der Weisen, Gesetz wie eine Gottheit verehrten! –

Hatte er, der Schriftsteller Fritz Berting, je etwas beschrieben, würde er je etwas beschreiben, was nur entfernt heranreichte an den erhabenen Realismus, der über jenem eben verlassenen nächtlichen Krankensaale gelegen hatte?

Gab es irgend eine Feder, einen Pinsel, einen Meißel, der das zu meistern vermochte, was sich täglich, stündlich um uns her zutrug? Ein kleiner Handlanger schien die Kunst, verglichen mit dem großen Meister Leben.

Die Wellen rauschten und plätscherten genau wie damals. Sie führten ein kurzes Dasein, das nach Sekunden zählte, nur solange sie stiegen und fielen, um neuen und immer neuen Platz zu machen.

Zwei Jahre! Zwei kurze, lange Jahre, je nachdem man es nahm. Zwei wichtige Lebensjahre! – Wenn man sie mit dem, was man jetzt wußte, noch einmal hätte von vorn anfangen können! Thor, der er gewesen, doppelter und dreifacher Thor, den Sinn des Lebens überall da zu suchen, wo er nicht war. Heute an Almas Lager, beim Anblick ihrer vom Tode gezeichneten Züge, war es ihm klar geworden, wie es hätte sein können; daß er den köstlichsten Wein verschüttet hatte, statt ihn zu trinken.

Daß das Sterben solch eine große, feierliche Sache sei, war ihm nie zum Bewußtsein gekommen. Was kam auf der ganzen weiten Welt mit der Unendlichkeit ihrer Erscheinungen dem Inhalte gleich der drei Buchstaben: Tod? –

Der Genius, der die Fackel löscht, erst erleuchtete den Sinn des Lebens. Wohl hatte Fritz Berting davon hie und da gehört oder gelesen; aber zur erlebten Wahrheit war es ihm erst heut nacht geworden.

 

Empfindliche Kühle, die sich in früher Morgenstunde am Flußlaufe hin verbreitete, hatte Fritz wieder in die Stadt getrieben. Um diese Tageszeit konnte er noch nicht in das Hospital gehen; er beschloß also, müde und übernächtig wie er war, einige Zeit in der Wartehalle eines Bahnhofes, an dem er vorbeikam, zuzubringen.

Er blieb, da gerade keine Züge verkehrten, der einzige Gast in dem großen Raume. Irgendwo in einer Ecke schlief der Kellner, den zu wecken er sich wohl hütete. Fahles Morgenlicht, durch ein Oberlichtfenster dringend, stritt mit der Gasbeleuchtung um die Herrschaft. Ein unsäglich fader Geruch von abgestandenem Cigarrenrauch, Getränken und Kohlenstaub lag wie eine trübe Wolke über dem ganzen, öden Lokale.

Berting fühlte sich matt, trostlos und körperlich elend. Längst waren die neuen, starken Empfindungen und Gefühle verraucht, die ihn in der Nacht beseelt hatten. Grau lag die Welt vor ihm, häßlich grau.

Sollte man Alma wünschen, daß sie wieder genesen möchte? Durfte man es überhaupt wünschen? –

Gesetzt den Fall, das Wunder geschah, sie genas! Würde sie glücklich sein? Würde er sich besser gegen sie benehmen als vordem? Würde das Mitleid, das er eben noch so stark empfunden hatte, anhalten? Würde nicht das nüchterne Alltagsleben mit seiner abstumpfenden Kraft bald die neuerwachsene Liebe auslöschen und ihn gleichgiltig machen? – Was nützten alle guten Vorsätze? Die Natur, das Fleisch war mächtiger. Denn die Menschen hatten genau wie die Dinge den Trieb, mit trägem Gewicht in das alte Gleis zurückzusinken.

Nein, wahrhaftig, man konnte Alma das Weiterleben nicht wünschen! Und wenn er ehrlich war gegen sich, wußte er auch, daß er es ihr gar nicht wünschte.

Ersehnte er Almas Tod?

Er wollte den schrecklichen Gedanken bei Seite schieben, aber der ließ ihn nicht aus seinen Fängen.

Wenn er die Sonde hinabsenkte bis auf den untersten Grund der Gefühle, was fand man da? Was lebte tief verborgen unter all der Rührung, dem sentimentalen Mitgefühl für das arme, gequälte Geschöpf dort auf dem Krankenlager? War es nicht der Wunsch, oder wie man es nennen wollte, das Bewußtsein: wenn sie stirbt, bist du frei, frei von einer Last, frei von einer großen Verantwortung? –

Berting erschrak in tiefster Seele. Wurde er mit seinen Gedanken nicht zum Mörder? Zum Mörder an dem freundlichsten, gütigsten, liebevollsten Wesen? –

Er dachte an die Zeiten zurück in Berlin, wo sie ihm nach seinem Mißerfolge so viel gewesen war, wo er sich an ihrer Tapferkeit, ihrer Treue, ihrem goldenen Frohsinn und Lebensmut aufgerichtet hatte aus tiefer Enttäuschung. Hatte sie ihn nicht damals gerettet vor dem Versinken im Lebensekel? –

Und trotzdem wünschte er ihr den Tod? War ein solches Gefühl nicht das unnatürlichste, das verworfenste, abscheulichste, was man sich denken konnte? Mußte man nicht irre werden an dem eigenen Verstande, wenn er solche Gedanken aushecken konnte? –

Der Raum, in welchem er bisher allein gesessen hatte, begann sich zu beleben. Reisende traten ein. Der Portier rief den Abgang von Zügen aus. Der Kellner, noch halb verschlafen, näherte sich dem Tisch und fragte, ob der Herr einen Wunsch habe? Fritz bestellte Kaffee.

Nachdem er die Tasse hastig hinuntergestürzt hatte, verließ er den Ort. Draußen empfing ihn der herrlichste Sommermorgen. Vor dem Bahnhofe herrschte reges Treiben.

›Alles ist Stimmung‹, dachte Fritz bei sich und verglich die Szenen frischen Lebens um sich her mit den düsteren Bildern der verflossenen Nacht.

Die Bahnhofsuhr zeigte sechs Uhr. Er meinte, daß es Zeit sei, in das Krankenhaus zurückzugehen.

