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Das graue Haus in der Rue Richelieu in Paris.

Nach einer wahren Begebenheit von Edmund Hahn.

 

I

An einem sonnigen Maimorgen gingen zwei Herren über die Brücke in Paris, die den Namen pont neuf führt. Unweit von der Statue König Henri IV., welche die Brücke ziert, blieb der ältere stehen, mit einer raschen Bewegung faßte er die Hand seines jugendlichen Begleiters und sagte: »heute vor siebzehn Jahren« – aber plötzlich hielt er inne und schwieg.

»Was wolltest Du mir erzählen lieber Vater?« fragte der Jüngling und blickte liebevoll den Ersteren an.

»Nichts von Bedeutung mein theurer Alphonse, man muß Vergangenes vergangen sein lassen«; erwiederte der Vater.

Alphonse kannte ihn zu gut, um eine zweite Frage auszusprechen, er bemerkte, daß sein Vater bleich geworden war und mit starren Blicken hinab auf die Seine schaute, welche ruhig dahin floß, nur durch wenige Fahrzeuge belebt. Er wagte nicht zu reden, aber er dachte desto mehr.

Endlich erwachte Herr Henri Maurice, dies war der Name des älteren Herrn, aus seinem Nachdenken und freundlich, wie es stets seine Weise, sagte er zu Alphonse, »Es ist Zeit, Herr Duresnell wird uns erwarten, wir wollen nicht unpünktlich sein.«

»Kennst Du Herrn Duresnell näher, Vater? glaubst Du, daß ich in seinem Hause gut aufgenommen sein werde?«

»Ich weiß, daß Herr Duresnell über große Reichthümer gebietet und ein Mann ist, vor dem sich Jeder tief verbeugt, wenn er auf der Börse erscheint. Es ist meinem Freunde nicht ganz leicht geworden, Dir einen Platz im Duresnellschen Comptoir zu verschaffen, aber da Du Kenntnisse und Fleiß besitzest, wird es Dir nicht schwer Dich anfangs nützlich, und später unentbehrlich zu machen. Du trittst jetzt auf die erste Stufe, welche Dich auf den Weg zu dem Tempel der Zufriedenheit und des Wohlstandes führen soll, siehe zu, daß Du auf dieser nicht ausgleitest«.

»Ich will mich bestreben, Dir Ehre und Freude zu machen, bester Vater, obgleich ich mich lieber der Literatur, als dem Handelsstande gewidmet hätte«.

»Der Literatur?« rief Herr Maurice mit bitterm Lächeln, »angenommen, daß Du mehr Talent hättest, als ich bisher an Dir bemerkte, mehr als ich, wenn Du nicht Dich herablassen willst zu kriechen, zu intriguiren, zu spekuliren und zur Zeit auch zu bramarbasiren, wirst Du stets ein, vielleicht geachteter, aber nie hoch honorirter, nie viel genannter Schriftsteller bleiben. Als Kaufmann hast Du Aussichten, daß Dein Fleiß Dir Früchte trägt, Dein Leben wird ein glücklicheres sein, und nur in Deinem Glücke finde ich meinen Frieden«!

Herr Maurice sprach diese Worte mit so tiefer Bewegung, daß Alphonse lebhaft ausrief: »gewiß, lieber Vater, ich will Alles thun, was Deiner Ansicht nach, mein Glück begründen kann«.

Jetzt standen Vater und Sohn in der Rue-Richelieu vor dem pallastähnlichen Hause des Herrn Duresnell, das dastand wie ein Zeuge aus Zeiten, welche für Frankreich nie wiederkehren mögen.

»Ein altes, graues Haus«, bemerkte Alphonse. »Es steht wohl seit den Zeiten der letzten Valois und hat stets der Familie Melville gehört, bis Herr Duresnell es von seinem Oheim, der kinderlos gestorben ist, erbte«.

Der Portier wies die Herren nach der ersten Etage, wo ein Diener sie empfing.

»Herr Maurice?« fragte der Diener mit einer Verbeugung, »ich habe Befehl, Sie zu Herrn Duresnell zu führen.«

Die beiden eben Angekommenen folgten dem Diener durch mehrere, mit weichen Teppichen belegten Zimmern, endlich rief er in ein etwas dunkles Gemach, dessen Thüre halb offen stand: »Die Herren Maurice, mein Herr?«

»Eintreten!« entgegnete eine heisere Stimme.

Das Zimmer, welches Vater und Sohn jetzt betraten, war prachtvoll und mit Geschmack eingerichtet, an einem Tische saß Herr Duresnell, das Gesicht durch einen Augenschirm halb bedeckt.

Nachdem Maurice seinen Sohn vorgestellt hatte, sagte Herr Duresnell: »nehmen Sie dieses Buch und lesen Sie daraus vor, Herr Alphonse, aber treten Sie an das Fenster«. Alphonse that es, als er eine kleine Pause machte, sprach Herr Duresnell: »Ihr Organ ist höchst angenehm, und Sie lesen schön, ich hoffe, Sie werden für mich passen. Können Sie schweigen, junger Mann?«

»Ich bürge für seine Verschwiegenheit, sie ist ein Theil der Treue«.

