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Die sieben Hefte

der

Aufzeichnungen des Filmoperateurs Serafino Gubbio


Das erste Heft
der
Aufzeichnungen des Filmoperateurs
Serafino Gubbio

 

§ 1

Ich pflege die Leute bei ihren alltäglichsten Geschäften zu beobachten, um an ihnen vielleicht zu entdecken, was mir selbst abgeht bei allem, was ich beginne: die Gewissheit, das eigene Tun zu begreifen.

Auf den ersten Blick, ja, da mag es so aussehen, als besässen viele diese Gewissheit. Man meint es nach der Art, wie sie einander ansehen und einander grüssen, wie sie eilfertig hin und her laufen, wie sie ihren Geschäften nachgehen oder ihren Launen. Aber dann bleibst du stehn und siehst ihnen ernsthaft und schweigsam in die Augen, da verdüstern sie sich plötzlich. Ganz verwirrt werden sie und beunruhigt, und dringst du etwas weiter in sie, dann kann es geschehen, dass sie gar beleidigend oder handgreiflich werden.

Nein, still davon! Ich bescheide mich, ihr Leutchen, zu wissen, dass auch ihr weder Klarheit noch Sicherheit besitzt. Gibt es doch in allem ein gewisses »Darüber-hinaus«. Und das wollt und könnt ihr nicht sehen. Aber kommt da so ein müssiger Beobachter, wie ich, des Wegs und blitzt ihm dies »Darüber-hinaus« aus den Augen, dann werdet ihr gleich ganz böse und verstört und gereizt.

Freilich kenne ich sie auch, jene Maschine des äusseren Lebens, die rastlos und stürmisch uns alle in ihren Strudel reisst. Heute hierhin, morgen dorthin. Ein Wettrennen, immer die Uhr in der Hand, um ja zur Zeit anzukommen. »Nein, mein Bester, ich danke Ihnen, ich kann unmöglich – –«, – »Ach ja, wirklich? Sie Glückspilz, Sie haben Zeit. Ich muss rasch weiter – – –« – »Um elf Uhr – jawohl – zum Lunch« – »Schönes Wetter! Schade um das schöne Wetter. Ich habe doch zu tun.« – »Was fährt denn da vorüber? Ah, ein Leichenwagen. Grüss Gott, du hast's überstanden – –.« »In die Fabrik, zum Gericht, auf die Börse, den Geschäften – – immer den Geschäften nach.«

Oft frage ich mich, ob die rastlose und treibende Maschinerie des Lebens, die täglich rasender und komplizierter wird, die Menschheit nicht bald in solche Tollheit versetzen wird, dass alles zusammenstürzt. Und am Ende wäre wohl damit nichts verloren.

Bei uns zu Lande ist es ja wohl noch nicht so weit gekommen. Aber in Amerika soll es sich nicht selten begeben, dass ein Mann mitten in seinen Geschäften plötzlich zusammenbricht, wie vom Blitz getroffen. Nun, mit Gottes Hilfe werden wir vielleicht auch bald so weit sein. Rüstig entwickeln wir uns ja in dieser Richtung!

Ja, man arbeitet! Und ich bin, um es bescheiden auszudrücken, auch einer von denen, die für das Amüsement der anderen arbeiten. Als Operateur. Versteht sich: Operateur sein, das bedeutet in der Welt, in der ich lebe, nicht etwa: Operationen machen!

Was ich tue, ist vielmehr dies: ich stelle meinen kleinen Apparat auf seinem Stativ auf. Dann zeichnen ein paar Gehilfen nach meinen Angaben mit einer langen Stange und einem Blaustift die Grenzen auf dem Fussboden ein, zwischen denen sich die Schauspieler bewegen müssen, um im Gesichtsfeld der Linse zu bleiben.

Das heisst man ... »Feld abstecken«.

Aber das Feld stecken die andern ab: nicht etwa ich. Ich habe nichts weiter zu tun, als gut auf den Apparat aufzupassen und anzuzeigen, wie weit die Linse »fasst«.

Ist alles bereit, so verteilt der Direktor die Schauspieler und schreibt ihnen die Handlung vor.

Dann frage ich den Direktor: »Wieviel Meter?«

Und er gibt mir, je nach der Länge der Szene, ungefähr an, wieviel Meter Film gebraucht werden. Dann aber ruft er ganz laut: »Achtung – Kurbeln!«

Und ich, ich fange an, die Kurbel zu drehen.

Jetzt könnt ich mir ja einreden, dass ich, wenn ich drehe, etwa wie ein Spielmann die Schauspieler nach meiner Leier tanzen liesse. Aber auf solch kühne Einfälle komme ich gar nicht. Ich drehe nur einfach ruhig weiter, bis der Auftritt vorüber ist. Dann sehe ich in den Apparat und melde dem Direktor:

»Achtzehn Meter«, oder auch: »Fünfunddreissig Meter«.

Und damit ist alles in Ordnung.

