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Das vierte Heft
der
Aufzeichnungen des Filmoperateurs
Serafin Gubbio

 

§ 1

Nun habe ich auch nicht den mindesten Zweifel mehr: sie weiss Bescheid über meine Freundschaft mit Giorgio Mirelli. Und auch, dass Aldo Nuti binnen kurzem hier sein wird, muss ihr bekannt sein.

Woher aber weiss sie beides? Wohl von Carlo Ferro?

Aber wie geht es zu, dass man sich hier nicht daran erinnern will, was zwischen den beiden geschehen ist? Und warum hat man nicht sofort die Verhandlungen mit Nuti abgebrochen? Freilich hat sich ja Polacco unter der Hand aufs eifrigste dieser Verhandlungen angenommen. Nuti ist mit ihm befreundet und hat sich von Anfang an an ihn gewandt. Offenbar hat es der Polacco auch fertig gebracht, einem der jungen Leute, die bei uns »dilettieren« (er heisst Fleccia), seine zehn Aktien unter günstigen Bedingungen abzuhandeln. Jedenfalls erklärt dieser Fleccia seit einigen Tagen, er habe Rom satt und wolle nach Paris gehen.

Von besagten jungen Leuten weiss man ja, warum sie hier bei uns verkehren. Sie haben oder suchen irgendeine junge Schauspielerin zur Freundin. Meist machen sie sich wieder davon, wenn ihnen das nicht geglückt ist oder wenn sie es satt haben. »Freundin« habe ich gesagt; nun, Gott sei Dank, die Worte können ja nicht rot werden!

Sehen Sie zum Beispiel: da kommt eine junge Schauspielerin in einem Ballettröckchen und mit entblösstem Oberkörper über den Hof gegangen. Da und dort bleibt sie stehen und fängt eine Unterhaltung an, den Busen wie in einer Auslage vor aller Augen. Schon kommt ihr junger Mann hinterher, Puderdose und Puderquaste in der Hand, und fährt ihr da und dort noch einmal über Arme, Nacken und Hals, voller Stolz, dass ihm ein solches Amt zuteil ward. Wie oft, seit ich hier bin, habe ich nicht den Gigetto Fleccia so hinter der kleinen Sgrelli herlaufen sehen! Aber jetzt, seit etwa einem Monat, ist er böse mit ihr. Seine Probezeit ist zu Ende: er geht nach Paris.

Niemand findet also etwas Besonderes dabei, dass Nuti, der auch ein reicher Dilettant ist, den Posten bekommen soll. Vielleicht weiss man nicht so recht oder hat es schon vergessen, was sich da früher zwischen ihm und der Nestoroff abgespielt hat.

Weshalb sollten sich denn auch diese Leute hier darüber den Kopf zerbrechen, wes Geistes Kind der Neuling, dieser Nuti, sein wird? Wenn sie überhaupt auf etwas gefasst sind, dann nur auf das Rencontre zwischen ihm und Carlo Ferro. Nicht wahr, Carlo Ferro haben sie vor Augen, ganz handgreiflich. Das aber lassen sie sich nicht einfallen, dass zwischen der Nestoroff und Nuti etwa noch ein anderer Mensch stehen könnte.

»Was – du?«, würden sie mich fragen, wenn ich auf den Gedanken käme, mit ihnen über diese Dinge zu sprechen.

Ich, ihr Guten? Aber ihr beliebt zu scherzen! Nein, jemand, den ihr nicht sehen könnt und auch nicht berühren. Ein Gespenst, wie im Märchen.

Immer wenn eins von den beiden sich dem andern nähern möchte, dann wird dies Gespenst zwischen ihnen aufsteigen wie gerufen. Gleich nach jenem Selbstmorde erhob es sich zum erstenmal und liess sie voll Entsetzen auseinanderfliehen. Ein fabelhafter Kinoeffekt – was? Findet ihr nicht? – Aber Aldo Nuti denkt anders. Wie kann er jemals wieder diese Frau lieben wollen oder sich ihr nähern? Unmöglich, dass er das Gespenst vergessen hat. Nur das eine wird er erfahren haben, dass die Nestoroff hier ist und zwar mit einem anderen Mann zusammen. Und das ist es sicher, was ihm heute den Mut gibt, ihr wieder nahezutreten. Vielleicht hofft er gar, dieser Mann aus Fleisch und Blut werde ihn das Gespenst vergessen machen. Er hofft es nicht mehr zu sehen, wenn dieser Rivale ihn in einen Ringkampf verstrickt, einen Kampf, bei dem man den Gegner spürt, einen Kampf Leib an Leib, keinen Streit mit Schemen. Ja, vielleicht wird er sich einreden, dies sei ein Kampf für »ihn«, ein Rachekampf. Denn hat die Nestoroff nicht durch ihr Verhältnis zu einem anderen bewiesen, dass sie »ihn« vergessen hat, den »armen Toten«?

Das ist nicht richtig. Die Nestoroff hat ihn nicht vergessen. Das haben mir deutlich ihre Augen gesagt und ihr Blick, der anders geworden ist seit zwei Tagen, seit nämlich Carlo Ferro ihr seine Neuigkeit mitgeteilt hat: seit er ihr gesagt hat, ich sei Giorgio Mirellis Freund gewesen.

Zorn, Verachtung, deutlichste Abneigung: das lese ich seit zwei Tagen im Blick der Nestoroff, wenn ihre Augen auch nur eine Sekunde auf mir ruhen. Mich aber macht es froh. Denn nunmehr weiss ich: alles was ich mir ausdachte über sie, damals als ich sie beobachtete, alles dies ist richtig und entspricht der Wahrheit, so sehr, als hätte sie selber in überströmendem Wahrheitsdrang mir ihre wunde und gequälte Seele bis aufs geheimste aufgetan.

Seit zwei Tagen trägt sie in meiner Gegenwart die innigste und unterwürfigste Liebe zu diesem Ferro zur Schau. Sie klammert sich an ihn und hängt an ihm, und nur, wer sie gut beobachtet, kann sehen, dass sie, wie alle andern, nein, mehr als die andern Bescheid weiss über die Enge seines Geistes, die Rohheit seines Wesens, über die ganze Tierischkeit dieses Menschen. Sie weiss Bescheid. Die andern aber – verständige und wohlerzogene Leute – sehen ihn nicht gerne und ziehen sich von ihm zurück? Nun ja, eben deshalb liebt sie ihn und klammert sich an ihn; eben weil er nicht intelligent ist und nicht wohlerzogen.

Einen besseren Beweis kann ich gar nicht verlangen. Und doch: neben der unbändigsten Verachtung muss noch etwas anderes umgehen in ihrem Herzen, in diesem Augenblick! Gewiss, sie überlegt, sie überlegt etwas. Ganz gewiss ist Carlo Ferro für sie nichts anderes als ein heftiges und übelschmeckendes Heilmittel. Sie beisst die Zähne zusammen, sie tut sich ungeheure Gewalt an, und so unterwirft sie sich ihm, um Heilung für ein hoffnungsloses Übel zu finden. Mehr als je hält sie sich jetzt an dieses Heilmittel, denn sie sieht die Drohung in Nutis Kommen, sie sieht die Gefahr, zutiefst zurückzusinken in ihr Leiden. Nicht deshalb übrigens, weil Aldo Nuti solche Macht über sie hätte. Jäh hat sie ihn damals an sich gerissen wie eine Gliederpuppe, hat ihn zerfetzt und beiseite geworfen. Aber jetzt soll er wiederkehren, und er hat nichts anderes vor, als ihr den heilbringenden Menschen zu entreissen und wieder das Gespenst Giorgio Mirelli vor sie hinzubeschwören, dessen Anblick ihr Leiden verschuldet hat. Da ist der Grund ihrer wilden, seltsamen Unrast, und keiner von den Menschen, denen sie sich zugewandt, keiner hat das verstehen und beachten wollen. –

Ihrem Leiden endlich entfliehen, das will sie. Um jeden Preis will sie genesen. Sie weiss, wenn Carlo Ferro sie in seinen Armen presst, dann darf sie Angst haben, dass er sie erdrückt. Und diese Angst besänftigt sie.

»Aber sieh, was nützt es –«, so möchte ich ihr zurufen, »was nützt es, wenn Aldo Nuti auch ferne bleibt, wenn er kein Wort zu dir sagt von deinem Leiden? Sieh, du trägst es ja noch in dir, du hast es nur gewaltsam unterdrückt, aber nicht überwunden! Deine eigene Seele willst du nicht sehen – glaubst du denn, das sei möglich? Sie geht ja mit dir, sie geht ja immerzu mit dir, wie eine Wahnsinnige hält sie Schritt mit dir! Entfliehen willst du ihr, und klammerst dich an einen Menschen, verbirgst dich in den Armen eines Mannes, von dem du weisst, dass er ohne Seele ist und imstande, dich zu töten, wenn etwa – das kann heute sein oder morgen – deine Seele von neuem Gewalt bekommt über dich und dir wieder die ewige uralte Qual bereitet. Ach, besser, meinst du, tot zu sein? Besser getötet werden als zurückzusinken in jene Qual, eine Seele in der Brust zu tragen, die leiden muss und nicht wissen darf, warum!« –

Dies muss ich berichten: heute früh, während ich kurbelte, überkam mich plötzlich der schreckliche Gedanke: sie will sich töten! Wie gewöhnlich spielte sie ihre Rolle wie eine Wahnsinnige, und da dachte ich mir: Ja – ja – richtig töten will sie sich, da vor meinen Augen. Ich weiss nicht, wie ich meine Ruhe habe bewahren können, so dass ich mir sagte:

»Kurbeln! Du bist nur eine Hand hier, nun kurble! Sie sieht dich ja an, starr sieht sie dich an, immer nur dich, damit du etwas begreifst. Aber du darfst von nichts wissen, du darfst nichts begreifen! Kurble nur zu!« – –

Man hat mit den Aufnahmen zu dem Tigerfilm begonnen, der sehr lang werden wird. Ich will mir schon gar nicht erst die Mühe machen, in dem Gewirr von ordinären und albernen Szenen den Faden der Handlung zu verfolgen. Die Nestoroff spielt nun also nicht mit, da sie es nicht hat durchsetzen können, dass man ihr die Hauptrolle gab. Doch heute morgen hat sie aus besonderem Entgegenkommen gegen Bertini in einer kurzen Szene mitgewirkt, einer Szene mit »Lokalkolorit«. Es war eine kleine Nebenrolle, nicht leicht übrigens: eine junge Inderin, wild und fanatisch, tötet sich beim Tanzen des »Schwertertanzes«.