»Gut, gut! Sie werden bei mir im Hause wohnen, mein Kammerdiener hat Befehl, Ihnen Ihr Zimmer anzuweisen, richten Sie sich heute ein, Morgen werden Sie erfahren, was Sie zu thun haben. Guten Morgen, meine Herren«.

Als Vater und Sohn sich allein gegenüberstanden, sagte Alphonse: »Herr Duresnell ist offenbar ein sehr reicher Mann, ob aber glücklich? Auf diese Frage wage ich nicht bejahend zu antworten?«

»Hm, der Mann leidet jetzt an den Augen, das drückt ihn, aber auch arme Menschen sehen zuweilen nicht gut, und für diese ist es noch schlimmer. Sein vieles Geld erleichtert Herrn Duresnell das Leid, welches er zu tragen hat«.

»Das ist wahr«, entgegnete der Sohn.

II

Zwei Monate befand sich Alphonse bereits im Hause des Millionärs, aber obgleich er einen anständigen Gehalt empfing, nicht zu viel Arbeit hatte und offenbar bei Herrn Duresnell gut angeschrieben war, fühlte er sich doch immer noch nicht heimisch in dem großen Hause, auf dessen langen Gängen sein Schritt widerhallte.

Alphonse bewohnte zwei große, gut möblirte Zimmer, ein Diener brachte ihm täglich sein Frühstück, sein Diner und bediente ihn, aber der Mann war schweigsam und selten glättete sich seine gefurchte Stirn.

Um zehn Uhr mußte Alphonse zu Herrn Duresnell, um ihm die französischen, englischen und italienischen Zeitungen vorzulesen, dann sandte er den jungen Mann mit besonderen Aufträgen auf die Börse und ließ sich später über alles, was daselbst vorgefallen war, Bericht erstatten, obgleich der älteste Handlungsgehilfe das auch that. Im Comptoir, wo es auch sehr still zuging, hatte Alphonse nur selten zu thun, doch lernte er, da er lernbegierig war, und eine scharfe Auffassungsgabe besaß, viel aus den Bemerkungen des Herrn Duresnell, welcher ein kluger Mann war.

Ob Herr Duresnell Wittwer oder nie verheirathet gewesen war, ob er Kinder besaß oder jemals besessen hatte, wußte Alphonse noch immer nicht. Er hatte einmal den Diener, als ihm dieser das Frühstück gebracht hatte, darnach gefragt, aber keine Antwort erhalten.

Eines Morgens, als Alphonse eben beginnen wollte, Herrn Duresnell die Zeitungen vorzulesen, trat der Kammerdiener desselben ein und brachte einen Brief.

»Welches Postzeichen?« fragte Herr Duresnell in seiner kurzen Weise.

»Genf.«

»Ah, von Claudia, geben Sie mir den Brief.«

Herr Duresnell ging an das Fenster, wischte sich die Augen mit einem Tuche und versuchte zu lesen.

»Zu klein geschrieben, warum schreiben die Menschen Alle so klein, und sogar Sie, welche doch weiß, daß ich nur große Schrift lesen kann!« brummte Herr Duresnell, »nehmen Sie Briefpapier Alphonse und schreiben Sie:

Mademoiselle,

auf Befehl des Herrn Duresnell sende ich Ihnen diesen Brief zurück, er erbittet sich den Inhalt desselben umgehend, aber mit großen Buchstaben, da Herr Duresnell kleine Schrift nicht zu lesen vermag. Und nun den gewöhnlichen höflichen Schluß. Hier, legen Sie dieses Briefchen zu Ihrem Schreiben und adressiren Sie: Mademoiselle Claudia Duresnell, Genf, Pensionat von Madame Hallfeld. Lassen Sie den Brief besorgen Alphonse, sprechen Sie aber zu Niemand davon, überhaupt vergessen Sie nie, daß ich Sie augenblicklich entlasse, sobald Sie eine Sylbe von dem sprechen, was Sie in meinem Zimmer lesen, hören oder sehen«.

»Sehr wohl, Herr Duresnell«.

Alphonse hielt Wort, selbst seinem Vater theilte er über das Haus und dessen Bewohner nicht das Geringste mit. Er liebte den Vater von ganzem Herzen, und es machte Alphonse glücklich, daß er von dem ansehnlichen Gehalte, welchen er empfing, einen Theil an den Mann abgeben konnte, der ihm durch Zärtlichkeit und Sorgfalt auch die Mutter ersetzt hatte. In freien Stunden machten Vater und Sohn kleine Ausflüge auf das Land und der letztere war glücklich, zu sehen wie die alte schriftstellerische Thätigkeit den Vater wieder glücklich machte, seit er keine Nahrungssorgen mehr hatte.

Herr Duresnell behielt nur solide Männer in seinem Geschäft, auch wußte er stets zu erfahren ob sie die Kirche besuchten. Er selbst pflegte, wenn er gesund war, jeden Morgen in der nächsten Kirche eine stille Messe zu hören und Klöster und Kirchen erhielten oft reiche Spenden von ihm. An Sonntagen durfte in seinem Hause nicht gearbeitet werden, seine Dienerschaft hatte an diesem Tage vollkommene Freiheit, nur der alte Kammerdiener blieb aus freier Wahl auch diesen Tag daheim und trug seinem Herrn die Speisen auf, welche von einem Restaurant geschickt wurden.

