Wilhelm von Polenz
Wurzellocker Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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Drittes Buch

Seit vierzehn Tagen etwa befand sich Fritz Berting in Binz, wo seine und Theophils Nordlandreise ihren Abschluß gefunden hatte.

Annie Eschauer war da mit ihrem Gatten und einem Troß berliner Freunde. Sie stand im Mittelpunkt eines größeren Kreises, wie er sich in der Zwanglosigkeit des Badeaufenthalts leicht zusammenfindet.

Der Bankier Eschauer, ein Mann in den Fünfzigern, dessen Prinzip im Geschäft wie im Privatleben sich in die gern von ihm gebrauchten Worte: »nicht unnütz aufregen!« zusammenfassen ließ, legte dem Amüsementsbedürfnis seiner um zwanzig Jahre jüngeren Frau nichts in den Weg. Eifersucht unter Eheleuten rechnete er zu den Gefühlsduseleien, die gleich hinter Gedichtemachen kamen. Daß Annie sich für Kunst interessierte, war in Herrn Eschauers Augen zwar Zeitverschwendung, wie alles, was nicht Geld einbrachte, aber er gestattete seiner Frau diesen »Idealismus«. Sie ließ ihm dafür sein Interesse für Varieté, Ballett, und Nachtcafé. –

In Binz langweilte sich Herr Eschauer. Das ewige Segeln, am Strand Krocket spielen und in den Wald laufen war nicht nach seinem Geschmack. Er verschwand gelegentlich zu selbständigen Ausflügen; und Eingeweihte wollten wissen, daß er dann eine Dame der berliner Halbwelt aufsuchte, die in einem Fischerdorfe der Festlandsküste ihre Sommerfrische verbrachte.

Fritz Berting fühlte sich in der Gesellschaft, die Frau Annie um sich versammelt hatte, nicht allzu behaglich. Er empfand einen gewissen mit Beklemmung gepaarten Widerwillen Leuten gegenüber, die das Geld ausgaben, als sei es nichts, und denen es in Wahrheit doch alles war. Ein Mensch wie er, der auch nicht den geringsten Anfang zu einer Million besaß, mußte in solcher Gesellschaft notwendig outsider bleiben. Sein Künstlertum gab ihm keinen Freipaß; denn Bücherschreiben war in ihren Augen eine fragwürdige Beschäftigung, vor allem, wenn man nicht große Honorare zur Entschuldigung seines Metiers anführen konnte.

Frau Annie war sehr freundlich gegen Fritz. Sie suchte ihm den Aufenthalt in Binz so angenehm wie möglich zu gestalten, gab ihm vor aller Augen in auffälliger Weise Beweise ihrer Gunst.

Es waren da drei junge Leute, Mitglieder der berliner jeunesse dorée, die Annie den Hof gemacht hatten, ehe Fritz und Theophil an diesem Strande gelandet waren, und die sich nun in ihrem Zeitvertreib gestört sahen. Es fehlte nicht an versteckten Sticheleien, die Bezug hatten auf Frau Annies ideale Freundschaft mit einem Dichter. Jene drei Jünglinge besaßen den schnodderigen Witz des Berliners, der ein Todfeind ist jedes feineren Gefühls. Fritz kannte diesen kalten, cynischen Ton nur zu gut aus alter Erfahrung, er kannte auch die Skepsis, mit der man sich selbst beobachtete, bewachte, zersetzte, kannte den schneidenden Hohn, mit dem man grausam über den nächsten Freund, über die Mitglieder der eigenen Familie herfiel, um sich und der Welt zu beweisen, daß man Zartgefühl als überwundenen Standpunkt betrachte.

Einer dieser Herren war verlobt; das heißt, zwei Familien hatten sich dahin geeinigt, daß sich Million mit Million verbinden solle. Die Braut und ihr Anhang waren ebenfalls in Binz. Das junge Mädchen, eine siebzehnjährige Schönheit von rabenschwarzem Haar, Elfenbein-Teint und dem Wuchs einer Gazelle, wurde leider durch starkes Schielen entstellt. Von niemandem bekam sie diesen Fehler öfter vorgeworfen, als von ihrem Bräutigam. Und dieser Gemütsmensch wurde wiederum von der ganzen Gesellschaft mit dem »Um-die-Ecke-gucken« seiner Zukünftigen in sinniger Weise gehänselt.

Auch Theophil Alois Hilschius sollte der allgemeinen Spottsucht nicht entgehen. Kaum hatte man entdeckt, daß er das Dichten nicht lassen könne, so wurden bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit Verse von ihm verlangt. Der Dichter des ›Sulla‹ freute sich anfangs über die Popularität seiner Muse. Dann jedoch merkte er die Verhöhnung und zog sich grollend zurück. Einzig in den Augen des schielenden Mädchens glaubte er ein gewisses, ernsteres Verständnis zu lesen. Man sah in Zukunft Theophil und die Braut öfter allein wandeln, am Strande oder auf einsamen Waldwegen, wo er sie jedenfalls zum Opfer seiner poetischen Eingebungen machte.

Für Fritz bedeutete das eine Erleichterung. Er hatte unter Theophil während der letzten Monate schwer zu leiden gehabt. Durch seine Stellung als Reisebegleiter war Fritz an diesen Jüngling gefesselt gewesen. Sie hatten herrliches Wetter gehabt, und die ewige Schönheit von Meer, Küste und Gebirge hatte sich vor ihnen aufgethan, rein und groß wie vor tausend anderen Wanderern. Aber Theophil zeigte sich als einer jener schlimmen Mitreisenden, die einem die schönste Landschaft verekeln können. Entweder er erklärte, oder er kritisierte. Und noch ärger war es, wenn ein besonders schöner Blick, ein Sonnenuntergang über hochgehenden Meereswogen, oder die geheimnisvolle Stimmung einer taghellen Nacht in ihm den Poeten herausforderten. Jedes solche Erlebnis mußte in die Form eines Gedichtes gegossen werden. Fritz Berting würde gar nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, wenn der Reisegefährte seine Einfälle für sich behalten hätte; aber dieser junge Mensch hatte die Eigentümlichkeit, einer Henne ähnlich, mit freudigem Gegacker anzukündigen, daß die Weltlitteratur wiederum um ein neues Opus von Theophil Alois Hilschius bereichert sei. Außerdem hielt er es für Freundschaftspflicht, Fritz jedes Neue, was er empfangen hatte, vorzulegen. Hatte aber Fritz Berting etwas auszusetzen, dann sprach der Dichter von »Verständnislosigkeit« und schmollte; was, da man nun einmal auf einander angewiesen war, auch nicht zu den Annehmlichkeiten gehörte.

Übrigens führte Berting einen Reisebegleiter mit sich, der ihm über Schlimmeres als Theophils Banalität hinweggeholfen hätte: Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra«. Als habe er geahnt, daß er durch diesen einen Band auf Wochen hinaus mit Geistesnahrung überreichlich versorgt sei, hatte er kein weiteres Buch seinem Gepäck einverleibt.

Auf dem Meere las er den Zarathustra. Wie der Fromme die Bibel oder das Gesangbuch, so schlug er das hohe Lied des großen antichristlichen Sängers auf, an jeder beliebigen Stelle, und berauschte sich an dem gewaltigsten Dithyrambus auf den Menschen.

Wunderlich verschmolz ihm der Inhalt des Gedichtes mit der Szenerie um ihn her. Beide waren sie für ihn neu, der Ozean und Nietzsche, und bald wußte er nicht mehr, wer von dem Paare der größere Hexenmeister sei. Etwas Herbes, Salzgeschwängertes, wie der boshaft unberechenbare Seewind, wehte aus diesen Blättern. Ein Riesenhorizont, große, gesammelte Einsamkeit, klare, eisige Luft, darunter die graue, kühle Flut mit der Ahnung unerhörter Wunder in ihrer gefährlichen Tiefe. Und als kühner Wiking nur das eine Boot mit dem einen Manne darin, der das Wort geprägt hatte: »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß!« – Wie er mit Bewußtsein hinaussegelte, in seinem Rücken lassend alles, was bisher als Festland gegolten hatte: Staat, Familie, Gott. Hinaus über alle Ziele und Ideale hinweg, in die Einsamkeit hinein des eigenen Gesetzes, ein Voraussetzungsloser, der jauchzend alle Fesseln von sich wirft der Erdenschwere, der nichts mehr lieben, nichts glauben und hoffen will.

Mit diesem Lotsen zu segeln, war furchtbar schmerzliche Lust. Emporgehoben wurde man auf die steilsten Höhen der Erkenntnis und Freiheit, um gleich darauf hinabgestürzt zu werden in das Wogenthal engster beängstigender Widersprüche. An wieviel fürchterlichen Klippen ging die atembenehmende, rasende Fahrt in schwindelnder Knappheit vorüber. Himmelssüße, lockende Töne unsichtbarer Äolsharfen, auf denen der Meeresatem spielte: der Sirenengesang Nietzschescher Lyrik. Dazwischen Rufe höhnender Seevögel, grausige Schreie wie von ertrinkenden Seelen. Eine ehern einherschreitende gebundene Sprache, gleich dem Rhythmus der Meereswellen, der ältesten Musik der Welt. So tönte es aus diesem Buche, so starrte es einen an, wie das grausam versteinernde, unmenschliche Medusenangesicht des Ozeans.

Das war Nietzsche. In dieser Umgebung mußte man das Phänomen Zarathustra erleben.

Fritz war es, als würde jeden Tag eine Welt in ihm zerstört und eine Welt aufgerichtet. Seit Richard Wagners Tonschöpfungen zum ersten Male auf ihn eingestürmt waren, hatte er ein solches Wühlen in den Gefühlen, ein solches Zerren an den Nerven, wie von einer Riesenfaust, nicht gespürt. Auch hier war etwas wie Musik, ein Klingen und Jauchzen, ein Hüpfen und Tanzen, ein Entschweben und Wiederkehren, ein Auseinanderreißen, Gegeneinanderstürmen in Dissonanzen und Zusammenfließen in Harmonieen. Von diesem Werke ging eine große Weihestimmung aus, wie von den heroischen Geschicken eines Trauerspieles. Ein Ton aus diesen scheinbar gottlosen Strophen rührte an die innerste religiöse Natur des Menschen.

In Gegenwart eines solchen Riesen selbst schaffen zu wollen, schien undenkbar; auch nicht eine Zeile wäre geglückt. Fritz Berting fühlte sich gelähmt, wie vernichtet in seinem Selbstgefühle. Hier konnte man nur staunen und sich wehren, niemals nachwandeln. Auf lange hinaus würde dieses Erlebnis in ihm nachzittern, ähnlich wie der Wogengang des Meeres den Seefahrer auch auf dem Festlande noch in seinem Takt und Banne erhält.

Für einen, der sich mit Zarathustra hinausbegeben hatte in die Einsamkeit grandiosester Menschenverachtung, war es schwer sich zurechtzufinden auf dem Ententeiche alltäglicher Geselligkeit.

»Sie sehen aus wie der personifizierte Katzenjammer!« sagte Frau Annie zu Fritz. Eingehend erkundigte sie sich nach seinem Schlaf und seiner Verdauung, mit jener ihr eigenen Mischung von Ungeniertheit und Gutmütigkeit, der gram zu sein schwer war. Sie nannte ihn ihr »Dichterbaby« und sprach davon, ihn an Kindesstatt annehmen zu wollen.

Wirklich hatte ihre Sorge für ihn etwas Mütterliches. So war sie unter anderem in Berlin für die Verbreitung seines Romanes thätig gewesen, hatte bekannte Kritiker persönlich aufgesucht und sie gebeten, das Buch zu besprechen. Und auch von Rügen aus schrieb sie Briefe in Fritzens Interesse, ohne daß er sie darum besonders ersucht hätte.

Bei einer Mondscheinpartie erkältete er sich. Frau Annie ließ es sich nicht nehmen, ihn zu pflegen. Sie blieb seinetwegen sogar von einer Segelpartie zurück, die sie selbst arrangiert hatte. Unbewacht könne man ein Baby nicht lassen, erklärte sie.

Annie Eschauer hatte etwas in ihrem Wesen, das einem alle Dinge leicht und selbstverständlich erscheinen ließ. Der gewagtesten Situation wußte sie durch eine witzige Bemerkung die Spitze abzubrechen. Sie war nicht ohne Geist frivol; dadurch unterschied sie sich angenehm von ihrer Umgebung.

Aber der starke sinnliche Eindruck, den sie bei den ersten Begegnungen auf ihn gemacht hatte, war verflogen. Ihre Erscheinung gehörte zu denen, die eines effektvollen Hintergrundes, der bengalischen Beleuchtung bedürfen, um zu wirken. In der schlichten Umgebung von Wald und Flur erschien diese stark passierte Großstadtdame deplaciert. Annie ließ auch hier nicht von der Gewohnheit, sich mit Schmuck zu beladen und die grellsten Farben zu tragen. Leider verrieten Sonnenschein und Seeluft erbarmungslos den kupfrigen Teint ihres aufgeschwemmten Fleisches.

Fritz sah sie zum ersten Mal zusammen mit ihrem Manne. Die Art, wie Annie mit diesem kahlen Faun verkehrte, genügte, um einem alle Illusionen zu benehmen.

Berting wußte sich Frau Annie gegenüber wunschlos, das erleichterte ihm den Verkehr. Was die Gesellschaft der Badegäste von ihnen denken mochte! – Höchst wahrscheinlich nahm man ein Liebesverhältnis an. Fritz hatte keine Veranlassung, Annies Ehre in den Augen von Menschen reinzuwaschen, die das Unanständige immer für das Wahrscheinlichste halten.

Er befand sich in einem Seelenzustande, in dem ihn die Menschen überhaupt nicht wesentlich stören konnten. Solches Phäakendasein hatte er lange nicht genossen. Keine Sorgen, keine aufreibenden Plackereien. Für alle seine Lebensbedürfnisse war gesorgt. Ihm wurde zu Mute wie einem Sohne der Landstraße, der, nachdem ihn die Not tüchtig am Ohre gezaust, sich einmal im lauen, alle Poren öffnenden Bade wohlig strecken darf.

Dabei waren die feinsten Organe dichterischer Konzeption in ihm thätig. Die Nerven der tieferen Schichten schliefen nicht, trotz der laffen Trägheit des Körpers. Dort im untersten, unbewußten Triebleben bereitete sich etwas vor, meldete sich Neues zum Leben, klopfte einlaßbegehrend an die Pforte des helleren Bewußtseins. Wie Musik zog es durch seine Sinne, gleich den Tönen eines fernen Konzerts, von dem man nur hie und da eine Schallwelle auffängt. Farben leuchteten auf vor seinen halbgeschlossenen Augen, wie matte Blitze am Horizont. Er kannte diesen Zustand gespannter Nervenempfindlichkeit nur zu gut, mit dem sich das Nahen der neuen Idee anzukündigen pflegt.

Dazu die heitere, warme Spätherbstsonne, die freundlich helfen zu wollen schien, seine Früchte zu reifen. Die still zuschauende Umgebung des verschwiegenen Buchenwaldes, die sanft melodischen Konturen der Rügenschen Küste, als Staffage seiner Stimmungen. –

Hie und da grollte in seinem Traum der Donner der unlängst durchschifften Ozeanwogen, leuchteten die Schneewüsten und Felseinsamkeiten der Nordlandsküste hinein. Und das Meer, das er mit Zarathustra-Nietzsche befahren hatte, ließ noch immer seinen rätselhaften Rhythmus in ihm nachklingen.

* * *

Fritz Berting saß unter einem der großen knorrigen Eichbäume, die auf dem freien Sandplatz vor dem Hotel, als einziger Rest ehemaliger Waldespracht, übrig geblieben waren, als der Portier kam und ihm einen Brief überreichte. Der Poststempel und die etwas ungelenke Handschrift der Adresse sagten ihm, von wem der Brief komme.

Alma schrieb:

 

»Mein lieber Fritz!

Habe vielen, vielen Dank für die hübschen Karten, die Du mir unterwegs geschrieben hast. Ich habe mich immer so gefreut, wenn eine kam und bin gleich an das Schaufenster des Buchhändlers gelaufen, wo Du Deine Bücher kauftest. Dort ist jetzt eine große Karte ausgestellt, da konnte ich einige von den Orten finden, wo Du gewesen bist. Habe auch herzlichen Dank, daß Du mir Deine jetzige Adresse mitgeteilt hast, nun kann ich Dir doch endlich auch einmal etwas wissen lassen. Es hat mir so herzlich leid gethan, daß Du nicht ganz wohl warest. Bitte, lieber, lieber Fritz, werde nicht krank! Wenn Dir etwas zustieße, das könnte ich garnicht ausdenken. Leben möchte ich dann auch nicht weiter. Was bin ich denn ohne Dich? – Schreibe mir nur recht bald, oder komme selbst! Ich bin schon ganz krank vor Sehnsucht. Herr Lehmfink fand neulich, als er mich auf der Straße sah, daß ich recht elend aussähe. Das kommt nur von der Sehnsucht, weiter ist es nichts.

Nun muß ich Dir noch etwas recht Trauriges erzählen, lieber Fritz. Ludwig Glück schrieb neulich an mich. Es waren nur ein paar Zeilen mit Bleistift. Er lag nämlich wieder im Hospital. Ich möchte doch nur um Christi Barmherzigkeit willen kommen, es gehe mit ihm zu Ende.

Ich weiß, Du wirst mir nicht böse sein, daß ich hingegangen bin. Höre nur, wie alles weiter kam. Ludwig hatte wieder sein Blutspucken bekommen. Er war ja so schwach auf der Brust schon als junger Mensch. Der Krankenwärter sagte mir auch gleich, lange habe er nicht mehr zu leben. Ludwig freute sich sehr, daß ich zu ihm gekommen bin. Wir haben dann lange gesprochen von der Zeit, wo er mit uns im Hause lebte, von meinen Eltern, und allem, was man gemeinsam erfahren hat. Er sagte mir auch noch einmal, wie sehr er mich immer geliebt hat. Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte sehr weinen, wie der arme Mensch so redete. Dann meinte der Arzt, ich müsse gehen, weil es ihn so aufregte. Am nächsten Morgen kam ich wieder, aber da war Ludwig schon tot. Sie sagten mir, er sei gegen Mitternacht heimgegangen.

Ich war sehr betrübt. Ludwig ist doch ein guter Mensch gewesen, und ich muß ihm für so manches dankbar sein. Ich bin auch mit zu Grabe gegangen, er hatte ja sonst keine Seele hier, die nach ihm fragte.

Wegen eines Grabsteins hätte ich gern an Dich geschrieben, lieber Fritz, ob Du erlaubst, daß ich einen anschaffe, aber ich wußte ja damals Deine Adresse noch nicht. Ich wollte nämlich von dem Gelde, das ich verdiene, ihm einen Stein setzen lassen aufs Grab mit seinem Namen und einem Spruch. Nun machten sie mir aber deshalb viele Schwierigkeiten. Als ich mir keinen Rat mehr wußte, da bin ich zu Herrn Lehmfink gegangen. Der war so freundlich, alles in Ordnung zu bringen. Der Stein ist schon in Arbeit. Herr Lehmfink läßt Dich grüßen.

Ach, komme nur recht bald zurück, mein lieber, lieber Fritz. Acht ganze lange Wochen sind es nun schon, mir kommt es vor wie ein Jahr, daß Du weg bist. Die neue Wohnung von mir ist viel hübscher, als die alte, und die Leute sind auch anständiger hier. Wenn Du nur erst da wärest!

Es grüßt und küßt Dich viel tausendmal Deine Dich innig liebende

Alma Lux.«

 

Als Fritz diesen Brief zu Ende gelesen hatte, litt es ihn nicht länger auf seinem Platze unter der Eiche. Er hatte zwar eine Verabredung mit Frau Annie zum Spazierengehen; aber der Gedanke an diese Gönnerin war ihm mit einem Male peinlich geworden.

In der offenen Veranda des Hotels, an der er vorbei mußte, um nach dem Walde zu gelangen, saßen einige von Frau Eschauers Bekannten. Die jungen Leute riefen ihn an, er möge zu ihnen hinauf kommen. Fritz dankte und schritt eilig weiter. Er hörte etwas wie: »Annies Dichterbaby« hinter sich dreinschallen und das übermütige Gelächter der Berliner.

Diese Menschen wußten nicht, wie sie ihm den Entschluß erleichterten, den er soeben gefaßt hatte, zu reisen.

Almas Brief war für ihn gewesen wie ein Ruf. Im Innersten ergriffen fühlte er sich von ihren Zeilen, die für ihn so unendlich viel Unausgesprochenes enthielten. Die ganze Persönlichkeit in ihrer Natürlichkeit, das kindergute Vertrauen, die unaufdringliche Herzensgüte des Mädchens standen dahinter. Noch soviele großtönende Worte hätten ihm nicht die Gewißheit geben können, die ihm dies gab, daß er geliebt werde, daß ein einfaches gutes Herz in Zärtlichkeit und Treue für ihn schlage. Was wollte er noch mehr! –

Fritz hatte eine bewaldete Anhöhe erstiegen, die den Ausblick gestattete auf ein Stück der ins Meer hinausstrebenden Küste. Er setzte sich auf die Bank und ließ seinen Blick der schön geschwungenen Uferlinie folgen. Schlichte, liebliche deutsche Landschaft. Graugrünliches Meer, ein blaßblauer Himmel darüber hin mit weißen Federwolken. Buchenkronen, herbstlich ins Braunrot übergehend, brachten den einzigen lebhafteren Ton in die helle Palette dieses Freilichtgemäldes.

Seine Gedanken waren weit weg. Die Eindrücke der letzten Wochen schienen mit einem Male verwischt. Der Brief zauberte ihm das Angesicht des Mädchens, das fast schon zu verblassen angefangen hatte, in greifbarer Körperlichkeit vor die Sinne. Alles was sein Auge umfaßte an Schönheit, gab nur einen Rahmen ab für das Bild der Geliebten.

Hier in der Einsamkeit von Himmel, Wald und Meer empfand er es stark und innig: seine schlichte, gute, warmherzige, treue Alma war es, die er liebte. Ein Stück Mensch gewordene Natur war dieses Kind aus dem Volk, rein und gesund wie die Luft. Ein Reinigungsbad, herzstärkende Erquickung würde sie ihm sein in ihrer Frische nach der Übersättigung des raffinierten flauen Schlaraffenlandes, in welchem er jetzt vegetierte. Was bedeutete es ihm, daß dieses Mädchen einen mangelhaft stilisierten und nicht durchweg logischen Brief schrieb! Da doch jede Zeile bewies, daß sie die große weibliche Liebeslogik des Herzens besitze.

Fritz Berting erhob sich und ging noch tiefer in den Wald hinein, denn einige hundert Schritte weiter unten hatte er eine rote Toilette durch die grauen Stämme schillern sehen. Er argwöhnte, daß es Annie sei, die sich aufgemacht habe, ihn zu suchen. Er wollte sie jetzt nicht sehen. Schwierig genug würde es werden, ihr begreiflich zu machen, daß er abreisen müsse.

Er wandelte auf einem schmalen Pfade, der vielleicht nur ein Wildwechsel war, durch den Urwald. Alles führte ihn zu Alma zurück. In der träumerischen Schönheit, in der natürlichen Frische um ihn her war sie. Das sanfte Rauschen der Baumkronen, der würzige Duft des Mooses, die Kühle des beschatteten Erdreichs, die lustigen, huschenden Schatten- und Lichtflecken an den Stämmen, alles was lieblich, freundlich, heiter und sonnig war, erinnerte an sie.

Er dachte an das letzte Zusammensein mit ihr. Es war ein linder Augustabend gewesen. Sein Zug ging kurz nach Mitternacht; es lohnte nicht, zu Bett zu gehen. Zum letzten Male waren sie beisammen in den Räumen, die ihnen über ein Jahr lang Obdach gewährt hatten. In seiner Abwesenheit sollte das Mädchen umziehen.