Einmal fragte mich ein Herr, der als Zuschauer gekommen war, ganz unverholen:

»Entschuldigen Sie, hat man eigentlich noch keine selbsttätig kurbelnde Maschine erfunden?«

Noch sehe ich sein Gesicht vor mir, schmal und blass, mit dünnen, blonden Haaren und stechenden, hellen Augen; mit einem gelblichen Spitzbart, hinter dem sich ein Lächeln verbarg, das schüchtern und höflich scheinen wollte, das aber tückisch war. Nichts anderes wollte er mir doch mit dieser Frage sagen, als: Wozu bist du denn überhaupt nötig auf der Welt? Was bist du denn überhaupt? Eine Hand an der Kurbel. Geht es denn nicht auch ohne diese Hand, könnte man sie nicht durch irgendeine Maschinerie ersetzen?

Ich lächelte und gab zur Antwort:

»Vielleicht mit der Zeit, mein Herr. Sie haben ganz recht, die wesentlichste Vorbedingung meines Berufs ist die völlige Unbewegtheit und Gleichgültigkeit gegenüber der Handlung, die sich vor meinen Augen abspielt. In dieser Hinsicht wäre eine Maschinerie gewiss geeigneter und einem Menschen vorzuziehen. Aber die Hauptschwierigkeit ist vorläufig noch diese: eine Maschinerie zu erfinden, die die Schnelligkeit der Bewegung entsprechend den Vorgängen auf der Szene reguliert. Denn, verehrter Herr, ich drehe ja nicht immer gleich schnell an der Kurbel, sondern bald ein wenig schneller, bald ein wenig langsamer, je nachdem. Und doch zweifle ich nicht daran, dass mit der Zeit – jawohl mein Herr, da haben Sie ganz recht – man auch mich wird ersetzen können. Der kleine Apparat – ja auch dieser kleine Apparat, wie soviel andere kleine Apparate – wird sich von selber drehen. Aber was wird dann der Mensch tun, wenn alle kleinen Apparate sich von selbst drehen? Das, verehrter Herr, bleibt doch noch zu bedenken!«

 

§ 2

Warum zeichne ich dies alles auf? Es ist wohl ein übermächtiger Drang in mir, mich zu befreien von der Teilnahmslosigkeit, zu der mein Beruf mich zwingt, und am Ende: mich zu rächen. So räche ich mich und alle die vielen, die gleich mir dazu verdammt sind, nichts anderes zu sein, als » eine Hand an der Kurbel«.

Früher, da war der Mensch ein Dichter, und schuf sich Gott aus seinem Gefühl und betete es an. Dann aber tat er es von sich wie eine nutzlose, eine schädliche Last und wurde klug und betriebsam. Aus Stahl und Eisen schuf er sich seine neuen Götter und wurde ihr Sklave und ihr Knecht. Es lebe die Maschine, die das Leben mechanisiert!

Das ist der Triumph der Dummheit: Soviel Genie und soviel Eifer auf die Schöpfung dieser Ungeheuer zu verwenden, die unsere Werkzeuge bleiben sollten und statt dessen mit Gewalt sich zu unseren Herren gemacht haben. Die Maschine, die rastlos läuft, muss unsere Seele und unser Leben verschlingen. Und wie soll sie's uns zurückgeben, es sei denn hundertfach zerstückelt? Höchstens in Teilchen, in Bröckchen, abgestempelt, stumpfsinnig und gleichmässig, eines wie das andere, dass man eine Pyramide daraus errichten könnte bis zu den Sternen. Zu den Sternen? Ach nein! Nicht einmal bis zur Höhe eines Telegraphenpfahls. Ein Hauch bläst sie um – tausend kleine Stückchen und Fächelchen – und weht sie uns vor die Füsse, dass wir nicht mehr wissen, wohin wir treten sollen.

Was soll man dagegen tun? Ich stehe hier und bediene meine Maschine. Ich kurble, damit sie fressen kann. Nicht mit der Seele diene ich ihr, nur mit der Hand. Die Seele, die sie verspeist, das Leben, das sie auffrisst, ihr gebt es ihr, ihr alle, – ich kurble nur. Und ich habe, mit Verlaub, nur meinen Spass daran, zuzuschauen, was dabei herauskommt. Ein schönes Resultat, sage ich euch.

Und meine Augen und Ohren sehen und hören durch die lange Gewohnheit schon alles auf diese merkwürdige, rasche, zitternde und tickende Art.

Hört ihr auch? Eine grosse Hummel, die immer summt, dunkel und tief, ganz in der Tiefe und ohne aufzuhören. Was ist das? Ist es das Sausen der Telegraphenleitungen? Das Gleiten des Rädchens an den Drähten der Strassenbahn? Ist es das ferne, donnernde Konzert aller Maschinen und Motoren?

Von dem Schlagen des Herzens merkt man nichts und nichts von dem Kreisen des Blutes in den Adern. Wehe, wenn man es merkte! Aber dies Summen, dies ständige Ticken, das spürt man. Man spürt die Unnatur dieses ganzen unsinnigen Strudels, dieses Aufblitzens und Wiederverschwindens von Bildern, und dass darunter ein Mechanismus ist, der sie treibt mit rasendem Sausen.

Wird er nie in Stücke gehen?

Ach nur nicht immer darauf hören, es würde einen mehr und mehr erbittern, würde einem den Verstand rauben. Nur nicht verweilen bei dem tollen Strudel, der uns umfängt! Augenblick um Augenblick die reissende Folge von Bildern aufnehmen, und fort mit ihnen, bis dass das Summen einen jeden von uns ewig umtönt!