Er wurde ohne Schwierigkeiten vorgelassen, da man ihn jetzt schon kannte. Die Kranke lag nicht mehr in dem allgemeinen Saale; man hatte sie in einem Zimmer für sich untergebracht, der Bäder wegen, die dort leichter bewerkstelligt werden konnten.

Alma war bei Bewußtsein. Die Schwester hatte mit ihrer Voraussage recht behalten. Als Fritz eintrat, erkannte ihn die Kranke sofort, lächelte und machte ihm ein Zeichen mit der Hand.

Fritz ließ sich von der Pflegerin berichten, wie der Rest der Nacht verlaufen sei. Drei Bäder waren kurz hintereinander gegeben worden; darauf war die Eigentemperatur stark gefallen. Neuerdings bestand Gefahr in der großen Herzschwäche, die mit stärkenden Mitteln bekämpft werden mußte.

Die Schwester verließ das Zimmer, nachdem sie Berting zuvor noch auf den Wein aufmerksam gemacht hatte, von welchem der Kranken bei Schwächeanfällen ein Schluck zu reichen sei.

Fritz sah bei der grellen Beleuchtung des vollen Tageslichts, wie abgefallen, hohläugig und gelb die Kranke war. Ihre Züge hatten einen ganz veränderten Ausdruck angenommen. Auch ihre Stimme klang ihm fremd. Sie sprach in merkwürdig erhobenem, gesteigertem Ton. Aus den Wangen war das Blut gewichen. Die Augen hatten den fast überirdischen Glanz behalten, der ihm schon nachts aufgefallen war, diese Augen mit dem tiefen, eindringlichen Blick. Etwas Durchgeistigtes, feierlich Ernstes lag über der ganzen Erscheinung; wie geweiht erschien sie, gezeichnet von unsichtbarer Hand.

Mit Fritzens Hilfe hatte sich die Kranke im Bette aufgesetzt. Er sah, daß sie mit ihm sprechen wollte. Vermutlich machte das Kind ihr Sorgen. Er würde sich nicht gewundert haben, wenn sie das Verlangen ausgesprochen hätte, es zu sehen.

Aber dem war nicht so. Sie erwähnte wohl die kleine Alma, und ein Lächeln huschte über ihre Züge, als sie den Namen nannte. Aber dann sagte sie: »Die ist in guten Händen.«

Fritz staunte. Wo war die Eifersucht hin, die noch vor kurzem die junge Mutter so ungerecht gemacht hatte gegen Toni Lehmfink? –

»Wie fühlst du dich jetzt, Alma?« erkundigte er sich.

»Ich bin so müde!« flüsterte sie, »so müde! – Diese Nacht! – Ach, Fritz, was habe ich in dieser Nacht alles gesehen.«

Es glitt wie ein Schimmer über ihr Angesicht. Ihr Auge bekam den Ausdruck des Staunens, als sähe es ferne, unerhörte Dinge.

So lag sie eine ganze Weile. Dann begann sie von neuem: »Es war jemand an meinem Bette, ein Mann. Er saß neben mir und sprach zu mir.«

»Ich war es, Alma,« unterbrach sie Fritz; »ich habe heute nacht lange bei dir gesessen.«

Sie lächelte ungläubig. »Nein, nein! Du warst es nicht. Ganz anders sah er aus. Ich glaube, es war Ludwig Glück. Ich erkannte ihn an der Stimme. Wenn ich nur wüßte, was er sagte!«

Es schien Alma zu quälen, daß sie nicht darauf kommen konnte, was der verstorbene Freund zu ihr gesagt hatte. Sie seufzte schwer. Fritz, der sie auf andere Gedanken zu bringen wünschte, meinte: »Du bist hier ausgezeichnet aufgehoben, Alma, und wirst hoffentlich bald gänzlich hergestellt sein.«

Alma wandte die großen, glänzenden Augen langsam auf ihn. Der Blick ging ihm durch und durch.

»Ach, mein lieber Fritz,« sagte sie, »glaube das nicht! Mit mir wird nichts mehr. Ich bin so müde! Am wohlsten ist mir, wenn ich so sein kann wie heut nacht. Da merkt man nichts von Schmerzen. Und alle die Verstorbenen kommen zu einem. Bald ist es mein seliger Vater, bald ist es Ludwig. Dann wieder steht ein schöner, ein wunderschöner Engel an meinem Lager. Sie sprechen zu mir und sind gut zu mir. Das thut wohl, so wohl!«

Fritz bedeckte die Augen. Wie traf ihn dieses: »und sind gut zu mir!« –

Die Kranke hatte sich auf ihrem Lager näher an ihn herangeschoben. Sie zog ihm die Hand von den Augen. »Mein lieber Fritz, hast du mich denn ein wenig lieb?«

Er biß die Zähne aufeinander und nickte.

»Weißt du, Fritz,« fuhr Alma fort, langsam und feierlich sprechend, wie von einem höheren Bewußtsein beseelt und weit über sich hinaus gesteigert, »weißt du, Fritz, es ist gut, daß ich sterbe. Für mich und für dich ist es gut und auch für das Kindchen. Ich kann dir nichts nützen; denn ich bin nicht sehr gescheit. Eine ganz andere müßtest du haben! Früher habe ich mir gewünscht, du möchtest mich heiraten. Wenn ich's auch nicht gesagt habe, gewünscht habe ich mir's im Herzen. Aber jetzt sehe ich das ganz anders. Wenn man so krank ist, sieht sich alles verändert an. Jetzt weiß ich, daß es gut ist so, wie alles gekommen. Einmal wärest du ja doch von mir gegangen, und das hätte ich nicht ertragen. Nun gehe ich von dir; das ist viel besser.«

Er wußte nichts anderes, als an ihrem Lager niederzuknieen, ihre Hand mit Küssen zu bedecken und mit Thränen zu benetzen.

»Wir sind sehr glücklich zusammen gewesen, mein lieber, lieber Fritz. Weißt du noch, wie du auf die weite Reise gingst, damals? Die letzte Nacht – der Abschied – weißt du noch?« –

Er drückte zur Antwort nur ihre Hand. Sie sprach über sein Haupt geneigt, ganz sanft, wie eine Mutter zu ihrem Kinde.