Alma weinte bitterlich. Er setzte ihr wohl zum zehnten Male auseinander, aus welchen Gründen dieser Umzug nötig sei. Alles, was er nur ersinnen konnte, brachte er vor an Trostgründen, um ihr den Übergang in die neuen Verhältnisse zu erleichtern. Er wußte ja, was ihre geheime Furcht war: daß er ihr fremd werden, daß das Verhältnis gelockert werden könnte, wenn er nicht mehr mit ihr zusammen wohnen würde.

Da warf sie sich ihm mit einem Male leidenschaftlich begehrend um den Hals. Das sanfte, schämige Geschöpf wie verwandelt! Plötzlich war sie die Heiße, Liebeglühende geworden, die sich anbot, rückhaltlos fordernd. Mann und Weib hatten die Rollen vertauscht. Er wurde von ihr hingerissen, verführt, überwältigt. Für einmal vergaß er unter ihren trunkenen Liebkosungen alle Vorsicht, angesteckt von ihrem Taumel.

Der bittere Abschied war in ein Freudenfest verwandelt. Keine Spur mehr von Klagen und Thränen. Sie schien im Innersten beglückt, ruhig und heiter. Er sah noch den Ausdruck triumphierenden Glückes, hörte den zuversichtlichen Ton ihres: »Auf Wiedersehen, mein Fritz!«, als es zum Abschiednehmen gekommen war in jener linden Augustnacht.

Und eine gewaltige, verwirrende Sehnsucht erfaßte ihn, nach jenen Armen, die ihn damals so stark und feurig umschlungen hatten. –

Bei Tisch erst sah Berting Frau Annie wieder. Die Hotelgesellschaft saß familienweise an kleinen Tischen in dem geräumigen Speisesaale verteilt. Von Anfang an hatte Fritz mit dem Ehepaar Eschauer und Theophil gesessen. Der Bankier war heute abwesend, auf einem jener Ausflüge, über welche die Eingeweihten verständnisvoll lächelten.

Fritz hatte Annie gegenüber sein plötzliches Verschwinden am Morgen damit entschuldigt, daß er brieflich unangenehme Nachrichten erhalten habe. Er sei allein spazieren gegangen, in der Besorgnis, ein schlechter Gesellschafter zu sein. Die Mitteilung, daß er zu verreisen gedenke, wollte er auf diese Weise bei ihr vorbereiten. Übrigens wurde seine Entschuldigung mit skeptischem Lächeln aufgenommen.

Bei diesem Mittagessen ging es stiller zu, als man es sonst an Frau Annies Tisch gewohnt war. Es machte fast den Eindruck, als sei sie ernstlich beleidigt, weil ihr verzogener Günstling sich erlaubt hatte, ohne Urlaub selbständig in den Wald zu gehen.

Auch Fritz fühlte sich aus einem ganz besonderen Grunde verstimmt und beunruhigt. Bei seiner geplanten Abreise machte ihm der Geldpunkt Schwierigkeiten. Bisher hatte er als Theophils Reisebegleiter gegolten, und sich darum kein Bedenken zu machen brauchen, wenn für ihn alles ausgelegt ward. Wurde dieses Verhältnis nicht durch seinen plötzlichen Aufbruch gelöst? Jedenfalls war der Gedanke nicht angenehm, Theophil um Bezahlung der Rückfahrt zu bitten. Auf der anderen Seite aber wußte er, daß das, was er im Portemonnaie hatte, nicht einmal zu einem Billet dritter Klasse reichen würde.

Auch Theophil Alois war heute schweigsam, hüllte sich in den Mantel düsterer Tragik und Gedankenschwere. Daß die von ihm verehrte Schöne eines anderen Braut war, gab ihm neuerdings die Möglichkeit, sich als Mitwirkender in einem »dreieckigen Verhältnis« ganz auf der Höhe des fin de siècle zu fühlen.

Die Braut mit ihren Eltern, einem Bruder und dem Bräutigam saßen am Tische nebenan. Theophil Alois hatte seine Blicke daher nur dort drüben. Bei dem jungen Mädchen allerdings war es schwieriger festzustellen, wen von beiden sie anschmachte, ob den Verehrer, oder den Bräutigam; ja, infolge ihrer Augenstellung schien es ihr möglich gemacht, mit beiden zugleich zu liebäugeln.

Nach Tisch trafen Fritz Berting und Annie einander auf der Strandpromenade. Er sagte ihr, daß er genötigt sei, abzureisen. Indem er den Versuch machte, möglichst unbefangen dreinzublicken, erzählte er, sein bester Freund Doktor Heinrich Lehmfink sei schwer erkrankt und rufe ihn an sein Lager.

Annie sah ihn spöttisch von der Seite an. »Wann haben Sie denn das erfahren?« fragte sie.

»Heut früh erhielt ich einen Brief von ihm.«

»Ihr Freund schreibt eine merkwürdig ungebildete Handschrift. Ich hätte eher auf eine Köchin geraten oder ein Stubenmädchen, nach der Adresse. – Also ihr armer Freund ist so krank und schreibt Ihnen trotzdem lange Briefe?«

Fritz war mehr wütend als verlegen. Er fragte, seit wann denn seine Korrespondenz kontrolliert werde.

»Der Brief lag ja den ganzen Morgen über beim Portier. Von welchem Frauenzimmer stammt er denn?«

Er überlegte einen Augenblick, ob er die Notlüge noch länger aufrecht erhalten solle; sie erschien ihm seiner und auch Almas nicht würdig.

»Der Brief stammt von einem sehr lieben, guten Mädel.«

»Und diese Küchenfee, oder was sie sonst ist, befiehlt Ihnen zurückzukehren?«

Fritz schwieg verächtlich auf diese Frage.

»In Gottes Namen reisen Sie!« rief Annie in giftigem Tone. »Kehren Sie in die Arme dieses edlen Geschöpfes zurück. Welcher Art die Muse ist, von der Sie sich inspirieren lassen, konnte man ja ahnen!«

Er blickte sie erstaunt an. Was hatte das zu bedeuten? Annie, die Überlegene, die Kühle, so die Haltung verlierend! – Ihr Gesicht war ganz verändert, die Augen funkelten, um den Mund aber zuckte es verräterisch, als könne sie im nächsten Augenblick in Weinen ausbrechen.

Er ahnte dunkel, was es sei, das sie so aus allem Gleichgewicht warf. Diese Erkenntnis stimmte ihn milder.

Annie hatte sich inzwischen wieder gefaßt. In einem ganz anderen, beinahe elegischen Tone sagte sie:

»Schade! Es war so nett. Ich hatte mich so an Sie gewöhnt, Fritz. Ich dachte, ich könnte Sie gleich von hier mitnehmen nach Berlin.«

Er dankte ihr für ihre Güte. Er werde niemals vergessen, was sie an ihm gethan habe. Es thue ihm sehr leid, wenn er jetzt scheinbar wie ein Undankbarer handle, indem er sie verlasse . . .

Annie unterbrach ihn mit einem Gelächter, das für Ausgelassenheit, die es bedeuten sollte, sehr unnatürlich klang. Wenn er sich für unentbehrlich halte, dann täusche er sich gewaltig. Damit er sehe, daß sie seiner Abreise nicht das geringste in den Weg lege, bitte sie um die Erlaubnis, seine Fahrkarte bezahlen zu dürfen.

Fritz errötete. Er schämte sich für Annie. Sie war im Grunde eben doch nicht anders als ihre Umgebung. Geld war der Maßstab von allem, gab den Ausschlag in allem.

Er dankte für die freundliche Absicht, ihm das Billet zu bezahlen; er besitze aber eine goldene Uhr, die er schlimmsten Falls verkaufen oder versetzen könne. Dann nahm er kurzen Abschied von ihr.

Berting mußte an ein Wort denken im Zarathustra. Wie hieß es da gleich im Kapitel von der Keuschheit:

»Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu geraten, als in die Träume eines brünstigen Weibes?« –

* * *

Fritz hatte Alma nichts wissen lassen von seinem Kommen. Die geplante Überraschung gelang vollkommen. Im zeitigen Abend traf er ein, begab sich vom Bahnhof aus sofort in die neue Wohnung, klopfte an die Zimmerthür und trat ein.

Er hatte doch nicht gedacht, daß sie sich so freuen würde. Sie wußte buchstäblich nicht, was beginnen, lachte und weinte abwechselnd, umarmte ihn, klatschte in die Hände, umarmte ihn wieder. Dann, als sie angefangen hatte, ihr Glück zu fassen, zeigte sie ihm die Wohnung, die er ja noch garnicht kannte. Es war alles viel gemütlicher als in der früheren; das Zimmer klein, einfach möbliert, aber sauber. Nebenan befand sich eine Schlafkammer mit schräg abfallender Wand, durch das Dach gebildet. Die Wohnung lag vier Treppen hoch. Das angenehmste daran war, daß die zwei Zimmer ganz für sich lagen. Die Quartierwirtin wohnte am anderen Ende eines langen Korridors.

In einer Vase auf dem Tisch stand ein Rosenstrauß. Alma erzählte, daß sie den von Doktor Lehmfink habe. Der Gute habe ihr auch beigestanden gegen Frau Klippel, die beim Umzug noch allerhand Forderungen geltend gemacht hätte. Kurz, sie wisse garnicht, wo sie ohne Herrn Lehmfink in dieser schwierigen Zeit geblieben wäre.

Fritz behauptete, eifersüchtig zu sein auf Lehmfink. Er sei deshalb so plötzlich zurückgekehrt, damit Alma ihm nicht gänzlich untreu werde. Das Mädchen faßte seine Worte nicht als Scherz auf. Sie verteidigte sich lebhaft; es sei sehr unrecht von Fritz, so etwas von ihr und dem Freunde zu denken. Fritz mußte sie beruhigen. Morgen früh werde sein erster Gang zu Heinrich Lehmfink sein, ihm zu danken für alles, was er in seiner Abwesenheit für Alma gethan habe. Schnell war diese kleine Wolke des Mißverstehens vorübergezogen.

Dann überlegte man, wie man den Abend zubringen wolle. Auf irgend eine Weise mußte Fritzens Rückkehr doch gefeiert werden. Geld war nicht da. Sein letztes Fünfzigpfennigstück hatte Fritz soeben dem Dienstmann gegeben, der sein Gepäck hierher gebracht. An Stelle seiner goldenen Uhr trug er einen Pfandschein in der Westentasche. Und nun gestand auch noch Alma, daß sie Schulden gemacht habe. Das, was Fritz ihr bei seiner Abreise zurückgelassen hatte, an barem Gelde, war trotz größter Sparsamkeit draufgegangen. Aber glücklicherweise hatte der Kaufmann an der Ecke ein Einsehen gehabt, gab ihr, was für den täglichen Lebensbedarf notwendig war, auf Kredit.

Fritzens Hoffnung in dieser schwierigen Lage war Weißbleicher. Der Verleger mußte ihn auszahlen. Er konnte es wohl auch, denn überall unterwegs hatte Fritz mit Befriedigung sein Buch unter den Novitäten ausliegen sehen.

Man ließ sich durch die augenblickliche Ebbe in der Kasse nicht die Laune verderben. Alma sprang schnell hinüber in den Kaufmannsladen, besorgte eine Flasche Wein und einige Leckerbissen, von denen sie wußte, daß Fritz sie mochte, und machte sich daran, den Tisch zu decken.

Berting lag auf dem Sofa und träumte in den sinkenden Abend hinein. Es war schön, wieder hier zu sein. Vor Almas trauten Zügen war doch etwas über ihn gekommen, wie Heimatsgefühl. Er betrachtete sie durch die halbgeschlossenen Augenlieder. Sie kam ihm reizend vor.

Alma mochte annehmen, daß er schlummere. Wiederholt sah er sie vor sich hin lächeln, und während sie leichten Schrittes in dem engen Raume umherging, summte sie die Melodie eines Kinderliedchens vor sich hin.

Welch ein glücklicher Mensch sie war! Wie zufrieden in ihrem kleinen Gebiete!

Er sann einem Worte nach, das am besten die Eigenart ihrer Persönlichkeit wiedergegeben hätte. Lieblichkeit wäre zu wenig gewesen; es deckte nicht alle ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten, das heimlich Verhüllte, Gedämpfte des Mädchens, in dem, wie in der Knospe die Frucht, das Weib eingeschlossen liegt. Sie stand auf der Grenze, darin lag vielleicht das Geheimnis ihres Zaubers. Ihr Leib mit seinem keuschen Schmelz, so ganz mädchenhaft; aber aus ihren Augen blickte das Wissen des liebenden Weibes. Ihr ganzes Wesen strahlte das Glück wieder gesunder Befriedigung.

Sie war mit dem Decken des Tisches fertig geworden. Zuletzt kam noch Lehmfinks Rosenstrauß darauf. Es sah ganz feierlich aus.

Fritz erhob sich, er hatte Appetit. Während man aß, ließ er sich von Alma erzählen, wie sie ihre Tage zugebracht habe. Einförmig genug war's gewesen. Und dann die traurige Episode mit Ludwig Glück.

Alma verlor einige Thränen, als sie der letzten Unterredung mit dem Unglücklichen gedachte. Aber Fritz hatte doch den Eindruck, als habe der Tod Ludwig Glücks keine tieferen Spuren bei ihr zurückgelassen. Höchstens war das Mädchen durch diesen Verlust bewußter geworden. Vielleicht war die größere Innigkeit ihres Wesens, ihre Zärtlichkeit gegen den Geliebten, auf dieses aufweckende Erlebnis zurückzuführen. Wenn dem so war, dann hätte er Grund gehabt, dem toten Manne dankbar zu sein.

Dieser Schatten beherrschte nur für kurze Zeit die Stimmung. Alma deckte den Tisch ab, nachdem man zu Ende gegessen hatte. Eine Lampe wurde nicht angezündet, obgleich die Dämmerung längst angebrochen war.

Sie sprachen von der Zukunft. Fritz wollte sich eine Wohnung suchen. Es zuckte ihm in den Fingern nach der Feder. Geld wollte er verdienen die schwere Menge. Alma sollte es besser haben in Zukunft. Er streichelte ihre Hände und sagte, er werde es nicht dulden, daß sie sich die Finger weiter so zersteche.

Alma war still. Sie hatte ihren Kopf gegen seine Schulter gelehnt und blickte träumerisch in die Ferne. Der tief versonnene Ausdruck ihrer Züge fiel ihm auf. Ihre Gedanken mußten weit, weit weg sein. Er zog sie an sich, küßte sie auf Augen und Mund; sie lächelte verloren, als fühle sie es nur wie im Traum.

Ein letzter Strahl des scheidenden Tageslichtes fiel durch das einzige Fenster in die kleine Stube. Vor ihnen der Rosenstrauß atmete betäubenden Duft aus. Des Raumes Tiefen waren schon der Dunkelheit verfallen. Die Welt schien zusammengekrochen in eine Nußschale. Er und sie wieder einmal die einzigen Menschen! –

Er fühlte das Pulsieren des Blutes durch ihr Kleid. Seine Finger suchten den Gürtel zu lösen. Sie wehrte ihm mit sanfter Hand.

Was hatte sie? Was widersetzte sie sich mit einem Male seiner Zärtlichkeit? Empfand sie keine Sehnsucht nach dem lang entbehrten, hohen Glück? Was hatte sein Mädchen plötzlich so spröde gemacht? –

Ein Zittern ging über ihren Leib, sie schlang den Arm um seinen Hals und brachte ihr Gesicht dicht an das seine. Fest und fester preßte sie sich an ihn, suchte bei ihm Schutz, vor ihm selbst gleichsam. Außerordentliches mußte in ihr vorgehen. Wie ein Fieber hatte es sie erfaßt. Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn, die Hände waren kalt, heiß traf ihr Atem sein Gesicht. Sie müsse ihm etwas sagen, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er erschrak heftig. Nur das nicht! Nur um Gottes willen nicht das! – – –

»Ist es . . . bist du?« . . .

Zur Antwort schmiegte sie sich nur inniger an ihn, nickte lächelnd mit geschlossenen Augen.

Ihm war zu Mute, als müsse er aufspringen und sie von sich stoßen. Ein Abgrund that sich vor ihm auf. Daraus grinste ihn etwas Niegesehenes, Unförmiges, Entsetzliches höhnend an, daß sich ihm die Haare heben wollten.

Er durch Alma Vater! Wie das Rollen unterirdischen Donners mahnten ihn furchtbare Möglichkeiten.

Alma hielt ihn, da er sich losmachen wollte, fest, herzte und küßte ihn. Nun ihr Geheimnis am Tage war, schien alle Sprödigkeit von ihr gewichen. An jene Stunde innigster rückhaltlosester Vereinigung erinnerte sie ihn, die sie genossen hatten, ehe er abreiste. Damals war es geschehen. Er hörte aus ihren Worten den seligen Triumph des Weibes, das seinen heißesten Wunsch erreicht hat.

Nicht der Schmerz des Abschiedes also war es gewesen, wie er Thor geglaubt hatte, was ihrer Liebe an jenem linden Sommerabende die verzehrende, rücksichtslose, elementare Kraft verliehen, die auch ihn völlig berauscht, ihn zum willenlosen Diener ihres Verlangens gemacht hatte.

Er hätte es sich ja denken können, denken müssen! Sie strebten ja alle nach diesem einen! Hingabe schien es, freie Hingabe um des Glückes willen, einander anzugehören. Und was sie im Grunde wollten, war: Mutterschaft.

Es stieg etwas auf in ihm wie Abscheu, wie Furcht vor ihrem Leibe, der ein unheimliches, grauenerweckendes Geheimnis enthielt. Dort in verborgener Tiefe wuchs etwas heran, ungewollt von ihm, schon ein Teil von ihr, würde bald sich ankünden, Rechte geltend machen, auch gegen ihn – schrecklich!

Betrogen kam er sich vor, überlistet. Der Duft der Liebe war dahin, das Grünende, Frühlingsmäßige ihres freien Verhältnisses. Nun kam allerhand Ekelhaftes: Kindesnöte, Familiensorgen. Nun fielen die Blätter der Knospe unrettbar. So war es Naturgesetz. Ihm graute vor der ehernen Unentrinnbarkeit dieser Entwickelung.

Er hätte Alma hassen können. Also das hatte der versonnene Blick, die gesättigte Ruhe, ihr ganzes glückseliges Wesen zu bedeuten gehabt! Das war der Sinn des heimlichen Triumphes gewesen, der aus ihren Augen geleuchtet!

Sie hielt ihn noch immer umschlungen. Schwerlich ahnte sie, welchen Sturm widriger Empfindungen und Ängste ihr Geständnis in ihm wachgerufen hatte. Denn niemals werden die Geschlechter einander darin verstehen.

Fritz löste die Arme, die um seinen Nacken lagen. Ihre Zärtlichkeit hatte einen sehr bitteren Geschmack für ihn bekommen.

* * *

Da er noch kein Quartier hatte, mußte Fritz die Nacht bei Alma verbringen. Am nächsten Morgen war sein erstes, auszugehen, um sich eine Wohnung zu suchen. Er brauchte den ganzen Vormittag, bis er endlich etwas gefunden hatte, das seinen Wünschen einigermaßen entsprach. Und schließlich nahm er das Zimmer nur, um das schreckliche Gefühl los zu sein, obdachlos auf der Straße umherzuirren.

Ein trauriger Tag! Die Wolken hingen tief; es rieselte. Die ganze Stadt in den fahlen Trauerkrepp gehüllt dichten Nebels. Nirgends ein erfrischender Farbenton; alles stumpf, leichenfarben, als sei das Licht begraben worden. Die Straßen voll Schmutz, die Menschen mit langen, verdrießlichen Gesichtern. Die Häuser kahl, aschfarben. Mit grauem Pinsel war eine Riesenfaust über das Angesicht der schönen Stadt hinweggefahren, hatte Duft und Glanz und Grazie ausgelöscht; man konnte glauben für alle Zeit.

War Fritz Berting dazu aus der wehenden Freiheit des nordischen Meeres, aus der Lieblichkeit Rügenscher Landschaft hierher zurückgekehrt, um diese Farblosigkeit, diese trostlose Kälte der Stimmung in rußiger Straßenenge zu finden? –

Ein Besuch beim Verleger brachte ihm auch keine Besserung seiner Laune. Weißbleicher gab zwar zu, daß das »Geschlecht« leidlich gegangen sei, so daß für den Weihnachtsmarkt sich der Druck einer neuen Auflage nötig mache; doch wies er dem Autor an der Hand der Bücher nach, er habe bereits soviel Vorschuß auf den Roman erhalten, daß die Summe, die ihm jetzt noch zukomme, nur wenige hundert Mark ausmache.

Fritz, der auf ein weit größeres Honorar gerechnet hatte, sagte sich, als er den Verleger verließ, daß er mit dem einkassierten Gelde bei größter Sparsamkeit nicht einmal bis Weihnachten reichen werde, jetzt, wo er die Kosten zweier Haushaltungen zu bestreiten hatte.

Was aus alledem noch werden würde? Er mochte sie gar nicht zu Ende denken, die düsteren Möglichkeiten, die von allen Seiten sich auftürmten. Das, was er gestern Abend erfahren hatte, verfolgte ihn überall hin, lag wie ein beängstigender, Vernunft und Lebensmut vernichtender Alp auf ihm.

Jetzt in seine Wohnung gehen, auspacken, sich einrichten, womöglich, wie ihm der Verleger geraten hatte, sich hinsetzen und einen neuen Roman beginnen – undenkbar!

Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, in das nächste beste Restaurant zu treten, um sich einen Rausch anzutrinken. Nur vergessen, nur über diese entsetzlich quälende, zermürbende Stimmung hinwegkommen! –

Oder sollte er Lehmfink aufsuchen? was nach so langer Abwesenheit ja nur natürlich gewesen wäre. Ob der schon etwas wußte? Er war in der letzten Zeit mehr als einmal mit Alma zusammengekommen. Und wenn er noch nichts wußte, sollte man es ihm sagen? Der Gedanke an Heinrich Lehmfink mit seiner strengen Moral vermehrte Fritzens Unruhe.

Durch Alma hatte Fritz erfahren, daß Lehmfink kürzlich von der Stadt weg in einen selbständigen Vorort gezogen war. Er beschloß, ihn dort noch am Nachmittage aufzusuchen.

Die Pferdebahn brachte ihn in einer knappen Stunde in das Städtchen. Auf dem Gemeindeamt war die Adresse von Doktor Heinrich Lehmfink schnell festgestellt. Wenn man von den Fabrikessen absah, die hie und da in der schmalen Schlucht auftauchten, war es hier halb wie auf dem Lande. Steinbrüche, Mühlen, einzelstehende Gehöfte, in bunter Abwechselung. In steilem Hange fiel verräuchertes Felsgestein zu einem vielgekrümmten Wasserlaufe ab. Nahe Kohlengruben hatten Ansiedlung der Industrie an diesem Orte begünstigt.

Lehmfink hatte sich etwas abseits gesetzt von den Essen und Schlackenhaufen. Er wohnte bei einem Handelsgärtner. Das Haus stand mit dem Rücken gegen den Felsen, nach Süden lag es offen über einem Gartengrundstück. Man schritt an Obstbäumen, Spargelanlagen und Beerensträuchern vorüber, ehe man an das mit Spalieren überzogene, einfache Häuschen gelangte.

Fritz entsann sich, daß Heinrich Lehmfink öfters davon geschwärmt hatte, aufs Land hinauszuziehen, um dem unnatürlichen Stadtgetriebe zu entfliehen. Er habe Sehnsucht nach grünen Fensterläden. Nun hatte er erreicht, wonach er sich gesehnt.

Der Freund war nicht zu Haus. Sein Quartierwirt, ein redseliger, älterer Mann erklärte jedoch: der Herr Doktor werde kaum lange auf sich warten lassen. Jeden Morgen fahre er in die Stadt in seine Redaktion und komme zu einer bestimmten Stunde nachmittags zu Fuß wieder zurück. Fritz wurde aufgefordert, den Herrn Doktor zu erwarten und einstweilen Platz zu nehmen.

Berting sah sich in dem hellen, geräumigen Zimmer um, das deutlich den Stempel der Mietswohnung trug und dabei doch nicht ungemütlich war. Gut erhaltener Hausrat aus der Biedermeierzeit, dazu eine Büchersammlung, die Lehmfink sich allmählich erworben hatte. Bücher machen jedes Zimmer wohnlich. Es geht von ihrer stummen Anwesenheit eine Sprache aus: das Bewußtsein vielleicht, daß hier Seelen im leisen Schlafe ruhen, Geister, die man jederzeit anrufen kann; sie werden Antwort geben.