Man steckte das Feld auf dem Hofe ab und dann liess Bertini etwa zwanzig Statisten, die als Eingeborene verkleidet waren, im Halbkreis antreten. Die Nestoroff trat vor: sie war fast ganz nackt, um die Lenden trug sie ein Tuch, ihre Haut hatte sie bunt bemalt, gelblichgrün, rot, blau. Doch war die wunderbare Nacktheit ihres kraftvollen, schlanken und doch plastischen Leibes gleichsam verschleiert durch die hochmütige Unbekümmertheit ihres Auftretens. So bot sie sich dar inmitten der vielen Männer, hoch erhobenen Kopfes, in jeder Hand einen scharf geschliffenen Dolch.

Bertini erklärte kurz den Gang der Handlung:

»Also sie tanzt. Wie beim Gottesdienst. Alles steht andächtig dabei. Und urplötzlich – wenn ich das Zeichen gebe: mitten im Tanzen, stösst sie sich die beiden Dolche in die Brust und stürzt nieder. Alles eilt hinzu und bemüht sich bestürzt und entsetzt um sie. Marsch, marsch – auf das Feld achtgeben! Ihr da, habt ihr verstanden? – ihr steht zuerst da und seht ergriffen zu. Sowie Frau Nestoroff zu Boden stürzt, lauft ihr alle her! Aufpassen – auf das Feld aufpassen jetzt!« –

Die Nestoroff trat mit den zwei gezückten Dolchen in den Halbkreis. Sie sah mich an, und so scharf und hart war ihr Blick auf mich gerichtet, dass ich fühlte, wie sich mir hinter meiner grossen, schwarzen, lauernden Spinne die Augen trübten. Wie durch ein Wunder gelang mir's, Bertinis Kommando zu gehorchen:

»Kurbeln!« –

Ja, wie ein Automat fing ich an, die Kurbel zu drehen.

Sie begann die mühsamen Verrenkungen ihres seltsamen Totentanzes; unheimlich glitzerten die beiden Dolche auf – bei alledem aber liess sie die Augen keine Sekunde von den meinen. Gebannt folgte ich ihren Bewegungen mit den Blicken. Auf ihrer Brust, die sich mühsam hob und senkte, sah ich den Schweiss Furchen in die dicke gelbliche Schminke graben. Sie dachte nicht mehr an ihre Nacktheit, wie besessen drehte sie sich keuchend rundum und fragte nur immer wieder mit besorgter Stimme, die Augen tief in meinen: »Bien comme ça – bien comme ça –«.

Wie – von mir wollte sie Antwort haben? Wie wahnsinnig doch der Ausdruck ihrer Augen war! Sicher las sie in meinen Blicken: nicht nur Verwunderung, sondern Angst und Schrecken. Zitternd wartete ich auf Bertinis nächstes Kommando. Ja, es kam, Bertini rief, und sie richtete die Spitze der beiden Dolche gegen die Brust und stürzte zur Erde. Einen Augenblick war mir nicht anders, als habe sie sich wirklich durchbohrt. Nun musst du auch hinlaufen, dachte ich – und schon wollte ich die Kurbel loslassen, als Bertini die Statisten wütend anschrie:

»Herrgott, was ist denn los mit euch? Vorwärts marsch! Bewegung – Bewegung! So – so – Schluss!«

Ich war ganz erledigt, meine Hand war schwer wie Blei; ganz mechanisch hatte sie weitergekurbelt.

Noch sah ich, wie Carlo Ferro mit finsterem Gesicht herbeigelaufen kam, mit aufgebrachtem und besorgtem Ausdruck. Er hatte einen langen, violetten Mantel; er half der Nestoroff auf, hüllte sie in den Mantel und trug sie wie eine Last mit sich fort in die Garderobe.

Ich beguckte meinen Apparat und dann hörte ich mich sprechen. Mit seltsam fremder und schlaftrunkener Stimme meldete ich dem Direktor:

»Zweiundzwanzig Meter.« –

 

§ 2

Wir warteten heute, in der Laube bei der Kantine sitzend, auf ein sogenanntes Fräulein aus guter Familie. Sie sollte auf Bertinis Empfehlung hin eine Nebenrolle in einem Film übernehmen, den wir einige Monate hatten liegen lassen, der aber jetzt fertiggestellt werden soll.

Vor einer guten Stunde hatte man einen Boten mit dem Rad in die Wohnung der Dame geschickt. Aber noch war niemand zu sehen; auch der Bote kam nicht zurück.

Polacco sass mit mir an einem Tisch, die Nestoroff und Carlo Ferro an einem anderen. Wir viere sollten mit der Novizin im Auto nach dem Bosco Sacro fahren, um dort eine Naturaufnahme zu drehen.

Der Nachmittag war drückend schwül. Zahllose Fliegen summten lästig umher. Dazu das gezwungene Schweigen unter uns vieren, die wir beisammen sitzen mussten trotz der offensichtlichen Abneigung der beiden andern gegen Polacco und auch gegen mich. Das alles machte das Warten immer unerträglicher und quälender.

Hartnäckig vermied es die Nestoroff, uns anzublicken. Doch merkte sie es sicherlich, dass ich sie beobachtete, nur so nebenhin, scheinbar ohne Aufmerksamkeit. Mehr als einmal hatte ich ihrer Miene angesehen, wie unangenehm ihr mein Blick war. Auch Carlo Ferro war aufmerksam geworden und musterte sie mit gerunzelter Stirn. Deshalb spielte sie ihm etwas vor: sie tat, als belästigten sie nicht etwa meine prüfenden Blicke, sondern die Sonnenstrahlen, die durch das Weinlaub auf ihr Gesicht fielen. Oh ja, die Sonnenstrahlen; – es sah wunderbar aus, dieses Spiel auf ihrem Antlitz: blauer Schatten und darüber hinhuschend dünne Streifen Sonnengolds, brennendes Licht plötzlich auf ihrer Oberlippe, an ihrer Nase entlang – und jetzt an ihrem Ohrläppchen und über eine Linie an ihrem Halse hin.

Sie hatte eine Zeitlang durch das Weinlaub gespäht; nun erhob sie sich plötzlich und wir sahen sie hinausgehen, auf eine Droschke zu, die ebenfalls schon seit einer Stunde vor dem Eingang der Kosmograph in der glühenden Sonnenhitze stand. Auch ich hatte diesen Wagen gesehen, allein das Weinlaub war zu dicht, als dass ich hätte erkennen können, wer da draussen wartete. Polacco erhob sich – auch ich stand auf, und wir blickten beide hinaus.

Ein junges Mädchen in einem leichten, hellblauen Fähnchen und einem breiten Strohhut, der mit schwarzen Samtbändern garniert war, sass in der Droschke und wartete. Auf dem Schoss hatte sie ein altes, langhaariges, schwarzweiss geflecktes Hündchen –. So sass sie da und sah ängstlich und sorgenvoll auf den Taxameter der Droschke, der höher und höher schnappte und schon eine ganz beträchtliche Summe angeben musste. Die Nestoroff sprach sie liebenswürdig an und forderte sie auf, auszusteigen und nicht gerade in der glühendsten Sonnenhitze sitzen zu bleiben. Es sei doch besser, in der Laube da zu warten, nicht wahr?

»Viele Fliegen ja allerdings – aber man sitzt wenigstens im Schatten ...«

Das Seidenhündchen hatte angefangen, die Nestoroff anzuknurren und die Zähne zu fletschen, als müsse es die junge Herrin verteidigen. Die wurde plötzlich über und über rot, nahm aber die Einladung an und stieg aus, das Hündchen im Arm. Mir machte es ganz den Eindruck, als steige sie vor allem aus, um den unfreundlichen Empfang gutzumachen, den ihr Hund der Dame bereitet hatte. Jedenfalls gab sie ihm mit der Hand einen festen Klaps auf die Schnauze und rief:

»Still, Piccinì!« – –

Und dann, zur Nestoroff gewandt:

»Verzeihung – Piccinì versteht gar nichts!« – –

Damit trat sie zu uns in die Laube. Ich schaute das Hundetier an; mit einem menschlichen Blick schielte es seiner Herrin von unten herauf ins Gesicht, und schien sie zu fragen: – »Und was verstehst denn du?«

Polacco war inzwischen galant auf das Mädchen zugetreten.

»Fräulein Luisetta?« –

Sofort errötete sie wieder übers ganze Gesicht, wie verloren in peinlichem Erstaunen, dass ein Unbekannter sie hier kennen wollte. Doch begann sie zu lächeln und nickte zur Antwort, und alle schwarzen Samtbänder auf dem Strohhut nickten mit.

»Ist Ihr Herr Papa hier?« fragte Polacco weiter.

Wieder dasselbe Kopfnicken, als fände sie vor Erröten und Verwirrung keine Stimme zur Antwort. Endlich ermannte sie sich und sagte schüchtern:

»Vor einiger Zeit ist er hineingegangen. Er sagte, er werde gleich wieder da sein und so lange – –«

Sie hob die Augen, blickte zur Nestoroff hinüber und lächelte ihr zu, als tue es ihr leid, dass der Herr sie mit seinen Fragen so sehr beschäftige, wo doch die Dame so freundlich zu ihr gewesen war, ohne sie auch nur zu kennen. Jetzt erst stellte Polacco vor:

»Fräulein Lisetta Cavalena – Frau Nestoroff.« –

Dann wandte er sich um und deutete auf Carlo Ferro, der aufsprang und sich ungeschickt verbeugte.

»Der Schauspieler Carlo Ferro.« –

Zuletzt stellte er mich vor:

»Gubbio«.

Nun, den Eindruck hatte ich, dass ich sie von allen am wenigsten störte.

Cavalena, ihren Vater, kannte ich vom Hörensagen. Bei der Kosmograph war er unter dem Spitznamen »der Selbstmörder« allgemein bekannt. Der Arme hatte offenbar sehr unter einer eifersüchtigen Frau zu leiden. Sie hatte ihn zuerst gezwungen, beim Militär seinen Abschied zu nehmen (er war Oberstabsarzt gewesen) und seine ärztliche Karriere aufzugeben. Auch beim Journalismus, dem er sich zugewandt, hatte er nicht bleiben können. Schliesslich hatte er auch seine Stellung an einem Gymnasium verloren, wo er aus Not Lehrer für Physik und Naturgeschichte geworden war. Dem Theater kann er sich auch nicht zuwenden (obwohl er sich dafür besonders begabt hält) – die Frau lässt's nicht zu! Also hat er sich damit abgefunden, widerwillig Filmmanuskripte zu fabrizieren, um nur das Nötigste für seine Familie zu verdienen. Denn, was das Vermögen seiner Frau einträgt und was er aus dem Vermieten von möblierten Zimmern bezieht, das reicht bei weitem nicht hin. Offenbar hat er sich in der ewigen Elendsstimmung zu Hause daran gewöhnt, die ganze Welt für eine einzige Sklavengaleere zu halten; jedenfalls schreibt er niemals ein Filmstück, in dem nicht früher oder später ein Selbstmord passierte. Polacco hat aus diesem Grunde bis jetzt auch alle seine Manuskripte zurückgewiesen, in Anbetracht der Tatsache, dass die Engländer im Film absolut keinen Selbstmord sehen wollten.