»Denke nur manchmal an mich, mein Fritz! Und mache dir meinetwegen keine Vorwürfe. Wir waren beide sehr jung und unerfahren, als wir uns kennen lernten. Aber ich bereue es nicht und habe dir auch nichts zu verzeihen. Du hast mich oftmals sehr, sehr glücklich gemacht. Und in der letzten Zeit bist du so liebreich zu mir gewesen, so liebreich! Auch das Kindchen habe ich ja von dir, Fritz! – Früher, als es noch nicht da war, wünschte ich mir einen kleinen Jungen, damit ich jemand hätte, der dir ähnlich wäre. Aber nun bin ich froh, daß es ein Mädel geworden ist. Da hast du nun doch eine Alma, wenn ich auch gegangen bin. Erziehe sie dir nur recht nach deinem Herzen, daß sie gescheiter wird als ich und dir mehr nützen kann! Daß du sie hast Alma taufen lassen, ist so lieb von dir, mein Fritz! Denke nur an mich, wenn du sie rufst! Und später, wenn sie klug sein wird, dann erzähle ihr auch von ihrer Mutter, hörst du!«

Fritz wollte vergehen vor Wehmut. Wie schön und rein trat die Seele dieses Geschöpfes, einem lichten Engel gleich, aus ihrer ärmlichen Hülle hervor. Und er, ein Zwerg, ein Krüppel, ein häßlicher Krüppel gegen sie.

Gutes und immer wieder nur Gutes that sie ihm. Den größten Dienst aber empfing er von ihr in dieser Stunde: ganz vor sich selbst hatte sie ihn einmal gestellt, in Tiefen der Seele hinein hatte sie ihn geführt, die er nicht kannte. Auf die Kniee zwang ihn ihre Güte und schlichte Größe, zum Bekennen, zur Reue. Er fühlte einen Schmerz, der frei war von jeder Sentimentalität, dem etwas Befreiendes, Religiöses zugrunde lag: Ehrfurcht vor der Größe seines und ihres Schicksals.

Hier an diesem Lager, in ihrer Sterbestunde, lernte Fritz Berting eine Liebe kennen, die ihm das Leben bisher versagt hatte; keine Begierde, keine Eigensucht gab es in dieser Liebe. Nichts Häßliches, Herabziehendes stellte sich mehr zwischen ihn und Alma. Kein Hochmut trennte ihn von ihr; der Unterschied des Standes, der Bildung war tief versunken. Das Kind aus dem Volke war im Angesicht des Todes ebenbürtig jeder Königin. Nur noch ihre Seele erblickte er, und die war angethan mit dem herrlichen Gewande des Mutes, der Treue und der Reinheit. Jungfräulich unentweiht trat sie noch einmal vor ihn hin. Jetzt erst erkannte er sie. Sie war seine Geliebte gewesen; in der Sterbestunde wurde sie seine Braut.

Die Schwester war eingetreten. Fritz, der noch immer an dem Lager kniete, hatte es nicht bemerkt. Alma selbst mußte ihn darauf aufmerksam machen. Die Kranke sollte neu gebettet werden.

Fritz mußte gehen. Beim Abschied versprach er Alma, in einigen Stunden wiederzukommen. Als er schon in der Thür war, winkte ihm die Kranke.

Er eilte zu ihr zurück. Alma legte ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an sich. »Vergiß mich nicht!« flüsterte sie ihm ins Ohr, gab ihm einen Kuß und sank dann erschöpft zurück.

Berting lief wie einer, der von Sinnen ist, aus dem Zimmer, durch die langen Gänge, bis er, er wußte nicht wie, auf der Straße war.

In seiner Wohnung, die er seit vierundzwanzig Stunden nicht betreten hatte, fand er mehrere Briefe vor, unter anderem einen von Heinrich Lehmfink, der ihm in heiterster Laune schrieb, und einen von Maximilian Nackede, der um weitere Beiträge ersuchte für seine Korrespondenz.

Wie weh solche Briefe thaten! Wußten denn die Menschen nichts von seinen Gefühlen? – Er warf sich auf das Bett, angezogen, wie er war, und wandte das Gesicht der Wand zu. Ein wenig nur wollte er ruhen; denn er fühlte sich todmüde.

Als er aus bleiernem Schlafe erwachte, sah er an dem Lichte, das schon ins dämmerige überging, sofort, daß es spät sei. Seine Uhr, die er nicht aufgezogen hatte, war stehen geblieben.

Ohne sich viel mit Toilettemachen abzugeben, eilte er hinaus. Nur einen Gedanken hatte er: Alma! Würde er sie noch am Leben finden? –

Im Anmeldezimmer der Anstalt wurde ihm auf sein zaghaftes Anfragen geantwortet, er könne jetzt nicht zu Fräulein Lux; sie liege in schwerem Fieberdelirium. Man sei eben dabei, es noch einmal mit kalten Bädern zu versuchen. In einer Stunde möge er wiederkommen.

Von neuem war er auf der Straße. Ein sehr alltägliches Gefühl beherrschte ihn, ein Gefühl, dessen er sich schämte: Hunger. Seit jener Tasse Kaffee in früher Morgenstunde hatte er nichts zu sich genommen, und jetzt war es gegen sieben Uhr abends.

Er ging in das nächste Restaurant und ließ das erste Gericht, das ihm der Kellner vorschlug, kommen. Die Gäste betrachteten ihn erstaunt, wohl seines Aufzuges halber, und machten ihre Glossen.

Ach, wie gleichgiltig war ihm, was die Leute dachten! Wie nichtig erschien ihm alles außer dem einen, was sich in diesem Augenblicke vielleicht entschied.

Nachdem er hastig verzehrt hatte, was ihm vorgesetzt worden war, eilte er wieder in das Krankenhaus zurück. Man gestattete ihm, im Anmeldezimmer zu warten.

Endlos dehnte sich die Zeit; er wußte nicht, saß er Stunden hier oder Minuten. Er versuchte, an alles mögliche Fernliegende zu denken, um nur das furchtbare Bewußtsein zu übertäuben, die Angst, die in ihm hämmerte, den Gedanken: sie ringt mit dem Tode, ruft vielleicht nach dir, und du kannst nicht zu ihr! –

Berting ertrug es schließlich nicht länger. Er suchte sich den Weg nach dem Zimmer, in welchem Alma jetzt lag, und fand ihn nach einigem Umherirren. Einzutreten wagte er nicht, legte aber das Ohr an die Thür.