An einem Sonntage erwachte Alphonse später als gewöhnlich. Er fühlte sich nicht ganz wohl und da der Regen wie mit Eimern vom Himmel stürzte, beschloß er zu Hause zu bleiben. Zu seinem Herrn brauchte er nicht zu gehen, er beendigte also rasch sein Frühstück, und setzte sich dann in seinen Armstuhl, um den neuesten Roman zu lesen. Alle Diener des Hauses, hatten dasselbe verlassen, es war noch stiller als gewöhnlich, auch von Außen wurde Alphonse wenig gestört, da Rue Richelieu eine von den Straßen ist, auf welchen nicht viel gefahren wird.

In der Regel ging Alphonse Sonntags aus und erhielt kein Diner an diesem Tage. Weder Herr Duresnell noch der Kammerdiener vermutheten, daß der junge Mann daheim sei.

Alphonse dachte nicht daran, da er aber nach einigen Stunden seinen Roman zu Ende gelesen hatte und kein anderes Buch zur Hand nehmen wollte, kam er auf den Einfall sich einmal gründlich in dem großen, alten Gebäude umzusehen.

Erst stieg er zwei Treppen hinab und ging über die Corridors, der ersten Etage, in welcher Herr Duresnell wohnte, klinkte an einigen Thüren, welche aber alle verschlossen waren. Dann stieg er die zweite Treppe hinauf, und versuchte die großen Flügelthüren zu öffnen, welche sich in der Mitte des Vorsaales befanden. Sie sprangen auf, Alphonse befand sich in einem großen Salon, welcher durch die dunkelviolette Tapete und die violetten Sammetvorhänge etwas Düsteres an sich hatte. Die Mobilien waren offenbar zur Zeit Ludwig des XIV. gemacht und prachtvoll, auf den Marmorplatten der Tische lag Staub. Die großen Kronleuchter waren in Schleier gehüllt.

Jetzt drang, nach langem Regnen, wieder ein Sonnenstrahl durch die Fenster, er erhellte das Portrait einer Dame, welche in dem leichten Costüm der ersten Kaiserzeit von der Wand herablächelte.

Bewunderungsvoll stand Alphonse vor dem Portrait, der junge Mann glaubte, niemals etwas Schöneres gesehn zu haben. Endlich riß er sich von dem Bilde los, und trat in das Nebengemach, auch dies war mit Pracht eingerichtet, die Wände waren mit Blumenstücken geziert, an der einen Seite stand eine Spinett. Noch drei Gemächer durchwanderte Alphonse, jetzt öffnete er wieder eine Thür und erschrack nicht wenig, als er eine alte Dame gewahrte, welche an einem Tische saß und schrieb.

Hocherröthend und verlegen wollte der junge Mann, eine Entschuldigung murmelnd, sich zurückziehen, aber die Dame stand auf und sagte halb befehlend, halb humoristisch: »nur näher mein Herr, Sie entkommen mir nicht, was wollen Sie hier, und wer sind Sie?«

Anstand, Sprache, Kleidung der Dame verriethen, daß dieselbe den höheren Kreisen angehörte und Geist besaß, deshalb erwiederte Alphonse mit einer graziösen Verbeugung: »es macht mich sehr glücklich, Madame, daß Sie mich nicht sofort verbannen, obgleich ich nicht weiß, ob eine offene Beichte mich vor Ihnen rechtfertigen wird. Mein Name ist Alphonse Maurice, ich gehöre zu den Comptoiristen der Handlung, blieb heute des schlechten Wetters wegen daheim und hielt es nicht für Unrecht, mich in dem Hause umzusehen, da ich eine große Vorliebe für Alterthümer habe und Herr Duresnell mir nie verboten hat, mich im Hause umzuschauen«.

Die Dame lächelte ein wenig und sprach: »Ihren Namen wußte ich bereits, ich wollte nur hören, ob Sie mir die Wahrheit sagen würden, was die jungen Herrn, oder richtiger gesagt, alle Männer, nicht oft thun. Darum sollen Sie auch nicht verbannt werden, sondern Thee mit mir trinken, denn Ihr Gesicht, vor Allem aber Ihre Art zu sprechen erinnert mich an einen Freund, aus der goldenen Jugendzeit«.

»Vielleicht hatte mein Vater Henri Maurice früher die Ehre von Ihnen gekannt zu sein, Madame, doch soll ich ihm nicht ähnlich fein«.

»Habe nicht das Vergnügen Ihren Herrn Vater zu kennen. Jetzt will ich den Thee machen, und mich Ihnen nennen, Athenais Varreux, oder eigentlich de Varreux; aber mein Großvater hat in der Revolution sich in den Bürger Varreux verwandelt, mein Vater ward Kaufmann und im Grunde klingt Athenais Varreux auch ohne das de gut. Gefällt es Ihnen hier im Hause?«

»Herr Duresnell ist sehr gütig gegen mich, endlich bin ich nützlich, selbstständig meinem Vater gegenüber, was den Geldpunkt betrifft«.