»Wollte er denn mit mir sprechen?« fragte Polacco die kleine Luisetta.

Die wurde ganz verwirrt und stammelte:

»Nein – er hat gesagt – ich weiss nicht recht – – Bertini, glaube ich – –«

»Ah, der Schelm! Hat er sich nun also an Bertini gewandt? Und sagen Sie doch, Fräulein – – – ist er allein hineingegangen?« –

Abermals heftige Verwirrung auf Seiten Fräulein Luisettens.

»Mit der Mama – –«

Polacco hob die Hände empor, machte ein langes Gesicht und nickte.

»Da wollen wir nur hoffen, dass ihnen das nicht daneben gelingt!«

Fräulein Luisetta lächelte gequält und wiederholte: »Das wollen wir hoffen!«

Mir schnitt dieser Anblick ins Herz: dieses Lächeln auf dem Gesicht, das ganz in Flammen stand. Ich hätte den Polacco anschreien mögen:

»So hör doch schon auf und quäle sie nicht länger mit deinem Gefrage! Siehst du nicht, dass sie wie auf Kohlen sitzt?«

Aber eben war Polacco eine plötzliche Idee gekommen und er klatschte in die Hände:

»Na, wenn wir einfach Fräulein Luisetta mitnehmen? Aber natürlich – ist ja ausgezeichnet! Jetzt warten wir hier schon eine geschlagene Stunde. Ja – ja – ohne weiteres ... Liebes Fräulein, Sie können uns aus einer grossen Verlegenheit helfen und Sie werden sehen, Sie amüsieren sich noch famos dabei. In einem halben Stündchen ist alles geschehen – – Ich gebe dem Portier den Auftrag, dass er sofort beim Herauskommen ihren Eltern sagt, Sie seien mit mir und mit diesen Herrschaften auf ein halbes Stündchen weg – – Ich bin so gut befreundet mit Ihrem Vater, da kann ich mir die Freiheit schon herausnehmen. Ich lasse Sie einfach eine kleine Rolle spielen – ist's Ihnen recht?«

Sicher hatte Fräulein Luisetta grosse Angst, als schüchternes dummes Gänschen vor uns dazustehen. Mit uns kommen, sagte sie also – – ja warum denn nicht? Aber was das Theaterspielen anginge, nein, das könne sie nicht ... und wie denn dann? In diesem Aufzug etwa? Nicht doch! Sie habe es ja nie versucht – – sie würde sich zu Tode schämen – und dann ...

Polacco setzte ihr auseinander, dass davon gar keine Rede sei. Sie brauche den Mund nicht aufzutun und nicht auf der Bühne vor den Leuten zu erscheinen. Nichts von alledem. Nein, auf freiem Feld – unter den Bäumen – ohne ein Wort zu sagen.

»Sie sitzen auf einer Bank – neben diesem Herrn« – damit deutete er auf Carlo Ferro. »Dieser Herr, nimmt man an, spricht über Liebesdinge mit Ihnen. Sie glauben natürlich nichts davon, sondern lachen. Da haben wir's schon – – ist ja ausgezeichnet! Sie lachen und schütteln den Kopf und dann zerzupfen Sie eine Blume. Ein Auto kommt angerast. Der Herr fährt zusammen, runzelt die Stirn und sieht sich überall um, als wittere er eine drohende Gefahr. Sie hören auf, die Blume zu zerpflücken, und verfallen in bangen Zweifel. Mit einemmale stürzt diese Dame (da zeigte er auf die Nestoroff) aus dem Auto hervor, zieht einen Revolver aus dem Muff und schiesst auf Sie ...«

Fräulein Luisetta starrte die Nestoroff ganz entsetzt an, mit weit aufgerissenen Augen.

»Zum Schein natürlich nur – – haben Sie nur keine Angst«, fuhr Polacco lächelnd fort. »Der Herr stürzt auf die Dame zu und entreisst ihr die Waffe. Indessen sinken Sie, zu Tode getroffen, zuerst auf die Bank nieder und gleiten dann zur Erde – ohne sich weh zu tun, um Himmelswillen – und damit ist alles vorüber. Ja, nun nur rasch, rasch – wir wollen keine Zeit mehr verlieren. Wir machen noch eine Probe an Ort und Stelle: Sie werden sehen, es geht famos ... na, und wenn dann erst der Dank von der Kosmograph kommt!«

»Aber wenn Papa ...«

»Wir geben ihm Nachricht!«

»Und Piccinì?«

»Piccinì nehmen wir mit. Ich werde ihn selbst auf den Arm nehmen. Sie sollen sehen: auch Piccinì bekommt ein schönes Geschenk von der Kosmograph! ... Nur zu, kommen Sie nur!«

Als sie ins Auto stieg (man sah ihr wieder an: sie wollte nicht als schüchternes Dummerchen dastehen), verwandte sie zum ersten Male wieder einen Blick auf mich, einen unsicheren Blick.

Weshalb fuhr ich denn nun auch mit? Was für eine Rolle spielte ich denn bei der Geschichte?

Niemand hatte ein Wort mit mir gesprochen. Mit genauer Not war ich überhaupt nur vorgestellt worden, so etwa, wie man einen Hund ruft. Und ich hatte den Mund nicht einmal aufgemacht. Auch jetzt blieb ich stumm – – –

Ich merkte gut, dass meine stumme Gegenwart, deren Notwendigkeit sie nicht einsah, die aber doch aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde nicht zu vermeiden schien, sie zu beunruhigen begann. Niemand dachte daran, ihr Auskunft zu geben, und ich konnte es erst recht nicht. Ich war ihr wie einer von den andern vorgekommen, ja sie hatte anfangs vielleicht sogar das Gefühl gehabt, dass ich ihr näher stand als die andern. Jetzt aber fing sie an zu merken, dass ich für diese andern und also wohl auch für sie eigentlich gar nicht existierte. Sie merkte langsam, dass meine Person hier nicht gebraucht wurde, dass aber meine Gegenwart nötig war, dass ich sozusagen ein unentbehrliches Ding hier war, dessen Bedeutung sie noch nicht durchschaute. Nun war also auch mein stummes Dabeisitzen erklärt: Die andern konnten sprechen – jawohl, sie alle vier! – denn sie waren Persönlichkeiten, jeder hatten sie jemanden vorzustellen, sich, sich selber. Ich aber nicht; ich war ein Ding, identisch vielleicht mit dem, was ich da – in schwarzes Tuch eingeschlagen – auf den Knien hielt.

Und doch hatte auch ich einen Mund zu reden und Augen, mit ihnen zu sehen. Und diese meine Augen, wahrlich sie glänzten auf, als ich dies Mädchen ansah. Und ich fühlte, tief in mir fühlte ich ...

Oh, Fräulein Luisetta, wenn Sie wüssten, wie freudig er sich in sein Gefühl versenkte, der Mensch, der da vor Ihnen sass! Möchten Sie es für möglich halten, dass ich – der ich doch nur wie ein Ding vor Ihnen stand – überhaupt etwas in mir haben könnte, ein Gefühl in der Brust?

Mitten unter euch vieren, am heutigen Tage, habe ich das gefühlt: dass ich nur Apparat bin mitsamt meinem Leib und meinen zwei Beinen – – ja, unwahrscheinlich bin ich mir vorgekommen!

Sie, Fräulein Luisetta, haben inmitten meiner Gefühle gestanden, Sie mit allem, was Sie umgab. Mein Herz war froh über Ihre Natürlichkeit, es freute sich mit Ihnen am Sausen der Fahrt, am Anblick des freien Landes, an der Nähe der schönen Frau. Das scheint Ihnen seltsam, dass Sie meinem Herzen nahe gewesen sein sollen, Sie mit allem, was Sie umgab? Was bin ich denn für Sie gewesen, wie bin ich Ihnen erschienen, Fräulein Luisetta? Als ein geheimnisvolles Menschenkind? Ja, da haben Sie wohl recht. Geheimnisvoll! Doch macht es mir auch Freude, dieses Geheimnis, das aus meinem Schweigen einen jeden anweht, der darauf zu achten versteht. Ich möchte nie mehr sprechen müssen, sondern aufnehmen: alle Dinge und alle Menschen in dies mein Schweigen, jedes Weinen und jedes Lächeln. Nicht als ob ich Echo sein wollte, ich, für das Lächeln – das könnte ich nicht. Nicht um Trost zu reichen – ich – dem Weinen – – darauf verstünde ich mich nicht! Sondern deshalb, weil alle in mir, für ihre Schmerzen nicht nur, sondern mehr noch für ihre Freuden, ein zartes Mitgefühl finden sollten, das sie zu Brüdern machte für eine kurze Zeit.

Wie sehr, wie gut habe ich Ihr frisches, kindliches Wesen genossen, wenn Sie scheu der Frau zulächelten, die neben Ihnen sass. Schöpfen nicht auch die ausgedörrten Pflanzen manchmal, wenn kein Regen fällt, Erfrischungen aus einem leichten Lufthauch? Und solch ein kühlender Lufthauch mögen Sie in diesem Augenblick für die Frau gewesen sein. Schlimme Glut brannte in ihrem Herzen – eine Glut, die den Trost des Weinens nicht kennt.

Einmal hat sie Sie angesehen, mit Bewunderung beinahe, – sie hat Ihre Hand genommen und gestreichelt. Wer weiss, wie kummervoll ihr Herz Sie in diesem Augenblick beneidet haben mag!

Haben Sie gesehen, wie sich gleich darauf ihr Gesicht verfinsterte?

Eine Wolke strich da vorüber. Was war es denn nur? Was denn?

 

§ 3.

Wenn mein Freund Simone Pau es einige Tage versäumt, mich auf der Kosmograph zu besuchen, dann gehe ich abends wohl einmal hinüber nach dem Borgo Pio in das Wirtshaus zum Falken und sehe nach ihm.

Diesmal ist der Grund für sein Ausbleiben besonders traurig. Der Mann mit der Geige liegt im Sterben.

Ich traf Pau in seinem Zimmerchen im Hospiz. Da waren sie alle versammelt: Pau, der alte pensionierte päpstliche Beamte, und drei von den alten Jungfern, die mit den barmherzigen Schwestern befreundet waren. Auf Simone Paus Bett lag der Mann mit der Geige, einen Eisbeutel auf dem Kopf. Vor drei Tagen hatte er einen Schlaganfall gehabt.