Er vernahm gedämpftes Sprechen von drinnen. Almas Stimme war nicht dabei. Nach langem Zögern klopfte er schüchtern an. Man öffnete. Die Schwester trat zu ihm auf den Gang.

In ihrem Blicke las er alles. »Vor einer halben Stunde schlief sie ein, ganz sanft und friedlich, wie man selten einen Menschen sterben sieht. Sie können sie sehen.«

Was nun folgte, geschah ihm wie im Traume.

Er sah sich vor ein Lager gestellt, darauf eine Gestalt lang ausgestreckt lag, die Hände gefaltet über der Decke, die sie bis zur Brust zudeckte, ein Körper, den er kannte, bis in seine letzten Heimlichkeiten hinein kannte. aus vielen vertrauten Stunden. Heute war sie ihm eine Fremde. Der strenge Ausdruck ihrer Züge schien zu sagen: »Ich kenne dich nicht!« Eisig kalt lag sie, weltentrückt, erhaben, unnahbar, vollendet.

Ein Furchtschauer überfiel ihn vor der Leiche. Nie hätte er es gewagt, sie zu berühren oder zu küssen. Schön war der Anblick, unheimlich schön. Aber seine Geliebte war das nicht. Von der hatte er Abschied genommen am Morgen, als sie ihn noch einmal zu sich herangewinkt und ihn an ihr warmes Herz gedrückt hatte.

* * *

Alma lag seit einer Woche unter der Erde. An dem Begräbnis hatte Heinrich Lehmfink, durch seine Schwester telegraphisch herbeigerufen, noch teilnehmen können. Zwischen Toni und Heinrich war Berting hinter dem Sarge dreingeschritten. Weiter hatte ihr niemand das Geleit gegeben.

Fritz brachte jetzt den größten Teil seiner Tage bei Lehmfinks zu. Lange würde man einander nicht mehr haben; denn das Geschwisterpaar dachte stark ans Fortgehen. Man wollte die kurze Frist, die einem blieb, nach Möglichkeit ausnutzen.

Eine wichtige Rolle in dem Leben der drei Menschen spielte Klein-Alma.

Heinrich Lehmfink war nicht ganz frei von jenem Gefühl der Beklemmung, welches die meisten Junggesellen Kindern im Säuglingsalter gegenüber empfinden. Aber er kämpfte tapfer dagegen an, schon aus Rücksicht auf Toni, die, nachsichtig wie sie sonst war, keinen Spaß verstand, wenn es sich um das Wichtigste handelte, was es für sie auf der Welt gab, um ein kleines Kind.

Fritz war seit Almas Tode zu seiner Tochter in ein neues Verhältnis getreten. Ob es Vaterliebe sei, wußte er nicht; darauf kam es schließlich auch nicht an. Ein Gefühl tiefer Rührung und innigen Mitgefühls ergriff ihn, so oft er das komische, alte Köpfchen sah, das faltig ernste Gesichtchen des hilflosen, kleinen Wesens, welches zu fragen schien: Wer hat mich gerufen? – und das doch noch gar nicht einmal wußte, wie sonderbar es auf dieser Welt zugeht.

Ganz anders stand Toni zu dem Würmchen. Für sie war die kleine Alma ein wirklicher Mensch. Daß dieses winzige Geschöpf noch gänzlich im unbewußt Pflanzenhaften befangen war, hinderte Toni nicht, ganz ernsthaft allerhand Eigenschaften, Anlagen und Charakterzüge an ihr zu entdecken und dem auf diesem Gebiete etwas skeptischen Bruder triumphierend zu verkünden. Sie behandelte das Kind nicht als seelenlose Puppe, sondern als eine kleine Schwester, mit feinstem, liebevollstem Eingehen auf jede erste Regung der Psyche, die mit zusammengefalteten Flügeln in diesem Wesen schlummerte. Alle jene lästigen und scheinbar widerwärtigen Handgriffe, die ein Kind in so zartem Alter verlangt, erfüllte sie spielend mit jenem unverdrossenen Enthusiasmus, der mütterlichen Frauen eigen ist.

Es bestand ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen den dreien, daß Klein-Alma in Tonis Obhut bleiben solle. Wo auf der ganzen weiten Welt hätte Fritz auch eine aufopferndere Pflegerin finden können für das verwaiste Kind? – Mit tiefer Dankbarkeit mußte er annehmen, was das Geschwisterpaar an ihm that. Er konnte nur hoffen, daß er einmal in die Lage kommen werde, es ihnen heimzuzahlen.

Wie seine nächste Zukunft sich gestalten würde, hing noch völlig in der Schwebe. Eines nur stand fest, er wollte arbeiten. Heinrich Lehmfink stand zu Fritzens Gunsten in Unterhandlung mit der Redaktion, in der er früher gearbeitet hatte. Im schlimmsten Falle hätte Berting dort Arbeit genommen, um nur Verdienst zu finden; aber im stillen hoffte er auf das Zustandekommen eines anderen Projekts.

Er hatte nach Berlin geschrieben an Maximilian Nackede und ihn gefragt, ob er ihn bei seiner Korrespondenz beschäftigen könne. Berting sehnte sich nicht so sehr nach Berlin zurück, als von dem Orte weg, wo er so viel Schmerzliches erlebt hatte, an den ihn nichts band als die Erinnerung bitterer Ereignisse.

Berlin war groß. In Berlin konnte man verschwinden, untertauchen, unbeachtet leben und arbeiten. Weiter verlangte er ja nichts.

Heute nun war die Antwort eingetroffen von Nackede. Er schrieb, Fritzens Angebot komme ihm sehr gelegen. Er habe sowieso vorgehabt, sein Unternehmen zu erweitern. Fortan könnten sie sich in die Arbeit teilen. Berting solle den feuilletonistischen Teil übernehmen, er wolle den politischen und wirtschaftlichen behalten.