Die Bildwerke im Zimmer waren Eigentum dessen, der es bewohnte. Da war eine Goethebüste auf dem Schreibtischaufsatze; eine Photographie von F. Th. Vischer mit eigenhändiger Unterschrift, ein kostbarer Stich nach einem Bismarckbilde von Lenbach, das charakteristische Porträt C. F. Meyers nach Stauffer-Bern und ein paar Holzschnitte Thomas.

Diese wenigen Bildnisse genügten, dem ganzen Raume eine stark persönliche Note zu geben. Man sah es, hier wohnte ein einfacher, in seinen Mitteln beschränkter Mensch, der sich doch nicht zum Verzicht hatte bringen lassen auf den edelsten Schmuck, die Symbole jener Gestirne, die seinem Leben voranleuchteten.

Der redselige Quartierwirt behielt recht, Doktor Lehmfink ließ nicht lange auf sich warten. Trotz des Regens war er zu Fuß gekommen. Spaßhaft sah er aus mit seinem verregneten Hütchen, dem Wettermantel von zottigem Loden über dem Jägeranzuge. Sein Vollbart – den er sich inzwischen hatte stehen lassen – triefte. Er sah einem Pudel ähnlicher denn je, und diesmal sogar einem begossenen.

Heinrich Lehmfink begrüßte den Freund aufs herzlichste. Er ließ die Thür offen zum Nebenzimmer, damit man sich unterhalten könne, während er sich umzog.

Fritz mußte erzählen von seiner Reise. Lehmfink hatte niemals das Meer gesehen. Das sei die schlimmste Seite seiner Armut, daß er, dem Natur und Freiheit über alles gehe, an den Schemel des Schreibpultes geschmiedet sei. »Um einen Schritt bin ich der Natur übrigens doch näher gerückt,« meinte er, nach dem Fenster weisend. »Wenn es nicht gerade nebelt, wie heute, würdest du hinter jenen Fabrikschloten eine ganz nette Hügelreihe aufragen sehen mit Kiefern, Birken, Akazien. Und auf den Augenblick, wo hier unten die Pfirsichspaliere blühen werden, freue ich mich schon jetzt wie ein Kind.«

Dann erzählte er, daß ihm der Verlag des Blattes, für das er schrieb, nun endlich eine langersehnte Erleichterung geschaffen habe. Er brauche nur noch an bestimmten Tagen der Woche in der Redaktion zu sein, und habe dadurch mehr Zeit für seine eigene Arbeit. Worin diese Arbeit bestehe, sagte er nicht. Und Fritz, der ihm anmerkte, daß es sich um Intimes handle, forschte nicht weiter danach.

Inzwischen war Lehmfink mit seiner Toilette fertig geworden. Er holte einen Kessel herbei für heißes Wasser, dann den Spirituskocher, Theebüchse und Tassen. Während das Wasser brodelte, zog er aus verborgenen Behältern allerhand Konserven von Fleisch und Fisch. Auch Butter und Brot fanden sich herzu. Es kam eine ganz einladende Mahlzeit zusammen. Fritz staunte über die Hausfrauentalente, die dieser bärtige Junggeselle entwickelte. Später machte Lehmfink Feuer im Ofen und zündete die Lampe an. Dabei erzählte er, sein Wirt sei Witwer, das Haus also ohne Frau. Um so glücklicher, daß er früh gelernt habe, in häuslichen Dingen einigermaßen auf eigenen Füßen stehen.

Fritz hatte nimmermehr gedacht, daß dieser Tag, der so trübe angefangen hatte, ein so gemütliches Ende nehmen würde. Der Theekessel brodelte. In dem altmodisch geräumigen Ofen von graublauen Kacheln, der mit Holz geheizt werden mußte, brauste, bullerte und krachte es gewaltig. Man nahm sich Zeit mit dem Essen, in dem angenehmen Gefühl, keinen Kellner in der Nähe zu haben, der getrieben hätte. Die Unterhaltung bewegte sich auf Gebieten, die den beiden von alters her gemeinsam waren: Kunst, Wissenschaft, Kultur. Natürlich erzählte man sich auch Erlebtes; nur eines hatte man im Laufe des ganzen Abends noch nicht berührt, und das war gerade das, worüber Fritz mit seinem Freunde vor allem gern Rücksprache genommen hätte.

Als dann Lehmfink nach beendeter Mahlzeit den Tisch abgeräumt hatte und sich daran machte, aus allerhand vertrauenerweckenden Ingredienzien, wie Citronen, Zucker, Cognac, Rotwein und heißem Wasser für den Novemberabend einen Steifen zu brauen, faßte sich Fritz ein Herz und begann von dem zu reden, was ihm die ganze Zeit über schwer auf der Seele gelegen.

Er dankte dem Freunde für seine Hilfe, die er Alma in schwieriger Lage geleistet hatte. Lehmfink lehnte den Dank ab, es sei ihm eine Freude gewesen, etwas für Fräulein Lux thun zu können. Er lobte das Mädchen und ihren echten Herzenstakt, der sich in der Denksteinangelegenheit wieder einmal glänzend bewährt habe.

Berting ersah aus Lehmfinks Worten, daß jener ganz unbefangen sei. Man hätte ihm ja Almas Zustand verschweigen können. Irgend eine Pflicht, ihn in diese delikatesten Dinge einzuweihen, lag nicht vor. Aber Fritz fühlte das Bedürfnis, sich dem Freunde mitzuteilen. Die trauliche Umgebung, Heinrichs aufgeräumtes Wesen, luden ein zu offener Aussprache.

Mit wenigen Worten war das gesagt, was soviel enthielt. Gott sei Dank, es war heraus! Viel von der Beklommenheit, die ihm seit gestern Abend angehaftet hatte, schien mit dem Geständnis von seiner Seele genommen.

Die Wirkung auf Lehmfink war eine gänzlich andere, als Fritz erwartet hatte. Er zeigte sich nicht erschrocken, auch nicht entrüstet, eher freudig überrascht. Er beglückwünschte den Freund.

Fritz blickte ihn verdutzt an, für einen Augenblick zweifelhaft, ob jener nicht Scherz treibe. Aber der Ausdruck des ehrlichen Gesichtes sprach von tiefstem Ernst.

»Welch ein Glück für Alma und welch ein Glück auch für dich, Berting!« sagte Lehmfink, und seine Stimme zitterte leicht vor innerer Ergriffenheit.

»Aber lieber Freund!« wandte Fritz unsicheren Tones ein, »siehst du denn nicht, welche Last der Verantwortung dadurch auf mich gelegt wird?«

»Eine Verantwortung, die dir zum Segen werden wird, wenn du nur die richtigen Konsequenzen ziehst, wenn du nur jetzt endlich thust, was deine Pflicht ist, Berting.«

Eine Pause entstand. Fritz wußte nun, was jener meine. Nur um das schwer lastende Schweigen zu brechen, fragte er schließlich mit halblauter Stimme: »Du meinst: heiraten?« –

»Du mußt es nun. Darin sehe ich das Gute für dich!«

Wieder eine längere Pause. Dann begann Fritz: »Für Alma könnte es vielleicht ein Glück sein, ob aber für mich?« – –

»Ich glaube, um dein Glück handelt es sich jetzt gar nicht mehr, lieber Berting. Das ist fast eine Frage zweiter Ordnung geworden. Für dich handelt es sich um die moralische Persönlichkeit, mit dürren Worten gesagt: ob du ein anständiger Kerl bleiben willst.«

Berting fuhr auf. »Das ist ein wenig viel gesagt, Lehmfink! Du operierst wie gewöhnlich mit den Begriffen: absolut gut und absolut schlecht, die ich nicht anerkenne, wie du weißt.«

Lehmfink fuhr, ohne auf Fritzens Einwand zu achten, fort: »Es mag ja viele Leute geben, die nichts darin finden würden, wenn du das Mädchen mit ihrem Kinde sitzen ließest; ja, mancher wird dich für einen Narren erklären, wenn du mehr thust, als die gesetzlich bestimmten Alimente zu zahlen. Diese urteilen, wie sie es verstehen, aus frivolster Gedankenlosigkeit heraus. Dein eigenes Gewissen sagt es dir, oder wird es dir sagen, was du zu thun hast. Es giebt eine sittliche Ordnung – du lächelst! Ich meinte nicht die Bibel, nicht einmal unsere Gesetzbücher. Das ungeschriebene Gesetz meine ich, von dem Leute wie Kant, Goethe, Shakespeare auch etwas gewußt haben, wenn dir Moses zu alttestamentarisch und Luther zu geistlich ist. Ich meine das primitivste Pflichtbewußtsein, das jeder ungebildete Mensch in sich trägt, das einfache Bewußtsein, daß man für seine Thaten einzustehen hat. Jeder schlichte Arbeiter würde, wenn er nur einen Funken Ehrgefühl besitzt, das Mädchen heiraten, das er in diese Lage gebracht hat. Thut er es nicht, so werden ihn seine Standesgenossen verdammen. Ich weiß nicht, ob der Gebildete das Recht hat, sich ein minder zartes Gewissen zu leisten als diese Leute.«

»Ich glaube, daß du bei deinem Urteil nicht genug meinen ganz besonderen Fall in Betracht ziehst, Lehmfink. Ich gebe zu, daß es in den meisten Fällen Pflicht sein wird, ein Liebesverhältnis durch die Ehe zu sanktionieren, aber nicht in allen. Ich habe Alma nicht glauben gemacht, daß Heirat mein Ziel sei. Sie hat sich selber niemals Illusionen hingegeben in dieser Richtung. Auch jetzt noch erwartet sie das keineswegs von mir.«

»Ein Zeichen nur für ihre rührende Bescheidenheit; aber für dich, den überlegenen Teil, noch lange kein Grund, von ihrer Selbstlosigkeit Gebrauch zu machen. Wenn nichts anderes dich dazu triebe, meine ich, müßte es die Großmut sein des Stärkeren.«

»Solche Großmut wäre ein Unrecht gegen mich selbst. Du schaust die Sache an, von dem erhabenen Standpunkt des Sittenrichters, der das Persönliche, was hier das Wichtigste ist, übersieht.«

»Das Persönliche gerade steht mir im Vordergrunde. Du bist mein Freund, und ich glaube dich zu kennen . . .«

»Wenn du mich zu kennen behauptest, mußt du sehen, daß diese Ehe für mich ein Unglück wäre, ja geradezu meinen Ruin bedeuten würde. Was kann denn dabei herauskommen, wenn ich wirklich mit Alma aufs Standesamt gehe? Häusliches Elend, Verschärfung der Sorgen um das tägliche Brot. Eine Ehe ohne irgend welche vernünftige Basis, ohne irgend welche Gewähr von dauerndem Behagen oder Befriedigung hätten wir geschlossen. Sichere Versumpfung würde treten an stelle von Freiheit. Wenn du von mir künstlerisch noch irgend etwas erwartest, so kannst du das nicht wünschen. Ich sehe, daß du dort Nietzsche stehen hast. Gieb mir doch einmal den Zarathustra.« – Es geschah.

»Hier im Kapitel von Kind und Ehe steht es: ›Ich, diese Armut der Seele zu Zweien! Ach, dieser Schmutz der Seele zu Zweien! Ach, dies erbärmliche Behagen zu Zweien! Ehe nennen sie dies alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im Himmel geschlossen.‹« –

Er reichte Lehmfink den Band, der ihn an seinen Platz zurückstellte. »Laß das paradox klingen; aber atmen diese Worte nicht erlebte Wahrheit? Geben sie nicht verblüffende Einsicht in das Leben, wie es nun einmal ist?« –

»Ach, lieber Berting, ich kenne meinen Nietzsche! Seine Worte haben etwas mit der Bibel gemein, das einzige allerdings, worin man die beiden mit einander vergleichen mag, nämlich: man kann sie auf Schritt und Tritt mit sich selbst beweisen und mit sich selbst widerlegen. Als Ratgeber taugt Nietzsche gar nicht, höchstens als Wetzstein für den Geist. Wie ein riesiger Scheinwerfer wirft er sein grelles Licht weit hinaus, daß du das Fernstliegende Nieerblickte in tagheller Beleuchtung zu sehen vermeinst; und trittst du heraus aus dem Lichtkegel, dann stehst du doppelt in der Nacht, bist der Genasführte. Lassen wir Nietzsche aus dem Spiele, wenn es sich um das praktische Leben handelt.«

»Gut! Ein Beispiel aus dem praktischen Leben. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wohin thörichte Heirat einen Menschen bringen kann. Besinnst du dich von Berlin her auf Walter Marbitz? Wenn einer, so versprach er doch etwas zu werden. Sein ›Euphorion‹ hat uns allen damals tiefen Eindruck gemacht. Und weißt du, was aus ihm geworden ist? Er schreibt Gelegenheitsgedichte und Anpreisungen für Geschäfte, macht alles, was von ihm verlangt wird, ums Geld; denn er hat eine Familie zu versorgen, der arme Kerl! Er verschwand auf einmal aus unserem Kreise! Man hörte, er habe sein Mädel geheiratet. Ich habe ihn später einmal aufgesucht. Eine richtige Bucht fand ich vor; ihn, Marbitz, an der Seite einer welken Schlampe von Frau, kränkelnde, vernachlässigte Kinder. Er stumpf, völlig versimpelt, von kleinlichen Sorgen zermürbt. Die Familie war ihm zum Bleigewicht geworden, das ihn herabgezogen hatte von der Höhe seiner Begabung.«

»Dein Beispiel beweist mir nur, daß Marbitz ein Mensch gewesen von geringem Halt, dessen geistige Kultur auch nicht tief gegangen sein kann, wenn sie sich durch widrige Verhältnisse so schnell wegwischen ließ.«

»Nein, Lehmfink, es giebt eben Verhältnisse, die durch ihre Enge, ihren Druck, ihre Unschönheit, den Künstler einfach erdrosseln, ihm Luft nehmen und Licht. Herr Soundso, der Philister, würde sich in gleicher Lage vielleicht sauwohl fühlen, in dem muffigen Pfuhl häuslichen Elends, das seinen Organen und Bedürfnissen zusagt. Während unsereiner in solcher Atmosphäre nicht atmen, geschweige denn schaffen kann. Wir brauchen eine gewisse Summe von Wohlbehagen, ein Mindestmaß von Schönheit um uns. Wir sind mit anderen Nerven begabt als der Durchschnitt. Dieselben Organe, die in uns stündlich tausend Gedanken, Bilder, Entwürfe subtilster Art produzieren, vermitteln uns auch alle peinlichen, störenden, hemmenden Eindrücke der Außenwelt mit doppelter Schärfe. Die Philister mögen dagegen schreien, so laut sie wollen, es bleibt Wahrheit, daß der geniale Mensch Ausnahme ist, darum herrschen für ihn auch Ausnahmegesetze. Der, welcher die Welt reicher macht durch das, was er aus sich verschenkt, der produktive Mensch, hat ein Recht darauf, sein Wesen entfalten zu dürfen nach den Gesetzen seiner Art. Ja, er hat die Pflicht, das Schädigende, hemmende, ihn Herabziehende fernzuhalten von dem Heiligtum seiner Kräfte. Wie die Mutter ihr Kind instinktiv verteidigt, so der Künstler das, was in ihm heranwächst, den Keimboden seiner Früchte, sein Ingenium. An den hölzernen Pfahl der bürgerlichen Moral gebunden, muß seine Gestaltungskraft verdorren.«

»Ich will dir den Unterschied zugeben, den du so sehr betonst, zwischen Genialität und Philisterium, nimmermehr aber, daß für den Genialen andere Gesetze gelten sollen als für die Masse. Mit den höheren Gaben, die ihm verliehen wurden, sind ihm auch höhere Pflichten auferlegt; das ist so furchtbar klar, daß es wie ein Gemeinplatz klingt. Sieh den dort an« – er wies auf die Goethebüste, »oder auch den hier«, sich nach dem Bismarckbild umwendend, »ich denke, du wirst ihnen das Prädikat ›genial‹ nicht wohl versagen. Was ist das, was bei der Betrachtung ihres Lebens und Wirkens am tiefsten ergreift, so daß wir beten möchten: ›Gott laß uns werden wie sie!‹ Es ist, was sie sich selbst abgerungen haben, der Kampf des Riesen mit dem Riesen, die im eigenen Innern vollführten Herkulesarbeiten. Das hat sie befähigt, die äußere Welt niederzuzwingen und sich unterthan zu machen. Das ist das Heroische, das Fortreißende an ihrem Vorbilde. – Ich sehe dir's an den Augen an, was du einwenden willst. Auch sie haben ihre tolle Zeit gehabt, die beiden, ich weiß es. Gott sei dank, daß sie sie gehabt haben! Aber meinst du, daß wir einen Faust besäßen, oder ein Deutsches Reich in jetziger Verfassung, wenn die zwei Großen da sich nicht ein »Halt« zugerufen hätten? Riesenhaft mag die Versuchung sein, die solchen Naturen im Blute liegt. Wir können etwas davon ahnen beim Anblick eines Byron, oder, nimm ein Beispiel von uns: beim Leben eines Grabbe. Das sind Segen und Fluch, die dem genialen Menschen mitgegeben werden, daß er nur von sich selbst überwunden werden kann, daß er aber auch an sich selbst zu Grunde gehen muß, wenn er sich nicht überwindet. Kein größeres Schauspiel giebt es auf der Welt, als den Hochbeanlagten freiwillig sich beugen zu sehen vor dem allgemeinen Gesetze. – Ich weiß es, daß das, was ich sage, dir furchtbar hausbacken vorkommt. Du denkst: er weiß es so, wie er es versteht. Ich will es darum hierbei bewenden lassen. Meine Hoffnung ist, daß die Stimmen recht bald in deinem Inneren zu sprechen anfangen werden, die dich auf den einzig guten und ehrlichen Weg weisen können.«

Fritz erwiderte nichts. Im Laufe des Gespräches war es ihm ganz klar geworden: sie redeten zweierlei Sprache. Man war auf einem Punkte angelangt, wo Verständigung aufhörte. Alles disputieren nützte da nichts, jeder blieb unüberzeugt auf seinem Standpunkt.

Er verzog jedoch noch eine Weile, ehe er ging; Lehmfink sollte nicht denken, daß er beleidigt sei. Man nahm mit der gewohnten Herzlichkeit von einander Abschied. Aber Fritz hatte eine peinliche Vorahnung, als sei der Freundschaft heute schwerer Schaden geschehen.

* * *

In der neuen Wohnung machte sich Berting daran, auch ein neues Buch zu schreiben. Die Not trieb ihn dazu, er mußte arbeiten, wenn anders er existieren wollte.

Und so wartete er diesmal nicht, wie er es in besseren Zeiten hatte thun dürfen, auf Inspiration; er entschloß sich vielmehr, einen bestimmten, durch das Geschick ihm in den Weg gelegten Stoff zu verarbeiten. Das Erlebnis mit dem Stuckateur Ludwig Glück war es, das ihm zum Vorwurf dienen sollte für eine Novelle.

Es war ein ganz anderes Arbeiten als bei seinem vorigen Buche, das aus einer starken Stimmung hervorgegangen, zu der sich ein Milieu wie von selbst gefunden und das in seinen besten Teilen einem Bekenntnis ähnlich gewesen. Hier gab es im Anfange weiter nichts, als einen Charakter, der zur Darstellung reizte. Daraus mußte Handlung und alles gesponnen werden. Die Persönlichkeit des Stuckateurs, wie er ihn aus Almas Erzählungen, aus seinen Briefen an das Mädchen und schließlich auch im Gespräche kennen gelernt hatte, stand scharf ausgeprägt vor Fritzens geistigem Auge. Anders war es mit den übrigen Figuren. Begreiflicherweise widerstand es ihm, Alma aus der Natur in das Buch zu verpflanzen. Die Frauengestalt, an der das Geschick seines Helden tragisch scheitern sollte, entstand dem Autor vielmehr aus dem Gesetze des Gegensatzes mit Naturnotwendigkeit als eine Kokette, die den Edelstein echter Neigung achtlos in den Staub fallen läßt. Dadurch aber, daß er dem weiblichen Widerpart diese Physiognomie gegeben hatte, wurde er wiederum veranlaßt, auch den Charakter des Helden umzuwandeln und zu vertiefen. So wuchsen ihm allmählich aus Satz und Gegensatz die Gestalten heran zu Typen ihres Geschlechtes und ihres Standes. Die Nebenfiguren fanden sich von selbst herbei, wie im Bilde etwa ein paar starke Töne, welche die Hand des Künstlers zuerst niedergelegt hat, die Komplementärfarbe ganz natürlich nach sich ziehen.

Den ganzen geschlagenen Tag über schrieb Fritz Berting jetzt. Noch niemals zuvor hatte er so hintereinanderweg gearbeitet. Das Werk gewann mit jedem neuen Abschnitt, den er bezwang, an Interesse für den Autor selbst. Es kam ihm vor, als habe er einen Schritt vorwärts gethan mit dieser Novelle aus dem bloß Physiologischen des »Geschlechts« in die Welt des Psychologischen hinein. Und er fühlte sich von fieberischer Neugier durchglüht, wie er auf diesem neuen Gebiete die Prüfung bestehen würde.

In seiner Müdigkeit fand er abends regelmäßig die Entschuldigung, Alma nicht aufzusuchen. Sein Werk war schließlich das Wichtigere; alles andere, Alma eingeschlossen, kam erst dahinter. Geflissentlich hielt er sich alle Gedanken und peinlichen Eindrücke vom Leibe, die ihm hätten die Geschlossenheit der künstlerischen Stimmung stören können.

Er hatte darum seiner Quartierwirtin eingeschärft, ihm soviel wie möglich die Besucher vom Leibe zu halten. Eines Tages jedoch kam die Frau und meldete ein Mädchen, das etwas persönlich an Herrn Berting abgeben wolle. Fritz nahm an, daß es Alma sei, der er zwar eingeschärft hatte, ihn nicht aufzusuchen, die aber aus irgend einem triftigen Grunde vielleicht das Verbot überschritten haben mochte.

Es war jedoch eine fremde Person, in deren komischen Posaunenengelgesicht er erst, als sie sich nannte, das Dienstmädchen der Damen Tittchen wiedererkannte.

Sie überbrachte ein Paket von Hedwig von Lavan. Sie habe Befehl von dem jungen, gnädigen Fräulein, es Herrn Berting selbst zu geben. Die Damen seien seit vier Wochen von ihrer Sommerreise zurück und hätten schon öfters von ihm gesprochen. Damit verschwand die rundwangige Fee, verständnisvoller denn je lächelnd.

Das Paket enthielt ein Manuskript und einen Brief.

Hedwig von Lavan schrieb, sie vertraue Herrn Berting die beiliegenden Bogen an. Er solle ihr sagen, ob etwas daran sei. Sie erwähnte, daß sie den Tanten gegenüber ihre Schreiberei als Geheimnis betrachtet zu sehen wünsche, da die alten Damen schwerlich damit einverstanden sein dürften. Ob er sein Urteil schriftlich oder mündlich abgeben wolle, überlasse sie seinem Ermessen; lieber sei ihr das Letztere, da sie dann das Vergnügen haben würde, ihn wiederzusehen.

Fritz Berting hatte in der letzten Zeit über Wichtigerem kaum noch an seine Beziehungen zu dem jungen Mädchen gedacht. Jetzt stand ihre Persönlichkeit mit einem Male wieder lebhaft vor ihm. Der Brief, so kurz er war, atmete aus jeder Zeile das eigenartige Wesen der Schreiberin. Selbstbewußt, gescheit, erhaben über Vorurteil und Zimperlichkeit.

Das Manuskript war auf feinem Papier, sauber, in einer steilkapriziösen Handschrift geschrieben. Weder Überschrift des Ganzen, noch Kapiteleinteilung waren vorvorhanden. Für den Druck schien es nicht berechnet zu sein, denn beide Seiten der Blätter waren beschrieben.