»Nun macht er sich frei – –«, sagte Simone Pau zu mir und machte eine Handbewegung wie zum Troste. – »Hier, nimm Platz, Serafin. Die liebe Wissenschaft hat ihm diesen Eisbeutel da verordnet, der gar nichts nützt. Wir aber sprechen ihm heiter zu, jetzt da er stirbt, zum Dank für das kostbare Geschenk, das er uns als Erbteil lässt: seine Geige. Da – nimm doch Platz! Man hat ihn ordentlich gewaschen; man hat ihn auch mit allen Sakramenten versehen, wie sichs gehört, die letzte Ölung haben sie ihm gegeben. Aber jetzt wollen wir auf sein Ende warten, es kann nicht lange dauern. Weisst du noch, wie er vor dem Tiger spielte? Das hat ihm nicht gut getan. Aber vielleicht ist es besser so: er macht sich frei!« –

Wie freundlich doch der alte Beamte bei diesen Worten lächelte! Ganz sauber und glatt rasiert war er und so fein und adrett, mit seiner Hausmütze und seiner beinernen Schnupftabaksdose, auf deren Deckel das Bild des Heiligen Vaters zu sehen war.

»Bitte«, wandte sich Simone Pau an den Alten, »bitte fahren Sie doch fort mit Ihrem Loblied auf die Öllampen mit drei Düsen, Herr Cesarino.«

»Was heisst Loblied?« rief Herr Cesarino. – »Muss ich Ihnen nochmals sagen, dass ich keinen Lobgesang anstimmen will. Ich sage nur, dass ich eben zu jener Generation gehöre – das ist alles!«

»Nun, und das wäre kein Loblied?«

»Aber nein! Ich sage Ihnen, alles gleicht sich schliesslich aus. Das ist so meine Idee. Früher, mit meinen Öllampen, habe ich so viele Dinge im Dunkel sehen können, die Sie jetzt vielleicht nicht mehr bemerken mit Ihren elektrischen Birnen. Dafür, wissen Sie, können Sie mit dem elektrischen Licht wieder anderes sehen, was mir entgeht. Denn vier Generationen Licht, vier, lieber Professor: Öl, Petroleum, Gas und Elektrisches Licht – – im Verlauf von sechzig Jahren, jajaja – – das ist ein bisschen viel. Man verdirbt sich dabei die Augen – – und auch den Kopf – ja, auch den Kopf ein bisschen.«

Die drei alten Jungfern, die Hände in Handschuhen friedlich auf dem Schoss gefaltet, stimmten schweigend und nickend ein: »Ja! Ja! Ja!«

»Es ist schon ein schönes Licht, das kann ich nicht bestreiten! Und ich muss es wissen«, seufzte der Alte, »denn ich weiss noch, wie ich mit einer kleinen Laterne durch die Dunkelheit marschierte, um mir nicht den Hals zu brechen. Aber es ist ein Licht für draussen. – – Kein Licht der Einkehr, nein!«

Die drei alten Jungfern, immer noch friedlich die Hände auf dem Schoss gefaltet, sagten schweigend und den Kopf schüttelnd: »Nein! Nein! Nein!«

Der Alte erhob sich und bot den dreien wie zur Belohnung ein Prischen Tabak an.

Auch Simone Pau spitzte zwei Finger zusammen.

»Sie auch?« fragte der Alte.

»Ja, ja, freilich«, entgegnete Simone Pau, ein wenig gekränkt durch diese Frage. »Nimm du dir auch, Serafin! Siehst du denn nicht, das ist guter alter Brauch hier.«

Der Alte, der schon eine Prise zwischen den Fingern hielt, zwinkerte verschmitzt:

»Verbotener Tabak«, sagte er leise. »Kommt von da drüben ...«

Und mit dem Daumen der anderen Hand machte er ein heimliches Zeichen, das bedeuten sollte: Sankt Peter – Vatikan!

»Verstehst du?« wandte sich Simone Pau an mich und hielt mir seine Prise unter die Augen. – – »Du emanzipierst dich von Italien. Du schnupfst das, und riechst nichts mehr vom Gestank des Königreichs.«

»Still – so etwas dürfen Sie nicht sagen!« bat der Alte. Er wollte in Frieden geniessen; »leben und leben lassen«, dachte er sich wohl.

»Na, aber ich habe es doch gesagt, und nicht Sie,« antwortete Simone Pau. »Aber ich muss Ihnen erst noch meinen Freund vorstellen, meine Herren: Herr Serafin Gubbio – – er ist Operateur. Der Ärmste muss beim Film die Kurbel drehen!«

»Ah!« machte der Alte angeregt.

Und die drei alten Jungfern sahen mich erstaunt an.

»Siehst du?« sagte Simone Pau. »Du verdirbst mir noch die ganze Gesellschaft hier. Ich wette, Herr Cesarino, und auch Sie, meine Damen – – Sie würden jetzt nur allzu gern von meinem Freunde hören, wie es zugeht bei so einer Filmaufnahme. Wie? Aber um Gotteswillen ...«

Und er wies mit der Hand auf den Sterbenden, der schon im Todeskampf röchelte.

»Du weisst, ich ...«, wandte ich leise ein.

»Ja, ich weiss!« unterbrach er mich. »Du lebst nicht in deinem Beruf, aber das heisst noch lange nicht, mein Lieber, dass dein Beruf nicht in dir lebt! Rede du doch einmal meinen Herren Kollegen hier aus, dass sie mich für einen Professor halten! Für sie bin ich's und bleibe ich's: ein bisschen komisch, aber der ›Professor‹ immerhin! Sei du nur getrost, lieber Freund, du wirst auch im Jenseits weiterkurbeln! Verlass dich drauf, und zwar deshalb, weil du dich verantworten musst, nicht fürs Leben, denn dafür kannst du nichts, aber für deine Taten und alle ihre Folgen. Nun, Herr Cesarino, ist es so oder nicht?«

»Doch, so ist es und nicht anders. Aber ist es denn wirklich eine Sünde, an einem Filmapparat zu kurbeln, Professor?« bemerkte Herr Cesarino.

»Das soll keine Sünde sein? Fragen Sie ihn doch selber!« sagte Pau.

Verwundert und bekümmert sahen mich der Alte und die drei Jungfern an, denn ich hatte wirklich mit einem Kopfnicken Simone Paus Urteil bestätigt.

Ich musste lachen, denn ich stellte mir vor, wie ich vor Gottvater selber und angesichts der Engel und Heiligen im Paradiese hinter meiner schwarzen Spinne stehen würde, verdammt, immerzu die Kurbel zu drehen, auch dort oben noch, nach dem Tode.

»Nun allerdings«, seufzte der Alte, »wenn man bedenkt, wie unanständig und töricht die Grundlagen des Kinos sind – –«

Die drei alten Mädchen unterbrachen ihn. Mit niedergeschlagenen Augen hoben sie die Hände zu einer abwehrenden Gebärde.

»Aber der Herr kann ja schliesslich nichts dafür«, setzte Herr Cesarino plötzlich hinzu, zuvorkommend und freundlich wie immer.

Draussen auf der Treppe liess sich ein schleppendes Geräusch vernehmen wie von schweren Kleidern und grossen Rosenkranzperlen, die mit einem niederbaumelnden Kruzifix zusammenklirrten. Eine barmherzige Schwester trat ein. Wer hatte sie wohl gerufen? Es war merkwürdig genug: kaum trat sie über die Schwelle, da hörte der Sterbende zu röcheln auf. Sie schien schon darauf vorbereitet, den letzten Dienst an ihm zu tun. Sie nahm ihm den Eisbeutel vom Kopfe. Dann wandte sie sich um und warf uns einen Blick zu, ohne ein Wort zu sprechen, – nur einen einfachen, raschen Augenaufschlag. Hierauf beugte sie sich über das Bett, um den Leichnam zurechtzulegen, und kniete nieder. Die drei Alten und der Herr Cesarino folgten ihrem Beispiel, während Simone Pau mich aus dem Zimmer rief.

»Da – zähle«, sagte er befehlend zu mir und deutete auf die Stufen der Treppe. – »Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs – sieben – acht – neun! Ja, das sind Treppenstufen, zu dieser Treppe hier gehören sie, die auf den dunklen Korridor da hinaus führt ... Aber stell dir vor: die Hände, die sie gezimmert haben, die Hände sind tot ... Und die Hände, die das Haus hier aufgerichtet haben ... tot! Es gibt ja so viele Häuser hier in der Gegend, und keinem von denen, die mitgebaut haben, geht es um ein Haar besser ... Was hältst du überhaupt so von Rom? ... Grosse Stadt, was? ... Und jetzt ist ein Mensch gestorben, ich oder du – es ist ja einerlei, kurzum: ein Mensch. – – Ich oder du – was sind wir denn schon anderes als zwei Schwachköpfe? Rede ich denn nicht in einemfort dummes Zeug? Und Dummköpfe – wie wir – sind alle die, die den lieben Gott in sich selber suchen und draussen nichts von ihm wissen wollen. In sich selber – – Gott, da findet man ja nur Qual und Plage! Kurble nur, Serafin, kurble du weiter deinen Apparat! Du darfst mir glauben: du hast noch einen sehr beneidenswerten Beruf! Du musst dir nur abgewöhnen, dass du alles für so besonders albern hältst, was dir da zur Aufnahme vorgesetzt wird. Wir sind allzumal alberne Gestalten, alle ohne Unterschied! Das Leben selber ist ja nur eine alberne Veranstaltung, weil es nie aufhört, weil es überhaupt nicht aufhören kann! Also kurble du nur getrost weiter an deinem Apparat und lass mich schlafen gehen. Den Hunden musst du's nachmachen, die Hunde sind weise: immer können sie schlafen. Gute Nacht!« – –

Beinahe getröstet verliess ich das Hospiz. Philosophie ist ja wie Religion: sie tröstet immer, auch wenn sie verzweifelte Wege geht, denn sie entspringt dem Bedürfnis, einen Kummer zu überwinden. Simone Paus Worte hatten mir vor allem deshalb so tröstlich geklungen, weil er meines Berufs dabei gedacht hatte.

Beneidenswert? Ja, vielleicht war er das! Wenn er doch nur den einen Zweck hätte, das Leben aufzunehmen, das Leben ohne törichte Handlung und Inszenierung, so wie es geschieht, ohne alle Auswahl und Tendenz! Wer weiss, wie komisch wir uns dann vielleicht vorkämen! Zunächst würden wir uns wohl gar nicht erkennen; voll Erstaunen und Entrüstung würden wir rufen: »Wie bitte? Das – das da soll ich sein? – Aber nein doch lieber Freund, du bist es nicht, es ist nur deine Hast, dein Streben, dies und jenes zu tun, deine Ungeduld, dein bisschen Verrücktheit – deine Wut ist's, deine Freude auch und dein Schmerz ...

Ja, wenn er so wäre, mein Beruf! Wenn er dies nur vorhätte: den Menschen das komische Schauspiel ihrer unbewussten Handlungen vorzusetzen und den unmittelbaren Anblick ihrer Leidenschaften, ihres ganzen Lebens, so wie es ist! Dieses ihres Lebens ohne Ruhe, das kein Ende nimmt.

 

§ 4.