Das Honorar, das Nackede anbot, war nicht glänzend; aber er stellte gleichzeitig prozentualen Anteil am Reingewinn der Gesamteinnahmen in Aussicht. Zeit zu eigener Arbeit würde ja wohl auch noch übrig bleiben.

Fritz Berting bedachte sich keinen Augenblick, hier zuzugreifen. Daß Nackede keine goldenen Berge in Aussicht stellte, sprach für die Solidität seiner Sache. Mit diesem Manne würde angenehmes Arbeiten sein. Nackede war ein klarer Kopf, nüchtern und praktisch, und einer, der sein Handwerk verstand. Von ihm brauchte man dünkelhafte Überhebung nicht zu befürchten.

Wie froh war Berting jetzt, daß er Siegfried Silbers Anerbieten damals abgelehnt hatte. Wie viel Demütigung blieb ihm dadurch erspart!

Als Fritz an diesem Tage zu den Lehmfinks kam, las ihm Heinrich die guten Nachrichten sofort am Gesicht ab. Zum ersten Male wieder seit Almas Tode war die Freude bei den dreien eingekehrt. Eine wehmütige Freude allerdings, denn sie rückte das Auseinandergehen nahe.

Nackede hatte den Wunsch ausgesprochen, Berting möge sobald wie möglich nach Berlin kommen. Fritz hatte sich daher entschlossen, sofort zu reisen. Sein Gepäck war leicht, und Abschied zu nehmen hatte er nur von dem Geschwisterpaar, von seinem Töchterchen und von Almas Grabe.

Heinrich und Fritz gingen zu einem Spaziergang in den nahen Wald. Toni, die bei solchen Gelegenheiten früher niemals gefehlt hatte, war des Kindes wegen zurückgeblieben.

»Es ist merkwürdig,« sagte Heinrich Lehmfink, »mein Schwesterchen geht nicht hundert Schritte vom Hause fort, da erfaßt sie schon Angst um das Baby. Daß ein Kind diese Macht hat, das ganze Wesen einer Frau so um und um zu modeln. Mit irgend einer Naturkraft muß es zusammen hängen, dieses magnetische Hingezogen-werden des Weibes zum Kinde. Gut, daß es so ist!«

»Ja, sehr gut, wahrhaftig!« rief Fritz. »Was wäre aus meiner Kleinen geworden ohne deine Schwester?«

»Ich will dir etwas sagen, Berting! Mir war manchmal bange um mein Schwesterchen. Ein Mädchen wie Toni sich als alte Jungfer zu denken – schrecklich! Nun wird sie noch lange Jahre jung bleiben. Denn es ist eine alte Erfahrung: nichts konserviert die Frauen besser als Mutterschaft. Wunderbar, wunderbar, wie sich das alles gefügt hat!« –

Man ging eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Beide waren vom Gefühl des nahen Abschieds bewegt. Man hätte sich noch manches zu sagen gehabt und hegte doch die dem Manne angeborene Scheu davor, tiefere Gefühle offen blicken zu lassen.

Endlich begann Heinrich: »Ich muß so viel an Alma denken; dir wird es auch so gehen, Berting. Ihresgleichen werden wir nie, nie wiedersehen. Sie hatte bei aller Schlichtheit und scheinbaren Einfalt doch jene Genialität des Herzens, die sie zur originellen, einzigartigen, unvergeßlichen Persönlichkeit stempelte. Wir haben alle Grund zu tiefer Dankbarkeit gegen sie. Es ist eine Binsenwahrheit, daß der gute Mensch das ewige Leben hat, und daß nur der wirklich tot ist, der in den Herzen seiner Lieben gestorben ist. Von Alma kann man sagen, daß sie jetzt erst recht eigentlich zu leben beginnt. Sie ist ein Grab an unserem Wege geworden. Solche Gräber sind die wichtigsten Marksteine des Lebens. Es mag grausam klingen, aber: die Lebendigen brauchen Gräber. Den Sinn des Daseins in seiner Tiefe erfassen kann allein der Mensch, der Tote hat, Tote, die nicht tot sind für ihn.

»Alles ist groß und gut in der Welt, was uns fühlen macht, daß wir eine unsterbliche Seele besitzen. Darum ist selbst der Tod unserer Lieben gut.«

* * *

Seit einem Vierteljahre lebte Fritz Berting in einem Vororte Berlins.

Die Arbeit an der Korrespondenz seines Freundes Nackede war sehr verschieden von seinem bisherigen Schaffen. Er brauchte weit mehr Zeit und Mühe, als er angenommen hatte, um sich in die litterarisch-kritische Thätigkeit einzuarbeiten.

Welch ein Unterschied zwischen dem souveränen Waltenlassen der Einbildungskraft nach selbsterwählten Regeln, wie er es gewöhnt war vom freien Dichterberufe her, und dem Abarbeiten eines Pensums, das ihm zugewiesen wurde.

Wie oft seufzte er über den Stoß von Büchern, der auf seinem Schreibtische lag, und der sich, soviel man auch herunter nahm, immer wieder ergänzte, als ob er von unten her geheimnisvoll wachse.

Und wenn noch viel Gescheites dabei gewesen wäre! Aber wie selten waren Werke, bei denen einem das Herz aufging in Freude und in Bewunderung. Er hatte früher doch nicht geahnt, welcher Mißbrauch mit der Erfindung Gutenbergs getrieben wurde. Allmählich erst kam er hinter den Kunstkniff des diagonalen Lesens bei Werken, denen man mit sorgsamem Durchstudieren zuviel Ehre angethan hätte.

Hin und wieder aber stieß man doch auf ein Buch, das einen durch Gehalt und Schönheit entschädigte für die Öde der anderen. Da hieß es dann nur, das Herz weit aufmachen und sich ergreifen lassen.

Der Widerwille, der ihn anfangs beherrscht hatte gegen den endlos rauschenden, grauen Strom litterarischer Produktion, fing an sich aufzulichten von dem Augenblicke an, als er sein Amt zu begreifen begann. Es kam nicht darauf an, Stück für Stück der ihm vorgelegten Bücher zu prüfen und mit einer Zensur zu entlassen, so etwa, wie es der Lehrer mit den Heften seiner Klasse macht. Die Aufgabe des Kritikers war eine fruchtbarere, konnte wenigstens dazu gemacht werden. Man durfte auch als Rezensent Werte schaffen, schöpferisch sein. Man mußte sich nur entschließen, in die Tiefe zu bohren, nicht bloß des einzelnen, gerade vorliegenden Buches – das vielleicht gar keine Tiefe hatte – nein, bis zu den Wurzeln, aus denen es entsprungen war.