Fritz nahm sich Zeit mit dem Lesen. Das Werkchen eignete sich, in kleinen Dosen genossen zu werden. Es hatte zum Inhalt den doppelten Briefwechsel einer Braut mit ihrem Verlobten und mit einem Freunde, der ältere Rechte auf sie hat, als der Bräutigam. Keine Zeile erläuternder Text, keine Beschreibung der Personen; die Handlung spielte sich lediglich in den Briefen der drei Menschen ab.

Man hatte es mit einem Erstlingswerk zu thun. Aus kleinen Unebenheiten, Ungeschicklichkeiten und Widersprüchen, die hie und da unterliefen, war das zu merken. Abgesehen jedoch von solchen natürlichen Entgleisungen des Anfängers, beherrschte die Schreiberin ihr Thema durchaus.

Vor allem staunte Fritz Berting über die Sicherheit, mit der sie die Kunstmittel regierte. Niemals fiel sie aus dem zwanglosen Stile des Briefwechsels. Sie setzte keinerlei große Maschinerie in Bewegung, um ihre Figuren zu charakterisieren, und dennoch lebten diese drei Menschen. Das Auskommen mit den einfachsten Mitteln erschien Fritz als ein untrügliches Zeichen der Begabung. Künstlerischer Takt sprach auch aus der Begrenzung des Themas. Die Geschichte wurde nur geführt bis zum Morgen des Hochzeitstages. Hier schreibt die Braut die letzten, knappen Abschiedszeilen an den Freund. Der Vorhang fällt äußerlich über den dreien, aber der verständnisvolle Leser kann keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, was der weitere Verlauf sein muß.

So hatte dieses junge Ding eines der wichtigsten Gesetze moderner Erzählerkunst: das indirekte Charakterisieren, gleich in der ersten Studie gemeistert.

Berting beschloß, der Schreiberin das Manuskript persönlich zurückzubringen. Nur wollte er damit so lange warten, bis er mit seinem eigenen Werke zu einem nahen Abschnitte gekommen sei.

 

Dieser wie andere Pläne wurden über den Haufen geworfen durch einen unerwarteten Besuch. Fritz erhielt ein Telegramm aus Köln, von seinem Freunde, Baron Chubsky, der auf dem Wege von Paris nach Krakau sich für ein paar Tage bei ihm ansagte.

Zu jeder anderen Zeit hätte Fritz Chubskys Kommen lieber gesehen, als gerade jetzt, wo er mitten drin steckte in wichtiger Arbeit. Aber auf der anderen Seite sah er doch auch dem Wiedersehen voll Spannung entgegen. Es schmeichelte ihm, daß der berühmte Pole um seinetwillen die Reise unterbrechen wollte. Denn wahrlich, Michael, Baron Chubsky gehörte nicht zu den alltäglichen Menschen.

Seit man sich zum letzten Male in Berlin gesehen, waren nun schon drei Jahre vergangen. Chubsky hatte sich einen Winter über in der Reichshauptstadt aufgehalten, um den Erfolg seiner Schriften in Deutschland zu betreiben. Mit Stolz fühlte er sich als Kosmopolit, Paris nannte er seine geistige Heimat.

Fritz Berting hatte mit dem viel umhergetriebenen Manne manchen Abend im literarischen Disput zugebracht. Michael Baron Chubsky gehörte, wenn auch nicht zu den führenden Geistern, so doch zu den Wetterpropheten und Zeichendeutern der Moderne. Er machte nicht die Moden, aber er trug sie zuerst; ähnlich gewissen Elegants, die in ihrer Kleidung selbst den neuesten Modejournalen immer noch um eine Nasenlänge voraus sind.

Chubsky war einer von denen, die nirgends zu wurzeln scheinen und doch überall zu Haus sind. Zu den exklusivsten buddhistischen Zirkeln von Paris besaß er Zutritt. Er war einer der ersten gewesen, die der modernen japanischen Kunst das Wort geredet hatten. Der galanten Litteratur widmete er ein wissenschaftliches Interesse. Ein Oskar Wilde in London zählte zu seinen Freunden, und Felicien Rops hatte ihm eines seiner extremsten Blätter gewidmet. Männer wie August Strindberg, Ola Hansson, Hermann Bahr, hielten geistigen Verkehr mit ihm.

Dabei floß die Ader der eigenen Produktion durchaus nicht reich bei Michael Chubsky. Er hatte einen kleinen Band Gedichte herausgegeben, die stark von der Lyrik Paul Verlaines beeinflußt waren, dann ein paar Bändchen Skizzen und Novellen, mit denen er zwischen Edgar Poe und Huysmans hin und her pendelte. Schließlich stammte aus seiner Feder ein blutiges Drama, das den polnischen Aufstand von 1830 behandelte. Sein Bestes hatte er im Essay geleistet. Der moderne Sexualismus war sein Beobachtungsfeld. Das Perverse, vor allem wo es an das Religiöse grenzt, hatte er nach allen Richtungen hin durchforscht. Bekannt war seine Studie über den Sadismus, und kürzlich hatten Artikel von ihm über die Satanisten Aufsehen erregt. Auch gehörte er zu den eingeweihtesten Leuten für alles, was auf den Namen Okkultismus Anspruch machen durfte.

Verkehr haben mit einem Menschen wie Michael Chubsky hieß: in Verbindung stehen mit allen Richtungen und Schulen, mit allen Künstlern und Gelehrten, die augenblicklich den Ton angaben im litterarischen Weltorchester.

Eine Sorge allerdings hatte Fritz Berting: auf welche Weise sollte man diesen Gast unterhalten? Der Baron war einer der verwöhntesten Menschen, die ihm jemals vorgekommen waren. Zwar befand er sich meist in Geldnöten, doch gab das für Michael Chubsky durchaus keinen Grund ab, sich irgend einen Genuß entgehen zu lassen. Seine Familienverhältnisse waren nicht ganz klar; in Berlin war er unbeweibt aufgetreten, doch hieß es von ihm, er sei verheiratet, könne als Katholik jedoch von seiner Frau, die ihn schon in den ersten Monaten der Ehe verlassen habe, nicht geschieden werden. Fast noch anspruchsvoller als in materiellen war Baron Chubsky in geistigen und künstlerischen Genüssen. –

Chubsky kam mit dem Nachtschnellzuge an, und Fritz ging zum Bahnhof, ihn zu empfangen.

Sie saßen eine Weile im Restaurant des Hotels beisammen, das der Baron zum Absteigequartier gewählt hatte. Der Pole verlangte Absinth und schimpfte laut, als er vernahm, daß man Absinth nicht führe. Fritz erkannte ihn in seiner Passion für dieses Getränk wieder.

Überhaupt hatte sich der Pole wenig verändert. Sein Haar, das er halblang trug, war eine Spur grauer geworden. Seine Haut hatte bereits früher diese Aschfahlheit, die Augen diese blinzelnde Müdigkeit gezeigt. Seine niedere Stirn lief in einen breiten Schädel aus. Die schmalen Lippen wurden vom dünnen, blonden Schnurrbärtchen nur eben bedeckt. Schön waren an dieser femininen Männererscheinung eigentlich nur die feingeschnittene Rassennase und die schlanken Aristokratenhände. Der zierliche Wuchs des Körpers verlor durch schlechte Haltung.

Man verabredete die nächste Zusammenkunft in Fritzens Wohnung, sobald der Reisende ausgeschlafen haben würde.

Chubsky kam gegen zwölf Uhr mittags. Er klagte über den schlechten Hotelkaffee, den zu trinken er außerstande gewesen sei, und bat um etwas die Nerven Anregendes. Fritz, der sich seinen Kaffee neuerdings selbst zuzubereiten pflegte, braute ihm einen besonders starken Mokka.

Den übrigen Tag, bis zum Dunkelwerden, verbrachte man im Umherfahren. Michael Baron Chubsky wollte die Stadt sehen, behauptete jedoch, das Gehen strenge ihn zu sehr an.

Mit blasierter Miene lehnte der bleiche Pole gegen die Polster des langsam dahinschleichenden Gefährts, ließ die Gebäude, Plätze, Aussichten an sich vorübergleiten; ganz selten nur schwang er sich zu einer Frage oder zu einer Bemerkung auf.

Da beim Aussteigen Chubsky keinerlei Miene machte, das Portemonnaie zu ziehen, blieb Fritz nichts übrig, als selbst den Kutscher zu bezahlen. Um sich und dem Reisenden nach der Ödigkeit dieser Rundfahrt eine Erholung zu gewähren, schlug er den Besuch eines Konzerts oder der Oper vor. Michael Chubsky erklärte jedoch, deutsche Musik gehe ihm auf die Nerven.

Man ging also in ein Kaffeehaus. Hier gab es zu Chubskys lebhafter Befriedigung Absinth. Unter dem Einflusse seines Lieblingstrankes wurde der Pole etwas mitteilsamer. Und Fritz erfuhr dafür, daß er auch hier die Zeche bezahlen durfte, einiges vom neuesten Klatsch der Boulevards und dieses und jenes Intime aus den großen litterarischen Wetterbeobachtungsstationen Europas.

Am nächsten Tage erschien Michael Chubsky erst nachmittags in Fritzens Wohnung. Er war in der Bildergalerie gewesen. Sein Urteil lautete kurz und bündig dahin: Die alten Bilder seien langweilig wie überall, und was man von sogenannten Modernen habe, wäre einfach zum Lachen. Er bat zur Erholung seiner verstimmten Nerven um einen Kaffee wie gestern und um etwas zu lesen.

Fritz legte ihm verschiedene Bücher hin zur Auswahl und machte sich an das Bereiten des Mokkas. »Von wem ist das hier?« fragte Chubsky plötzlich vom Sofa her, indem er Hedwig von Lavans Manuskript hochhielt. Fritz sagte ein Paar gleichgiltige Worte zur Erklärung; es war ihm im Grunde nicht angenehm, daß jener das Manuskript entdeckt hatte.

Chubsky blätterte eine Weile in dem Bogen, dann begann er zu lesen. Er legte sich dazu lang auf das Sofa, nahm von Zeit zu Zeit einen Schluck Mokka und unterbrach die Lektüre höchstens einmal, um sich eine Cigarette anzuzünden. Fritz hütete sich, den Gast zu stören; bekam er doch auf diese Weise Gelegenheit, die eigene Arbeit weiterzuführen.

Nach einigen Stunden erhob sich der Pole, legte das Manuskript auf den Schreibtisch und erklärte: er sei fertig.

»Ihr Urteil?« erkundigte sich Fritz.

»Ein Dokument! Und zwar eines von jenen in Deutschland ganz seltenen Dokumenten hoher Nervenkultur. Die Manifestation einer herrlichen Vorurteilslosigkeit. Ich möchte wetten, die Schreiberin ist Rasseweib. – Verheiratet oder unverheiratet?«

»Ein halbes Kind! Siebzehn Jahr!«

»Ich hätte allerhand Erfahrungen vermutet. Das Erotische ist mit kühner Sicherheit, mit Selbstverständlichkeit behandelt, wie sie eigentlich nur Kennerschaft giebt. Hat sie Erlebnisse gehabt?«

»Kaum! Als Kind ist sie mit ihrem Vater viel gereist. Vielleicht, daß sie von ihm, der ein sonderbarer Kauz gewesen sein muß, manches erfahren hat, was anderen jungen Gänsen verborgen bleibt. Jetzt lebt sie hier, ängstlich behütet von ein Paar alten Schachteln, ihren Adoptivmüttern.«

»Ein neuer Beweis für den alten Satz, daß das Weib in seinem bloßen Instinkt die ganze Wissenschaft des Sexuellen trägt. – Ich möchte die Person kennen lernen.«

Fritz meinte nach kurzem Überlegen, das sei möglich zu machen. Die Bewunderung des Polen für Hedwig von Lavans Talent that ihm im Grunde wohl. So konnte man dem verwöhnten Manne doch wenigstens mit einer ungewöhnlichen Bekanntschaft aufwarten.

Der Spätnachmittag war über alledem herangekommen. Fritz schlug vor, sofort aufzubrechen und einen Versuch zu machen, Fräulein von Lavan anzutreffen. Er nahm ihr Manuskript mit.

Hedwig war zu Haus, doch befand sie sich leider in Tante Idas Gesellschaft. Dadurch nahm der Besuch einen ganz anderen Verlauf, als Fritz geplant hatte. Das Manuskript ließ er wohlweislich in seinem Überzieher stecken, eingedenk Hedwigs Bitte, die Tanten nichts davon merken zu lassen.

Fräulein Ida Tittchen beknickste den Baron mit verlegener Miene bei der Vorstellung. Der machte ihr sein Kompliment und kümmerte sich nicht weiter um die Alte; verwendete vielmehr alle Aufmerksamkeit auf Fräulein von Lavan. Fritz fiel dadurch die Aufgabe zu, die Tante zu unterhalten.

Das alte Fräulein stimmte ein Klagelied an. Sie hatten im Sommer ihren Reiseplan ausgeführt, waren in Interlaken gewesen. Amanda wurde jedoch schon auf der Hinfahrt unpäßlich und hatte dann lange das Zimmer hüten müssen. Und nun man aus der Sommerfrische, die sie hatte kräftigen sollen, nach Haus zurückgekehrt war, konnte sie einen bösen Lungenkatarrh nicht los werden. Der Hausarzt spreche schon wieder von der Notwendigkeit, südliches Klima aufzusuchen.

Fritz hätte die Alte nur gar zu gern gefragt, ob Waldemar Heßlow sich ihnen in Interlaken angeschlossen habe – wie ja vor seinen Ohren an dieser selben Stelle verabredet worden war – aber er wagte es doch nicht; denn Hedwigs scharfem Gehör wäre eine solche Frage sicher nicht entgangen, und gerade sie sollte nicht denken, daß ihre Beziehungen zu dem schönen Waldemar ihm Unruhe bereiteten.

Während sich Fräulein Ida Tittchen des weiteren über die Erkrankung ihrer Schwester verbreitete, lauschte Fritz mit halbem Ohre nach der Unterhaltung hin, die nebenan geführt wurde. Der Pole und Hedwig sprachen französisch, beide mit tadellosem Accent und mit jener gefälligen Mühelosigkeit, die nur intimste Kenntnis einer Sprache verleiht. Soviel Fritz auffangen konnte, sprachen sie von neuester französischer Litteratur, über deren Wendung ins Christlich-Mystische sich Hedwig von dem Baron unterrichten ließ.

Mit einem flüchtigen Seitenblick hatte Fritz konstatiert, daß Hedwig von Lavan in der Zeit, während der er sie nicht gesehen, jedenfalls nicht häßlicher geworden war. Ihre Wangen zeigten eine Kleinigkeit mehr Farbe, ihre Figur schien eine Wenigkeit voller geworden zu sein.

Da Fritz die ins Stocken geratene Unterhaltung mit Ida Tittchen wieder in Fluß bringen mußte, kam ihm die banale Bemerkung auf die Lippen: er finde Fräulein von Lavan recht wohl aussehend. Die Tante freute sich über diese Behauptung. Ihr stiller Kummer war es ja gewesen, daß das Kind, trotz aller Pflege, die man ihm habe angedeihen lassen, nicht mehr hatte zunehmen wollen.

Tante Ida erzählte dann, Hedwig habe sich tüchtig Bewegung gemacht und die herrliche Alpenluft gründlich genossen. Sie und Amanda hätten das junge Ding natürlich nicht zu begleiten vermocht; da sei es dann recht angenehm gewesen, daß man an Herrn Waldemar Heßlow einen Gesellschafter gehabt, der Hedwig bei ihren Touren geleitet und beschützt habe.

Nun war es heraus, was Fritz zu erfahren gewünscht hatte, und was ihn, da er es endlich wußte, mit einem Gefühle höchsten Unbehagens erfüllte. War es denn anders zu erwarten gewesen! Natürlich verfolgte der schöne Waldemar die Fährte weiter, auf der man ihn bereits früher mit Erfolg hatte jagen sehen. War ihm das groß zu verdenken! –

Fritz kam heut abend nicht dazu, das Wort an Fräulein von Lavan zu richten; ihr Kavalier hatte sie gänzlich mit Beschlag belegt. Die Unterhaltung mit Ida Tittchen stockte schon wieder bedenklich, infolge seiner Zerstreutheit. Er fing an, sich etwas lächerlich vorzukommen. Sobald es die Unterhaltung bei dem andern Paare zuließ, erhob er sich und veranlaßte dadurch den Aufbruch.

Gespannt war Berting, Chubskys Urteil über Hedwig von Lavan zu hören. Der Pole äußerte zunächst gar nichts, erkundigte sich vielmehr nach einem guten Restaurant zum Soupieren. Fritz schlug jene Weinstube vor, in der er im vorigen Winter mit Lehmfink und Alma nach dem Theater gewesen war.

Michael Baron Chubsky ließ sich die Speisenfolge geben und verwarf sie nach kurzem Betrachten. Er stellte sodann selbst ein Menü zusammen, das mit Austern anfing und mit Punsch romain, gefroren, aufhörte. Zu jedem Gang bestellte er den nach seiner Ansicht korrespondierenden Wein.

Fritz wurde nicht gerade behaglich zu Mute bei diesen Vorbereitungen. Chubsky hatte nämlich gelegentlich fallen lassen, er sei gerade nicht sehr bei Kasse; seine Reise nach Krakau habe den Zweck, sich eine Erbschaft zu sichern.

Als man bei Steinbutt, Sauce Hollandaise, saß, zu welchem Chablis getrunken wurde, begann Baron Chubsky seine Ansicht über Fräulein von Lavan kund zu thun. Er dankte dem Freunde, daß er ihm diese Bekanntschaft vermittelt habe. Er gedenke, die junge Dame nicht aus dem Auge zu verlieren, habe sie sich vielmehr im Geiste notiert. Sie stelle ein jetzt noch äußerst seltenes Exemplar jener Gattung Weib dar, die, wie er glaube, die Zukunft beherrschen werde: jenes höchst sensitive, rassige, differenzierte Nervengeschöpf, mit einer starken Dosis Geschlechtlichkeit versetzt.

Fritz meinte, auf ihn habe Hedwig mehr den Eindruck hoher Verstandeskultur gemacht; als Geschlechtswesen erscheine sie ihm geradezu neutral.

»Dann stehen Sie, Pardon, noch in den Kinderschuhen der Physiologie, bester Herr!« rief Chubsky. »Ein Geschöpf mit solchen Augen geschlechtslos! – Alles verhüllt die Natur beim Weibe, nur das Auge läßt sie als ein Fenster bestehen, durch welches der Kenner tief hinein schauen kann ins Triebleben. Das Auge dieser jungen Dame fiel mir sofort auf; es richtet sich auf einen, bohrend wie Stahl. So betrachtet jedes Weib von starker Individualität zuerst den Mann, den Feind ihres Geschlechtes. Dann blitzschnell ein zweiter Ausdruck in diesem wandlungsfähigsten Organe; nicht mehr feindlich, mißtrauisch, nein, neugierig, witternd, abtastend gleichsam. So späht das Weib nach der Männlichkeit bei uns, saugt sie mit Behagen in sich auf. – Ich könnte noch manches über die Augen von Fräulein von Lavan sagen. Sie verraten ungewöhnliche Frühreife, vielleicht sogar Fähigkeit zur Sinnes-Luxurie. Ich weiß kein deutsches Wort dafür; Wollust klingt so grob. Eines steht für mich ganz fest: diese kleine, hagere Person mit der Haut der sich öffnenden Maréchal Niel hat Erlebnisse, nicht bloß Gedanken und Phantasieen. In ihr ist etwas aus den blassen Träumereien der Mädchensehnsucht zur Erkenntnis Erwachtes, wie es nur der Wünsche Erfüllung giebt. Haben Sie nichts von einem Liebhaber gespürt in der Vergangenheit oder Gegenwart dieses Mädchens?«

Fritz, der in peinlicher Spannung diesen Worten zugehört hatte, beeilte sich zu antworten, daß er einen Liebhaber bei Fräulein von Lavan für völlig ausgeschlossen halte; Chubsky habe ja selbst gesehen, in welchem Käfig sie lebe. Vor seinen eifersüchtigen Sinnen tauchte freilich der Gedanke an Waldemar Heßlow sofort auf. Aber er hütete sich, dem Polen gegenüber von diesem Verdachte etwas zu verraten.

Haselhühner, zu denen es Sekt, Marke: White Star, gab, unterbrachen den Baron in seinem Thema.

Michael Chubsky hatte die blasiert leidende Miene, mit der er tagsüber umherzugehen pflegte, jetzt abgelegt. Er zeigte sich lebhaft und aufgeräumt. Seine Augen glühten, auf feinen Backenknochen zeichneten sich rote Flecken ab. Auch Fritz begann zu fühlen, daß ihm das Blut schneller durch die Adern rolle als gewöhnlich. Man näherte sich mit Bewußtsein jenem beseligten Stadium, in dem die Gefühle leuchtend zu fließen, die Gedanken zu sprühen scheinen, wo die Worte nicht mehr auf die Goldwage gelegt werden.

Michael Baron Chubsky plauderte. »Wenn ich aus Paris nach Deutschland komme, habe ich schon vor der Grenze immer das Gefühl, die Witterung möchte ich es nennen, daß ich mich einem Lande von bedeutender animalischer Fruchtbarkeit nähere. Etwas wie der Brodem des Kuhstalles schlägt einem da entgegen. Ihr seid Bauern! Das ist die Erklärung eurer wirtschaftlichen Kraft und eurer kulturellen Schwäche. Die Moderne baut sich auf Nerven auf, Nerven sind getreten an Stelle von Kraft und Verstand. Auf dem Gebiete der Nervenkultur aber seid ihr zurückgeblieben hinter den Slaven und Japanern, ja selbst hinter euren Vettern, den Anglo-Sachsen und den Skandinaviern.«

Fritz widersprach lebhaft.

Chubsky ließ sich nicht beirren. »Das ist ja in der Politik der Grund eurer letzten Erfolge. Bei Sedan hat im Grunde die Rückständigkeit der Nerven gesiegt. Der knochige Bauer hat den fin de siècle-Menschen besiegt. Bismarck ist der Abschluß einer Epoche, kein Anfang. Der Heros der Zukunft sieht ganz anders aus. Auch in Deutschland giebt es Vorläufer der kommenden Nervenepoche, aber sie haben in ihren Adern fremdes Blut, fühlen sich selbst als Ausländer unter Euch. Nietzsche gehört zu dieser Klasse. Ein Mann, wie Henri Heine war auch solch ein Mußdeutscher. Selbst Schopenhauer gleicht einem weißen Raben in eurer Mitte, und verstanden haben ihn richtig nur die Franzosen. Wagner zwar ist deutsch, typisch für das deutsche Genie. Ein Riese der Arbeit und der Energie. Aber als Künstler übertreffen ihn Liszt, Brahms und Chopin.

Fritz Berting meinte, daß ihm diese Ansichten stark subjektiv gefärbt erschienen; vielleicht, so deutete er an, spiele dabei die politische Anschauung des Barons eine Rolle.

Michael Chubsky fuhr von seinem Stuhle auf mit verdüsterter Miene. Sich wieder niederlassend, trank er sein Sektglas leer und stützte das Haupt schwermutsvoll auf die Rechte. Fritz erklärte, die Absicht, wehe zu thun, habe ihm sehr fern gelegen.