»Einen Augenblick, Herr Gubbio, ich wollte Ihnen gerne etwas sagen.«

Es war schon dunkel; da ich Eile hatte, ging ich rasch unter den hohen Platanen auf der Allee dahin. Ich hatte schon gemerkt, dass er – es war Carlo Ferro – hastig hinter mir herlief und mich zu überholen trachtete. Dann würde er mich wohl anreden wollen unter dem Vorwand, dass er mir etwas mitteilen müsste. Dies Vergnügen aber wollte ich ihm nicht gönnen; also beschleunigte ich meinen Schritt und wartete nur darauf, dass er müde werde, sich besiegt gebe und nach mir rufe, laut hinter mir her. Wahrhaftig, da hatte er gerufen ... Ich wandte mich um und tat ganz überrascht. Er kam heran und sichtlich bemüht, seine gewöhnliche Missachtung zu verbergen, fragte er mich:

»Gestatten Sie?«

»Sprechen Sie nur!«

»Gehen Sie nach Hause?«

»Ja.«

»Wohnen Sie weit?«

»Ja – ziemlich.«

»Ja, ich wollte Ihnen etwas sagen«, wiederholte er und sah mich fest an, einen bösen Glanz in den Augen. – »Sie wissen ja wohl, dass ich es mir erlauben kann, Gott sei Dank, auf meinen Vertrag zu pfeifen, auf diesen albernen Vertrag mit der Kosmograph. Ein solches Engagement, ach was, ein besseres, finde ich jeden Tag, ich brauche nur zu wollen. Überall nimmt man mich sofort, mich und die Nestoroff! Wissen Sie das, he?«

Ich zuckte lächelnd die Achseln:

»Wenn es Ihnen Spass macht, will ich's Ihnen gerne glauben.«

»Hören Sie, es ist so!« versetzte er scharf; als wolle er Streit.

Wieder musste ich ein wenig lachen. »Nun, dann wird es wohl auch so sein. Aber ich sehe nicht ein, weshalb Sie mir das erzählen müssen, und noch dazu in diesem Ton.«

»Weil ich – weil ich nun doch bei der Kosmograph bleibe, lieber Herr.«

»Sie bleiben? Schau schau! Ich habe ja nicht einmal gewusst, dass Sie im Sinne hatten zu gehen.«

»Das hatten andere Leute im Sinn«, erwiderte Carlo Ferro. Das »andere Leute« betonte er bedeutungsvoll. – »Aber ich sage Ihnen, ich bleibe trotzdem. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe.«

»Und ich bleibe nicht etwa, weil mir an diesem Vertrag hier etwas gelegen wäre – der ist mir ja ganz piepe. Sondern weil ich noch nie in meinem Leben vor jemandem geflohen bin.«

Bei diesen Worten packte er mich mit zwei Fingern am Jackenknopf, als wollte er mich schütteln.

»Gestatten Sie!« sagte ich meinerseits ganz ruhig und befreite mich von seinem Griff. Dann nahm ich eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete mir eine Zigarette an, die ich schon im Munde stecken hatte. Ich tat zwei Züge, liess aber das Zündholz noch eine Zeitlang zwischen den Fingern brennen, um ihm zu zeigen, dass seine Worte und sein aggressives Wesen mich nicht im mindesten beunruhigten. Dann antwortete ich leise: »Nun könnte ich ja allmählich kapiert haben, worauf Sie hinaus wollen. Aber, noch einmal, ich verstehe nicht, warum Sie das alles gerade mir erzählen wollen.«

»Das ist ja nicht wahr!« – rief Carlo Ferro. – »Sie tun ja nur so, als verstünden Sie mich nicht.«

Ganz gelassen, aber mit fester Stimme entgegnete ich:

»Sehen Sie, wenn Sie Streit mit mir suchen, dann kommen Sie ganz an den Unrechten. Sie haben ja gar keine Veranlassung, und dann, wissen Sie, geht es mir genau wie Ihnen: auch ich pflege vor keinem Menschen davonzulaufen.«

»Ei, was gar!« höhnte er. »Ich habe aber erbärmlich rennen müssen, um Sie nur noch einzuholen!«

Da lachte ich laut hinaus: »Nein, so etwas – – haben Sie wirklich geglaubt, ich liefe vor Ihnen davon? Da sind Sie im Irrtum, lieber Freund, das will ich Ihnen gleich beweisen. Sie bilden sich vielleicht ein, ich sei mit daran schuld, dass nächstens jemand zu uns kommt, der Ihnen verdächtig scheint?«

»Ach was, nichts verdächtig!«

»Na, um so besser. Und deshalb haben Sie also geglaubt, ich liefe Ihnen davon?«

»Ich weiss nur, dass Sie mit einem gewissen Maler befreundet waren, der sich in Neapel umgebracht hat.«

»Ja – – und?«

»Und? Nun, Sie haben die ganze Affaire doch mitgemacht?«

»Ich? Aber ich denke ja gar nicht daran! Wer hat Ihnen denn das gesagt? Ich weiss genau so viel davon wie Sie. Vielleicht sogar noch weniger!«

»Aber Sie werden diesen Herrn Nuti doch wiedererkennen?«

»Ganz gewiss nicht! Ich habe ihn vor mehreren Jahren ein oder zweimal gesehen, nicht öfter, und damals war er noch ein junger Mann. Gesprochen habe ich nie mit ihm.«

»Also ...«

»Also habe ich mich geärgert, dass Sie mich schon seit ein paar Tagen schief ansehen, nur weil Sie glaubten, ich wollte mich in diese Geschichte einmischen. Nur aus diesem Grunde wollte ich mich vorhin nicht von Ihnen einholen lassen und bin schneller gegangen. Da haben Sie nun die Erklärung für meine Flucht! Sind Sie nun zufrieden?«

Carlo Ferro war plötzlich wie umgewandelt. Bewegt streckte er mir die Hand entgegen:

»Wollen Sie mir die Ehre antun, wollen Sie mir die Freude machen, mein Freund zu sein?«

Ich drückte ihm die Hand und erwiderte:

»Sie wissen gut, wie wenig ich neben Ihnen zu bedeuten habe. Die Ehre wird also auf meiner Seite sein.«

Aber Carlo Ferro schüttelte sich wie ein Bär:

»Nein, sagen Sie doch das nicht! Sie kennen sich doch wenigstens aus, im Gegensatz zu all den andern hier ... Sie wissen Bescheid und reden nicht erst lange ... Ist sie nicht ein Jammertal, diese Welt, diese widerwärtige Welt! Alle müssen wir etwas scheinen, kein Mensch weiss, warum – lauter maskierte Gesichter! Sagen Sie doch, warum werden wir alle sofort so clownsmässig, wenn wir untereinander sind? Pardon, das geht nicht auf Sie – ich bin genau solch ein Clown – wir alle zusammen! Aber sehen Sie, da, in der Brust, sind wir doch anders! Da haben wir doch das Herz, – wie – nun, wie ein kleines Kind, das schmollt und weinend in einer Ecke steht. Jawohl: denken Sie, unser Herz schämt sich noch! Ich schmachte ja, Herr Gubbio, ich schmachte nach ein wenig Ehrlichkeit – dass ich mit den andern auch so sein könnte, wie manchmal mit mir selber. Wie ein kleines Kind möchte ich oft sein, das losheult, weil die liebe Mama gescholten hat und ihm böse ist.«

Im Dunkel standen wir, auf der einsamen Allee, und ich sah, wie er mir zwei starke, riesige Hände vors Gesicht hielt, wütend geballte Fäuste.

Mit grosser Anstrengung unterdrückte ich meine Erregung. Sicherlich trug er einen geheimen Kummer mit sich herum, und vielleicht bereute er schon wieder, dass er sich mir gegenüber Luft gemacht hatte. Ich dämpfte etwas den Klang meiner Stimme, denn ich wollte nicht, dass bei ihm das Danken wieder die Oberhand bekäme über sein ehrliches Gefühl.

»Sie haben recht«, sagte ich. »Sie haben ganz recht, Herr Ferro. Aber sehen Sie, es ist ja nicht zu vermeiden: dadurch, dass wir in der Gesellschaft leben, konstruieren wir uns irgendwo zurecht ... Die Gesellschaft an sich ist schon nichts Natürliches mehr, sondern eine konstruierte Welt! Die Natur kennt kein anderes Haus als Höhlen und Grotten ...«

»Geht das auf mich?«

»Wieso auf Sie? Nein!«

»Heisst das, dass ich aus Höhlen oder Grotten stamme?«

»Aber wo denken Sie hin! Erst die Gesellschaft konstruiert Häuser. Und der Mensch, der aus einem solchen konstruierten Hause hervorgeht, in dem es kein naturgemässes Leben mehr gibt, er muss sich auch zurechtkonstruieren, sehen Sie! Er präsentiert sich, nicht wie er ist, sondern wie er sein zu müssen oder sein zu können glaubt. Sein Leben ist eine Konstruktion, angepasst seinen vermeintlichen Beziehungen zur Mitwelt. Ganz im Verborgenen aber, hinter allen Konstruktionen, hinter Neid und Lug und Trug – daerst haben wir unsere geheimsten Gedanken, unser heimlichstes Gefühl.«

»Das wohl – das wohl!« bestätigte Carlo Ferro ein übers andere Mal, schon wieder mit düsterer Miene. – »Aber es gibt auch Leute, die legen sich auf die Lauer hinter diesen Konstruktionen, von denen Sie immer sprechen. Diese sind wie feige Strassenräuber, springen einem an den Hals und überfallen einen hinterrücks. Ich kenne so einen, bei uns in der Kosmograph, und Sie kennen ihn auch ...«

Damit spielte er bestimmt auf Polacco an. Ich begriff sofort: in diesem Augenblick war er nicht zur Vernunft zu bringen. Die Erregung war zu stark in ihm.