 

§ 3

Ich kann den Mann nicht vergessen, dem ich vor einem Jahre begegnet bin, am Abend meiner Ankunft in Rom.

Es war im November – ein eisig kalter Abend. Ich irrte auf der Strasse, auf der Suche nach einem bescheidenen Quartier, weniger meinetwegen – ich bin ja gewohnt, im Freien zu schlafen und bin ein Freund der Fledermäuse und der Sterne – als wegen meines Handköfferchens, das mein ganzes Hab und Gut war, und das ich auf dem Bahnhof in Verwahrung gelassen hatte. Da begegnete ich zufällig einem alten Freund aus Sassari, den ich schon lange aus den Augen verloren hatte: Simone Pau, einem der sonderlichsten Käuze unter Gottes Sonne. Als ich ihm von meiner misslichen Lage erzählte, lud er mich sogleich ein, bei ihm in seinem »Hotel« zu übernachten. Ich nahm an, und so spazierten wir selbander durch die verlassenen Strassen.

Beim Gehen erzählte ich ihm, was mir alles widerfahren sei und was für Hoffnungen – spärliche freilich – mich nach Rom geführt hätten. Simone Pau schritt langsam neben mir, den Kopf entblösst. Die langen grauen Haare waren in der Mitte gescheitelt, aber so unregelmässig, dass man sah: sie waren mit den Fingern und nicht mit einem Kamm frisiert. Wie eine ausgefranste graue Gardine hingen sie ihm um die Ohren. Jetzt blies er eine grosse Rauchwolke aus und blieb stehen, um mir zuzuhören; den riesengrossen feuchten Mund weit aufgesperrt wie eine antike Maske. Dabei huschten die pfiffigen und lebhaften Augen wie zwei in der Falle gefangene Mäuse in dem breiten und gutmütigen Bauerngesicht hin und her. Ich glaubte zuerst, er bliebe in dieser Haltung mit offenem Munde stehen, um über mich und mein Schicksal zu lachen; dann aber hörte ich, wie er plötzlich laut in die nächtliche Stille sagte:

»Erlaub einmal, was weiss denn ich vom Berge, von den Bäumen, vom Meer? Der Berg ist ein Berg, weil ich sage: das ist ein Berg. Das heisst soviel wie: ich bin der Berg! Was sind denn wir? Wir sind das, was wir jedesmal wahrnehmen. Ich bin der Berg, bin der Baum, bin das Meer. Und auch der Stern, der sich selbst nicht kennt.«

Ich war starr. Aber nur einen Augenblick. Denn schliesslich habe ich die gleiche Krankheit wie mein Freund und sie wurzelt auch tief in meinem Wesen. Sie zeigt mir klar, dass alles was geschieht, vielleicht deswegen geschieht, weil die Erde mehr für die Tiere als für die Menschen geschaffen ist. Denn die Tiere tragen die Notwendigkeit ihres Lebens in sich nach richtigem Mass, während die Menschen von ständigem Übermass gepeinigt und unsicher gemacht werden. Unerklärliches Übermass, das, um sich zu entladen, in der Natur eine Welt des Scheines schafft, die nur für sie selbst Sinn und Wert hat. Und sie doch nie befriedigt. So dass sie sie ruhelos immer und immer wieder verwandelt, wie getrieben von einem Ziel – und sinnlosem Tätigkeitsdrang, der nur ihre Qualen vermehrt und sie immer weiter entfernt von den einfachsten Voraussetzungen der Kreatur.

Freund Simone ist trotzdem allen Ernstes überzeugt davon, dass er viel mehr wert sei als ein Tier; ein Tier hat ja keinen Verstand und begnügt sich mit dem stumpfen Gleichmass des Geschehens.

Ich will nicht missverstanden werden. Ich meine, dass der Mensch dazu bestimmt ist, auf der Erde zu leiden, weil er ein Mehr in sich hat. Dass es wirklich ein Mehr ist, ein Zuviel für diese Erde, was er in sich trägt, das erhellt daraus, dass er hier unten nie zur Ruhe kommt, sondern immer sucht und fragt, über das irdische Leben hinaus, nach einem Warum und einem Lohn für seine Qual. Und um so schlechter ist es hier um ihn bestellt, je mehr ihn sein Übermass in wilde Konstruktionen und Verwicklungen hineintreibt.

Das weiss ich am allerbesten, der ich ja die Kurbel drehe.

Mit Freund Simone aber hat es folgende komische Bewandtnis: Er glaubt, alles Übermass abgetan zu haben, indem er alle seine Lebensbedürfnisse aufs äusserste einschränkt, sich selbst jede Bequemlichkeit versagt, und wie eine nackte Schnecke daherkriecht. Und dabei merkt er nicht, dass er gerade im Gegenteil, wenn er sich so einschränkt, ganz in dem Übermass aufgeht, in ihm ertrinkt, ja eigentlich von nichts anderem mehr lebt!