»Nein, mein Freund!« rief der Pole mit Emphase und reichte Fritz die Hand, »Sie haben mich nur an einen Traum erinnert, den ich auch einmal geträumt habe, den Traum der Selbständigkeit meines Volkes. Aber vielleicht sind wir Polen zu etwas Höherem bestimmt, als zur äußeren Macht; vielleicht werden wir auf geistigen Schlachtfeldern siegen über alle unsere Feinde. Wir gehen einer Zeit entgegen, wo nicht mehr das am weitesten tragende Gewehr entscheidet über die Geschicke der Völker, sondern die Feinheit der Nervenschwingungen. Wir sind der Sauerteig, der bestimmt ist, die herrschende Afterkultur in Gährung zu bringen. Auch mein grausam gequältes Volk wird bei der großen Wandlung aller Dinge, die vor der Thür steht, eine Rolle spielen. Die unterdrückten Völker, wie die unterdrückten Gefühle, werden da emporkommen, das Traumhafte, das Triebhafte, das Mystische, das Okkulte wird emporkommen. Wir stehen in den Anfängen einer Revolution, nicht einer politischen oder sozialen, deren Zeiten sind vorüber – nein, einer Umwertung der Gefühle. Die Morgenröte des ästhetischen Zeitalters steigt herauf, und dieses wird aufgebaut sein auf Nerven. Die Zukunft gehört der Neurose.«

Der Kellner servierte den Mokka und fragte, welchen Likör die Herren beföhlen. Baron Chubsky bestellte eine Auswahl; Fritz hatte Gelegenheit, über sein Detailkenntnis auch auf diesem Gebiet zu staunen. Der Kellner brachte eine ganze Batterie von Flaschen und Krügen holländischer, französischer, deutscher, italienischer Herkunft. Die schmalen Hände des Barons zitterten leicht, als er die Form der einzelnen Gefäße abtastete. Seine Augen schwammen, er stieß die Worte hastig hervor, wie einer, der im Fieber phantasiert.

»Wir werden in Zukunft nicht mehr Künste haben, nur noch Kunst, nicht mehr Genüsse, nur noch Genuß. Düfte, Farben, Töne, alles eins! – Ob ich fêtes galantes lese von Verlaine, ob ich ein Spiel erlebe von Maeterlinck, ob ich Jasmin rieche, ob ich das seelische Parfüm einsauge einer Menschenindividualität – wie vorhin die jenes wunderbaren Geschöpfes – ob ich Chopins Requiempolonaise höre, es ist im Grunde alles dasselbe. Schwingungen sind es der Nerven, Ekstase der Sinne, Hybris, Delirium, Orgiasmus! – Wenn nur eine starke Hand spielt auf meiner Natur, wenn ich nur die Trivialität des Lebens vergesse! So erfassen schon viele den Sinn des Daseins als ein einziges auserwähltes Fest, das wir unseren Nerven geben. Aber erst dann wird die Menschheit die Höhe erklommen haben ihrer steilsten Möglichkeiten, wenn der Schmerz zur sublimen Wollust wird. Die Decadence habe keine Frömmigkeit, behaupten Thoren. Orgiastische Verzückung ist unser Kult, Wollust der Askese. Wieder einmal bricht das Okkulte mächtig hervor, welches der fade Rationalismus aus dem Christentum vertrieben hat. Schon haben wir Kongregationen von Jüngern; sie sind verstreut über das ganze Land hin und her, wie die ersten Christengemeinden im alten Rom. Kunst, Religion, Gefühl, alles fließt zusammen wie ein leuchtender Strom in dem großen, heiligenden Bade des Genießens.«

Er nahm eine Flasche Chartreuse zur Hand und ließ Fritz das Funkeln der Flüssigkeit bewundern, das er dem berückenden Glanz des émeraude verglich. Doch meinte er, dieses süßliche Parfüm passe nicht in die Skala ihrer Tischgenüsse. Er griff vielmehr nach einem braunglasierten Krüglein, das den Cherry Brandy enthielt. Die flachen Kristallgläschen füllten sich mit der dunkelkarmoisinroten Flüssigkeit. »Bitter und süß,« meinte der Pole, verzückt von dem Tranke nippend, »es ist die Nuance gewisser halberschlossener Mädchenknospen, die in ihrer Herbheit die Süße des Weibes gerade nur ahnen lassen.«

Dann zündete er eine seiner aromatischen Cigaretten an, starrte eine Weile in den weißlichen Dunst und sagte in fast elegischem Tone, seine weiche Hand auf Fritzens legend: »Ich reise morgen früh, mein Freund! Doch will ich Sie nicht am Bahnhofe sehen. Es gäbe nur eine Desillusion nach diesen einzig schönen Stunden. Sie sind vielleicht unzufrieden mit mir, daß ich Ihnen zwei Tage Ihrer kostbaren Zeit durch meine Anwesenheit verdorben habe« . . . Fritz wollte remonstrieren. »Nein, keine Komplimente zwischen uns! Ich bin Ihnen noch etwas zu sagen schuldig, ehe wir uns trennen. Sie haben die Liebenswürdigkeit gehabt, mir Ihr Buch ›Das Geschlecht‹ zuzuschicken. Wollen Sie mein Urteil darüber anhören?«

Fritz erwiderte, daß er gespannt sei darauf.

»Nun gut! Zunächst sind wir wohl einig über eines: Urteile wie gut und schlecht, schön und häßlich, der alten Ästhetik entnommen, giebt es nicht! Das vorausgeschickt, scheint mir Ihr Buch zu den starken zu gehören. Es hat Knochen und Muskeln; fast liegen sie zu offen am Tage. Die feinen Ganglien fehlen, die blühende Haut, der diskrete Flaum. – Sie verstehen, was ich meine. Auch ist es mir zu sehr nach der Methode des braven Zola gearbeitet. Viel körperliche Beobachtung und Analyse, viel Wirklichkeitssinn, kurz, echte Dokumente haben Sie in Ihre Retorte gethan. Der Forscher kann seine Freude daran haben. Aber mein Freund, bei uns gilt diese Methode längst für überwunden. Die ganze Schule leidet am Mangel von Nuance. Ewig den Fleischton auf der Palette, das geht am Ende auf die Nerven. Wir suchen nach Neuem, nach Blumen, die noch kein Auge gesehen, nach tiefen, unerhörten Erregungen. – Ich will mich ganz demaskieren! Vorher sprach ich von der Religion der Intimen, von einem Geheim-Kult, der sich hie und da vorbereitet in den Kulturzentren der Welt. Er hat seine Märtyrer und Gekreuzigte, dieser Kult, und er besitzt auch seine Propheten und Jünger. Ich bin ein Mensch, der die Seinen nicht vergißt! Auf Sie hatte ich Hoffnungen gesetzt, Berting; große Hoffnungen! Manches Ihrer Gedichte schien mir dafür zu sprechen, daß Sie einer seien, der mit tastenden Fühlern das Neue sucht. Ich glaubte, Sie gehörten zu uns. Einen Namen haben wir nicht, auch keinen geschriebenen Kodex, nicht einmal ein Sakrament. Wir verpflichten durch keinen leiblichen Eid. Wir sind die Gesellschaft der Erleuchteten, unsichtbar über die ganze Welt verstreut, allgegenwärtig. Von heut ab rechne ich Sie zu den Unsrigen. Und so ist mein Aufenthalt hier nicht umsonst gewesen. Ich habe das hohe Glück gehabt, an einem Tage zwei Menschen zu fischen. Ich weiß nicht, wer von euch beiden der Wertvollere ist. Ach, dieses Mädchen hat mir eine unvergeßliche Sensation verursacht! Ein Ton, ein unendlich feiner, tief aufregender Ton zittert in mir nach von jener Stunde. Ich habe ein neues Arom gekostet. Sie wissen was eine audition colorée ist? Ich erlebte das Phänomen in der Nähe dieses Geschöpfes. Wissen Sie, ich hörte ganz deutlich die Rhapsodie von Liszt, so wie sie Rubinstein spielte, und gleichzeitig sah ich das keuscheste Rosa junger Apfelblüten übergehen ins Mattlila des Spätabendhimmels. Dieses sublime Wesen vereinigt den Duft eben geschnittenen Heues und von Patschuli, das Raffinement des fin de siècle und die Urmystik einer Eva. Wahrhaftig, sie ist einzig! Um Hedwigs willen könnte ich Thränen vergießen, daß ich reisen muß. Ich schenke sie Ihnen. Und ich spreche zu euch beiden: »Kindlein, liebet euch unter einander!« –

Er erhob den Sektkelch. »Mein Auge hat euch erkannt; ich habe euch umarmt seelisch.« Er leerte das Glas und warf es hinter sich.

»Nun wollen wir übergehen zur Sensation der Sensationen, zum Absinth!« –

* * *

Das Erwachen am nächsten Morgen war furchtbar. Schlimmer noch als der physische Katzenjammer war der Abscheu vor dem Leben.

Als Fritz Berting sein Manuskript durchblätterte, sah es ihn an wie das Werk eines Fremden; es widerte ihn an, verwirrte ihn. Der Plan, der Zusammenhang der Teile, der höhere Sinn des Ganzen war ihm verloren gegangen. Ein Knäuel verworrenen Garns, wo einst das Muster gewesen war zu einem feinen, planvollen Gewebe. Er warf schließlich tief entmutigt die Blätter in ein Fach seines Schreibtisches.

Was nun? Wenn er jetzt einer neuen Krise entgegenging, einem Anfall von Welt- und Kunstekel, wie er sie nicht bloß einmal durchgemacht hatte! – Dagegen gab es kein Mittel, das wußte er. Wie eine Krankheit war das, die heimtückisch den Menschen überfiel und erst wich, wenn sie den ganzen Körper durchschüttelt hatte. Dazu das schreckliche Bewußtsein, daß er in seiner jetzigen Lage solchen Stimmungen nicht nachgeben durfte. Er mußte auf dem Posten sein; es handelte sich um seine Existenz. Ein Gast, der ihm in seinen Träumen schon öfters drohend gewinkt hatte: der Hunger, trat, wenn man die Hände in den Schoß legte, leibhaftig über die Schwelle.

Berting fürchtete sich davor, sein Portemonnaie zu öffnen und den Inhalt nachzuzählen; denn von der vorigen Nacht – deren einzelne Szenen ihm in undeutlichen Nebel zusammenliefen – war ihm ein Bild in peinlichster Erinnerung geblieben: der Kellner mit der Rechnung. Als sich Fritz endlich doch entschloß, Kassensturz zu machen, ergab sich ein Befund, der seine schlimmsten Erwartungen übertraf.

Fritz verwünschte den Polen. Was nützten ihm die glühenden Umarmungen und Küsse, mit denen Michael Baron Chubsky sich in früher Morgenstunde von ihm verabschiedet. Er, Fritz, hatte die Zeche bezahlen müssen. Von der Unterhaltung mit dem berühmten Kunstkenner und Vermittler zwischen den Litteraturen Europas war in seinem Kopfe nichts zurückgeblieben, als ein wüstes Tohu-Wabohu. Wahrhaftig, die Ehre, diesen Herrn zu traktieren, kam ihm teuer zu stehen!

Der Ärger darüber war das erste belebende Gefühl, das er an diesem trostlosen Tage empfand. Es stachelte ihn soweit auf, daß er sich entschloß, da es mit dem Arbeiten heute doch nichts werden würde, wenigstens auszugehen.

Er hatte seit Tagen schon keine Zeitung mehr in Händen gehabt und meinte, daß er vielleicht in den Blättern irgend etwas finden werde, was ihn auf andere Gedanken bringen möchte. Er begab sich in das Kaffeehaus, in welchem er sich ehemals mit Heinrich Lehmfink fast täglich getroffen hatte.

Als er das Zimmer betrat, in welchem die Zeitungen aufbewahrt wurden, rief man ihn von einem Ecktische aus an. Dort saßen bei einander: Theophil Alois Hilschius, Siegfried Silber und ein dritter junger Mann. Fritz trat an den Tisch, begrüßte sich mit Theophil und mit Silber und wurde mit dem Fremdling bekannt gemacht, den man ihm als Marcus Hiesel vorstellte.

Siegfried Silber bat Fritz, bei ihnen Platz zu nehmen; seit der Viertelstunde, die man hier sitze, habe man von nichts anderem gesprochen, als von ihm. Sein Erscheinen rette ihn, Fritz Berting, davor, daß man ihn, einem eben gefaßten Entschlusse zufolge, in corpore aufsuche.

Fritz blickte erstaunt auf dieses Kleeblatt. Die drei Leute schienen ihm gar nicht recht zusammen zu passen. Siegfried Silber, mit dem Dichternamen »Karol«, trug noch immer den an den Ärmeln glänzenden, mit Flecken aller Art bedeckten, ehemals schwarzen Rock, den man wie eine zweite Haut an ihm kannte. Theophil Alois war tadellos gekleidet; ihn übertraf aber noch an Pflege des äußeren Menschen um ein Erkleckliches Marcus Hiesel.

Berting hatte den Namen schon gelegentlich von Frau Eschauer nennen hören. Hiesel war ein Verwandter der Familie Hilschius. Annie pflegte von ihm als von dem »dekadenten Marcus« zu sprechen. Seine Eltern lebten in Wien, waren sehr reich, er der einzige Sohn. Marcus hatte mit zwanzig Jahren eine Reise um die Welt gemacht, und, wie Annie erzählte, wäre die wichtigste Erfahrung, welche er nach Europa zurückgebracht habe, gewesen, daß die Gheishas die einzig möglichen Frauen seien.

Fritz sah sich den Jüngling daraufhin mit einem gewissen Interesse an. Das schmale, blasse Gesicht war bartlos, das Haupthaar dicht über dem Ohr gescheitelt, fiel in einer breiten, glatten Welle über die halbe Stirn und bedeckte die Wange noch ein Stück. Der hohe Kragen, in Vatermörder-Form, und die breit gebundene Krawatte hüllten den dünnen Hals bis zum Ohrläppchen ein. Die Weste von perlmutterschillerndem Seidenstoff, darüber ein Rock mit breitem Sammetkragen, engen Ärmeln, langschößig, wie ihn die Biedermeierzeit liebte. – Schwer war es, sich die Beschäftigung des jungen Mannes vorzustellen. Daß diese Hände von durchschimmernder Zartheit der Haut mit etwas in Verbindung gebracht werden könnten, das den Namen Arbeit verdiente, erschien Blasphemie. Wenn sie, wie hier, ab und zu nach dem Theeglase griffen, so geschah es tastend, zögernd, als schämten sie sich der groben Gegenstände, mit denen sie in Berührung kamen. Ähnlich, wenn Marcus Hiesel den Mund öffnete. Er that es selten, zu wenigen zurückhaltenden Worten, die jungen Tauben gleich, scheu vom Neste aufflogen. Ein Zug herber Resignation zitterte auf den schmalen Lippen; aus seinen Augen sprach hoheitsvolles Mitleid über das Weltgetriebe.

Fritz, der Freund Theophil einigermaßen übersah, entging es nicht, daß der Sohn der Witwe Hilschius gänzlich unter dem Banne stand dieser neuen Größe: Marcus Hiesel. Schon trug er den Scheitel über dem Ohre, wenn er auch das Haar noch nicht bis zu der beträchtlichen Länge gezüchtet hatte wie sein Vorbild. Die Krawatte war ihm bis zum Kinn herausgerutscht, und die Weste schien von der des Wiener Vetters abgefärbt zu haben. Auch seine Gebärden strebten nach Weihe und der Gesichtsausdruck nach Tiefsinn.

Diese beiden schwiegen sich aus. Um so mehr redete der kleine Silber. Er war nahe an Fritz herangerückt und setzte ihm unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit einen Plan auseinander, zu dessen Gelingen man stark auf Fritzens Mitwirkung hoffe.

Es handelte sich um nichts geringeres, als die Gründung einer »Zeitschrift«. Marcus Hiesel zuckte zusammen bei einer so groben Bezeichnung, sein Schatten, Theophil Alois, that ein gleiches, und Siegfried Silber korrigierte sich infolge dessen dahin, daß es sich um ein Unternehmen handle, welches mit einer gewöhnlichen Zeitungsgründung nichts zu thun habe.

Fritz, durch eigene bittere Erfahrungen auf diesem Gebiete skeptisch gemacht, meinte: das sei eine wundervolle Gelegenheit, Geld los zu werden.

Siegfried Silber belehrte ihn voll Eifer: es komme ihnen ganz und gar nicht darauf an, ein Geschäft zu machen. Die Halbmonatsschrift, die man herausgeben wolle, sei nur für einen exklusiven Kreis von Kennern berechnet und werde das intime Genre pflegen. Die litterarischen Beiträge ebenso wie die Ausstattung müßten den Geschmack des verwöhntesten Liebhabers befriedigen. »Wir wollen ein Blatt gründen, wie es Deutschland noch nicht besitzt, nur auf ästhetischen Prinzipien aufgebaut, esoterisch durch und durch! Ein solches Organ thut uns not, sehr not! Es müßte die Funktionen eines obersten Gerichtshofes in litterarischen Dingen versehen, müßte dem echten Talent, davon es auch bei uns genug giebt, Gelegenheit schaffen, sich auszuwirken.« Silber wendete sich mit der letzten Bemerkung an Marcus Hiesel, Zustimmung suchend. Der nickte bedeutungsvoll, ein gleiches that Theophil Alois.

Berting meinte, der Plan sei ganz schön, nur bezweifle er, daß sich Leute finden würden, welche ein derartiges Unternehmen finanzieren wollten und könnten.

Hier leuchteten Silbers dunkle Augen auf, und mit überlegenem Lächeln sagte er: »Diese Leute sind gefunden. Ich gebe zu, daß solcher Idealismus selten sein mag; hier war er vorhanden und mit ihm die Mittel zu einem Mäcenatentum großen Stiles. Wer unsere hochherzigen Geldgeber sind, muß vorläufig verschwiegen bleiben. Daß aber der Stein im Rollen ist, mag Ihnen dieses hier beweisen.«

Er zog aus der Tasche des unsauberen Rockes ein Paketchen Druckbogen, die er vor Berting ausbreitete. »Ich habe nur eine Probe drucken lassen vorläufig, aus meinem Roman ›Das Ghetto‹, der seiner Zeit auch Ihren Beifall fand. Und hier ein Gedicht von unserem Theophil Alois Hilschius. Wir gedenken viel Lyrik zu bringen. Ferner Aphorismen von Marcus Hiesel. Bitte, beachten Sie die Vignetten und Zierleisten. Wir werden dem erlesenen Stile des Ganzen entsprechend den Buchschmuck gestalten. Den Titel haben wir endgiltig festgesetzt, er soll lauten: ›Der Impressionist‹. Soeben hielten wir eine kleine Redaktionssitzung ab. Diese beiden Herren sind meine Mitredakteure. Ein Redaktionslokal wird selbstverständlich noch gemietet werden. Hier ist übrigens eine Probe zum Umschlag.«

Er reichte Fritz ein Stück feinsten holländischen Büttenpapiers, auf dem in mattem Gold der Titel prangte.

Während Berting das Blatt betrachtete, hatten sich die beiden Vettern Marcus Hiesel und Theophil Hilschius erhoben. Der junge Wiener hüllte seine schlanke Figur in einen kostbaren Pelzmantel ein, lächelte diskret melancholisch zum Gruß und verschwand mit unhörbaren Schritten, gefolgt von Theophil Alois, der diese Art des beinahe körperlosen Entschwebens nachzuahmen zwar bestrebt war, aber doch nicht völlig erreichte.

Kaum hatten die beiden sich entfernt, so schlug Siegfried Silber eine ganz andere Tonart an. Er wolle Berting in das Geschäftliche des Unternehmens einweihen, sagte er, und rückte vertraulich an ihn heran.

Die Sache liege ganz einfach so: Frau Hilschius, die für ihren Sohn eine Beschäftigung suche, habe eine Summe gestiftet für das Unternehmen, unter der Voraussetzung, daß Theophil nach außen hin als Redakteur auftrete. Eine gleiche Summe habe der junge Hiesel beigesteuert. Beiden Herren müsse dafür selbstverständlich jederzeit weißes Papier im »Impressionist« zur Verfügung stehen. Die Oberleitung sei ihm, Siegfried Silber, übertragen worden. Nun komme es vor allem darauf an, noch ein paar Schriftsteller von Kaliber zu gewinnen, um der Sache Relief und Rückgrat zu geben. Denn auf den Gedichten von Theophil Alois und den Aphorismen von Marcus Hiesel könne man eine ernsthafte Zeitschrift natürlich nicht aufbauen. Darum sei es sehr erwünscht, daß Berting die Mitarbeiterschaft annehme.

Fritz, der die Leistungen Theophils als Lyriker von der Nordlandsreise her noch in üblem Angedenken hatte, und der von den Hieselschen Aphorismen, nach dem, was er soeben flüchtig gelesen, auch keine große Meinung haben konnte, machte geltend, daß man auf sein Renommee halten müsse, als Litterat. Der Gedanke, in so unreifer Gesellschaft vor die Öffentlichkeit zu treten, war ihm keineswegs sympathisch.

Silber schien auf diesen Einwand gefaßt. »Ganz unter uns,« flüsterte er und verzog sein bewegliches Gesicht zu einer listigen Grimasse. »Je weniger diese beiden schreiben, desto lieber wird es mir sein. Ich hoffe in dieser Beziehung auf die solchen Herren angeborene Faulheit. Von Geschäften versteht der eine so wenig wie der andere. Sie figurieren zwar als Mitredakteure, aber ich werde dafür Sorge tragen, daß sie Strohmänner bleiben. Der Kontrakt, den ich habe, wahrt mir volle Selbständigkeit. Die geschäftliche wie die litterarische Leitung liegt in meinem Händen.«

»Verdenken Sie mir etwa mein Verhalten, Berting?« fragte Silber, durch Fritzens Miene stutzig geworden. Fritz zuckte die Achseln. »Ich möchte nicht, daß Sie auf falsche Vermutungen kämen. Ganz offen will ich gegen Sie sein. Sehen Sie, ich habe es schwer gehabt! Von meiner Jugend will ich gar nichts erzählen. Denken Sie sich die ärgsten Demütigungen, die es für einen aufstrebenden Geist giebt, Zurücksetzung, Widerwärtigkeiten jeder Art, und Sie werden mit aller Phantasie zurückbleiben hinter dem, was ich in Wirklichkeit durchgemacht habe. Ich wollte vorwärts kommen, und von Anfang an waren mir die Verhältnisse entgegen. Ihnen, der sie aus ganz anderer Lage kommen, ist es einfach unmöglich, sich dahinein zu versetzen. – Und nun habe ich mich ein Stück emporgearbeitet, ohne Hilfe von irgend einer Seite, ja, im Gegensatz zu meiner Umgebung, in bitterer Feindschaft, kann ich sagen, gegen die ganze Welt. Was habe ich schließlich erreicht? ›Tintenkuli‹ nennen einen die Gemütsmenschen. Die Finger habe ich mir wund geschrieben, Sklavenarbeit verrichtet, jeden Auftrag angenommen, um nur nicht wieder zurückzusinken von der mühsam erklommenen Stufe. Dabei habe ich Zeit gefunden, Sie wissen es, von dem, was ich wußte und konnte, denen mitzuteilen, die gleich mir in bedrängter Lage sind. Aber der Proletarier ist besser daran, als unsereiner. Er empfindet die Fesseln der Armut nicht so stark wie der Intellektuelle; uns reiben sie nicht nur das Fleisch, sondern obendrein noch die feinfühlige, hochstrebende Seele wund. Und von allem das Bitterste, das Bewußtsein, daß man etwas könnte, und nicht herangelassen wird an die entscheidenden Stellen; überall zurückgestoßen, während die Impotenz am Tische sitzt und sich mästet. Ich will empor und ich muß empor! Ich denke, daß Sie das verstehen müssen, Berting!«

Man brauchte nur in das blutleere Gesicht mit den qualvoll zuckenden Lippen, in das leidenschaftlich glühende Auge zu blicken, um zu ahnen, welcher Ehrgeiz diesen Menschen im Innersten verzehrte. Soviel auch sonst an seinem ganzen Wesen Pose sein mochte, hierin war Siegfried Silber echt, in der Weißglut des Temperaments, in diesem verzweifelten Drängen nach vorwärts.

»Sehen Sie,« fuhr Silber fort, »es ist von jeher mein Traum gewesen, eine litterarische Zeitschrift großen Stiles ins Leben zu rufen. Schon damals, als ich hinter dem Ladentisch meines Vaters den Atta Troll verschlang, schwebte mir das Blatt, dessen Chefredakteur ich einmal sein würde, in klaren Umrissen vor. Nun mit einem Male rückt mir nach soviel Misere die Möglichkeit nahe, meinen Jugendtraum zu erfüllen. Sie, Berting, haben auch Anteil an dieser Wendung meiner Umstände. Ich werde es Ihnen niemals vergessen, daß Sie mich in das Haus der Frau Hilschius eingeführt haben. Ohnedem würde ich schwerlich erreicht haben, was ich in Händen halte.«

»Der Kontrakt ist abgeschlossen?« erkundigte sich Fritz.