Die Dame nickte mit dem Kopfe, »gut, gut, aber still ist es im Hause, nicht wahr? Ich liebe diese Ruhe, bin nun seit Jahren daran gewöhnt, aber für einen jungen Mann, mag sie wohl viel Langweiliges enthalten. Vielleicht, wenn Herrn Duresnells Augen wieder hergestellt sind, und Claudia kommt, wird es lebhafter.«

»Ist Mademoiselle Claudia eine Verwandte des Herrn Duresnell, Madame?«

»Seine Tochter, von sechs Kindern das einzige, das ihm geblieben ist. Sie war etwas schwächlich, deshalb haben sie die Aerzte in die Schweiz geschickt. Jetzt soll sie sich vortrefflich befinden. Wollen Sie das Porträt von Mademoiselle Claudia sehen?«

»Mit großem Interesse«.

Mademoiselle Varreux nahm ein Etuis von dem Schreibtisch, drückte an einer Feder und hielt dem jungen Manne ein Engelsköpfchen hin.

»So sah Claudia mit zwölf Jahren aus, jetzt ist sie zwei Jahre in Genf. Ich hoffe, daß sie in einigen Monaten heimkehrt«.

»Ich sollte glauben, daß der Umgang mit solch lieblichem Kinde, Herrn Duresnell aufheitern müsse

Ach, Herr Maurice, Herr Duresnell hat viel Hartes erlebt!«

»Das scheint so, vielleicht sind deßhalb alle seine Diener so schweigsam und über das Haus ist eine so dunkle Wolke ausgebreitet, welche nur figürlich zu sprechen, jeden Sonnenstrahl abhält.«

»Freilich, da Sie mein Hausgenosse sind und mir ganz besonders wohlgefallen, als ob Sie mein Verwandter wären, will ich Ihnen Einiges aus dem Leben des Herrn Duresnell erzählen, wenn Sie hören wollen.«

»Mit der lebhaftesten Theilnahme, Madame«.

»Die Brüder meines Vaters und er selbst wurden Kaufleute, dieses Haus, in dem meine Urgroßmutter die Ehre hatte Molière und andere berühmte Schriftsteller bei sich zu sehn und Personen vom höchsten Adel zu empfangen, wurde ein Kaufmannshaus und die Varreux standen sich gut dabei. Ich war das einzige Kind meines Vaters, einer seiner Brüder starb unvermählt, noch ziemlich jung, der andere verheirathete sich und hatte einen Sohn, welcher nach seinem Tode die Handlung fortführte. Seine Frau war die holdseligste Person und meine liebste Freundin, deßhalb blieb ich in diesem Hause wohnen.

Ihr Mann, mein Vetter Victor Varreux machte glänzende Geschäfte, er nahm Herrn Duresnell, den Bruder seiner Frau in seine Handlung und wir bildeten eine Familie. Auch Duresnell verheirathete sich, mit einer schönen, stolzen Frau, Ihr Porträt hängt im violetten Salon.«

»Wie, dies Bild, offenbar von Meisterhand gemalt, stellt Herrn Duresnells verstorbene Gattin vor? Ich nehme an, daß sie todt ist.«

»Sie ist todt! Nun, Herr Duresnell betete seine Frau an, obgleich ihr einziger Vorzug in Schönheit bestand, denn sie war stolz, hochfahrend, prachtliebend, in Allem das Gegentheil von Madame Victorin Varreux.«

»Und hatte Madame Varreux keine Kinder?«

»Einen Knaben, auch Victorin genannt, einen reizenden runden Schelm. Stundenlang saß er hier in diesem Zimmer und warf die Kartenhäuser um, welche ich ihm aufbaute. Armes Kind, lieblicher Victorin!«

»Was war das Schicksal dieses Knaben?«

»Er verunglückte! Seine Eltern –«

In diesem Augenblicke wurden Schritte hörbar, hastig ward die Thür geöffnet und mit bleichen Lippen rief der alte Kammerdiener: »Helfen Sie Mademoiselle, Herr Duresnell ist ohnmächtig, ich will zum Arzt, ich will zum Arzt, ich fürchte er stirbt!«

Rasch erhob sich Mademoiselle Varreux, folgen Sie mir, raunte sie Alphonse zu, welcher dem Befehl nachkam.

III

Als Mademoiselle Varreux mit ihrem Begleiter in das Wohnzimmer des Banquiers trat, lag derselbe regungslos auf seinem Ruhebett, seine Verwandte näherte sich ihm und faßte seine Hand, während Alphonse die Schläfe des Ohnmächtigen mit cölnischem Wasser badete.

»Der Puls schlägt noch, obgleich sehr schwach,« sagte Mademoiselle Varreux, »halten sie Herrn Duresnell Riechsalz vor, hier, nehmen Sie«.

Einige Minuten vergingen, peinlich für die alte Dame und Alphonse, jetzt kehrte Lebensfarbe in das Antlitz des Kranken zurück, er öffnete die Augen, schien aber nicht bei vollem Bewußtsein zu sein, denn er rief aus: »Amelie ist wahnsinnig, nur der Wahnsinn spricht aus ihr! Nicht wahr Amelie, Du redest irre, es ist nicht möglich daß Du es wolltest und wußtest? – O Amelie!«

Alphonse blickte Mademoiselle Varreux fragend an.