»Herr Gubbio,« fing er wieder an, »ich sehe, Sie sind ein Mensch, mit dem ich offen reden kann. Dem Herrn aber, von dem wir gerade gesprochen haben, müssen Sie ein Wörtchen von dem sagen, was ich Ihnen da erzählt habe. Selber kann ich nicht mit ihm sprechen. Ich kenne mein schlimmes Naturell: wenn ich anfinge mit ihm zu reden, ich wüsste nicht, was dabei alles herauskommen könnte! Dieses Hinterhältigtun, diese konstruierten Menschen, von denen Sie da gesprochen haben, die kann ich eben nicht vertragen. Sie kommen mir vor wie die Schlangen. Den Kopf möchte ich ihnen zertreten, sehen Sie: so – so – –«

Er stampfte zweimal wütend mit dem Absatz auf den Boden und fuhr fort:

»Was habe ich ihm eigentlich getan? Was hat ihm meine Freundin getan, dass er mit soviel Erbitterung gegen uns intrigiert? Bitte, sagen Sie nicht nein ... bitte schön, Sie müssen ehrlich sein mit mir, Herrgott nochmal! ... Wollen Sie nicht?«

»Doch ... gerne ...«

»Sie sehen doch auch, dass ich ehrlich mit Ihnen spreche. Also, bitte, geben Sie acht: Er weiss genau, dass ich aus Ehrgefühl niemals mich zurückziehen werde, und deshalb hat er es beim Direktor Borgalli durchgesetzt, dass ich den Tiger zu erschiessen habe. Begreifen Sie? Begreifen Sie die ganze Perfidie: da packt er mich bei meinem Ehrgefühl, um mich auszuschalten! Sie glauben es nicht? Aber das ist seine Absicht, dies und nichts anderes. Sie dürfen es mir glauben, wenn ich es Ihnen sage. Es gehört ja gar nicht so besonders viel Mut dazu, einen Tiger in seinem Käfig zu erschiessen. Nein, Ruhe gehört dazu, kaltes Blut muss man haben, einen sicheren Arm und ein scharfes Auge. Und nun bestimmt er mich zu dieser Rolle. Warum? Weil er weiss, dass ich allenfalls einem Menschen gegenüber wie ein wildes Tier sein kann; umgekehrt aber, als Mensch einer Bestie gegenüber, kann ich gar nichts anfangen! Mir geht doch immer das Temperament durch, ich bin doch kein bisschen ruhig! Wenn ich so ein Tier vor mir sehe, dann meine ich, ich muss mich darauf losstürzen. Ich habe nicht die Ruhe, stehen zu bleiben, scharf anzulegen und das Tier zu treffen, wo man es treffen muss. Ich weiss gar nicht, wie man schiesst. Ich weiss nicht, wie man das Gewehr anlegt. Ich bin imstande es wegzuwerfen, weil ich plötzlich keine Kraft mehr in den Armen verspüre, verstehen Sie das? Und das, das weiss er! Das weiss er ganz genau! So hat er es sich ausgedacht: ich soll in Gefahr kommen, dass das wilde Tier mich zerreisst. Und wozu? Passen Sie auf, wie weit die Hinterlist bei diesem Menschen geht! Da lässt er den Nuti kommen. Wie ein alter Kuppler macht er ihm den Weg frei und bringt mich beiseite. ›Ja, mein Lieber, komm nur!‹, wird er ihm geschrieben haben, ›Ich helfe dir schon. Ich räume ihn dir schon aus dem Wege! Komm nur ganz unbesorgt!‹ Ja, glauben Sie mir denn nicht?« – –

So aggressiv und kategorisch klang seine Frage, dass ich wusste: wenn du ihm scharf widersprichst, kommt er nur noch mehr in Wut. Deshalb zuckte ich nur die Achseln und sagte:

»Was soll ich denn da sagen? Sie müssen mir zugeben, Sie sind augenblicklich sehr gereizt.«

»Ja, kann ich denn da ruhig bleiben?«

»Aber man übertreibt so leicht in solchem Zustand, lieber Ferro ...«

»So, ich übertreibe also? Natürlich – natürlich – – weil die andern kaltschnäuzig sind, weil sie ganz methodisch vorgehen, wenn sie mal ein kleines Verbrechen begehen wollen, weil sie es geradezu konstruieren! Wenn man aber dann drauf kommt, dann muss man unbedingt übertrieben haben. Ich sage Ihnen, konstruiert haben die das in aller Stille, mit Handschuhen sozusagen, um sich die Hände nicht schmutzig zu machen. Mein Gott, sicher weiss er selber nichts davon, dass er ein Verbrechen begeht. – ›Ich? Ein Verbrechen?‹, würde er sagen, ›Lass dich nicht auslachen! Wie kann man so übertreiben!‹ – Und dabei machen sie sich doch auch ihre Gedanken, diese Leute, genau so wie ich! Da packt man einen Menschen und schickt ihn in einen Käfig, und dann hetzt man einen Tiger hinein und sagt: ›Nur ruhig Blut! Nimm ihn gut aufs Korn und schiesse! Aber gib acht, dass du ihn aufs erste Mal erlegst – du musst ihn an der rechten Stelle treffen. Wenn du das nicht fertigbringst, dann springt er dich, auch wenn er verwundet ist, noch an und zerreisst dich!‹ – Ich weiss, das alles hat nichts Böses zu bedeuten, wenn man einen ruhigen, kaltblütigen Menschen auswählt, einen geübten Schützen. Aber wenn man nun absichtlich jemanden aussucht wie mich? Sagen Sie ihm das aber nur – dann tut er, als wäre er aus allen Wolken gefallen: ›Wie? Der Ferro? Aber den habe ich ja extra gewählt, weil er so ein mutiger Kerl ist!‹ – das wird er antworten, der perfide Kamerad! Meinen Mut nützt er noch aus und mein Ehrgefühl, verstehen Sie? Dabei weiss er genau, dass die Angelegenheit mit Mut nichts zu tun hat. Aber er zieht sie so auf – und da steckt sein Verbrechen! Und fragen Sie ihn, warum er dann seinem Freund zum Engagement hier verhelfen will, seinem Freund, der mein Nebenbuhler ist, – nun, dann fällt er Ihnen zum zweitenmal aus den Wolken! ›In welchem Zusammenhang meinen Sie das‹, wird er erstaunt fragen. ›Den Verdacht haben Sie also auch noch? Aber so zu ü-ber-trei-ben!‹ – Nun, Sie haben ja selber gesagt, dass ich übertreibe ... Aber reissen Sie ihm nur die Handschuhe ab, dem sauberen Herrn, und Sie werden sehen, dass Blut an seinen Händen klebt!«

Wie war das nun? – Sicherlich hatte Polacco nicht wirklich das Bewusstsein, etwas Verbrecherisches zu tun. Sicher begünstigte er Nuti nicht aus den Gründen, die Ferro ihm unterschob. Trotzdem war es möglich, dass er all die angedeuteten Ziele verfolgte, ohne es selbst zu wissen. Da er die Nestoroff auf andere Art nicht loswerden konnte, so war es vielleicht unbewussterweise auch ein Wunsch von ihm, sie möchte von neuem die Geliebte seines Freundes Nuti werden. Als solche konnte sie nicht länger mit ihm verfeindet sein. Nicht nur dies; vielleicht würde Nuti als reicher Mann der Nestoroff nicht erlauben, Schauspielerin zu bleiben.

»Aber lieber Ferro,« sagte ich, »Sie haben ja immer noch Zeit genug, wenn Sie wirklich glauben ...«

»Nein!«, unterbrach er mich rauh. »Mit Polaccos Hilfe hat sich der Herr Nuti schon ein Engagement bei der Kosmograph verschafft.«

»Nein, Verzeihung, – ich meine, Sie haben ja immer noch Zeit genug, die Ihnen zugeteilte Rolle zurückzuweisen. Niemand, der Sie kennt, wird sich einbilden, dass Sie das aus Furcht tun.«

»Doch, alle würden sie das glauben«, rief Carlo Ferro. »Und ich selber zuallererst! Mut, ja, Mut habe ich einem Menschen gegenüber. Aber einem wilden Tier gegenüber habe ich keine Ruhe, wie sollte ich da mutig sein? Jawohl, Angst würde ich haben! Angst – nicht um mich, verstehen Sie recht, sondern Angst um die, die mich gern haben ... Ich habe mir ausbedungen, dass meine Mutter sichergestellt wird, aber wenn man ihr morgen das Blutgeld bringt, – sie stirbt daran! Mein Gott, überall auf der Welt werden wilde Tiere bei den Filmaufnahmen umgebracht, und noch nie ist ein Schauspieler dabei umgekommen, aber es hat auch noch keiner der Sache so viel Gewicht beigelegt. Aber ich tue es nun einmal, weil ich sehe, wie man sein Spiel treibt mit mir, wie man mir nachstellt und mich dazu ausersieht, dass ich alle Ruhe verliere! Nun, es wird ja sicher nichts passieren. In einem Augenblick werde ich den Tiger ohne alle Gefahr erschossen haben. Aber ich bin wütend über all diese Hinterlist. Da hofft man, dass mir etwas zustösst, nur damit dieser Herr Nuti freie Bahn bekommt. Das ist es, was mich ... mich ...«

Er brach unvermittelt ab, rang die Hände und zeigte wild die Zähne. Da wurde mir alles klar: mit einem Male sah ich alle Furien der Eifersucht in diesem Menschen toben. Deshalb also hatte er mich angerufen! Deshalb hatte er soviel gesprochen! Deshalb ...

Also, auch Carlo Ferro ist der Nestoroff nicht sicher. Ich musterte sein Gesicht im Lichte einer der Laternen, die in weiten Abständen den Weg begleiteten. Es war ganz verzerrt, dies Gesicht, wild funkelten die Augen darin!

»Lieber Ferro,« sagte ich eindringlich, »wenn Sie glauben, dass ich Ihnen irgendwie nützlich sein könnte, – soviel ich vermag –«

»Danke,« sagte er mit plötzlicher Härte, »nein – Sie können nicht – –«

Vielleicht hatte er zuerst sagen wollen: »Mir kann nichts mehr helfen!« Aber er beherrschte sich und sprach weiter:

»Nein, Sie können mir höchstens durch eine Sache nützlich sein: Wenn Sie Herrn Polacco sagen, dass sich mit mir nicht gut spassen lässt. Ich sei nicht der Mann, dem man sein Leben oder seine Frau so ohne weiteres wegnimmt, wie er es sich offenbar einbildet. Das mögen Sie ihm sagen! Und wenn hier etwas passieren sollte – und das wird bestimmt der Fall sein – dann wehe ihm: mein Wort drauf! Sagen Sie ihm das, und damit habe ich die Ehre!« – –

Er grüsste nur ganz achtlos mit der Hand, machte lange Schritte und verschwand.

Hatte er mir denn nicht seine Freundschaft angetragen?

Das verletzte mich tief, dass er so plötzlich wieder zu seinem früheren verachtungsvollen Wesen zurückkehrte. Ein Carlo Ferro kann nur einen Augenblick lang glauben, er sei mein Freund. Im Grunde kann er keine Freundschaft für mich empfinden. Morgen, des bin ich sicher, wird er mich doppelt hassen, weil er mich heute abend als Freund behandelt hat.

 

§ 5

Ich glaube, es wäre gut, wenn ich ein anderes Gemüt bekäme und ein neues Herz.

Wer tauscht sie mir wohl ein?

Immer deutlicher erkenne ich ja, dass ich ein teilnahmsloser Zuschauer sein muss, und dazu passen sie schlecht, mein Herz und Gemüt.

Da haben wir nun die Geschichte mit Fräulein Luisetta Cavalena, nur als kleines Beispiel.