»Von den Parteien unterschrieben und gerichtlich beglaubigt, das Geld sichergestellt. Ein Unternehmen, so glänzend fundiert, wie es nur sein kann!«

Der kleine Mann, unfähig, seine Erregung völlig zu meistern, erhob sich, scheinbar unmotiviert, von seinem Stuhle, um sich sofort wieder zu setzen.

»Sagen Sie selbst, lieber Berting, durfte ich mir eine solche Chance entgehen lassen? Diese Mutter, die durchaus ihrem Söhnchen die Gloriole litterarischer Berühmtheit ums Haupt weben will, und dieser Marcus Hiesel, der nicht weiß, was mit den Millionen seiner Eltern anfangen – sollte man warten, bis diese Jünglinge irgend einem Gauner in die Hände laufen, der sie von der goldenen Last befreit? Mag es immerhin so aussehen, als beutete ich die Eitelkeit aus! Gut, ich nehme das Odium auf mich. Ich gedenke etwas Großes zu machen aus dieser Gründung.«

»Wie ich gesehen habe, Silber, lassen Sie Ihren Roman in der Zeitschrift erscheinen.«

»Ach ja, mein ›Ghetto‹! Dieses Schmerzenskind, das, wie Sie selbst erlebt haben, Herr Weißbleicher mir zur Verfügung gestellt hat. Aber mit diesem einen Roman und mit den Bagatellen, die mir Hilschius und Hiesel liefern, kann ich nicht auskommen. Was ich für die erste Nummer brauche, wäre eine nicht allzu umfangreiche, stark einsetzende, spannende Novelle, etwas recht in die Augen Stechendes von lebhaftem Kolorit. Am besten etwas, das den Spießbürger ärgert, damit geschimpft wird auf das neue Blatt. Ich habe an Sie gedacht, Berting; Ihr Name steht seit dem berechtigten Erfolge des ›Geschlecht‹ mit unter den meistumstrittenen der jungen Bewegung. Eine Arbeit aus Ihrer Feder würde der Zeitschrift gerade das geben, was uns fehlt: die Folie des Litterarischen. Haben Sie etwas in Arbeit?«

Fritz Berting erwiderte zögernd, er habe zwar eine Novelle angefangen, halte sie jedoch nicht für geeignet für den ›Impressionist‹.

»Ich würde pränumerando zahlen!« rief Silber lebhaft. »Ich bin so gestellt, daß ich nicht zu knausern brauche im Honorar.«

Fritz schwankte. Der Gedanke, sich in den Sold Siegfried Silbers zu stellen, war ihm noch zu ungewohnt, um sofort zuschlagen zu mögen. Auf der anderen Seite schien ihm das Anerbieten verlockender, als er es jenem gern merken lassen wollte. Bar Geld, woher es auch kam, war in seiner jetzigen Lage Hilfe in höchster Not.

»Auf welchen Umfang taxieren Sie Ihre Arbeit?«

Fritz überlegte. Was er bis jetzt fertig hatte, war seiner Schätzung nach etwa die größere Hälfte. Er nannte den Umfang in einer runden Zahl von Bogen.

»Danach würde Ihre Novelle etwa durch die fünf bis sechs ersten Nummern des ›Impressionist‹ laufen. Gerade das, was ich brauche! Können Sie mir nicht in drei Worten den Inhalt der Geschichte angeben, damit ich nur ungefähr orientiert bin, ob sie sich mit dem übrigen Programm verträgt.«

Fritz gab ihm, so gut es ihm im Augenblicke möglich war, das Skelett seiner Novelle.

»Wird ein Schlager!« rief Silber. »Nun sagen Sie mir bitte Ihren Honoraranspruch, Berting!«

Fritz wußte, daß ihn Siegfried Silber für dumm halten würde, wenn er bescheiden auftrat in seinen Ansprüchen. Er nannte den fünffachen Satz von dem, was ihm früher einmal ein berliner Blatt gezahlt hatte für einen novellistischen Beitrag und war gespannt, was der neugebackene Redakteur zu der Forderung wohl für ein Gesicht machen würde.

Siegfried Silber schloß einen Augenblick die Augen. Dann sagte er mit einem Lächeln, das den inneren Triumph nicht gänzlich zu verbergen vermochte: »Sie gestatten wohl, Berting, daß ich diese Summe etwas nach oben zu abrunde.«

* * *

Alma aufzusuchen, hatte Fritz über alledem wenig Zeit gefunden. Am liebsten noch ging er abends zu ihr, wenn er vom Schreiben müde war.

Dann saß er stundenlang in ihrem Zimmer und brütete vor sich hin. Die Lampe durfte nicht angezündet werden. Fritz wollte das helle Licht nicht; es verriet ihm allzu grausam die Veränderung von Almas Erscheinung, die nicht ausgeblieben war.

Viel gesprochen wurde nicht an solchen Abenden. Das Mädchen machte wohl manchmal den Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, erzählte von Dingen, die ihn ehemals interessiert oder belustigt hatten, von ihren kleinen Tageserlebnissen im Haus, auf der Straße, oder im Geschäft. Fritz hatte sie ja früher oftmals gebeten: »Erzähle mir etwas!« Aber wenn sie jetzt ungebeten anfing, war ein Seufzer die Antwort, oder auch ein Gähnen.

Dann schwieg Alma bedrückt, versuchte in der Dunkelheit wohl verstohlen seine Wange zu streicheln. Wenn er sich aber über die Rauhheit ihrer Hand beklagte, wagte sie es nur noch mit seinem Haar zu thun. Da konnte er die unzähligen kleinen Risse und Stiche an ihren Fingern, die von der unablässigen Näharbeit herrührten, doch nicht spüren.

Alma schluckte in seiner Gegenwart tapfer ihre Thränen herunter. Fritz gab ihr ja genug Gelegenheit, sich unbemerkt auszuweinen. Wußte sie doch, daß Thränen das sicherste Mittel gewesen wären, ihn ganz zu verscheuchen. Mehr denn je war es ihre geheime Angst, daß er sie eines Tages verlassen könne. In ihrer Macht stand es ja nicht, ihn zu binden. Es war sein freier Wille, wenn er kam. Die Klugheit der Liebe sagte ihr, daß sie gerade in dieser Zeit alles fern halten müsse, was ihm Zwang bedeuten konnte. Sowie sie ihm zu Gemüte geführt hätte, daß er Pflichten gegen sie zu erfüllen habe, wäre sie ihm doppelt lästig gefallen. Wenn sie ihm dagegen volle Freiheit ließ, zu kommen und zu gehen, wie es ihm paßte, war die Wahrscheinlichkeit ihn zu behalten am größten.

Der Zustand, in dem Alma sich befand, führte sie naturgemäß zu solcher Vorsicht. Jetzt, wo die Verliebtheit der ersten Zeit bei ihm verflogen war, blieb ihr als Waffe allein: Vorsicht. Mehr noch als für sich selbst kämpfte sie für ihr Kind, dem sie den Vater erhalten wollte. Fritz durfte sie nicht verlassen, jetzt nicht!

Sie konnte ihm nicht weiter gram sein, auch wenn er sie noch so rücksichtslos behandelte. War sie ihm doch für Großes Dank schuldig. Wie alle Frauen, die einmal glücklich geliebt haben, trug sie das Vergangene als stets gegenwärtiges Erlebnis in der Seele. Während der vielen Stunden, die sie einsam über ihrer Arbeit saß, hatte sie reichlich Muße zum Nachsinnen. Ihr wenig belastetes Gedächtnis besaß die Fähigkeit, sich jede Szene der Vergangenheit zurückzurufen, daß es war, als erlebe sie sie jetzt. Und sie wurde nicht müde, immer und immer wieder in diesen guten Erinnerungen zu kramen. Langeweile gab es nicht für Alma Lux, mochten ihre Tage äußerlich noch so monoton dahinschleichen, weil sie in der Fülle stand innerer Erlebnisse.

Die Mutterschaft begann sie stark in Anspruch zu nehmen. Instinktiv that sie, was für das Werdende gut und notwendig war, mied alles Aufreibende und Aufregende. Ein Leben, wie sie es im früheren Quartier in Gemeinschaft mit Fritz geführt hatte, wäre ihr jetzt Gift gewesen. Sie war im stillen glücklich, daß er keine Zärtlichkeit verlangte von ihr. Schon erwuchs in ihr ein neues Gefühl ihm gegenüber, jene trauliche Zuneigung des Weibes für den Vater ihres Kindes.

Ganz anders empfand Fritz. Das geheime Grauen zwar, das ihn befallen hatte, als er erfuhr, welche Folgen ihr Verhältnis gehabt, war einer gefaßteren Stimmung gewichen. Er betrachtete das, was Almas höchstes Glück war, als unabwendbares Mißgeschick.

Er wußte, daß er unritterlich handle gegen dieses arme, wehrlose Geschöpf, wenn er sie oft mit einer gewissen verzweifelten Bosheit von sich stieß. Aber er konnte nicht anders. Sie reizte ihn durch die Geduld, mit der sie seine Launen ertrug, mehr, als es Widerstand und Empörung vermocht hätten.

Es gab auch wieder Momente, wo er sie bemitleidete, wo sich etwas wie Dankbarkeit in ihm regte, der Geliebten gegenüber, die sich in schwerer Zeit so treu und anhänglich erwiesen hatte. In solchen Stunden nahm er sich dann vor, gut gegen sie zu sein und Rücksicht zu nehmen auf ihren Zustand. Dann aber, wenn sie ihn durch ein Wort, einen Seufzer, durch ihre bloße Erscheinung an das erinnerte, woran er nicht erinnert sein wollte, fühlte er etwas in sich aufsteigen, wie Wut und Haß. Mit ihren Taubenmienen hatte sie ihn betrogen. Sie hatte das uralte Adam- und Eva-Spiel in neuer Variation mit ihm aufgeführt; anders war es nicht! –

Genau wie für sie galt es für ihn, ein Kind verteidigen; wenn es auch keines war von Fleisch und Bein: sein Künstlertum. Klarer denn je sah er es jetzt, die Fortdauer dieses Verhältnisses mußte der Ruin werden seines Schaffens. Dieses stumpfsinnige Zusammenhocken, das fast einer alten schlechten Gewohnheit glich, von der man sich aus Bequemlichkeit nicht trennen will, war tief unter seinem Niveau. Es erniedrigte ihn viel mehr geistig als moralisch. Er fühlte sich nach seinen Besuchen bei Alma ernüchtert, von Selbstekel erfüllt, flügelmüde. Mochte Heinrich Lehmfink zehnmal behaupten, daß es Ehrenpflicht sei, ein Mädchen zu heiraten, das man zur Mutter gemacht; schließlich urteilte auch er eben nur als ein Fernstehender. Sagen konnte man es ihm ja nicht, selbst dem besten Freunde nicht, wie das, was früher freie Neigung gewesen, jetzt auf dem Wege war auszuarten in Last und Zwang. Wenn Lehmfink hätte verstehen können, wie im Innersten ernüchtert Fritz sich fühlte, auch er würde nicht weiter auf seinen schroffen Ansichten bestanden haben. Denn das, was der Freund als sittliche Forderung aufstellte, war recht eigentlich das Unmoralische, war Sanktion einer Verbindung, die wenigstens von einer Seite aufgehört hatte, Bedürfnis zu sein. Der illegale Verkehr der Geschlechter verstieß höchstens gegen die Gesetze des äußeren Anstandes; herabziehend und die Beteiligten entwürdigend aber war eine Liebe ohne tiefquellendes Verlangen. Die Sinnenfreude war ein für allemal verrauscht zwischen ihnen. Fritz glaubte auch nicht, daß es jemals anders werden könne.

Alma, wie sie nun einmal war, würde höchst wahrscheinlich ganz in der Mutter aufgehen, sobald sie ihr Kind an der Brust hielt. Beinahe war es schon jetzt so. Ihre Neigung hatte zwar noch die äußerlichen Gesten der früheren Zärtlichkeit, aber ob sie nicht dem Weibesinstinkt entsprangen, der sich den Vater des Kindes unter allen Umständen als Ernährer erhalten wollte? –

Fritz war innerlich schon so weit von Alma entfernt, daß er kühlen Blutes solche Vermutungen hegte.

Die einzige Rettung, die es schließlich für beide gegeben hätte, wäre Freundschaft gewesen; aber dazu fehlte als Vorbedingung jene seelische Verwandtschaft, die eine unsichtbare Verbindung herstellt zwischen ähnlich gebildeten Geistern. Geliebte konnte Alma sein, Magd, Helferin, niemals aber Gefährtin und Vertraute seines Strebens. Vor seinem innersten Erleben, vor der geheimen Schatzkammer seiner besten Gedanken, vor dem, was er selbst das »Heiligtum der Kräfte« genannt hatte, mußte sie ratlos stehen. Selbst wenn er ihr Einblick gewährt hätte, sie würde dort nichts gesehen haben, weil ihr dafür die Augen fehlten.

Menschen, die geistig auf so verschiedener Stufe standen, konnten sich höchstens mit den Oberflächen ihres Wesens berühren. Die tiefste, auf Verstehen und Ergründen beruhende Sympathie gab es für sie nicht. Zwischen ihnen stand unsichtbar eine äußerst empfindliche Grenze, die des Geschmackes. Das Vorhandensein dieser Linie wurde meist erst bemerkt, wenn es zu spät, wenn sie schon überschritten war. Und solches Versehen bedeutete, wenn auch noch so naiv begangen, immer einen Stoß in das Nervenleben des feiner empfindenden Teiles. Bis schließlich das Gemeinsame, was beide hatten, aufgezehrt ward von dem, was in ihnen feindlich und unvereinbar war.

Fritz sah diese Entwickelung ziemlich klar vor sich, während Alma, die früher wohl manchmal eine dumpfe Ahnung gehabt hatte von dem Widerspruch, der ihr Verhältnis langsam, aber sicher auseinandertreiben mußte, jetzt ihr ganzes Hoffen auf das richtete, was kommen sollte, auf ihr Kind. Sie war naiv genug, zu glauben, daß das Kind ein Band werden würde zwischen ihm und ihr. Sie konnte sich einfach nicht in die Gemütsverfassung des Mannes versetzen, der nichts tiefer verabscheute und fürchtete, als diese größte aller Verantwortungen.

Fritz Berting hatte Heinrich Lehmfink, seit ihrem Gespräche über Alma, nicht wieder gesehen. Ins Café kam Lehmfink nicht mehr, seit er außerhalb der Stadt wohnte; und den Freund aufzusuchen, mit dem er in einer gewissen Spannung auseinander gegangen war, hatte Fritz weder Mut noch Lust gehabt.

Im stillen hoffte er immer, man würde sich einmal durch Zufall auf der Straße treffen. Dann wäre es ja ein leichtes gewesen, sich dem alten Kerl anzuschließen und in harmloser Weise alles wieder ins rechte Gleis zu bringen. Aber er bekam den Freund auch nicht mit einer Nasenspitze zu sehen.

Bis ihm ein kurzer, offenbar in größter Eile geschriebener Brief Lehmfinks mitteilte: er habe durch seine Schwester Toni bedenkliche Nachrichten über das Befinden der Mutter erhalten und sei auf dem Sprunge, nach Haus zu reisen.

* * *

Frau Hilschius hatte schon vor Wochen Fritz Berting durch eine Karte davon verständigt, daß sie wieder jeden Mittwoch Nachmittag für ihre Freunde zu Haus sei. Fritz konnte sich nicht recht entschließen, dorthin zu gehen. Die Berühmtheiten, welche die schöngeistige Witwe um sich versammelte, waren ihm vom vorigen Winter her noch in schlimmer Erinnerung. Aber er wollte seine Gönnerin, von deren Freundlichkeit er mehr als eine Probe erlebt hatte, doch nicht gänzlich vor den Kopf stoßen und ging, seinem Herzen einen Stoß gebend, am nächsten Mittwoch nach dem wohlbekannten Hause.

Er fand die Räume schon ziemlich gefüllt. Viele Gesichter waren ihm bekannt. An ihrem kollegialen Lächeln erkannte er die Dichterin der »Epheuranken« wieder. Berting fühlte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihm ihren letzten Band »Immergrün« zugeschickt, und er war so unhöflich gewesen, nichts darauf zu erwidern, noch schlimmer, er war sich bewußt, nicht einmal hineingeblickt zu haben in das Buch.

Auch die langhaarigen Dichter waren zur Stelle, von denen sich übrigens einer Fritz gegenüber inzwischen als Agent einer Lebensversicherungsgesellschaft entpuppt hatte, während ihm der andere als Korrespondent einer Kartonnagefabrik bezeichnet worden war.

Die Zahl der blonden und braunen Zöpfe schien gegen die vorige Saison womöglich noch gewachsen.

Fritz durchschritt den Salon, Theophil Alois und Marcus Hiesel nur im Vorüberschreiten begrüßend. Zunächst wollte er der Dame des Hauses seine Reverenz machen. Er traf sie im letzten Zimmer mit Weißbleicher und Professor Wallberg, die beide eifrig auf sie einsprachen. Man bemerkte sein Eintreten nicht sofort, und Fritz hörte noch, wie Weißbleicher das Wort »Impressionist« in erregtem Tone wiederholte. Der Professor schien ihm zu sekundieren.

Als Fritz sich der Dame des Hauses näherte, erwiderte sie seine Begrüßung mit offenbarer Befangenheit. Weißbleicher blickte ihn giftig von der Seite an, und Professor Wallberg grüßte sehr von oben herab. Darauf eisiges Schweigen.

Da es ihm hier nicht recht geheuer dünkte, kehrte Berting in den Salon zurück, wo er der blonden Dichterin von »Epheuranken« und »Immergrün« in die Hände fiel. Sie mahnte ihn mit sanftem Schmollen an die Abmachung, wonach man hatte in Bücheraustausch treten wollen. Fritz dankte ihr zerstreut für die »schönen Gedichte«, mit deren Zusendung sie ihn hoch erfreut habe, er werde sich nächstens revanchieren. Das runde, niedliche Gesichtchen der Blondine verdüsterte sich bei seinen Worten; ganz niedergedrückt sagte sie: »Immergrün« sei ja aber eine Novelle. Worauf er zur Entschuldigung stammelte: der Band liege zu oberst auf dem Bücherhaufen, den durchzulesen er sich bestimmt vorgenommen habe.

Inzwischen hatte Fritz ein Paar dunkle Augen und eine scharfgeschnittene Nase für einen Augenblick unter einigen minder markanten Gesichtern auftauchen und wieder verschwinden sehen. Er beendete die Unterhaltung mit der gekränkten Kollegin und eilte nach jener Ecke des Zimmers, um Siegfried Silbers habhaft zu werden. Der sollte ihm erklären, was eigentlich heute hier vorgehe. Denn aus der Art, wie die Menschen, in Gruppen beisammenstehend, wisperten und sich mit gespannter Miene gegenseitig beobachteten, war zu entnehmen, daß irgend etwas Aufregendes in der Luft schwebe.

Er fand Siegfried Silber nach einigem Suchen in jenem Boudoir mit der roten Ampel, das Annie Eschauer, wenn sie hier war, so gern aufsuchte. Einer der Langhaarigen, der, welcher im Nebenberufe Agent war, stand vor ihm. Silber hielt einen Stoß Blätter in der Hand, die er eilig durchflog. Man hätte vermuten können, es handle sich um den Abschluß eines Lebensversicherungsvertrages, aber es stellte sich heraus, daß der Dichter dem Herrn Redakteur ein Manuskript angeboten hatte, über dessen Annahme soeben verhandelt wurde. Siegfried Silber faltete die Blätter zusammen, versenkte sie in seine Tasche und klopfte mit einem: »Werden wir gelegentlich einschieben!« dem Autor gönnerhaft auf die Schulter. Dann begrüßte er Fritz.

»Die Bombe ist geplatzt,« raunte er, und schob seinen Arm vertraulich unter den Fritzens. »Vorgestern abend habe ich den Prospekt des ›Impressionist‹ auf die Post gegeben, heute bringen ihn schon sämtliche Blätter. Herrn Weißbleicher mag wohl der Morgenkaffee mit dieser Zugabe schlecht geschmeckt haben. Er möchte bersten! Glaubte er doch, das hier wäre seine alleinige Domäne. Frau Hilschius, Theophil Alois seine bestzahlenden Autoren! Und dieser Marcus Hiesel, nach dessen Druckbedürftigkeit er längst geschielt hat! Dazu all die anderen, die ihm fahnenflüchtig zu werden drohen. Einer nach dem anderen kommt zu mir. Die junge Dame, mit der ich Sie vorhin in Unterhaltung sah, hat mich gefragt, ob sie mich morgen aufsuchen dürfe in der Redaktion des ›Impressionist‹. Was sagen Sie dazu? Auch sie war eine Stütze des Weißbleicherschen Verlages. Wer das gedacht hätte, damals, als er meinen Roman so sans façon ablehnte, der Protz! Jetzt beschwört er Frau Hilschius, sie solle die Geschichte rückgängig machen. Wenn's nur ginge! Ich habe mich vorgesehen! Meinen Kontrakt wirft mir Herr Weißbleicher nicht um.«

»Haben Sie meinen Namen in dem Prospekt genannt?« erkundigte sich Fritz.

»Selbstverständlich! Sie sind eines unserer Aushängeschilder.« Er kramte in seinen Rocktaschen. »Ich werde wohl eines von den Dingern bei mir haben – da!«

Fritz überflog das Programm des Blattes. An dem blütenreichen Stile war die Feder des Dichters Karol wiederzuerkennen. Man las da von der »Stickluft der Reaktion«, die ausgefegt werden müsse. Von einem »leuchtenden Fanale«, das »auf steiler Höhe weithin sichtbar aufzupflanzen« sei. Vom »Anbruch einer jungen Morgenröte des sich erneuernden Geschmackes.« Von »Befreiung der Kunst aus den Armen des impotenten Alters durch ein jugendstarkes Geschlecht.«

Nun begriff Fritz die Szene, deren Zuschauer er vorhin geworden, Weißbleichers schnaubende Wut und Professor Wallbergs giftige Erregung.

Siegfried Silber wurde von Fritz weggerufen; einige Damen wollten ihn sprechen. Er war heute der Vielbegehrte. Fritz hatte Gelegenheit, die proteusartige Wandlungsfähigkeit dieses Menschen anzustaunen. Mit einer Assurance trat er hier auf, als habe er zeit seines Lebens in ähnlichen Verhältnissen gelebt, niemals mit alten Kleidern gehandelt. Von der Häßlichkeit seines Gesichts schien er ebenso wenig eine Ahnung zu haben, wie von der Schäbigkeit seines Rockes; und wenn er sich ihrer bewußt war, so genierten sie ihn jedenfalls nicht.

Die harmlose Einmütigkeit, die ehemals im Salon der Frau Hilschius geherrscht hatte, erschien gründlich gestört. Wie in einem Bienenschwarme, der einen neuen Weisel kreieren will, schwärmte alles erregt durcheinander. Der Einbruch der Jugend war völlig überraschend für das Alter erfolgt. Professor Wallberg, früher hier tonangebend, zu dem Theophil Alois als zu seinem Meister aufgeblickt hatte, dessen sinnige Trink- und Minnelieder die jungen Mädchen auswendig gelernt, dem die langhaarigen Poeten ihre Werke in Dankbarkeit und Verehrung zugeeignet hatten; Professor Wallberg, der Mann der Ordensdekorationen und der Auflagen, der in einer Person Dichter, Feuilletonist und Kritiker war, stand heute völlig vereinsamt da. Die Königin Mode, deren verwöhntes Schoßkind er lange Zeit hindurch gewesen, hatte ihm den Rücken gewandt.

Aber Wallberg war nicht der Mann des klein Beigebens. Fritz Berting bewahrte den Wortwechsel, den er mit ihm in diesem selben Hause gehabt, in gutem Gedächtnis. Wenn einer, so war der Alte Fanatiker. Er würde gegen das von allen Seiten auf ihn einstürmende Neue trotzig den Boden verteidigen, Fuß um Fuß. So stand er da, wie ein zum Kampfe bereiter Stier, mit seinem fleischigen Nacken, seinem weißgelben Haardach, das Gesicht dunkel gerötet, jeden, der sich ihm näherte, mißtrauisch unter der goldenen Brille hervor auf seine Gesinnung prüfend.