Sie antwortete nicht, der Banquier stieß einen herzergreifenden Seufzer aus und murmelte: »Alles will ich hergeben was ich besitze, nur Etwas will ich behalten, für mein Kind, für meine kleine Claudia, dem, der mir den kleinen Victorin rettet!«

Der Eintritt des Arztes brachte den Kranken auf andere Gedanken.

»Wer spricht hier, wer ist es?« fragte Herr Duresnell. Der Arzt trat an das Kranken-Lager und sagte mild: »Ihr Freund Duchesne!« Dann richtete er einige Fragen an Mademoiselle Varreux und gab die geeigneten Vorschriften.

Als die Dame den Arzt im Vorzimmer fragte, was derselbe von dem Zustande Duresnells halte, erwiederte er: »ich hoffe die Mittel werden wirken, das Fieber wird schnell beseitigt werden, Duresnell braucht vor Allem Ruhe, lassen Sie nur zuverlässige Pfleger bei ihm Mademoiselle, ich bin morgen in aller Frühe wieder hier.«

Der Arzt hatte recht gesehen, schon am andern Tage befand sich Herr Duresnell bedeutend besser, ehe die Woche zu Ende ging war er ganz hergestellt.

Alphonse war von Herrn Duresnell täglich beschieden worden, der alternde Mann hatte in Wahrheit eine ungewöhnliche Zuneigung zu dem Jünglinge gefaßt und zeigte sie auch durch Worte und werthvolle Gaben. Mademoiselle Varreux ließ täglich nach dem Befinden ihres Vetters fragen, zeigte sich aber nicht bei ihm.

Alphonse wünschte sehnlichst die Dame wieder einmal allein zu sprechen, einmal weil sie in Wahrheit die liebenswürdigste alte Dame war, welche man sich denken konnte, und dann, weil er zu erfahren hoffte, was das Schicksal jenes kleinen Victorin gewesen sei und wer unter jener Amelie gemeint sei, von welcher Herr Duresnell gesprochen hatte; doch Mademoiselle Varreux lud Alphonse nicht zu sich ein, und ihr unaufgefordert einen Besuch zu machen, hielt er für unbescheiden.

So verging Woche nach Woche, Alphonses Neugier, oder richtiger gesagt seine Theilnahme für den Knaben, in dem der eigentliche Erbe des großen Hauses und vieler Reichthümer gestorben war, blieb unbefriedigt.

Das herrlichste Herbstwetter hatte Alphonse eines Mittags nach den Luxemburg-Garten gelockt, der Zufall führte ihm einen jungen Mann in den Weg, mit welchem Alphonse als Knabe gespielt hatte, als sie Nachbarn waren, auch in der Schule waren sie einige Jahre hindurch gute Cameraden gewesen, und Jeder freute sich, wenn er gelegentlich dem Andern begegnete.

»Laß uns zusammen schlendern,« sagte Eugen, »ich habe Dich seit Monaten nicht gesehen, erzähle mir Deine Erlebnisse, und wie es kommt, daß man Dich nirgends erblickt?«

Als Alphonse dem Jugendfreunde seine Schicksale mitgetheilt hatte rief derselbe lebhaft aus: »Wie? Bei Duresnell lebst Du? In dem Unglückshause? Verlaß es, verlasse es noch heutigen Tages!«

»Was willst Du damit sagen? Ich habe in dem Hause noch nichts von Unglück bemerkt. Herr Duresnell ist ein hochgeachteter, sehr reicher und kluger Mann. Er hat an einem Augenübel gelitten, welches aber bald gänzlich gehoben sein wird. Der Mann ist Wittwer, doch habe ich aus einzelnen Aeußerungen von ihm heraus gehört, daß er diesen Umstand für kein Unglück betrachtet, es gibt der Wittwer viele auf der Welt. Herr Duresnell hat, wie ich hörte, drei Kinder verloren, im zartesten Alter, das ist hart, aber er besitzt in der lieblichen Tochter einen reichen Ersatz, etwas ernst und still ist es freilich in dem großen Gebäude, aber morgen kommt Mademoiselle Duresnell aus der Pension, dann wird es schon heiter und belebter zugehen?«

»Das Duresnell'sche Haus ist bei alldem ein Unglückshaus,« behauptete Eugen, »meine Großtante, die bei Gott die Geschichte jedes Pariser Hauses, welches überhaupt eine Geschichte hat, kennt, erzählte mir erst vor kurzem auch die Begebenheiten welche sich in Deiner jetzigen Residenz zugetragen haben, als wir bei dem Duresnell'schen Hause vorüber kamen«.