Jedes Werk war schließlich eine Zeiterscheinung, fußte nicht bloß in der Individualität seines Schöpfers, sondern vor allem auch in Zeit, Volk und Gesellschaft. Dafür galt es, das Auge zu schärfen, für diese feinsten Zusammenhänge der Einzelpersönlichkeit mit dem Ganzen. Wichtige Gesetze wurden einem da enthüllt. Die litterarische Detailarbeit des Kritikers bekam, so aufgefaßt, einen großen, soziologischen Hintergrund.

Auch hier war das Einfachste das Fruchtbarste. Welch einen komplizierten Apparat von gelehrter Vielwisserei setzten manche der Herren Kollegen in Bewegung! Welches Feuerwerk geistreicher Phrasen wurde täglich in den Feuilletons abgebrannt! Wieviel Gift und Galle wurde verspritzt zum Schaden beider Teile, des Kritikers und des Kritisierten!

War denn nicht der einfache Wunsch des Verstehenwollens, die ehrliche Absicht mitzugehen und der gute Wille zu nützen viel natürlicher als das hochmütig frivole Aburteilen, dieses spielerische Jonglieren mit der fremden Arbeit, das schließlich doch nur auf ein Zurschaustellen des eigenen Esprits hinauslief?

Auch den Rezensenten führte sein Beruf, wenn er ihn groß auffaßte, ganz von selbst zum edelsten Kern aller menschlichen Betätigung: zur Kunst.

So war er auf Umwegen zurückgeführt worden zu der Göttin, die sein Leben regierte. Er wußte es jetzt: Die Kunst zeigt ein sehr verschiedenes Angesicht, je nachdem man ihr dient. Ein keusches Gestirn kann sie sein, welches das ganze Leben nach oben zieht, aber ebensogut auch eine trübe Leuchte über einem dunklen Abgrund.

In dieser Periode, wo Berting alle Kräfte zusammennehmen mußte, um sich in den neuen Beruf einzuarbeiten, ruhte das eigene Produzieren. Aber die Zeiten würden kommen, wo auch er wieder innere Gesichte freischöpferisch gestalten durfte. Hie und da meldete sich die geheime Kraft schon. Dann mußte er sich Gewalt anthun, die Ideen, die an seine Thür klopften, zurückzuweisen.

Das nächste, was er schaffen würde, mußte ein großes, ernstes Kunstwerk sein, oder er war nicht wert, erlebt zu haben, was er erlebt hatte.

Aber noch war es nicht so weit. Man durfte nicht ans Werk gehen, während einem von schweren Erlebnissen noch die Hand zitterte. Man mußte den Eindrücken Zeit lassen, tief hinabzusinken. Der innere Spiegel wollte sich abklären, das Leben seine Lüfte weben zwischen Künstler und Vorbild. Erst mußte das Erlebte für ihn selbst zum Bildnis werden, ehe er es frei und schön aus sich herausstellen mochte.

Mit dem Geschwisterpaar Lehmfink stand Berting in regem Briefwechsel. Meist schrieb er an Heinrich, und Toni antwortete. Der außerordentliche Professor Doktor Lehmfink hatte zum Briefschreiben wenig Zeit. Er ließ dem Freunde immer ein und dasselbe ausrichten, nämlich: er arbeite. Fritz wußte, daß das heißen solle, er sei glücklich.

Toni Lehmfink erwies sich als eine sehr treue Korrespondentin. Der äußere Anlaß dieses Briefwechsels war gewesen, Fritz über das Befinden von Klein-Alma auf dem laufenden zu erhalten. Mehr und mehr jedoch entwickelte sich daraus etwas Tieferes. Ihr war jene glückliche Gabe eigen, die man fast nur bei Frauen findet, im Briefe die Seele ganz unmittelbar sprechen zu lassen. Und weil sie keinerlei künstliche Absichten hegte beim Schreiben, nichts wollte, als sich mitteilen, bekam alles unter ihrer Feder Eigenart und Leben.

Tonis Briefe wurden immer mehr zum Ereignis für Berting. Gleichzeitig wuchs in ihm das Bedürfnis, dieser Freundin gegenüber sich rückhaltlos auszusprechen über alles, was sein inneres wie äußeres Leben bewegte.

Seine Erlebnisse waren neuerdings scheinbar sehr unbedeutende. Obgleich er vor den Thoren einer Millionenstadt wohnte, kam er nur mit wenigen Menschen in Berührung. Am häufigsten noch sah er Nackede. Doch hatten sie, wenn sie zusammenkamen, meist von Geschäften zu sprechen.

Maximilian Nackede stellte im besten Sinne den Typus des modernen Berliners dar. Er war frei von jeder falschen Sentimentalität, vorurteilslos, schnell im Begreifen und Handeln, freimütig, wagelustig und nicht leicht zu verblüffen.

Er ließ dem Mitarbeiter, nachdem einmal die Grenzen ihrer Gebiete abgesteckt waren, durchaus freie Hand. Fritzens Annahme, daß es sich mit diesem Manne gut arbeiten lassen würde, hatte sich vollauf bestätigt.

Häufiger, als er das ursprünglich erwartet, sah Berting seine Schwester Konstanze. Zwar hatte er keinen Besuch bei Wedners gemacht und wollte auch so bald keinen machen; denn er war der Ansicht, daß man mit Verwandten, die ihr Kind ängstlich vor einem wie vor einem ansteckenden Kranken hüteten, den Verkehr nicht allzueifrig suchen solle. Konstanze hatte den Bruder jedoch selbst aufgesucht, sobald sie erfahren, daß er in Berlin sei. Sie kam hin und wieder nachsehen, wie es ihm gehe, aber stets nur auf kurzen Besuch; denn lächerlicherweise durfte ihr Mann nichts davon erfahren, daß sie mit dem eigenen Bruder verkehre.