An jenem Abend freilich, gleich nach meiner Ankunft, wurde mir das noch nicht so klar. Wohl wusste ich, wie ich schon sagte, dass er ein höchst seltsamer Kauz war. Aber wie weit diese Absonderlichkeit ginge, das hätte ich niemals geglaubt, und davon will ich nun erzählen.

 

§ 4

Wir waren zuguterletzt auf den Corso Vittorio Emanuele gelangt und schritten über die Brücke. Noch weiss ich, dass ich mit beinahe frommem Erschrecken auf den düsteren Rundbau der Engelsburg schaute, der hoch und feierlich anstieg unter dem Gefunkel der Sterne. Die grossen Bauwerke der Menschen, wenn es Nacht ist, und die Sternbilder des Himmels, sie scheinen einander zu verstehen.

Inmitten der feuchten Kühle dieser unendlich hingelagerten Nacht fühlte ich Erschrecken in mir hochschiessen wie aufzüngelnden Schauder. Das kam von den Reflexen vielleicht, von den Lichtern auf den anderen Brücken und Dämmen, die sich zitternd im schwarzen, geheimnisvollen Wasser des Flusses spiegelten. Aber Simone Pau entriss mich meinem Staunen. Er wandte sich zuerst nach der Peterskirche, dann bog er in den Vicolo del Villano ein. Ich wusste nichts vom Wege, von nichts wusste ich überhaupt. Aber da war die entsetzliche Leere der verlassenen Strassen; seltsame, zuckende Schatten erfüllten sie, da wo der rötliche Schein einer Laterne verstreutes Licht gab. Inmitten dieser alten Häuser dachte ich voller Angst an all die Menschen, die beruhigt in ihnen schliefen. Die ahnten nicht, wie sie dem Wanderer draussen vorkamen, der verloren durch die Nacht irrte und keine Einkehr fand.

Ab und zu schüttelte Simone Pau seinen mächtigen Kopf und klopfte sich mit zwei Fingern auf die Brust. Ja, ich wusste: Der Berg, das war er; der Baum, das Meer. Aber seine Herberge, wo war die? Dort, beim Borgo Pio? Ja, ganz in der Nähe, im Vicolo del Falco. Ich hob die Augen und sah zur Rechten der Gasse ein düsteres Gebäude; eine Laterne hing über dem Tor. Eine grosse Laterne war es, die kleine Gasflamme brach flackernd durch die schmutzigen Scheiben. Ich blieb vor dem halboffenen Tore stehen und las über der Einfahrt:

Hospiz für Obdachlose.

»Und hier schläfst du also – –?«

»Ich esse auch hier. Suppe, fabelhafte Suppe! Und die Gesellschaft ist ausgezeichnet. Komm; hier bin ich zuhause.«

Wahrhaftig: der alte Pförtner und zwei Aufseher grüssten ihn wie einen alten Gast, und so laut, dass der weite Torweg widerhallte. Die drei sassen in der kleinen, guckkastenartigen Pförtnerzelle über ihren kupfernen »Braciere« »Braciere« ist eine offene Glutpfanne, die als Ofen dient. gebeugt.

»Schön' guten Abend, Signor Professore!«

Beim Eintreten legte Simone mir ganz ernsthaft und traurig klar, dass man in diesem Hotel nicht länger als höchstens sechs Nächte hintereinander schlafen dürfe. Seien sie herum, dann müsse man wenigstens einmal im Freien nächtigen. Dann könne die Serie wieder von vorn beginnen.

Ich – ich hier schlafen?

Da stand ich also nun vor den drei Aufsehern und hörte seinen Erklärungen zu, und fühlte, wie mir ein trauriges Lächeln auf die Lippen kam, ein ganz leichtes, als käme es nur, um meine Seele hoch zu halten, auf dass sie nicht in dieser Schmach versänke.

So schlecht ich auch daran war mit meinen paar Lire, ich war immerhin anständig gekleidet, trug Handschuhe und Gamaschen und das Lächeln sollte mich über dies Abenteuer hinwegbringen, das ich für nichts anderes halten wollte, als für einen pudelnärrischen Streich meines höchst seltsamen Freundes. Aber Simone liess sich nicht beirren, sondern erklärte weiter. Hier gäbe es alles umsonst. Im Winter zwei Leintücher auf der Pritsche, fest und frisch wie zwei Segel, und zwei starke Wolldecken. Im Sommer nur die Leintücher und für den, der es verlangte, eine rote Luccheserdecke. Dazu einen Bademantel und ein paar waschbare Leinenschuhe mit geflochtenen Strohsohlen.

»Versteh mich recht, waschbare!«

»Und wozu?«

»Das erkläre ich dir. Mit den Pantoffeln und dem Bademantel gibt man dir eine Erkennungsmarke. Du gehst in den Auskleideraum – die Türe rechts dort! Nun ja, du ziehst dich aus und lieferst deine Kleider inklusive Schuhwerk zur Desinfektion ab. Das machen sie in den Öfen da drüben. Hierauf – ja, nun komm mal zu mir, siehst du – – – Siehst du das schöne Bassin dort?« – – –

Ich senkte den Blick und sah hinunter.