»Nun, und was hatte Deine Großtante zu erzählen?«

»Genug, um mir Grausen vor dem Hause einzuflößen. Das Haus steht, wie Du wissen mußt, schon seit Jahrhunderten, doch wußte sogar meine Großtante nicht, ob in der Bartholomäusnacht Katholiken oder Hugenotten aus den Fenstern dieses Hauses geschaut haben. Schon zu Zeiten Ludwig XIII. hat das Haus einem Baron von Varreux gehört, welcher in dem sogenannten Marmorsalon, aus Eifersucht seine schöne, junge, und wie sich später herausgestellt hat, unschuldige Gemahlin erstochen hat!«

»Den Marmorsalon kenne ich nicht, mehrere Gemächer sind stets verschlossen!« sagte Alphonse.

»Das glaube ich! Der Enkel jener schönen Frau hat sich in dem Marmorsalon, wegen einer unglücklichen Leidenschaft erschossen. Ein Baron de Varreux ist aus dem Hause abgeholt worden, um auf dem Schaffot zu enden, weil er – ein Edelmann war. Zur ersten Kaiserzeit haben die Varreux große Handelsgeschäfte gemacht, der damalige Chef der Handlung soll ein liebenswürdiger und glücklicher Mann gewesen sein. Da er sich schlechtweg Herr Varreux nannte, Großhandel und Wechselgeschäfte betrieb und zu Napoleon I. Zeiten nicht an den Hof gegangen war, brachte ihn die Thronbesteigung Ludwig XVIII., in keine Verlegenheit. Als alle seine Wünsche erfüllt gewesen sind, seine Gattin den ersehnten Sohn geboren gehabt hat, das Kind lieblich aufgeblüht ist, hat er mit seiner Gattin eine Reise nach der Schweiz angetreten. Das Kind hat Madame Varreux dem Vetter und Compagnon ihres Gatten während ihrer Abreise anvertraut. Ob das Ehepaar beraubt und ermordet worden, ob es von einer Lawine bedeckt worden oder in einen Abgrund gestürzt ist? Niemand hat es erfahren. Von Chamounix sind die letzten Briefe des Herrn Varreux datirt gewesen.«

»Und hat Herr Duresnell nicht Nachforschungen über das Schicksal seiner Verwandten angestellt?« fragte Alphonse.

»Allerdings, öffentlich und mit der größten Sorgfalt, endlich sind in allen gelesenen Zeitungen Aufrufe erschienen und drei Jahre nach dem Verschwinden des Varreux'schen Ehepaars, ist dessen vierjähriger Knabe als Erbe seiner Eltern erklärt, Herr Duresnell, welcher die Handlungsgeschäfte fortgeführt gehabt hat, zum Vormunde des Kindes ernannt worden.«

»Von diesem Kinde hörte ich, es soll verunglückt sein?«

»Wenige Monate nach dem Tode seiner Eltern, durch Schuld der Amme. Die Folge davon war, daß Madame Duresnell ein Jahr nach Victorins Tode fern von Paris gestorben ist, man sagt im Wahnsinn.«

»Herr Duresnell ist der Erbe des Varreuxschen Vermögens geworden, welches er durch glückliche Spekulationen vielleicht verzehnfacht hat, aber bei alledem kein zufriedener Mann, und das Haus in der Rue Richelieu ist ein Unglückshaus, verlasse es, Alphonse verlasse es!«

»Was Du mir mitgetheilt hast, lautet allerdings schauerlich genug, Eugen, aber laß die Vergangenheit vergangen sein, seit Jahren hat das Unglück das Haus verschont, in der alten Mademoiselle Varreux waltet ein guter Geist, sie ist der Schutzgeist des Hauses, in den Räumen welche Zeugen von Blut und Thränen waren, wird bald Claudias silbernes Lachen ertönen«.

»Und mein Freund Alphonse wird sich in Claudia verlieben, der reiche Duresnell wird sein einziges Kind nicht einem jungen Manne geben, welcher von Herrn Duresnell Gehalt bezieht, Mademoiselle Duresnell dagegen wird ihr Herz an den schönen Burschen verlieren und – entweder den Schleier nehmen oder sich zu Tode grämen. Zieh' fort, mein Sohn, zieh' fort.«

»Unsinn, Eugen. Mademoiselle Duresnell ist noch ein Kind, ich bin Herrn Duresnell nützlich, mein Vater weiß mich gut versorgt, also bleibe ich. Besuche mich bald, damit Du Dich überzeugst, daß ich in dem sogenannten Unglückshause ganz behaglich lebe.«

IV

Wieder waren einige Monate vergangen, Eugens Prophezeihungen hatten sich zum Theil erfüllt. Ein Unglück, was man so im Allgemeinen unter Unglück versteht, hatte sich allerdings nicht ereignet, aber Victorin betete die schöne Claudia in der Stille an, und obgleich sie den schönen jungen Mann nur selten sah – Alphonse arbeitete jetzt auf dem Comptoir – so erröthete sie doch lieblich, wenn er ihr begegnete, war auch einmal, und offenbar nicht ungern, zufällig bei Mademoiselle Varreux mit ihrem Hausgenossen zusammengetroffen. Eine kurze Zeit fühlte Alphonse sich beseeligt durch den Gedanken unter einem Dache mit Claudia zu wohnen, aber nur eine kurze Zeit. Eines Tages traf ein reicher Geschäftsfreund aus Mailand bei Herrn Duresnell ein, begleitet von seinem Sohne und Claudia erfuhr von ihrem Vater, daß der junge Melun zu ihrem künftigen Gemahl bestimmt sei.