Neulich hatte Polacco den Einfall, die junge Dame nach dem Bosco Sacro zu bestellen und dort eine kleine Rolle spielen zu lassen. Um sie auch für andere Szenen des Films zu gewinnen, schickte er dem Vater eine 500 Lire-Note. Luisetta aber bekam, wie versprochen, einen reizenden Sonnenschirm, und ein Halsband mit vielen Silberglöckchen für ihr altes Hündchen Piccinì.

Hätte Polacco das doch niemals getan!

Anscheinend hatte Cavalena seiner Frau angedeutet, dass er auf der Kosmograph (er hatte dort seine Manuskripte abgeliefert; alle enthielten sie ihren biederen, unvermeidlichen Selbstmord und wurden deshalb regelmässig zurückgesandt) niemanden gesehen habe, ausgenommen ganz allein den Coco Polacco. Wie aber hatte er ihr erst das Innere der Kosmograph beschrieben: als eine strenge Klause offenbar, aus der alle Frauen wie böse Geister verbannt sind. Damit wollte er seine Frau wohl abschrecken, ihn am anderen Tage zu begleiten. Heute morgen aber, – ich wollte gerade an die Arbeit gehen – sah ich die Familie auch schon in einer Kutsche angefahren kommen – alle vier Cavalenas: Vater, Mutter, Tochter und Hündchen – Fräulein Luisetta blass und nervös, das Piccinì noch zerzauster als gewöhnlich, Cavalena anzusehen wie eine verschimmelte Zitrone unter seiner Lockenperücke und seinem breitrandigen Hut. Die Frau wie ein schlecht im Zaum gehaltenes Gewitter mit ihrem Hütchen, das sich beim Aussteigen auf ihrem Kopfe verschoben hatte.

Cavalena trug unterm Arm ein längliches Paket. Das war der seiner Tochter verehrte Schirm. In der Hand hielt er die Schachtel mit dem Halsbändchen für Piccinì. Er wollte die Geschenke zurückgeben.

Fräulein Luisetta erkannte mich sofort. Ich eilte herbei, um sie zu begrüssen, und sie wollte mich ihren Eltern vorstellen, konnte sich aber nicht mehr auf meinen Namen besinnen. Ich zog sie aus der Verlegenheit und stellte mich selbst vor.

»Der Operateur! Weisst du, der Mann an der Kurbel, Nene!«, erläuterte Cavalena seiner Frau voll Beflissenheit und lächelte dann, als müsse er sie um Gnade angehen.

Gott, wie sah sie aus, die Frau Nene! Wie eine alte, verfärbte Puppe! Ein wahrer Helm von beinahe grauen Haaren hing über der niederen, eckigen Stirn. Die schmalen, gerade gezogenen Augenbraunen waren wie eigensinnig hingesetzte Balken, als sollten sie diesen blanken und glasharten Augen mit Gewalt einen törichten Ausdruck geben. Sie machte einen apathischen Eindruck. Sah man aber genauer zu, dann bemerkte man ein ständiges nervöses Zucken in ihrem Gesichte. Ihre Haut rötete sich von Zeit zu Zeit fleckig und wurde wieder blass. Zuweilen macht sie eine hastige, ungereimte Bewegung. Zum Beispiel habe ich gesehen, wie sie einen bittenden Blick ihrer Tochter beantwortete: da rundete sie den Mund zu einem O und steckte den Finger hinein. Das sollte sicher heissen:

»Dumme Person, warum starrst du mich so an?«

Und wirklich, Mann und Tochter beobachteten sie in einemfort, wenn auch noch so unmerklich, als fürchteten sie, sie könne von einem Augenblick zum andern einen grässlichen Wutausbruch bekommen. Gewiss reizen sie sie dadurch nur noch mehr. Aber wer weiss schliesslich, was für ein Leben sie mit ihr haben, die Armen!

Polacco hat mir einiges davon erzählt. Wenn die Eifersucht diese Frau überfällt, dann verliert sie jedes Mass und jedes Schamgefühl. Vor allen Leuten, vor der eigenen Tochter, die alles mit anhören muss, setzt sie ihren Mann in der krassesten Weise herunter. Ganz brutal, wie es ihr eben in den Sinn kommt, wirft sie ihm seine angeblichen Fehltritte vor, die alle ganz unwahrscheinlich klingen. Es ist klar, dass durch solche hässliche und schamlose Szenen Fräulein Luisetta ihren Vater in einem lächerlichen Lichte sehen lernt, so sehr er auch ihr Mitleid einflössen muss. Coco Polacco hat mir ein paar Antworten wiedererzählt, die er seiner Frau gibt, wenn sie ihn mit ihren wütenden Angriffen überfällt: Antworten, wie man sie sich dümmer, naiver und kindischer gar nicht vorstellen könnte! Deshalb schon glaube ich nicht, dass Polacco sie etwa selber erfunden hat.

»Nene, ich bitte dich, ich bin fünfundvierzig Jahre alt.«

»Nene, ich bin Offizier gewesen ...«

»Nene, aber um Gottes willen, wenn einer Offizier gewesen ist und sein Ehrenwort gibt ...«

Trotzdem: auch seine Geduld hat ihre Grenzen. Wenn sie ihn mit raffinierter Grausamkeit in seinen empfindlichsten Gefühlen verletzt hat, wenn sie ihn barbarisch geschunden hat, wo's ihm am wehsten tut, dann läuft er ihr manchmal davon aus diesem Zuchthaus. Wie ein Verrückter steht er dann auf einmal mitten auf der Strasse, ohne einen Pfennig in der Tasche, aber fest entschlossen, irgendwie »sein Leben« wieder anzufangen, wie er sagt. Er läuft da- und dorthin und besucht seine Freunde, und die Freunde nehmen ihn zuerst auch glorreich auf in den Cafés und auf den Redaktionen, weil man seinen Spass mit ihm haben kann. Bald aber flaut die Begeisterung merklich ab, sowie er nämlich die dringende Bitte vorbringt, man möge ihm einen Posten verschaffen. Nun freilich: er kann ja nicht einmal seinen Kaffee bezahlen, nicht die bescheidenste Mahlzeit, wie viel weniger das Nachtlager im Wirtshaus? Wer wird ihm aushelfen mit zwanzig Lire, nur für den Augenblick? Er geht zu den Journalisten und appelliert an das alte Solidaritätsgefühl. Morgen wird er auch einen Aufsatz zur Zeitung bringen. Was denn? Nun, ein Feuilleton oder ein wissenschaftliches Allerlei. Er hat ja so viel Stoff bei sich angesammelt ... neue Einfälle, jawohl ... Nun, zum Beispiel? Mein Gott, zum Beispiel, folgendes ...«

Er ist noch nicht zu Ende mit seiner Geschichte, da lachen seine guten Freunde ihm schallend ins Gesicht. Das soll etwas Neues sein? Das hat ja schon Noah in der Arche seinen Söhnchen erzählt, wenn die Seefahrt zu langweilig wurde über den Gewässern der Sintflut ...

Ach, ich kenne sie ja auch gut genug, diesen guten Freunde aus dem Kaffeehaus. Alle haben sie diese Sprechweise, diesen gekünstelt spasshaften Stil. Sie regen sich auf über die Lügengeschichten der andern, und dann nehmen sie das Herz in die Hand und erzählen eine noch tollere, die aber auch innerhalb des vorgeschriebenen Tones bleibt, damit sie nicht von den andern niedergebrüllt werden. So lachen sie einander der Reihe nach aus und machen ein wüstes Spiel noch aus ihren Eitelkeiten und Liebhabereien. Mit einer brutalen Munterkeit schmeissen sie sich ihre Scherze ins Gesicht, und soviel man sieht, fühlt sich keiner gekränkt. Im Innersten aber frisst ihnen der Ärger und läuft ihnen die Galle über.

Cavalena übrigens fühlt sich vielleicht wirklich nicht gekränkt. Er beklagt sich nicht darüber, dass die Freunde Schindluder mit ihm treiben, ihn peinigt ja viel zu sehr die Erkenntnis, dass er in seiner Abgeschiedenheit »den Kontakt mit dem Leben« verloren hat. Seit seiner letzten Flucht aus dem Gefängnis mögen, sagen wir, achtzehn Monate verstrichen sein; aber es ist, als wären es achtzig. Da hat er sich gewisse Jargonausdrücke von damals, wie Kleinode im Gedächtnis aufbewahrt, aber wie er sie nun vernehmen lässt, verziehen alle Anwesenden das Gesicht und sehen ihn an, wie man im Wirtshaus eine aufgewärmte Speise ansieht, die schon ranzig ist – als wäre er meilenweit fort gewesen.

Gekränkt, das Gesicht grün vor Ärger, aber leicht gefleckt da und dort, als hätten die Freunde ihn zum Spasse mit Nadeln gestochen, so sitzt Cavalena da und verzehrt sich innerlich. Immer noch schwört er sich, nie mehr in die Fänge seiner Frau geraten zu wollen, aber schon wandelt sich in ihm die Begier, »sein Leben« wieder zu beginnen, schon steht ein neuer Wunsch in ihm, unklar noch, aber immer quälender. Die alten Freunde verlachen ihn, und hier, in ihrer Mitte, vom Lärm und wütenden Geschwätz umgeben, fühlt sich Cavalena mit einem Male vergewaltigt. Ernste Gefahr glaubt er drohend vor sich zu sehen. Ihm ist, als stünde er auf gläsernen Füssen, während rings um ihn ein Haufen Verrückter mit eisernen Stiefeln Radau macht. Sein Leben im Ehekerker erscheint ihm plötzlich seltsam verklärt. Voller reizvoller und unentbehrlicher Züge scheint es zu sein. Und dafür hat er nur dies eingetauscht, die Gesellschaft solcher Freunde, den Anblick ihrer Aufgeblasenheit, ihr übles, zuchtloses Wesen?

Trägt sie denn Schuld, seine Frau, hat seine arme Nene denn Schuld, wenn sie so voller Eifersucht sein muss? Er ist ja Arzt und weiss, diese wütende Eifersucht ist einfach eine Geisteskrankheit, eine Art Irrereden. Eine typische Form von Paranoia mit Erscheinungen von Verfolgungswahn. Das erzählt er sofort allen, die es hören wollen: es sei ein typischer Fall! Aber zu guter Letzt kommt sie, die arme Nene, gar auf den Verdacht, er wolle sie umbringen, um zusammen mit der Tochter ihr Geld zu erben. Was würde das dann für ein herrliches Leben werden, ohne sie! – Freiheit – Freiheit – hingehen können, wohin man will! Das versteht man, das sagt die arme Nene, weil sie einsieht, dass das Leben unerträglich ist, so wie sie es sich und den andern macht. – Aber er, er ist doch Arzt! Da hätte er doch die Pflicht, seine arme Nene als Kranke zu behandeln, die nicht verantwortlich ist für das, was sie ihm angetan hat und immer noch antut! Weshalb lehnt er sich denn immer wieder auf und gegen wen eigentlich? Und dann hat er ja die arme Luisetta allein in dieser Hölle zurückgelassen, ganz allein mit der unzurechnungsfähigen Mutter ... Nein, nichts als nach Hause, schnell, schnell! Aber vielleicht verbirgt sich hinter diesem Mitleid mit Weib und Kind nur der Drang, diesem gefährdeten und unsicheren Leben hier zu entgehen, das nicht mehr für ihn passen will. Im übrigen – hat er nicht allen Grund, auch mit sich selbst Mitleid zu haben? Wer hat ihn denn so weit gebracht? Kann er denn in seinem Alter das frühere Leben wieder beginnen, nachdem alle Fäden abgerissen, alle Talente verlorengegangen sind, einzig und allein der Frau zu Gefallen? So denkt er hin und her, und zum Schluss, zum Schluss begibt er sich zurück auf die Galeere.