Ein Bassin? Es war ein enges, tiefes, mulmiges Loch, eine Art Schweinekoben etwa, der Länge nach in den Steinboden eingelassen. Fünf oder sechs Stufen führten hinab. Es roch durchdringend nach schmutziger Wäsche. Eine Blechröhre mit vielen kleinen rostbraunen Öffnungen lief quer über die ganze Anlage hin.

»Na – – und?«

»Du ziehst dich also aus, dort drinnen – lieferst deine Kleidung ab – –«

»... inklusive Schuhwerk –«

»... inklusive Schuhwerk wegen der Desinfektion! – – und steigst nackt da hinein.«

»Nackt?«

»Aber sicher! Zusammen mit ein paar andern, sechs oder sieben, die auch nackt sind. Einer von den guten Leuten hier dreht den Wasserhahn auf. Na, du stehst ja dicht unter der Röhre. Tschschsch – – – geht's los und du kriegst die herrlichste Dusche ab, auch wieder gratis. Dann trocknest du dich mit deinem Badetuch ab wie der Teufel und ziehst deine Leinenpantoffeln an. Pst – pst, geht's die Treppe hinauf – die ganze Gesellschaft hat schon ihre Nachtsachen an. Ja, da wären wir: das ist die Tür zum Schlafsaal und dann Gut-Nacht!«

»Und das ist nicht zu vermeiden!«

»Was? Die Dusche? Du meinst, weil du Handschuhe und Gamaschen anhast, Serafin? Aber die kannst du doch auch ausziehen – da brauchst du dich gar nicht zu genieren. Jeder tut hier sein Schamgefühl von sich und unterzieht sich nackt der Taufe – in diesem Bassin da! So nackt zu sein, das traust du dich wohl nicht?« – – –

Dabei war gar nicht davon die Rede. Nur für ganz verschmutzte Bettelleute ist die Dusche obligatorisch. Simone Pau selber hatte sie nie bekommen.

Denn er ist hier wirklich »Professor«. Mit diesem Nachtasyl ist nämlich eine Sparküche verbunden und ein Heim für obdachlose Kinder jeder Herkunft. Die Aufsicht führen ein paar barmherzige Schwestern, und sie haben sogar eine kleine Schule für die Kinder eingerichtet. Dort gibt Simone Pau Unterricht. Dieser Erz- und Stockfeind des Menschengeschlechts, der von Erziehung nichts wissen will, unterrichtet Kinder, zwei Stunden täglich, am frühen Morgen, und es macht ihm den grössten Spass. Die Kinder haben ihn auch sehr gerne. Als Entgelt hat er freie Wohnung und Verpflegung, das heisst, er hat sein eigenes Stübchen, ganz nett und sauber, und es wird für ihn und die vier anderen Lehrkräfte eigens gekocht. Lehrkräfte? Nun ja, da ist ein alter pensionierter Beamter aus der päpstlichen Verwaltung und drei Lehrerinnen, alte Jungfern, die als Freundinnen der Schwestern hier untergekrochen sind. Übrigens hat Simone Pau nichts von dieser Vorzugskost, denn er ist mittags nie im Hospiz. Nur abends, wenn er heimkommt, lässt er sich ein paar Tassen Suppe aus der Asylküche geben. Sein Zimmer hat er wohl, aber er benützt es nie; zum Schlafen geht er ins Nachtasyl, in den Schlafsaal. Ihm ist es um die Gesellschaft dort zu tun; sie machen ihm Spass, diese zweideutigen und vagabundenhaften Existenzen. Abgesehen von seinen zwei Schulstunden sitzt er den ganzen Tag in Bibliotheken und Kaffeehäusern herum. Von Zeit zu Zeit lässt er in irgendeiner philosophischen Revue etwas drucken: Arbeiten gewöhnlich, die jedermann in Erstaunen setzen durch die bizarre Neuartigkeit ihrer Gesichtspunkte, durch ihre wunderliche Beweisführung und eine Fülle von Gelehrsamkeit. Und so geht es ihm denn besser von Tag zu Tag, – immer besser.

Ich sagte schon, damals wusste ich dies alles noch nicht. Ich meinte – und vielleicht nicht ganz mit Unrecht –, er habe mich nur hierher geführt, um einen schlechten Spass mit mir zu machen. Und ich finde, wenn einem jemand einen Schabernack spielen will, und man merkt das, so ist es das Beste, man geht ruhig darauf ein und tut so, als sei es das einzig Natürliche und Gegebene. Diese Taktik wandte ich nun auch an, um meinerseits Freund Simone aus der Fassung zu bringen. Der aber verstand mich sehr wohl, sah mir gleichmütig in die Augen und sagte nur lächelnd:

»Was bist du doch für ein Dummkopf!«

Dann lud er mich in seine Kammer ein. Anfangs hielt ich auch das für Scherz, aber er versicherte mir, er habe wirklich ein eigenes Zimmerchen. Doch ich konnte mich nicht entschliessen, es anzunehmen, sondern ging mit ihm in den Schlafsaal des Asyls. Ich bereue es nicht, denn für alle Hässlichkeit und Unbequemlichkeit dieses Nachtlagers wurde ich durch zwei Dinge entschädigt:

1. fand ich dort meine gegenwärtige Lebensstellung, d.h. die Gelegenheit, bei der grossen Filmgesellschaft »Kosmograph« einzutreten;

2. aber lernte ich dort den Menschen kennen, der für mich das Symbol alles Unheils geworden ist, zu dem der ewige Fortschritt die Menschheit verdammt.