Obgleich Herr Duresnell seine Tochter zärtlich liebte, wollte er doch durchaus in Bezug auf seinen Lieblingsplan keine Einwendungen hören, Alles was Claudia erreichte, war Aufschub.

Als das liebe Kind mit thränenvollen Augen zu Mademoiselle Varreux kam, hatte diese würdige Dame bald den Grund von Claudia's Betrübniß erfahren; zufällig erschien bald nach Claudias Eintritt Alphonse, um der Matrone ein Buch zu bringen, ein Blick auf die erröthenden Gesichter der jungen Leute, sagte der scharfblickenden Dame genug. Sie faltete die Hände und sagte zu sich selbst: O Himmel, wie soll das enden?

Mademoiselle Varreux war bedeutend älter, als Herr Duresnell, ihrer vortrefflichen Eigenschaften wegen, und als Tochter des Hauses Varreux sehr von Herrn Duresnell geachtet. Sie wußte dies und begab sich zu ihm, aber obgleich sie ihre ganze Beredsamkeit aufbot, gelang es ihr doch nicht, Herrn Duresnell von seinen Ansichten und Entschlüssen abzubringen.

»Warum soll Claudia, Ihr einziges Kind, sich nicht selbst den Gatten wählen?« fragte Mademoiselle Varreux.

»Weil ich besser als dieses junge Wesen weiß, was zu ihrem Glücke dient«, sagte Herr Duresnell sehr entschieden.

Herr Maurice bemerkte, daß sein Sohn, welcher ihn, so oft er Zeit hatte, besuchte, alle Munterkeit verloren hatte. Liebevoll forschte er nach dem Grunde von Alphonse's Kummer und als der Sohn dem Vater vertraut hatte, rieth der Letztere Alphonse, Duresnell's Haus zu verlassen und auf Reisen zu gehen. Alphonse sah ein, daß sein Vater Recht hatte und willigte in alle Pläne seines Vaters. Noch an demselben Tage bat der junge Mann Herrn Duresnell um seine Entlassung, sie ward ihm gewährt, aber in unfreundlicher Weise; Duresnell fühlte sich beleidigt, daß Alphonse ihn verlassen wolle. Später milderten sich jedoch seine Empfindungen und Herr Duresnell lud Herrn Maurice und Alphonse ein, den Tag vor seiner Abreise bei ihm zu speisen. Mit bebenden Lippen nahm dieser die Einladung an, ward ihm doch dadurch Gelegenheit gegeben, Claudia, welche stets mit ihrem Vater speiste, noch einmal zu sehen.

V

In dem eleganten kleinen Speisesalon war für sechs Personen gedeckt; Mademoiselle Varreux, die Herren Maurice befanden sich bereits bei Herrn Duresnell und Claudia, nur die beiden Herren Melun fehlten noch. Endlich traten sie ein.

»Entschuldigen Sie unser spätes Kommen«, begann Herr Melun, »aber mein Sohn und ich wurden durch einen ungewöhnlichen Vorfall aufgehalten«.

Auf Claudia's Frage erwiederte der junge Melun, »wir gingen über pont neuf und sahen wie eine Kindswärterin einen muntern Buben auf die steinerne Brustwehr der Brücke gesetzt hatte, um entweder auszuruhen oder das Kind die Schiffe sehen zu lassen. Es bewegte sich rasch – stürzte –«.

Ein durchdringender Schrei Claudia's, welche ihrem Vater gegenüber saß, unterbrach Melun's Rede. Duresnell war regungslos in seinen Sessel zurückgesunken und erst dem schnell herbeigerufenen Arzte gelang es, ihn wieder in das Leben zurückzurufen.

»Sie haben schmerzliche Erinnerungen in Herrn Duresnell und auch in mir erweckt, Herr Melun, beinahe vor 17 Jahren, am 8. Mai, ließ die unvorsichtige Wärterin Victor Varreux, meinen Großneffen, Duresnells Mündel in die Seine stürzen. Das Kind wurde nicht gerettet, nicht einmal sein Leichnam gefunden, und Herr Duresnell fühlt sich seitdem sehr unglücklich!«

»Ja, sehr, sehr unglücklich!« ächzte Herr Duresnell, »die Last muß von meiner Seele herunter. Als meine Gattin am Sarge unsers dritten Kindes stand, wir nur noch Claudia in der Wiege hatten, gestand sie verzweiflungsvoll, daß sie zuweilen der habsüchtigen Wärterin des kleinen Victorin gesagt habe: wäre dies Kind nicht, so wäre ich reicher und könnte Dich höher bezahlen. Ob damals Wahnsinn aus Amelie geredet haben mag, ob sie durch diese Worte die schändliche Wärterin bestochen hatte, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß, seit ich Victorins Tod erfuhr, ich ein elender, armer Mann bin, trotz meines Reichthums, trotz meiner Schuldlosigkeit.«

»Und würden Sie sich erinnern können, welche Kleidung der Knabe an jenem Tage getragen hat?« fragte Herr Maurice Herrn Duresnell.«

»Nein,« entgegnete dieser.