Fritz hatte das Gefühl, daß diese Besuche einem inneren Bedürfnisse Konstanzens entsprangen. Sie war nicht glücklich, die Ärmste! Der Gatte quälte sie mit Pedanterie, Engherzigkeit und mit hochfahrendem Schulmeisterwesen. Und auch der sechzehnjährige Arthur benahm sich durchaus nicht nett gegen die Mutter. Das Bürschchen schien in pharisäischem Hochmut früh mit dem Vater wetteifern zu wollen.

Konstanze beklagte sich niemals über Gatten und Sohn; ja, sie war sich der unwürdigen Behandlung durch diese beiden vielleicht gar nicht bewußt. Aber gerade aus dem, was sie verschwieg, konnte man entnehmen, wie traurig es um ihr häusliches Leben bestellt sein müsse.

Immer klarer wurde es für Fritz, daß sein Schwager Wedner unverantwortlich an Konstanze handle. Sie war von Natur ein liebenswürdiges, harmloses, leicht zu lenkendes Geschöpf, durchaus nicht ohne gute, natürliche Anlagen. Manchmal brach der ursprüngliche Freimut ihres Wesens durch alle von dem Gatten ihr künstlich anerzogenen engherzigen Grundsätze sieghaft hindurch, so, als sie die Entdeckung gemacht hatte, daß Fritz ein Kind besitze.

Herausgekommen war das durch eine Photographie der kleinen Alma, welche Toni Lehmfink ihm zugeschickt hatte. Fritz war so unvorsichtig gewesen, das Bildchen umherliegen zu lassen, und Konstanze war mit der den Frauen eigenen Spürnase in solchen Sachen darauf gestoßen.

Im ersten Augenblicke war Konstanze völlig die Frau ihres Mannes, zeigte sich entsetzt und im höchsten Grade entrüstet. Allmählich jedoch bekam ihr besseres Selbst die Oberhand.

Zunächst forschte sie schüchtern nach dem Kindchen und seiner Mutter. Almas Geschick, das ihr Fritz in einfachen Zügen schilderte, ergriff sie. Immer und immer wieder kam sie darauf zurück. Es war nicht gewöhnliche Neugier, was Konstanze in diesem Falle empfand. Eine Art Verständnis brach sich bei ihr Bahn, daß es Verhältnisse im Leben giebt, denen man mit bloßem Aburteilen nicht gerecht wird.

Es war ein eigentümliches Gefühl der Genugthuung für Berting, die Schwester, die ihm durch lange Jahre so gut wie eine Fremde gewesen, nun ganz von selbst sich ihm wieder zuwenden zu sehen. Ob mit der Zeit daraus wirklich fruchtbare Beziehungen erwachsen würden, mußte die Zukunft lehren.

Von sonstigen Freunden sah und hörte Fritz Berting wenig. Es war erstaunlich, wie schnell einem gewisse Menschen, die man für wichtig gehalten hatte, im Verlaufe kürzester Frist völlig gleichgiltig wurden. Was bedeutete ihm jetzt Annie Eschauer, Frau Hilschius und dieser ganze Kreis? –

Und doch, als er im Annoncenteil einer Zeitung unter den Familiennachrichten las, daß der Bankier Eschauer um stilles Beileid bitte zum Verlust seiner innig geliebten Gattin, die von schwerem Leiden durch den Tod erlöst worden sei, überkam Fritz das wehmutsvolle Bewußtsein, daß er auch in Annie wieder ein Stück seiner Vergangenheit verliere.

Ganz andere Gefühle erweckte ihm eine Nachricht, die er auf Umwegen von Hedwig von Lavan erhielt. Siegfried Silber, von dem man neuerdings Artikel über die verschiedenartigsten Materien in der Presse fand, hatte in einer litterarischen Revue einen Aufsatz über »hoffnungerweckende weibliche Talente der neueren deutschen Litteratur« erscheinen lassen.

Beim Lesen dieses Artikels ward es Fritz zumute, als ob er den kleinen Silber sprechen höre. Genau der an Übertreibungen und Gemeinplätzen reiche Stil. Wenig originelle Gedanken, dafür ein spielerisches Kokettieren mit aktuellen Stoffen und Ideenkreisen. Keine Ruhe, keine Sachlichkeit, vielmehr ein stetes sich Überschlagen und Herausstreichen des eigenen Geistesreichtums.

Unter den Frauen, von denen Silber am meisten erwartete für unser Schrifttum, nannte er in erster Linie Fräulein von Lavan. – Das heißt, er bezeichnete sie mit dem männlichen Pseudonym, das Berting einst für Hedwig erfunden hatte. – Sie besaß, nach Silbers Behauptung, jene großartige Ungeniertheit, welche es wagte, sich »im seelischen Evaskostüm« vor aller Welt zu zeigen, gleichsam »nur bekleidet mit der keuschen Linie ihrer Kunst.« Hier spreche endlich einmal das Weib rein als Geschlechtswesen. Zu tiefem Danke sei ihr dafür nicht allein die Litteratur, sondern ebensosehr auch die Wissenschaft verpflichtet. Denn hier sei zum ersten Male eine zuverlässige Enquete über das Triebleben der Frau von einer Kennerin eröffnet.

Die gerühmten Vorzüge fand Silber vor allem in dem neuesten Buche der Verfasserin. Es führte den Titel: »Die Unbefleckte«.

Der begeisterte Kritiker gab eine detaillierte Inhaltsangabe des Romanes. Danach schien die Forderung, welche die Verfasserin aufstellte, zu sein, daß das Weib sich geschlechtlich ausleben dürfe. Sinnlichkeit heilige jedes Liebesverhältnis, während Ehe ohne Sinnentrieb schlimmer sei als Prostitution. Es war dies an zwei Lebensläufen illustriert. Ein Mädchen wurde geschildert, die, trotzdem sie ihrem Geliebten mehrere Kinder geboren hatte, »unbefleckt« geblieben war, während ihre Schwester sich in einer Vernunftehe ohne Liebe zur Dirne erniedrigt hatte.

Berting trug kein Verlangen danach, das Buch zu lesen. Es mochte immerhin einen wichtigen Beitrag bedeuten zur Frauenpsychologie; ihm graute davor. Er kannte die Verfasserin zu gut. Vor allem wußte er zu genau, was für sie das treibende Motiv war, sich mit solchen Problemen abzugeben, nicht »die rücksichtslose Kühnheit des Wahrheitspioniers«, wie Silber glaubte, sondern Neugier.