Sprechen wir zuerst von ihm, von dem Menschen.

 

§ 5

Simone Pau zeigte ihn mir am andern Morgen, als wir von unseren Pritschen aufstanden.

Den Schlafsaal will ich nicht erst beschreiben; verpestet vom Atem der vielen Menschen lag er im trüben Lichte der ersten Dämmerung. Nun, und da schob sich der Zug der Obdachlosen hinaus; unrasiert, mit schlafzerzausten Haaren, wanderten sie in ihren langen weissen Hemden die Treppe hinab, die Leinenschuhe an den Füssen, ihre Marke in der Hand. Drunten im Ankleidezimmer bekamen sie einer nach dem andern ihre Sachen wieder.

Einer war darunter, der hielt unter den Falten seines weissen Kittels eine Violine eng unterm Arm. Sie stak in einem Futteral aus grünem Tuch; es war abgenützt, schmutzig und verschossen. Gebeugt und finster kam der Mann daher, als wolle er sich ganz verstecken unter seinen weit und buschig niederhängenden Brauen.

»Halloh – Freund!« rief Simone Pau ihn an. Der andere kam näher. Immer noch hielt er den Kopf gesenkt, als habe er viel zu schwer zu tragen an seiner roten, fleischigen Nase. Wie er so langsam näher kam, schien es, als wollte er sagen:

»Platz da – Platz da! Seht ihr, was das Leben mit unseren Nasen alles anstellen kann, ihr armen Menschen?«

Simone Pau trat an ihn heran. Liebevoll richtete er ihm mit einer Hand das Kinn auf und klopfte ihm mit der andern auf die Schulter, mit tröstender Gebärde.

»Guter Freund.«

Dann wandte er sich zu mir um:

»Serafin,« sagte er, »hier stelle ich dir einen grossen Künstler vor. Man hat ihm einen abscheulichen Spitznamen angehängt, aber trotzdem: er ist ein grosser Künstler. Da, bitte, sieh ihn dir an, mit seinem lieben Gott unterm Arm. Nein, nein, das ist kein Besen – – das ist seine Geige!«

Ich wandte mich um. Gerne hätte ich gesehen, wie Simone Paus Worte sich im Gesicht des Unbekannten widerspiegelten. Doch es blieb unbeweglich.

Simone Pau aber sprach schon wieder.

»Jawohl, eine Geige,« sagte er. »Und er gibt sie niemals aus der Hand. Die Wärter hier haben ihm sogar erlaubt, sie mit ins Bett zu nehmen unter der Bedingung, dass er bei Nacht nicht spielt und die andern Obdachlosen stört. Aber das kommt ja gar nicht in Betracht. So, nun nimm sie mal heraus, Freundchen, und zeige sie diesem Herrn; er wird dich schon verstehen!«

Der andere musterte mich erst misstrauisch. Dann, als Simone Pau von neuem in ihn drang, zog er eine alte Geige aus der Schutzhülle hervor, ein wirklich wertvolles Stück. Er zeigte sie mir, so etwa, wie ein verschämter Krüppel seinen Armstumpf vorzeigen würde.

Simone Pau sprach weiter, ganz zu mir gewandt:

»Siehst du?« sagte er. »Da zeigt er dir seine Geige. Das ist eine grosse Gnade, du musst dich auch dafür bedanken. Sein Vater – aber das ist jetzt schon viele Jahre her – hat ihm eine gutgehende Druckerei in Perugia hinterlassen, eine Druckerei mit vielen Maschinen und Typen. Sage mal, Freundchen, was hast du denn mit ihr gemacht, um dich nur ganz deinem Gott da widmen zu können?«

Der Mann starrte Simone Pau nur immerzu an, als habe er die Frage nicht verstanden.

Wieder versuchte Simone, sich ihm verständlich zu machen:

»Na,« sagte er, »was hast du mit ihr angefangen, mit deiner Druckerei?«

Der andere machte plötzlich eine Geste voll Gleichgültigkeit und Ekel.

»Vernachlässigt hat er sie,« sagte Simone Pau, als gedenke er damit die Geste des andern zu erklären. »Vernachlässigt hat er sie, bis er eines Tages auf der Strasse sass. Dann nahm er seine Geige unter den Arm und kam nach Rom. Jetzt spielt er nicht mehr; aber bis vor einiger Zeit hat er noch in den Wirtshäusern gespielt. In den Wirtshäusern – nun da trinkt man doch, und er, er spielte zuerst, und dann trank er auch. Wundervoll hat er gespielt, immer wundervoller, und dazu trank er und trank immerzu. Oft genug kam's soweit, dass er seinen lieben Gott versetzen musste, seine Geige. Dann stellte er sich in einer Druckerei vor und suchte Arbeit. Klein auf Klein sparte er sich soviel zusammen, dass er die Geige auslösen konnte, und dann kam er wieder und spielte in den Kneipen. Aber höre, was ihm da eines Tages passierte! Dadurch hat sich ihm – verstehst du? – es hat sich in ihm etwas verschoben, die – – nicht gerade die Vernunft, um Gotteswillen, aber seine – – seine Lebensauffassung. Komm, pack nur wieder ein, Freund, pack dein Instrument ruhig wieder ein. Ich weiss schon, es tut dir weh, wenn ich davon spreche, solange du die Geige vor dir liegen hast.«

Der Mann nickte ein paarmal ernsthaft mit seinem verwilderten Kopf und packte die Geige wieder ein.