Der Professor machte kein Hehl daraus, was er von der neuesten Gründung, die das Tagesgespräch bildete, halte. Worte wie: »secessionistisches Windei« und »litterarisches Gigerltum«, von »Grünschnäbeln«, die »noch nicht trocken« seien, sprudelten ihm im Zorne von den Lippen. Er prophezeite dem Blatte, wie der ganzen Bewegung, ein klägliches Fiasko in allerkürzester Zeit.

Fritz Berting fand, daß dem Alten die Rolle des grollenden Entthronten gar nicht so übel stehe. Jedenfalls konnte er einem mehr Sympathie abgewinnen, als Weißbleicher, aus dessen Wesen nichts sprach, als der blasse Ärger eines, der sich ein glänzendes Geschäft von einem noch Schlaueren vor der Nase hat wegschnappen lassen.

Schon konnte man den feisten Mann hin und her gehen sehen zwischen den Gruppen der sich Unterhaltenden. Er wollte den Anschluß, den er hier wohl zum ersten Male im Leben versäumt hatte, wieder einholen. Schließlich kam er auch zu Fritz und sagte, mit jener überzeugten Biedermannsmiene, die er stets aufzusetzten pflegte, wenn er log, er interessiere sich ungemein für das neue Unternehmen, das er ganz zeitgemäß finde.

Es kam nun der Augenblick, der, wie Annie Eschauer behauptete, für viele der wichtigste war an diesen schöngeistigen Zusammenkünften: das Aufgehen der Speisezimmerthür.

Nachdem der erste Andrang vorüber war, hatte sich Fritz Berting vom Buffett ein Glas Wein verschafft und ein Stück Braten und damit eine ruhige Ecke aufgesucht, von wo aus er die Gesellschaft überblickte.

Ihm fehlte Annie Eschauer. Sicherlich hätte sie zu manchem, was hier vorging, ein saftiges Wörtlein zu sagen gehabt. Ihm fehlte auch Hedwig von Lavan; sie wenigstens hatte er heute wiederzusehen gehofft.

In einer anderen Ecke saßen an einem Tische bei einander: Theophil Alois, sein Vetter Marcus und ein paar junge Mädchen. Das Wort führte der Wiener. Fritz konnte nicht verstehen, was jener flüsternd hauchte; den Mienen der Zuhörerinnen nach zu schließen aber mußte es sehr interessant sein. Sie hingen an den bleichen Zügen, dem feierlichen Augenaufschlag, den weihevollen Gesten dieses priesterlichen Jünglings. Marcus Hiesel wurde von ihnen versehen mit Speise und Trank. Denn, obgleich schwer zu glauben, auch er schien leiblichen Appetit zu haben und ihn auf dieselbe prosaische Weise zu stillen, wie gewöhnliche Sterbliche.

Während das Essen noch im Gange war, erschien Waldemar Heßlow. Er kam vom Theater, wo er zu spielen gehabt hatte.

Welch ein Unterschied gegen voriges Jahr! Selbst der schöne Waldemar erfuhr die Treulosigkeit der Mode. Heute rief sein Eintreten kaum mehr als ein: »Ach, da ist ja auch Heßlow!« hervor. Die Damenwelt, welche damals bewundernd zu seinen Füßen gesessen hatte, stand jetzt im Banne des neu aufgehenden Gestirns: Marcus Hiesel.

Mit aller Pracht seines sonoren Organes, mit der Wucht seiner herkulischen Erscheinung konnte der robuste Mime doch nicht aufkommen gegen das geheimnisvolle Etwas, das symbolisch Esoterische, das bezaubernde Fluidum, welches von dem Wesen des jugendlichen Krösus, Marcus Hiesel, ausging, über dessen Erlebnisse in Japan bereits die außerordentlichsten Sagen von Mund zu Munde geflüstert wurden.

Fritz Berting konnte sich einer gewissen Genugthuung nicht erwehren, als er in den Mienen des verwöhnten Mannes deutlich die Enttäuschung wiedergespiegelt sah über einen Empfang, der gegen die gewohnten Ovationen stark abfiel. Dieser Heßlow hatte ihm in Gedanken schon soviel unangenehme Minuten bereitet, daß er ihm eine Demütigung von Herzen gönnte.

Der Zufall wollte es, daß Waldemar Heßlow, der sich inzwischen einen Teller voll gehäuft und eine Flasche Wein verschafft hatte, auf der Suche nach einem Platze in Fritzens Nähe kam. »Ach, hier ist ja noch ein Stuhl! Darf ich mich vorstellen, mein Name . . . aber wir kennen uns ja! Herr Berting – natürlich! Welch unerwartete Freude!«

Breitspurig ließ sich der große Bursche neben Fritz nieder und begann sofort einzuhauen. Er habe einen Bärenhunger, wie immer, wenn er aufgetreten sei, sagte er. Fritz waren die breiten, kauenden Backen und das gierige Trinken ins Essen hinein widerlich.

»Wissen Sie noch, wo wir uns das letzte Mal gesehen haben, Herr Berting? – Eh!«

Fritz wußte es sehr genau. »Gehen Sie noch manchmal zu den alten Damen?« erkundigte er sich, immer in der Hoffnung, daß jener etwas ausschwatzen solle über sein Verhältnis zu Hedwig von Lavan.

»Nein!« erwiderte Heßlow. »Ich bin in diesem Winter noch nicht dazu gekommen. Unsereiner wird zuviel begehrt. Wenn ich allen Einladungen nachkommen wollte, müßte ich mich einfach zerreißen.«

Er aß und trank weiter. Fritz hätte ihn ohrfeigen mögen.

»Wer ist denn eigentlich der blasse, junge Mensch dort?« fragte Heßlow, im Kauen innehaltend. Berting folgte der Richtung, die jener mit der Gabel angab, und sah, daß er Marcus Hiesel meinte, den nach wie vor von den jungen Damen Umschwärmten.

Fritz übertrieb absichtlich die Bedeutung des jungen Wieners, dessen Mittel und Gaben er in brillantesten Farben leuchten ließ, um sich an Heßlows Ärger zu weiden.

»Ich dächte, die Gesellschaft hier wäre gegen voriges Jahr recht zurückgegangen,« sagte der schöne Waldemar in mißmutigem Tone plötzlich. »Was meinen Sie, wollen wir das Lokal mit einem anderen vertauschen?« –

Berting hätte unter gewöhnlichen Umständen sich kaum zu einem tête-à-tête mit Waldemar Heßlow gedrängt; heute beschloß er, seinen Widerwillen gegen den Prahlhans überwindend, sich ihm anzuschließen. Unter allen Umständen wollte er von ihm etwas erfahren über sein Zusammensein mit den Damen Tittchen und Hedwig in Interlaken.

Sie gingen gemeinsam fort, ohne mit Abschiednehmen viel Zeit zu versäumen, und suchten ein nahes Bierlokal auf.

Fritz mußte zunächst eine Auseinandersetzung anhören über das deutsche Schauspiel. Sie bestand kurz gesagt darin, daß das gesamte Theaterwesen einen Mittelpunkt hatte, der Waldemar Heßlow hieß. Um ihn drehte sich alles: Direktion, Regie, Publikum, Kritik.

Eine Weile hörte sich Fritz das mit verhaltenem Spott an, dann eine Pause benutzend, die jener zum Trinken machte, erkundigte er sich nach den Leibesübungen des Mimen, in denen Heßlow, wie bekannt, groß war.

Sowie dieses Thema angeschlagen wurde, zeigte der Mann ein völlig verändertes, weit natürlicheres Wesen. Er ließ das Prahlen unterwegs, sprach mit jener Sachlichkeit, welche gründliche Kennerschaft giebt.

Berting hatte immer schon vermutet, daß Waldemar Heßlow zu den vielen gehöre, die ihren Beruf verfehlt haben; heute wurde ihm diese Ansicht bestätigt.

Es war ein leichtes, ihn nun auf seine Alpenreise vom vorigen Sommer zu bringen. Zu Fritzens Staunen erklärte Heßlow, er sei dabei nicht auf seine Rechnung gekommen. Richtige Hochtouren hätte er mit Fräulein von Lavan gar nicht unternehmen, nur Anfängerberge machen können. Frauenzimmer sei nun einmal Frauenzimmer! Er werde sich hüten, sich im Berner Oberland wieder mit Damen zu belasten. Nächsten Sommer wolle er in die Hohen Tauern gehen, aber allein. Und er fing an, von den Gletschern und Gipfeln zu schwärmen, die er dort »zu machen« gedachte.

Hedwigs Name wurde nicht weiter genannt zwischen den beiden. Fritz sah nach und nach ein, daß seine Unruhe unnötig gewesen sei. Er war mit seinem Verdacht gegen die beiden auf falscher Fährte gelaufen. Vielleicht wurde Heßlows Gefährlichkeit überhaupt stark überschätzt. Kein Zweifel, er gehörte zu der Klasse von Männern, die einen gewissen Eindruck machen, besonders auf junge Mädchen. Und sicherlich ließ er sich weibliche Verehrung gern gefallen – wie Fritz an der bewußten Hinterpforte des Theatergebäudes selbst hatte feststellen können. – Zum systematischen Ausnutzen solchen Erfolges aber war der schöne Waldemar wohl zu schwerfällig und zu bequem.

Heßlow hatte nichts in seinem Wesen vom professionellen Verführer der Weiber. Er war ein großer, gutmütiger, robuster, denkfauler Bursche, temperamentlos, mit einer tüchtigen Portion naiver Eitelkeit und mit einem enormen Trinkvermögen begabt.

Über die ausgiebige Art, wie er seinen Durst löschte, hatte Fritz an diesem Abend noch Gelegenheit zu staunen.

* * *

Hedwig von Lavan hatte an Fritz Berting geschrieben: der Arzt habe Tante Amanda nun wirklich nach dem Süden geschickt. Gestern sei sie, begleitet von Tante Ida und einer Krankenwärterin, nach Kairo abgereist. Sie selbst, Hedwig, bleibe vorläufig hier mit Mädchen und Köchin.

Dem war noch die Bitte hinzugefügt, Herr Berting möge sie doch bald einmal besuchen, er sei ihr ja noch das Urteil über ihr Manuskript schuldig.

Fritz war von dem Briefe wunderlich berührt. Es schien ihm nicht ganz klar, was das Mädchen eigentlich mit soviel Entgegenkommen bezwecke.

Was Michael Baron Chubsky im Absinthrausche von ihr gefabelt hatte, war auf Fritzens Einbildungskraft nicht ohne Einfluß geblieben. Besaß sie wirklich von jenen dämonischen Eigenschaften, die der Pole in ihrem Wesen gelesen haben wollte, auch nur ein Gran? –

Sie gab ihm ewig Rätsel auf. Auch dieser Brief bei aller Knappheit enthielt solche Rätsel. Welch ein Zeichen von ungewöhnlichem Vertrauen, ihn in Abwesenheit der Tanten zu sich einzuladen! Oder war es mehr als Vertrauen? Wäre der Wunsch, von ihm über ihr Manuskript zu hören, vielleicht nur ein Vorwand? Aber wozu der Vorwand? –

Nach einigen Tagen des Schwankens ging er zu ihr.

Hedwig war ausgegangen. Aber die pausbäckige Zofe ließ Fritz nicht fort. Das gnädige Fräulein habe gesagt, wenn Herr Berting komme, solle er in ihr Zimmer gewiesen werden. Sogar ein Buch hatte sie bezeichnet, in welchem er lesen könne, bis sie wieder käme.

Neugierig schlug er den dünnen Band auf, der auf Hedwigs Schreibtischplatte seiner gewartet hatte. Es war Paul Verlaines bonne chanson. Fritz entsann sich, mit ihr einmal von diesem Dichter gesprochen zu haben. Er hatte damals wohl gesagt, daß er leider nur wenig von Verlaine kenne. Wie gut sie sich das gemerkt hatte! Und welch liebenswürdige Vorsorge, ihm das Buch herauszulegen! –

Er fand jedoch nicht Zeit, sich in das Bändchen zu vertiefen, denn Hedwig kam bald von ihrem Ausgang zurück.

Sie begrüßte ihn sehr entgegenkommend, und er hatte vom ersten Augenblicke an das angenehme Gefühl, daß sie sich über seine Anwesenheit freue. Überhaupt kam es ihm vor, als ob ihr Wesen zugänglicher und offener geworden sei. Es lag wohl auch daran, daß die Tanten nicht da waren, deren Ängstlichkeit sie und ihn häufig in eine schiefe Lage gebracht hatte. Hedwig sagte es selbst frei heraus, daß sie froh sei, diesen lächerlichen Zwang auf einige Zeit los zu sein. Tante Ida hätte ihr beim Abschied strenge Verhaltungsmaßregeln gegeben und sogar den Hausarzt beauftragt, sie zu beaufsichtigen. Aber diesem Alten gedenke sie ein Schnippchen zu schlagen; sie wolle ihre Freiheit genießen.

Fritz mußte für die nächste Mahlzeit dableiben. Sie saßen einander am Eßtisch, den Hedwig hatte zusammen schieben lassen, gegenüber. Das pausbäckige Mädchen bediente. Es gab ein kleines Diner von auserlesenen Gerichten. Vor ihnen stand in entzückender Topfhülle ein blühendes Gewächs, welches das ganze Zimmer mit Duft erfüllte. Hedwig von Lavan hatte es verstanden, im Handumdrehen dem bisher völlig stillosen Hausstand der philiströsen, alten Jungfern intime Stimmung zu verleihen.

Nach Tisch saß man in ihrem Zimmer. Aus allerliebsten, goldumränderten Meißener Tassen, die mit Familienbildnissen geschmückt waren, wurde Mokka getrunken. Die Tanten hatten diese Tassen als geheiligte Gegenstände im Glasschrank aufbewahrt; Hedwig, minder pietätvoll, konnte nicht einsehen, warum sie dort verstauben sollten, und nahm sie zum täglichen Gebrauch. In einem silbernen Kästchen, einem der wenigen Andenken, das Hedwig von ihrem Vater besaß, führte sie türkischen Tabak, aus dem sie sich Cigaretten drehte. Auch der Gast wurde dazu aufgefordert.

Fritz benutzte die Vertraulichkeit der Stunde, ihr von ihrer Novelle zu sprechen. Obgleich nun schon Wochen vergangen waren, seit er sie in Händen gehabt, war ihm der Inhalt doch so gegenwärtig, als habe er sie gestern gelesen. Er bat sich das Manuskript aus. Hedwig holte es aus dem Schreibtisch herbei. Fritz ging Seite für Seite mit ihr durch, machte seine Ausstellungen, brachte Bedenken vor, gab Ratschläge zur Änderung. Er schonte sie nicht, gerade weil er von dem Vorhandensein wirklichen Talents bei ihr überzeugt war.

Hedwig saß ihm gegenüber und beobachtete ihn aufmerksam. Sie wandte nicht viel ein, aber ihren nachdenklichen Mienen war anzusehen, daß sie ganz bei der Sache sei und jedes seiner Worte erwäge.

Fritz ließ die Bemerkung fallen, er glaube, sie werde gewisse Fehler des Anfängertums abstreifen, sobald sie erst etwas von sich gedruckt sehen würde. Lebhaft fiel ihm Hedwig ins Wort: sich gedruckt zu sehen, sei ja ihr sehnlichster Wunsch; aber sie kenne die Wege nicht, um das zu erreichen.

Also das war ihr Ehrgeiz! Eigentlich hätte man es sich ja denken können, daß, wer etwas so Intimes kühn aus sich herausgestellt hatte, wie sie es in dieser Novelle gethan, auch den Mut besitzen würde, damit vor die Öffentlichkeit zu treten.

Fritz Berting sann über den Fall nach. Zu Weißbleicher gehen? – Er würde seiner bekannten Geschäftspraxis nach von einem jungen Autor, einer Dame noch dazu, sicherlich eine Kautionssumme verlangen, ehe er druckte. Aber warum denn die Novelle nicht dem »Impressionist« übergeben? – Siegfried Silber besaß Witterung genug für alles Aufsehenerregende. Er würde mit beiden Händen greifen nach einer Sache, die ein starker Beweis von nicht gewöhnlicher Originalität war.

Als er Hedwig von dem neuen Unternehmen erzählt hatte, erklärte sie sich sofort einverstanden damit, ihre Novelle dorthin zu geben.

Von da ab ging Fritz Berting oft zu Hedwig von Lavan. Gewöhnlich bat ihn das junge Mädchen, wenn er sich verabschiedet, daß er am nächsten Tage wiederkommen möge. Er kam und wurde schließlich täglicher Gast bei ihr.

Sie arbeitete ihre Novelle um, die Winke benutzend, die er ihr gegeben hatte. Und während sie am Schreibtisch über ihren Bogen saß, nahm er gern einen französischen Band zur Hand. Sie hatte eine kleine, auserwählte Kollektion Lyriker von ihrem Vater ererbt, in der hauptsächlich die Parnassiens vertreten waren. Bald nippte Fritz an den feingeschliffenen Versen Soularys, oder er versenkte sich in den dunkleren Sully Prudhomme. Sein Liebling aber wurde Baudelaire, der göttlich freche Künder noch nie zuvor ausgeplauderter Heimlichkeiten der Poetenseele.

Es wurde bald zur feststehenden Einrichtung, daß er zu einer bestimmten Stunde am Vormittage kam. Je nach Laune unterhielt man sich dann, oder sie arbeitete, und er las. Manchmal auch trug Hedwig aus freien Stücken Gedichte vor. Verse von Paul Verlaine mußte man aus ihrem Munde hören! Sie las ohne Pathos, schmucklos fast, mit leicht verschleierter Stimme, wie im Selbstgespräch, jenen etwas monotonen Rhythmus des französischen Verses mit seinem melancholischen Grundton unübertrefflich wiedergebend.

Fritz hatte jetzt Zeit im Überfluß. Seine Novelle war fertig; er las bereits Korrekturen für den Abdruck im »Impressionist«. Er befand sich wieder einmal in einer jener lassen Stimmungen des Unbeschäftigtseins, wo er sich sonst so fürchterlich zwecklos vorzukommen pflegte.

Der Umgang mit einem hochkultivierten Menschen, wie Hedwig von Lavan, war gerade das, wessen er in solchem Zustande bedurfte. Diese fabelhafte Vorurteilslosigkeit und Selbstsicherheit, der angeborene, gute Geschmack, der aus allem sprach, was sie that, waren so unendlich wohlthuend. Das einfachste Kleid schien Stil zu bekommen, weil sie es trug. Eine Blume, die sie ausgesucht hatte, gab dem ganzen Raume sofort etwas Apartes. Eine zweideutige Stelle, unmöglich scheinbar im Munde einer Dame, ward gewissermaßen neutralisiert durch ihren Vortrag.

Es ging ein unbestimmbarer, höchst raffinierter, fast musikalischer Reiz von ihr aus. Ihre Nähe entzündete nicht unmittelbar die Sinne; sie wirkte einem Kunstwerke ähnlich, versetzte höhere, kompliziertere Saiten des Empfindens in Schwingung. Ein ästhetisches Behagen, frei von jeder Begierde, empfand man vor ihr. Sie machte an gewisse herbe, übersinnliche Jungfrauengestalten denken in den Bildern der Präraffaeliten.

Das, was Michael Baron Chubsky ihr angemerkt haben wollte von »Luxurie der Sinne«, war wohl auf seine Dekadenten-Phantasie zurückzuführen, die überall Hautgout witterte und morbide Gelüste.

Fritz überwachte sie genau. Nichts in ihren Blicken, ihren Gesten, ihrem Gange hätte man als herausfordernd bezeichnen können. Sie war ungeniert in allem, was sie sagte und that, von jener über alle Prüderie erhabenen Freiheit des Wesens, die auf Selbstbewußtsein und Beherrschung der Formen ruht.

An Erlebnisse, wie sie ihr der Pole zugetraut hatte, wollte Fritz nie und nimmer glauben. Ihre einstmalige Schwärmerei für Waldemar Heßlow war jedenfalls durch eine Geschmacksverirrung zu erklären, wie sie bei einem ganz jungen Mädchen wohl vorkommt. Jetzt hörte und sah man nichts mehr davon. Weder ging Hedwig abends ins Schauspiel, noch kam Heßlow zu Besuch. Beides wäre in dieser Zeit, wo die Tanten nicht da waren, ja doppelt leicht ausführbar gewesen. Der schöne Waldemar schien eine Episode in ihrem Leben, die abgethan war.

Berting sprach zu den ungewöhnlichsten Tageszeiten bei ihr vor, mit Absicht; er fand sie fast immer zu Haus. Und zu empfangen schien sie niemanden anders als ihn. Einmal kam der Hausarzt der Damen Tittchen, der ihr von den Tanten als Wächter bestellt worden war. Da mußte Fritz einstweilen in das nach hinten gelegene Eßzimmer gehen, während Hedwig den alten Herrn vorn empfing. Als sich der Arzt nach kurzem Besuch entfernt hatte, lachten beide herzlich über das gelungene Abenteuer.

Tante Ida hatte schon einige Male von der Reise aus geschrieben, die sie, um Amanda zu schonen, in Etappen zurückgelegt hatten. Nun waren sie in Kairo angelangt. Das alte Mädchen klagte in ihren langen, umständlichen Briefen über die teuren Hotels und die Schrecken der Seefahrt. Zwischendurch erkundigte sie sich nach der Küche und den Vorräten, nach den Nippsachen, nach ihrem Goldfisch, den Familienbildern, dem Kanarienvogel und den Dienstboten. Ob Hedwig denn auch alles genau innehalte, was ihr aufgetragen sei, war eine häufig wiederkehrende Frage.

Wenn Ida Tittchen geahnt hätte, wie es derweilen in ihrem sorgfältig gehüteten Altjungfernheim zuging! –

Hedwig von Lavan hatte die Wohnung völlig umräumen lassen. Von den Sofas und Armstühlen waren die gehäkelten Netze, von den Tischen und Kommoden die Decken und Deckchen entfernt worden. Einige der schrecklichsten Gegenstände wie künstliche Blumen, grelle Tapisseriearbeiten, der Ballon mit dem einsamen Goldfisch, die Majolikavasen, Attrappen aus Papiermaché, imitierte Bronzen und Japanfächer waren in die Hinterzimmer verschwunden. Der große Salon war seit dieser Ausmerzung ein ganz wohnlicher Raum geworden.

Fritz hielt sich viel dort auf. Es war seine Liebhaberei, wenn er meditierte, mit großen Schritten auf und ab zu gehen, nach Belieben stehen zu bleiben, sich in einen Stuhl zu werfen, oder auch, wenn die Gedankenarbeit nicht vorwärts rücken wollte, in einem Buche zu blättern, ja sich irgend einer ganz mechanischen Beschäftigung hinzugeben. Einen solchen Luxus der Bewegung hatte er sich freilich in der letzten Zeit nicht gönnen dürfen, aus Mangel an Raum. Hier brauchte er sich keine Beschränkung aufzuerlegen.

Ganze Vormittage verlebte er in dem Salon. Nebenan saß Hedwig vor ihrem Manuskript, die Cigarette neben sich, aus der sie während des Arbeitens ab und zu einen Zug that.

Man lebte in wundervoller Ungeniertheit als gute Kameraden neben einander. Die Dienstboten störten sie nicht mit Neugier. Das pausbäckige Mädchen empfing Herrn Berting an jedem Tage mit demselben verständnisvollen Lächeln, das sie von Anfang an für ihn gehabt hatte.

Ein einziges Wesen in der ganzen Wohnung schien nicht einverstanden mit dem Treiben der jungen Leute. Das war ein Bild an der Wand. Eine von den Biedermeierdamen im Salon, überlebensgroß gemalt, sah aus, als wolle sie jeden Augenblick herniedersteigen aus ihrem Goldrahmen und eine vernichtende Moralpredigt halten über die Sittenverderbnis der Jugend.