So schildert er selber sein Unglück, der arme Tropf. Dabei hat er beständig die schrecklichste Angst, seine Frau könne aus irgendeinem äusserlichen Grunde eine Szene mit ihm vom Zaune brechen. Freilich tut er einem leid, aber man kann nicht anders: man muss lachen über ihn!

Auch ich hätte an diesem Morgen vielleicht über ihn gelacht, wenn nicht Fräulein Luisetta mit dabei gewesen wäre. Wer weiss, wie sie unter der unvermeidlichen Lächerlichkeit des Vaters leiden mag, die arme Kleine!

Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, in einer Verfassung wie er, den seine Frau immer noch mit solch rasender Eifersucht verfolgt – er muss wohl oder übel masslos lächerlich wirken. Als zweites Übel kommt dazu, dass der Arme infolge einer typhösen Erkrankung (er kam damals wie durch ein Wunder davon!) vorzeitig alle Haare verloren hat. Er muss deshalb jene kunstvolle Perücke tragen und darüber den Hut mit dem besonders breiten Rand. Das verwegene Aussehen dieses Hutes und des künstlichen Lockengeringels steht im krassesten Gegensatz zu seinem ängstlichen und empfindsamen Gesicht. Er kann mit diesem Aussehen einfach nicht seriös wirken, für die Tochter aber muss seine Erscheinung ein beständiger Kummer sein.

»Nein, sehen Sie, lieber Herr ... wie sagten Sie doch, bitte?«

»Gubbio.«

»Gubbio – danke! Gestatten Sie: Cavalena ist mein Name.«

»Danke, ich weiss, Herr Cavalena!«

»Fabrizio Cavalena; ich bin nicht unbekannt in Rom ...«

»Allerdings, als Hanswurst!«

Cavalena wurde totenblass und wandte sich um. Mit offenem Mund starrte er seine Frau an.

»Hanswurst – Hanswurst – Hanswurst,« schnarrte sie dreimal.

»Nene, um Gottes willen, sei doch vernünftig ...,« begann Cavalena drohend. Plötzlich aber schwieg er still, zog die Augen zusammen, schnitt eine Grimasse und ballte die Fäuste, als hätten ihn unvermittelt Magenkrämpfe befallen. Aber nein: es war nur die übliche Selbstüberwindung – er sagt sich, dass er Arzt sei und folglich seine Frau als arme Leidende behandeln müsse.

»Gestatten Sie?«

Damit schob er seinen Arm unter den meinen und nahm mich ein wenig beiseite.

»Das war wieder ganz typisch! Eine arme, kranke Frau! Sie können mir glauben, es gehört ein wahrer Heldenmut dazu, das auszuhalten. Ich brächte vielleicht nicht immer die Kraft da zu auf, wenn ich nicht meine arme Kleine da hätte. Na, genug davon! Was ich Ihnen sagen wollte: dieser Polacco, oh du lieber Himmel, dieser Polacco! Da nimmt er mir meine Tochter zum Filmen mit, zusammen mit einem zweifelhaften Weibsbild und einem Schauspieler, der notorisch ... Stellen Sie sich vor, was das für eine Familie wie die meine bedeutet! Und dann schickt er mir diese Präsente da ... ein Halsband für den Hund ist sogar dabei ... und fünfhundert Lire ...«

Ich versuchte ihm auseinanderzusetzen, dass die Sache mit den Geschenken und den fünfhundert Lire meiner Ansicht nach nicht so schlimm sei, wie er sich einbilde. Aber da kam ich schlecht an: wieso? Er denkte ja gar nicht daran, etwas Schlimmes dabei zu finden! Er sei im höchsten Mass befriedigt über das Ereignis. Polacco sei er von Herzen dankbar, dass er seine Tochter diese kleine Rolle hatte spielen lassen. Nein, diese ganze Empörung sei eine Finte, um seine Frau zu versöhnen. Ich hatte das gleich bei seinen ersten Worten bemerkt. Nun, da ich ihm auseinandersetzte, es sei doch gar nichts Schlimmes vorgefallen, frohlockte er förmlich. Er packte mich beim Arm und schleppte mich zu seiner Frau.

»Hörst du? Hörst du, was dieser Herr sagt? Ich bitte Sie, sagen Sie es ihr selber! Ich für meine Person will den Mund halten ... Da habe ich nun die Geschenke und die fünfhundert Lire mitgebracht und wollte sie zurückgeben ..... Aber nun meint der Herr hier, das wäre eine grundlose Beleidigung – es hiesse jemand übel behandeln, der uns niemals hat kränken wollen – nun, ich weiss es nicht, ich weiss es wirklich nicht! Ich bitte Sie, reden Sie um Gottes willen mit ihr, – wiederholen Sie meiner Frau alles, was Sie mir grade so liebenswürdig erklärt haben.« –

Aber seine Frau liess mir keine Zeit dazu. Mit ihren glashellen, funkelnden Augen kam sie wie eine gereizte Katze auf mich zu.

»Hören Sie nicht auf diesen Hanswursten, diesen Heuchler, diesen Komödianten! Es ist ihm doch gar nicht um die Kleine, das ist doch nur eine schöne Geste. Er, er selber möchte sich hier herumtreiben, denn das wäre ein rechter Tummelplatz für ihn, unter diesen Dämchen, die grade sein Geschmack sind, Künstlerinnen, geziert und selbstgefällig. Er schämt sich gar nicht, der Betrüger, seine Tochter vorzuschieben, selbst wenn er sie dabei kompromittiert und verdirbt. Er hätte dann immer die Entschuldigung, er müsse sie hierher begleiten, verstehen Sie? In einemfort müsste er dann nach dem Kinde sehen ...«

»Aber du doch auch!« schrie Fabrizio Cavalena ausser sich. »Habe ich dich denn heute etwa nicht mitgenommen?«

»Ich?« brüllte die Frau, »ich – und hier?«

»Und warum?« rief Cavalena dagegen, ohne sich einschüchtern zu lassen. Dann wandte er sich wieder an mich und sagte: »Erzählen Sie ihr doch; kommt nicht sogar Zeme hierher?«

»Zeme?« fragte die Frau erstaunt und runzelte die Stirn. »Wer ist Zeme?«

»Herr Senator Zeme!« rief Cavalena pathetisch. »Königlicher Senator – ein Gelehrter von Weltruf.«

»Das wird ein noch grösserer Hansnarr sein als du!«

»Zeme, der immer bei Hofe eingeladen ist, einer der berühmtesten Männer von Italien – er ist doch Direktor der Sternwarte! Aber schäm dich doch wirklich! Wenn du schon keinen Respekt vor mir hast, dann doch wenigstens vor den bedeutenden Männern in Italien! Und er war wirklich hier? Aber Herr Gubbio, so reden Sie doch, sagen Sie es ihr doch bitte! Zeme ist hier gewesen und hat sich filmen lassen, nicht wahr? ›Himmelswunder‹ wird der Film heissen, du! Nun, und wenn Zeme hier zu sehen ist, ein Gelehrter von Weltruf, – dann kann auch ich mich mit dem Film abgeben. Aber mir ist es ja schliesslich einerlei, ich komme ja nicht mehr hierher. Es kommt mir jetzt nur darauf an, dass ich der Frau zeige: dies ist keine Lasterhöhle hier, in die ich meine Tochter zu schmutzigen Zwecken führe ... Aber jetzt tun Sie mir bitte gleich einen Gefallen: führen Sie mich zu Polacco, ich muss ihm die Sachen und das Geld zurückgeben. Wissen Sie, wenn einer eine Frau hat wie die meine, dann kann er sich gleich begraben lassen! Also, bitte, bringen Sie mich zu Polacco!«

Ich tat ihm den Gefallen. Doch als ich achtlos, ohne anzuklopfen, die Türe zur »Künstlerischen Abteilung« (Polaccos Bureau) öffnete, bot sich mir ein so unerwarteter Anblick, dass ich nicht mehr aus noch ein wusste und alles andere vergass.

Ein Mann sass ganz gekrümmt in Polaccos Schreibtischstuhl und weinte. Die Hände vors Gesicht gelegt, weinte er ganz verloren.

Polacco blickte auf und machte mir mit ärgerlicher Miene ein Zeichen, die Tür wieder zu schliessen.

Das tat ich. Der Weinende da drinnen war sicher Aldo Nuti. Cavalena und seine Familie starrten mich verständnislos an.

»Was gibt's?« fragte Cavalena.

Ich fand kaum Atem zur Antwort.

»Es ist – es ist Besuch da –«

Gleich darauf kam Polacco heraus; sein Gesicht war aufgeregt, und er machte Cavalena ein Zeichen, er möge warten. Er dachte nicht einmal daran, die Damen zu begrüssen, sondern nahm mich beim Arm und führte mich ein wenig beiseite.

»Er ist hier! Man darf ihn aber um keinen Preis allein lassen! Ich habe ihm von dir erzählt, und er erinnert sich noch genau an dich. Wo wohnst du eigentlich? Nun warte mal; es wäre mir lieb ...«

Plötzlich rief er Cavalena herbei: »Du vermietest doch zwei Zimmer, nicht wahr? Hast du sie jetzt gerade frei?«

»Na und ob!« klagte Cavalena, »seit mehr als einem Quartal!«

»Gubbio,« wandte sich Polacco an mich, »du musst sofort ausziehen. Zahle deine Wohnung, einen Monat oder zwei oder drei, wie es eben ist, und nimm eins von Cavalenas Zimmern. Das andre ist für ihn.«

»Das ist ja wunderbar!« rief Cavalena strahlend und streckte mir beide Hände entgegen.

»Ja, ja, ja,« drängte Polacco, »nun geht nur sehen! Du, mach die Zimmer bereit, und du, Gubbio, packe deine Sachen und bringe sie gleich zu Cavalena. Dann komm wieder her – sind wir uns einig, ja?«

Resigniert öffnete ich die Arme, und Polacco ging zurück in sein Zimmer. Ich aber entfernte mich mit der Familie Cavalena, die mich nach allen Seiten ausfragte und Aufklärung haben wollte über all diese wunderlichen Begebenheiten.


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