»Ja, also ihm ist folgendes passiert – –«, fuhr Simone Pau fort, »er sprach einmal in einer grossen Druckerei vor. Da war als Faktor ein Mann, der früher als Lehrjunge bei ihm in Perugia gearbeitet hatte. – Bedaure, wir haben nichts frei, sagte dieser Mann. Unser Freund will schon niedergeschlagen weitergehen, da hört er, wie man ihn zurückruft. Wartemal, sagt der andere, wenn es dir passt, wüsste ich schon etwas für dich ... Es wird freilich nichts für dich sein ... Aber wenn du's nötig hast ... Mein Freund zuckt die Achseln und geht mit dem Faktor. Der führt ihn in eine eigene Abteilung der Fabrik, wo es ganz ruhig ist, da zeigt er ihm eine neue Maschine, ein plattes, schwarzes Ungeheuer, das vorn Blei frisst und hinten gleich Bücher von sich gibt. – Arbeitet ganz von alleine, sagt der Faktor zu meinem Freund – du brauchst ihr nur von Zeit zu Zeit ihr Quantum Blei zu fressen zu geben, im übrigen musst du dabei stehen und aufpassen. – Meinem Freund wurde bang zu Mute. Zu so einer Arbeit sollte er sich hergeben, er, ein Mensch, ein Künstler! Das war ja schlimmer als ein Stallbursche ... Neben diesem schwarzen Vieh stehen, das alles von alleine tut und von ihm nichts weiter haben will als das Maul voll Futter, als sein Quantum Blei von Zeit zu Zeit! Aber das ist noch gar nichts, Serafin! Er fühlt sich gedemütigt und beleidigt, geschändet ist er und Aerger sitzt ihm giftig im Herzen. Aber er hält es eine Woche lang aus in dieser würdelosen Sklavenstellung. Er reicht der Bestie ihr Quantum Blei und träumt dabei von Erlösung und von seiner Geige, von seiner Kunst. Er schwört sich zu, nie mehr wolle er in den Kneipen spielen, wo die Versuchung zu trinken so stark ist. Ich werde schon etwas Besseres finden, denkt er, wo ich spielen kann, wo ich meinem Gott opfern darf! Jawohl, ja! Kaum hat er die Violine ausgelöst, da liest er in der Zeitung, im Annoncenteil unter der Rubrik »Offene Stellen« die Offerte eines Kinos, Strasse und Hausnummer; man braucht einen Geiger und einen Klarinettisten für kleines Orchester. Er rennt hin, stellt sich vor, glückselig, die Geige hat er unterm Arm Na und: – – da steht schon wieder eine Maschine, ein automatisches Klavier, ein sogenanntes Pianola. Man sagt zu ihm: Du mit deiner Geige musst das Instrument da begleiten! – Verstehst du das? Eine Geige, die ein Mensch in Händen hat, – – und die perforierte Kartonrolle begleiten, die im Bauch der Maschine sitzt! Er hat doch seine eigene Seele, die ihm die Hände führt; die sich bald im Schwingen des fidelnden Bogens verliert, und bald mit den Fingern auf den Saiten zittert, und sie soll nun den Registern dieses Automaten sich anpassen! Da geriet er in solche Raserei, unser Freund, dass man die Polizei holen musste. Man nahm ihn fest und gab ihm vierzehn Tage Gefängnis wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.

So, wie du ihn jetzt siehst, ist er wieder herausgekommen.

Jetzt trinkt er nur noch, aber er spielt nie mehr.«

 

§ 6

Da habe ich nun zu Anfang dieser Geschichte allerlei Betrachtungen über mein elendes Schicksal angestellt, über unser Schicksal, die wir nur eine Hand sind an der Kurbel.

Damals freilich dachte ich nicht im mindesten nach. Denn es entstand plötzlich ein Riesentumult auf der Treppe zum Schlafsaal, ein verwirrtes und munteres Durcheinander der Obdachlosen, die schon im Ankleideraum gewesen waren, um ihre Sachen wieder zu bekommen.

Was war geschehen?

Da stürzten sie wieder heran, immer noch in ihren weissen Kittel gehüllt und die Pantoffeln an den Füssen.

Unter ihnen waren nun aber auch die Wärter und die barmherzigen Schwestern und vor allen Dingen mehrere Herren und eine Dame, gut gekleidet alle, lachend, mit neugierigen und fremden Gesichtern. Zwei von den Herren trugen einen kleinen Apparat – heute kenne ich ihn gut – mit einem schwarzen Tuch war er verhüllt. Unterm Arm hatten sie ihr dreibeiniges Klappstativ. Es waren Schauspieler und Operateure von einem Filmunternehmen und sie wollten für einen Film eine Szene im Nachtasyl nach der Natur drehen.