Es war eines jener En face-Bildnisse, bei denen einem die Augen zu folgen scheinen, wohin man sich immer begiebt im Zimmer. Als Porträt war es nicht etwa schlecht, im Gegenteil, äußerst charakteristisch und von schreiender Lebenswahrheit.

Ein volles Gesicht auf breitem Unterkinn wie auf einem Postament ruhend. Herabhängende Mundwinkel, schlaffe Wangen, eine knopfige Nase, runde, hochgezogene Brauen, flachliegende Augen, die leer und erstaunt in die Welt hinausblickten. Das angeklebte Haar von dunkler Farbe, bogenförmig die niedere Stirn umspannend. Der dicke Kopf von einem eng geflochtenen Zopf überragt, wie eine bauchige Terrine mit Knauf. Das Gelungenste aber an dem Porträt war eine Hand, welche, das Geheimnis des Busens prüde verhüllend, über dem Herzausschnitt des Kleides lag. Eine fette, vulgäre Hand mit kurzen, beringten Fingern, die von dem Maler mit Liebe bis in das kleinste Fältchen hinein ausgeführt worden war.

Fritz hatte geradezu eine Art persönlichen Verhältnisses gewonnen zu der Dame. In ihrer gespreizten Würde, ihrer satten Selbstgerechtigkeit, ihrer philiströsen Beschränktheit gab dieses Weib irgend eines braven Pfahlbürgers der dreißiger Jahre den Typus einer ganzen Epoche in bestürzender Ähnlichkeit wieder.

Hedwig hatte sich auch schon über das Bild belustigt; sie nannte die dicke Dame mit dem erstaunt entrüsteten Ausdruck ihren ›Schutzengel‹.

 

Die erste Nummer des ›Impressionist‹ war inzwischen herausgekommen. Äußerlich machte die neue Zeitschrift einen ausgezeichneten Eindruck. Der Inhalt jedoch wies bedenkliche Ungleichheiten auf.

Eröffnet wurde die Nummer mit einem Aufsatze des Redakteurs, »Der Staat als Mäcen«, in welchem Siegfried Silber den Regierungen und den leitenden Kreisen vorwarf, daß sie genau wie auf sozialem Gebiete auch auf dem der Kunstfürsorge mit doppeltem Maß und Gewicht arbeiteten. Ähnlich wie der Sozialdemokrat von ihnen als Bürger zweiter Ordnung betrachtet werde, so sei in ihren mißtrauischen Augen der Künstler, welcher auf neuen Wegen neuen Zielen zustrebe, von vornherein staatsgefährlicher Absichten verdächtig. Man unterscheide auch hier konservative und umstürzlerische Richtung und verteile danach Begünstigung oder Unterdrückung. Der Verfasser belegte seine Behauptungen mit Beispielen. Konfiskationen von naturalistischen Romanen hatten stattgefunden, ein Aufsehen erregender Prozeß war geführt worden gegen eine Unzahl Dichter der unliebsamen Richtung. Als Gegenstück dazu wurden Beweise von Gunst: Beförderung, Ordensdekorationen aufgeführt, die von hoher Stelle auf solche Autoren herabregneten, welche ihre Feder in den Dienst höfisch-dynastischer Interessen stellten.

Der Aufsatz, in gepfeffertem Stile geschrieben, durch und durch polemisch, wäre weit eher für ein politisches Parteiorgan geeignet gewesen als für ein Blatt, das in erster Linie ästhetisch-künstlerischen Interessen dienen wollte. Ein bedenklicher Mangel von Geschmack und Takt offenbarte sich sofort bei dem ersten Schritt in die Öffentlichkeit.

Dann kam ein Stück von Fritzens Novelle und im Anschluß daran ein Kapitel aus Karol-Silbers »Ghetto«. Diese beiden Abschnitte nahmen ihrem Umfange nach weit über die Hälfte des ganzen Heftes ein und beeinträchtigten einander, wie es Fritz wenigstens erscheinen wollte, durch das Zuviel von Erzählung.

Sprüche von Marcus Hiesel und Lyrik von Theophil Aloys Hilschius machten den Beschluß. Die Leistungen dieser beiden Jünglinge waren auf denselben Ton gestimmt. Die Form aphoristisch, fragmentarisch. Aussprüche prophetischer Weltweisheit in mystisch barocker Sprache. Ein ekstatisches Lallen, hinter dessen gesuchter Müdigkeit und geheimnisvoller Wichtigthuerei sich nur für den Naiven Tiefsinn verbergen konnte. Mit Gedankenstrichen zwar hatten die beiden Dichter nicht gespart, Gedanken aber suchte man bei ihnen vergebens.

Fritz Berting war enttäuscht von diesem ersten Hefte. Nicht einmal an dem eigenen Beitrag konnte er reine Freude empfinden. Das hatte er nun vor kurzem, vor einigen Wochen erst, niedergeschrieben und schon genügte es ihm nicht mehr, weder nach Form, noch nach Inhalt. So schnell war ihm noch niemals eines seiner Werke fremd geworden.

Er glaubte auf einmal einen schon längst geahnten Mangel seines ganzen dichterischen Schaffens zu verstehen; seine Kunst war viel zu sehr Oberflächenkunst. Was hatte er hier gethan? Ein persönliches Erlebnis, das mit Ludwig Glück, ausgestaltet. Es war das altbewährte Rezept des Romanciers, ein Stück Alltagsleben herzunehmen, den Stoff nach einem wohldurchdachten Plane zurechtzuschneiden und die Fabel möglichst klar, folgerichtig, wahrscheinlich und packend herauszuarbeiten.

Konnte das die höchste Aufgabe des Dichters sein? Klebte dieser rationellen Art des Schaffens nicht doch etwas an vom Handwerk? Blieb hier der Sänger nicht tief in dem stecken, worüber er sich erheben sollte: in der Prosa? –

Man mußte noch viel, viel tiefer bohren können! Es mußte eine Sonde geben, mit der man vordringen konnte bis zu den Gebieten, die in der Seele als unbebautes Neuland des Ackersmannes harrten. Wenn es gelänge, hinabzutauchen bis zu jenen stillen, dem Auge entrückten Reservoiren der Menschennatur, wo alle Triebe ruhten, friedlich wie die Kindlein in dem Teiche, aus dem sie der Storch holte. Dort, wo es kein Gut und Böse gab, von woher Liebe, Verbrechen und Träume, aber auch alle Kraft stammte, aus dem Dunkel des Physischen. Das unbewußte Ich, nicht das denkende und handelnde, sollte zu Worte kommen. Das primitive, pflanzenhaft animalische Sein, das Keimbeet aller Anlagen, Instinkte und Leidenschaften, sollte seine Geheimnisse hergeben.

Aber dazu genügte die Form der Prosaerzählung nicht. Damit konnte man analysieren, einen Fall, einen Charakter ausschälen und klar umrissen hinstellen wie eine schwarz-weiße Zeichnung, logisch vieles glaubhaft machen, aber nicht konnte man das Gemüt in jene allerfeinsten rhythmischen Schwingungen versetzen, in denen es, befreit von der Schwere erklügelter Gedankengänge, der Materie entrückt, seiner selbst genießen durfte, hingegeben an primitive Glücksgefühle, aufgelöst in die Urnebel der Schöpfung.

Solche Wunder vermochte neben der Musik nur die Lyrik zu wirken. Fritz Berting kehrte zu seiner alten Liebe zurück: zum Verse.

Das war es, was schon seit Wochen in ihm gearbeitet, was ihn beglückt, gepeinigt und ihn wie Träume, deren verfließenden Inhalt man gern im Gedächtnis bannen möchte, tief beunruhigt hatte. Nun wußte er, warum er zur nüchternen Arbeit in diesen Tagen so völlig unfähig gewesen war. Das Neue hatte ihm wie ein aufsteigender Weinrausch im Blute gelegen.

Es kam aus Tiefen, zu denen das bewußte Erkennen nicht hinabzudringen vermochte. Wie mit Stimmen sprach es zu ihm, als flüstere die eigene Seele einem etwas ins Ohr, als sei das Ich gespalten, und die beiden Teile hielten Zwiesprache mit einander, vereinigten sich verschämt und zeugten gemeinsam das Neue.

Oder wie Meereswellen war es auch, die herangezogen kamen in langer Linie aus der Unendlichkeit an sein Ufer, Kamm hinter Kamm, ohne Anfang und Ende. Und er fing etwas von der Flut ewiger Gefühle auf in das kleine Gefäß, das ihm, er wußte nicht von wem, in die Hand gegeben worden war.

Schon lange hatte sich das in ihm vorbereitet. Als er in Gesellschaft des Zarathustraliedes auf hoher See gereist war, hatten sich die ersten zuckenden Kindesbewegungen gemeldet, die ihm verkündeten, daß er empfangen habe. Dann drängten sich allerhand peinliche Erlebnisse dazwischen, schreckten die schüchternen Keime mit rauhem Wirklichkeitswinde zurück.

Nun brach es auf einmal aus ihm hervor wie Krystalle. Die fernen Töne sammelten sich zu Melodieen, nach einem rhythmischen Gesetz, das aus ihnen selbst zu stammen schien. So entstanden Reime, Strophen, Gedichte.

Noch niemals hatte er so geschaffen, nachtwandlerisch sicher und doch auch wieder gebunden, nur wiedergebend, was eine stärkere Hand auf ihm spielte. Gleichsam tönend wie eine Äolsharfe, der der Atem des Himmels melodische Klänge entlockte.

* * *

Heinrich Lehmfink schrieb ihm, daß seine Mutter heimgegangen sei. Fritz wußte, wie der Freund an der alten Frau gehangen hatte. Er schrieb im herzlichsten Tone, der ihm zu Gebote stand, einen Beileidsbrief.

Dieses Ereignis riß ihn aus dem Zustande augenblicklicher Benommenheit, indem es ihn daran erinnerte, daß es außer Stimmungen und Träumereien auch harte Wirklichkeit giebt in der Welt. Nachdem er einige Tage in der Seele des Freundes getrauert hatte, gewannen jedoch die früheren Interessen wieder die Oberhand: seine Verse und Hedwig von Lavan.

Er war eben auf dem Wege zu ihr und suchte die Schaufenster der Blumengeschäfte ab nach einer recht originellen Orchidee; denn er wußte, daß Hedwig an nichts mehr Entzücken hatte als an diesen kapriziösesten aller Luxusblumen, als ihm plötzlich auf derselben Straßenseite Alma entgegenkam.

Das Mädchen sah ihn nicht, ging langsamen Schrittes vor sich hinblickend.

Fritz hatte kein gutes Gewissen Alma gegenüber, die er in den letzten vierzehn Tagen überhaupt nicht aufgesucht hatte. Noch wäre es Zeit gewesen, unbemerkt in den Blumenladen zu entkommen, vor dem er gerade stand; doch überlegte er sich's anders. Er wollte etwaigen Vorwürfen die Spitze abbrechen, indem er Alma begegnete, als sei nichts geschehen.

Das Mädchen stieß einen Ruf leichten Erschreckens aus, als er ihr den Weg verstellte. Über und über errötend, blieb sie stehen, hielt seine Hand fest. Es fehlte nicht viel, und sie wäre ihm auf offener Straße um den Hals gefallen. Mit zitternder Stimme rief sie ein paar Mal seinen Namen.

Ihr Benehmen berührte ihn peinlich. Dieser thörichte Überschwang der Gefühle, dieses Sich-nicht-beherrschen-können! Daß sie es nicht lernte, Grenzen zu empfinden! Immer noch dieselbe Verliebtheit wie am ersten Tage. Was sollte daraus werden?

Er ging neben ihr her, indem er sich ihrer Richtung anschloß. »Wo wolltest du hin?« fragte er, nur um etwas zu sagen.

Sie zögerte mit der Antwort. Er las Verwirrung in ihren Mienen. Dann sagte sie leise: »Ich dachte an Ludwig Glück. Es ist so traurig, immer allein zu sein mit seinen Gedanken, da du gar nicht mehr zu mir kommst. Deshalb wollte ich an sein Grab gehen. Er hat es auch nicht gut gehabt im Leben.«

Mehr noch als der Sinn der Worte sagte ihm ihr Ton, in welchem Zustand der Trostlosigkeit sich Alma befinde. Eine Stimmung von Mitleid überkam ihn jäh. Doch sagte er nichts davon zu ihr.

Eine ganze Weile schritten sie nebeneinander her. Mit einem scheuen Seitenblicke stellte er fest, wie sehr sie sich während der letzten Zeit verändert hatte. In dem kurzen, eng anliegenden Winterjackett erschien ihre Figur geradezu entstellt. Auch dem Gesichte hatte ihr Zustand nunmehr seine unverkennbaren Merkmale aufgeprägt.

Fritz empfand jenes mit Furcht gepaarte Gefühl ästhetischen Unbehagens, das ihm die Erinnerung an Almas Mutterschaft immer wieder verursachte. Es erschien ihm, als ob alle Menschen auf sie blickten, ja, er glaubte Spott in den Mienen der Vorüberschreitenden zu lesen.

Das war unerträglich! Er schlug vor, daß sie den weiten Weg nach dem Kirchhofe fahre; ein Droschkenhalteplatz sei nahe, er könne ihr eine zweiter Klasse besorgen.

»Aber du kommst mit, Fritz, nicht wahr?« bat sie. Und die Augen, mit denen sie ihn dabei ansah, aus ihrem gedehnten, bleichen Gesichte, hatten etwas so angstvoll Flehendes, daß er es nicht übers Herz brachte, zu sagen, er habe keine Zeit.

Sie hatten eine lange Fahrt. Der Weg war schlecht, und der Kutscher nahm sich Zeit.

Alma benutzte die Gelegenheit, wo sie den Geliebten nach längerer Zeit einmal wieder so nahe hatte, um sich dicht an ihn zu schmiegen. Sie wollte ihn küssen, aber er wehrte ihr ab. Das sei gegen die Verabredung, meinte er, einen frostigen Scherz versuchend.

Sie nahm darauf seine Hand, preßte sie erst gegen ihr Herz, dessen heftige Schläge er durch ihre starke Kleidung hindurch fühlte. Dann, in einer jähen Wallung, drückte sie ihre Lippen heftig auf seine Hand.

Fritz wurde böse, drohte auszusteigen, wenn sie sich nicht anders benehme. Alma versprach, vernünftig sein zu wollen. Sie bat ihn, das Fenster zu öffnen, da sie vor Hitze umkomme. Ihr Gesicht war in der That dunkelrot. Fritz öffnete beide Fenster.

Es war ein unfreundlicher Wintertag, ohne Schnee und ohne Sonne. Der Himmel einer Bleidecke gleich. Graue, gelbe, braune Farben, kein lebhafterer Ton, kein Duft, keine Ferne, harte Konturen, schwere, nahe, drückende Massen. Eine Beleuchtung, wie sie charakteristisch ist gerade für dieses Städtebild, so, wie Canaletto es wiedergegeben hat.

Die Fahrt schien endlos. Aus einer winkeligen Gasse bog man in die andere. Fritz blickte mit Absicht zum Fenster hinaus. Die Rauhheit, mit der er Alma vorhin abgewiesen hatte, that ihm leid. Er wollte ihr nicht ins Gesicht blicken, um nicht weich zu werden. Gefühlsduseleien, das hatte er sich vorgenommen, sollten zwischen ihnen nicht mehr vorkommen.

Auf einmal kamen ihm die Häuser, die Schaufenster, die Firmenschilder so bekannt vor. Sie fuhren durch die Straße, in der er mit Alma gewohnt hatte. Das Pflaster war noch genau so holperig, die Thüren eng, die Häuser unregelmäßig und niedrig und die Menschen echte Vorstadterscheinungen wie damals.

Ob Alma gemerkt hatte, wo sie sich befanden? Er sah nach ihr hin. Sie saß da, aufrecht, mit großen Augen, denen die Thränen entstürzen wollten. »Fritz – dort oben!« sagte sie mit halberstickter Stimme, als man an dem Hause vorbeikam, in welchem sich das wichtigste Ereignis ihres Lebens vollzogen hatte.

Er wehrte ihr nun nicht mehr, als sie den Kopf gegen seine Schulter lehnte und in krampfartiges Weinen ausbrach.

Alma beruhigte sich oberflächlich, als man an der Kirchhofspforte hielt. Mit geröteten Augen und Thränenspuren auf den Wangen stieg sie aus. Aber an dieser Stätte fielen Zeichen des Kummers nicht auf. Ein Händler bot ihnen Grabschmuck an. Fritz kaufte einen Kranz, den er Alma übergab. Dann betrat man den Kirchhof, wo sie die Führung übernahm.

Fritz kam sich wunderlich genug vor bei solchem Gange. Was hatte er mit Ludwig Glück schließlich Gemeinsames gehabt? Das Bindeglied zwischen ihnen war doch nur Alma gewesen. Glich es nicht einer Geschmacklosigkeit, das Grab dieses Menschen aufzusuchen?

Alma schien den Kirchhof genau zu kennen. Sie führte Fritz auf Kreuz- und Querwegen durch das Labyrinth des Gräberfeldes zu einem neueren Teile, der mit seinen unzähligen, flachen Hügeln einem frisch aufgebrochenen Ackerfelde glich.

Vor einer der langen Furchen machte Alma Halt. Ludwig Glücks Grabstätte war eine der wenigen in dieser Gegend mit einem Denkstein. Der Name stand darauf und: »Auf Wiedersehen!« Immergrün war angepflanzt, und Blumen in verschiedenen Stadien des Verwelkens lagen auf dem Hügel. Die Stätte machte den Eindruck, als ob sie nicht selten aufgesucht und mit Liebe gepflegt werde.

Fritz verließ nach kurzem Aufenthalt den Platz, sah sich in der Nähe um, es Alma überlassend, am Grabe vorzunehmen, was immer sie mochte. Ihm erschien der Totenkult hier besonders widersinnig. Er dachte an das wunderliche Geschick des armen Kerls da unten, dem nun, wo er nichts mehr davon empfand, auf einmal eine Neigung zuteil wurde, um die er zeitlebens erfolglos geworben hatte.

Alma jedoch nahm ihre Trauer ganz ernst. Fritz sah sie an dem Grabe niederknieen. Sicherlich betete sie für den, dem bei Lebzeiten Erhörung seiner Gebete an sie Seligkeit gewesen wäre.

Langsam schritt Berting den langen Mittelgang in der Richtung zum Ausgang hinab. Nach einiger Zeit holte ihn Alma ein.

Sie erschien gänzlich verändert: aufgeräumt, zufrieden, ja geradezu heiter. Rätsel, die sie waren, diese Wesen eines anderen Geschlechtes und einer anderen Logik! – Die Rührung, welche sie wie einen Hochgenuß ausgekostet hatte, schien ihr Gemüt erquickt und ihre Kräfte aufgefrischt zu haben.

Fritz wollte für den Rückweg wiederum einen Wagen nehmen, Alma jedoch bat, gehen zu dürfen. Sie schob ihren Arm unter den seinen und begann zu plaudern. Von den tausend Kleinigkeiten ihres Tagelebens erzählte sie, wem sie auf der Straße begegnet sei, was der Kohlenmann gesagt habe, der ihr die Briketts in die Wohnung brachte, von einem Roman, den sie in der Leihbibliothek geholt hatte. Nichtigkeiten scheinbar! Aber Fritz schöpfte daraus doch die Hoffnung, daß sie sich mit der Zeit daran gewöhnen werde, auch ohne ihn glücklich zu sein.

Sie kamen an »Stadt Paris« vorbei, jenem Lokale, in dem sie früher Abend für Abend gesessen hatten. Aus Almas zögernden Schritten und sehnsüchtigen Blicken merkte er, daß sie Lust habe, hier einzukehren.

Er that ihr den Gefallen. Zu Hedwig heute noch zu gehen, war es doch vielleicht zu spät geworden. Es hatte angefangen, stark zu dämmern. Dieser Abend sollte Alma gehören; sie hatte ihn sich erkämpft.

In dem Lokal hatte sich nichts verändert. Derselbe scheunenartige Raum mit seinem flauen Dunst von Speisen und Getränken. Am Schanktisch hinter einer Batterie von Likörflaschen dasselbe immer gähnende, wohlbeleibte Büfettfräulein, das nur lebendig wurde, wenn junge Männer eintraten. Das große Orchestrion spielte auch noch die nämlichen Gassenhauer. Zu ihrer Freude entdeckte Alma, daß der Ecktisch, an dem sie gewöhnlich gesessen hatten, frei war. Dort ließ man sich nieder und wurde von dem Kellner mit einem Schmunzeln des Wiedererkennens begrüßt.

Alma schwelgte in Erinnerungen. »Weißt du noch, Fritz!« – hieß es in einem fort. Alles, was man gemeinsam erlebt hatte, schien sie noch einmal lebendig machen zu wollen.

Aber Fritz war zerstreut und hörte nur mit halbem Ohre zu. Sehnsucht nach seinem Werke hatte ihn befallen. Jene Melodie, die wie fernes Meeresrauschen seine Tage begleitete, tönte ihm wieder einmal lockend in den Ohren.

Alma merkte, daß er ihr entgleite. Sie kannte jene rätselhafte Erscheinung aus mancher bitteren Erfahrung, daß Fritz wohl körperlich bei ihr war und mit der Seele doch weit, weit entfernt von ihr. Seine Kunst besaß ihn dann, eine Rivalin, gegen die sie machtlos war.

Fritz drängte zum Aufbruch. Draußen empfing sie das Halbdunkel einer schlecht erleuchteten Straße. Alma wagte die schüchterne Bitte, daß er zu ihr kommen möge. Er ahne ja nicht, wie schrecklich lang und trostlos die Winterabende seien, wie sie sich in Sehnsucht verzehre nach ihm. Bei jedem Schritt auf der Treppe, jedem Ertönen der Vorsaalklingel denke sie, er müsse es sein. Und immer habe sie vergebens gehofft.

Die Stimme drohte dem Mädchen zu versagen.

Was solle denn werden aus ihr, fuhr sie nach einiger Zeit fort. Keinen Menschen, der sich um sie kümmere! Das Kind fange an, sich zu melden. Wenn auch alles bisher gut gegangen sei, so werde ihr doch manchmal so angst, daß sie nicht wisse, wo aus, noch ein. Und wenn er sie nun auch noch verlasse! – – –

Fritz schwieg dazu. Was sie sagte, blieb nicht ganz ohne Eindruck auf ihn; doch überwog das Gefühl des Unbehagens.

Gewiß war ihr Zustand beklagenswert; das wollte er gar nicht leugnen. Aber wer hatte ihn denn gewollt? Sie hatte dieses Keimende, das sich nun schmerzhaft zu melden begann, heraufgerufen zum Leben. Sie erntete, was sie gesät.

Mutter hatte sie werden wollen. Es war zuviel gefordert, wenn sie beides haben wollte: Mutterschaft und Liebesglück.

»Du kommst zu mir, Fritz, heut abend, nicht wahr?« bat sie noch einmal dringlich und faßte mit beiden Händen seinen Arm, als man sich ihrer Thür näherte.

Er setzte ihr auseinander, daß es unmöglich sei, da er mitten in einer Arbeit stecke, an der er heute noch schreiben wolle. Dann machte er sich mit Gewalt von ihr los, entfernte sich schnell, erneuerte Bitten und Thränen befürchtend.

Es ging nicht anders! Hart mußte er sein gegen sich und sie, um seines Werkes willen.

Dann, als er weiterschritt, tauchte vor seinem inneren Auge das feine Profil eines anderen Frauenangesichtes auf. Zugleich vernahm er den gleitenden Rhythmus einer Strophe, nach der er lange gesucht hatte. Beides: Hedwig und die eben gefundene neue Weise empfand er wie ein und dasselbe. Seine Gedichte kamen von ihr und meinten sie.

Er überlegte, ob er sie jetzt noch aufsuchen könne. Eine Sehnsucht ohnegleichen nach dieser Freundin hatte ihn mit einemmale erfaßt. Das Haus würde noch offen sein; es war ja erst neun Uhr.

Und statt, wie er Alma gesagt hatte, an seine Arbeit zu gehen, eilte er mit beflügelten Schritten zu Hedwig von Lavan.



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