»Aber ich,« ließ Mademoiselle Varreux sich vernehmen. »Ich habe mit eigener Hand das blaue Sammetmützchen mit Gold gestickt, welches ihm so gut stand, und den weißen Kragen.«

Herr Maurice sagte: »am achten Mai des Jahres 18– ging ich zur Nachmittagszeit aus. Ich wohnte damals in einem einsam stehenden, mit einem Garten umgebenen Hause, ungefähr eine gute Stunde entfernt von den Tuillerien. Das Haus steht nicht mehr, auch der Garten ist nicht mehr zu finden, ein ganzer Stadttheil ist, seitdem dort gebaut worden. Als ich heimkehrte fand ich auf der Thürschwelle meines Häuschens einen schlafenden Knaben. Ich nahm das Kind auf den Arm und trug es auf mein Bett, denn es war schon Nacht und das Kind schlief fest. Es trug ein buntes Kleidchen, ein blaues mit Gold gesticktes Sammetmützchen und einen weißen gestickten Kragen. In der Tasche, die das Kind umhängen hatte, befand sich ein Zettel auf welchem geschrieben stand: ›das Kind hat weder Vater noch Mutter, erbarmt euch seiner, es heißt Alphonse.‹ Es war ein lieblicher Knabe mit langen goldenen Locken und braunen Augen, und ich war sofort entschlossen, demselben Vater zu sein. Meine alte Dienerin freute sich auch sehr über den Knaben, und da Niemand nach ihm fragte, auch in keiner Zeitung von einem vermißten Kinde die Rede war, behielt ich ihn bei mir. Ich fragte ihn nach dem und jenem aus, erhielt aber nur einsylbige Antworten, das Kind war nicht stumm, vermochte aber nur gewisse leichte Worte auszusprechen. Ich zog einen Arzt zu rathe, welcher dem Kinde, als es sechs Jahr alt war, die Zunge löste.«

»O Himmel! auch Victorin sprach wenig, der Arzt hielt ihn für zu jung um vor dem siebenten Jahre diese Operation vorzunehmen!« rief Mademoiselle Varreux. »Sollten Ihr Sohn und der verlorene Victorin identisch sein? hätte die Amme das Kind nur für ertrunken ausgegeben? Ich weiß nur, daß sie verzweiflungsvoll, nachdem sie sich selbst der Fahrlässigkeit angeklagt hatte, das Haus verließ, heimlich, um, wie wir glaubten, der Strafe zu entgehn.«

»Es wird sich Alles aufklären«, sagte der Arzt, »vor Allem bedarf Herr Duresnell Ruhe, und Sie Herr Maurice werden uns vielleicht noch die Kleider vorzeigen können, in welchem das Kind zu Ihnen kam«.

VI

Wie damals, als Herr Maurice zum Erstenmal mit Alphonse das alte Haus betrat, strahlte heute die Sonne. Der violette Saal hatte durch Maiblumen, Rosen und Siringa ein heiteres Ansehen erhalten, nur wenige Menschen waren versammelt, aber alle hatten frohe Mienen.

Die Kleider, welche Herr Maurice als die des gefundenen Knaben vorgezeigt hatte, waren als die des kleinen Victorin von Mademoiselle Varreux erkannt worden. An dem Tage, an welchem er ertrunken sein sollte, hatte Herr Maurice den Knaben vor seiner Thüre gefunden, sowohl Mademoiselle Varreux als Herr Duresnell fanden, daß Alphonse Maurice, wie er noch genannt wurde, die Familienzüge der Varreux trug. Gestern war endlich bestimmte Nachricht auf die sorgfältigsten Nachforschungen über die Amme eingetroffen. Sie lebte noch in Lyon, im Wohlstand und, nachdem ihr volle Verzeihung und Verschwiegenheit zugesichert worden war, hatte sie bekannt, daß sie von Madame Duresnell bestochen worden sei, um das Kind zu tödten. Sie habe die große Summe genommen und das Kind ausgesetzt, von dem fast stummen Kinde keinen Verrath fürchtend. Da die Amme dasselbe für ertrunken ausgegeben hatte, waren vom Herrn Duresnell keine Nachforschungen angestellt worden.

Um das Andenken seiner Gattin zu schonen, ließ Herr Duresnell, mit Zustimmung aller Beteiligten dieses Familiengeheimniß in Dunkel gehüllt. Die sanfte Claudia erfuhr nicht, welche That ihre Mutter begangen hatte. Herr Duresnell erklärte Alphonse für seinen Schwiegersohn und Erben, die würdige Dame und Herr Maurice segneten das glückliche Paar.

VII

Seit dem Tage, welcher Victorin Alphonse mit Claudia am Altare verband, sind Jahre verstrichen. Herr Duresnell ist gestorben, aber zufrieden, denn er hinterließ seine Tochter glücklich als Gattin und Mutter. Herr Maurice lebt bei seinem Pflegesohne, auch Mademoiselle Varreux. Ein gerngesehener, fast täglicher Gast der Familie ist Eugen, und oft sagt er: »Dein Haus, Alphonse, ist jetzt ein glückliches Haus, möge es ein glückliches bleiben!«


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