Die Schauspieler kamen von der »Kosmograph«, eben jener Filmgesellschaft, bei der ich seit acht Monaten als Operateur angestellt bin. Der Regisseur, der sie führte, war Nicolo Polacco, allgemein Coco Polacco genannt, ein alter Jugend- und Schulfreund von mir aus Neapel. Ihm verdanke ich meinen Posten, oder vielmehr dem glücklichen Zufall, dass ich in dieser Nacht mit Simone Pau im Asyl gewesen war.

Aber nochmals sei es gesagt: es kam mir an jenem Morgen gar nicht in den Sinn, dass ich auch einmal einen Apparat zur Aufnahme aufs Stativ schrauben würde, wie diese beiden Herren hier, und auch Coco Polacco machte mir keinen derartigen Vorschlag. Es dauerte nicht allzulange, da hatte er mich erkannt, der gute Junge, so sehr ich meinerseits mich bemüht hatte, von ihm nicht in so einer erbärmlichen Umgebung getroffen zu werden. Ich sah ja: er strahlte nur so von Pariser Eleganz. Mit der Miene und Haltung eines unüberwindlichen Schlachtenlenkers bewegte er sich unter diesen Schauspielern und Schauspielerinnen, inmitten der Rekruten des Elends hier, die in ihren weissen Hemden kaum mehr aus und ein wussten vor Freude über den unverhofften Verdienst. Ja, er war ein wenig überrascht, mich hier zu treffen, aber nur weil es so früh am Morgen sei; woher ich das nur gewusst hätte, fragte er mich, dass er mit seiner Gesellschaft heute früh ins Asyl kommen wollte, um ein Interieur nach dem Leben aufzunehmen. Ich liess ihn ruhig weiter glauben, ich sei zufällig, aus Neugier, hergekommen, und stellte ihm Simone Pau vor (der Mann mit der Geige hatte sich in der allgemeinen Verwirrung davongeschlichen). Voller Ekel sah ich zu, wie hier mit der traurigen Wirklichkeit, deren Schrecken ich Nachts gekostet hatte, ein schmutziges Spiel getrieben wurde: mittenhinein machte man die dumme Komödie ab, die dieser Polacco zu inszenieren vorhatte.

Aber vielleicht fühle ich mich erst jetzt so abgestossen, erst nachträglich. Damals war es doch vor allem die Sensation, zum erstenmal einer Filmaufnahme beizuwohnen. Bald aber wurde meine Aufmerksamkeit abgezogen, und zwar von einer der Schauspielerinnen. Kaum war mein Blick auf sie gefallen, als meine Neugierde aufs lebhafteste erwachte.

Die Nestoroff – – war das denn möglich? Sie war es und doch war sie es nicht. Die Haare, von einem seltsamen, beinahe kupfernen Rot, und die Kleidung, die nüchtern und fast streng war, das gehörte nicht zu ihr. Aber die unendlich schmale, zierliche Gestalt, die etwas Katzenhaftes hatte in der Bewegung der Flanken – dieser Kopf, hoch erhoben, ein wenig nach der Seite geneigt, dies allerzarteste Lächeln um die frischen, blühenden Lippen, sowie man sie ansprach – – und diese sonderbar aufgerissenen Augen, grün, fest und unstät zugleich, und kalt im Schatten der langen Wimpern – das alles war sie, das alles gehörte ihr an!

Varia Nestoroff ... und sie wäre Filmschaupielerin?

Mir flogen tausend Bilder durch den Sinn: Capri, die russische Kolonie, Neapel, laute Stammtische junger Künstler, Maler, Bildhauer, sonderbare und exzentrische Lokale suchten sie damals auf, alles aber war voll Sonne und Farbe – – und inmitten stand ein Haus, ein reizendes Landhaus, nicht weit von Sorrent, und dorthin hatte diese Frau Verwirrung gebracht und Tod.

Man spielte die Szene im Nachtasyl zweimal durch. Dann lud Coco Polacco mich ein, ihn doch einmal bei der »Kosmograph« zu besuchen und, immer noch voller Zweifel, fragte ich ihn, ob die Schauspielerin dort wirklich die Nestoroff sei.

»Ja, mein Lieber,« antwortete er seufzend. »Du kennst doch ihre Geschichte?«

Ich nickte.

»Hm, aber die Fortsetzung davon kannst du gar nicht kennen. Besuche mich doch wirklich einmal im Geschäft! Ich werde dir eine Masse erzählen können. Gubbio, ich sage dir, ich gebe dies und das dafür, wenn ich die Frau los wäre! Aber siehst du, eher – –«

»Polacco! Polacco!« – hörte man die Nestoroff rufen.

Coco Polacco eilte zu ihr hin; ja, mit solchem Eifer folgte er ihrem Rufe, dass ich wohl sah, welchen Einfluss sie bei der Gesellschaft haben musste. Mit einer phantastisch hohen Gage war sie als erste Schauspielerin engagiert.

Ein paar Tage darauf ging ich wirklich zur »Kosmograph«, einzig und allein, um mir die Geschichte zu Ende erzählen zu lassen, deren Anfang ich leider gut kannte, die Geschichte dieser Frau.


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