Hedwig war noch jung; Fritz schätzte sie jetzt auf etwa neunzehn. Siegfried Silber mochte recht behalten mit seiner Prophezeiung, daß Fräulein von Lavan bald zu den führenden Schriftstellerinnen gehören werde. Ihre Beanlagung war unzweifelhaft vielseitig und ihr Wesen ungewöhnlich. Berting hatte den Zauber, den sie auszuüben vermochte, an sich selbst erfahren. Aber daß sie den Typus des Zukunftsweibes darstelle, wie Michael Chubsky von ihr behauptet hatte, glaubte er nicht.

Bei aller Klugheit, Schärfe des Verstandes und Kultur des Geschmackes war sie seelisch unfruchtbar, ein impotentes Weib. Ihre Auffassung von Liebe war brutal, öde, verstandesmäßig konstruiert, ihr Begriff von Mutterschaft oberflächlich. Sie operierte gern mit diesen Worten; man hatte aber bei näherem Zusehen doch das Gefühl, daß sie von Liebe und Mutterschaft spreche wie der Blinde von der Farbe.

Und was das große Verdienst anlangte, welches Silber ihr nachrühmte, daß sie die dem Weibe eigene Zimperlichkeit in diesen Dingen ganz beiseite gelassen habe, um »das geschlechtliche Martyrium« der modernen Frau in seiner Kraßheit zu enthüllen, so schien dieses Verdienst wirklich nicht groß; Scham brauchte nicht zu überwinden, wer keine besaß. –

Die Zeiten waren vorüber, wo ihm das geschriebene Wort an sich imponierte. Durch seine Thätigkeit als Kritiker hatte er Übung bekommen im Durchschauen von Büchern und im Erkennen der Motive und Tendenzen, die hinter den Büchern standen.

Immer wichtiger wurde ihm der lebendige Sinn alles Geschriebenen, nämlich die Persönlichkeit, die Seele, die Schöpferkraft des Autors, das, was er zu geben, was er Neues zu sagen hatte. Immer mißtrauischer dagegen wurde er gegen das, was ihm früher als das bei weitem Wichtigste erschienen war, das aktuell Litterarische.

Was war Litteratur? Eine Sammlung von Schulbegriffen, die heute galten, morgen verworfen wurden. Eine Abstraktion von klugen Köpfen aus so und so viel Beispielen zurecht gemacht und als System ausgegeben; die lebendige Dichtung sah anders aus. Was hatte ein Dichter mit den Moden der Litteratur zu thun? –

Durch Nackede war Berting in flüchtige Berührung gekommen mit einigen Vertretern der allerjüngsten Dichtergeneration. Vor kurzem noch hatte er selbst zu diesen Grünsten gehört. Nun stand schon ein neues Geschlecht fix und fertig da, begierig, ihn und seine Zeitgenossen abzulösen.

Ihm ward, als er in diesen Kreis verschlagen wurde, als sei er verdammt, schon einmal Verdautes noch einmal zu essen. Genau derselbe litterarische Kaffeehaus-Klatsch wie damals! Ähnliche Physiognomieen, ähnliche Allüren, der nämliche Geist in wenig veränderter Form. Einige neue Schlagwort waren allerdings aufgekommen. Geblieben war das Geistreich-sein-wollen, das Wichtigthun und die Großmannssucht. Jeder dieser Jünglinge gebärdete sich, als habe er das Dichten überhaupt erst erfunden, als hänge von seinen Einfällen Sein oder Nichtsein der deutschen Kunst ab.

Berting merkte, daß er älter geworden sei, und das war in diesem Falle kein unangenehmes Gefühl. Er erfuhr an sich, daß es weniger die Jahre sind, die den Menschen formen, als das, was man in ihnen durchmacht.

Er hatte etwas erlebt; das war es, was ihn von den Kollegen schied. Auch diese brüsteten sich zwar mit Erlebnissen. Aber was nannten sie so? –

Sie glaubten, das Leben sei ein Spektakelstück, aufgeführt zu ihrer besonderen Ergötzung. Dabei ahnten sie nicht, daß sie mit dem Rücken saßen gegen die Welt, daß das große, ernste Leben, das Leben der Arbeit, der Thaten und der Erfahrungen sich weit, weit weg von ihnen abspielte, ohne sich im geringsten um sie zu bekümmern.

Überall wollten sie nur Freude und ästhetischen Genuß, vom Leben genau so wie vom Weibe. Die Weiber erniedrigten sie zu Dirnen, und auch das Leben machten sie sich zur Dirne. Ihnen tief ins Auge zu blicken, besaßen sie nicht den Mut. Darum enthüllte ihnen weder das Weib seine Schönheit, noch das Leben seine Größe.

Berting wußte, daß es eine Zeit gegeben hatte, wo er nicht anders gewesen war als diese. Wenn er sich jetzt sagen durfte, daß er mehr sei als sie, daß er in festerem Boden wurzele, daß er ein tieferes und reineres Verhältnis habe zum Leben und zur Kunst, so fühlte er Grund zu Dankbarkeit. Den Toten und den Lebenden hatte er dankbar zu sein für große Aufopferung, Nachsicht und Geduld. Auch er war mit dem Gedanken ausgezogen, das Leben sei ein Fest, welches man nur zu genießen brauche; aber es war mehr. Wert bekam das Leben erst, wenn es von seinem Träger gestaltet wurde.

Ein neues Gefühl wuchs in ihm heran, Ehrfurcht vor dem großen Ethos des Daseins. Die Gesetze des Seins mußte der Mensch anerkennen und sich ihnen unterwerfen, sonst glich er einem steuerlosen Schiff auf hoher See.

Berting war auf nichts stolzer als auf sein Künstlertum. Aber das Gottesgnadentum des Dichters wurde nur dem fruchtbar, der sich diese Würde verdiente.

Dichten und Leben stehen in innigem, unzertrennlichem Zusammenhang. Alles echte Dichten ist ein geheimnisvolles Rinnen von tief aus dem Innersten quellenden Gefühlen, ein Überfließen von erlebten Dingen.

 


 


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