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*

»Hallo – Hallo – – – halloooo!«

Unruhig wälzt sich Ragnar auf seinem Lager.

»Hallooo – – –«

Er kann ihm nicht helfen, dem Mann, der kraftlos an einer Scholle hängt und in der Strömung treibt. »Huuii – –« zieht der Wind übers Packeis, peitscht das offene Wasser zu Schaum.

»Ich kann nicht, – kann nicht!« stöhnt Ragnar, klammert seine Fäuste um eine Kante, – – – »kann nicht! Zu weit – – zu weit!«

Das Meer kocht, daß das Eis in der Kimming tanzt.

»Hallo!«

Warnen will er den Mann im Eis! Kommt dort nicht ein Bär geschwommen, – taucht weg, kommt wieder hoch, – immer näher! Mit einem Satz ist Ragnar aus der Koje, reißt das Gewehr vom Haken. Stürmt durch den Raum, zur Tür hin, – hinaus, in den Schnee, – er reißt die Rifle an die Backe, der Schuß dröhnt durch die Nacht – – –

Ist kein Bär mehr zu sehen. And kein Mann.

Ragnar ist blitzwach, findet sich im tiefen Schnee wieder. Flocken stäuben auf seine nackte Brust.

Hinter ihm liegt dunkel die Hütte. Die Tür steht noch offen.

Erstaunt läuft er zurück.

Schläft weiter. Mit tiefem, vollem Atem. Schweiß auf der Stirn.

 

In der nächsten Nacht hörte er nochmals die Rufe des Mannes vom Eis. – – –

Oft noch. Und die Nacht will kein Ende nehmen.

Auch die Kameraden kommen jetzt wieder häufiger zur Hütte.

Es geschah wohl, daß Ragnar beim Erwachen mitten in der Nacht, – und Nacht war es ja immer, – sie plötzlich in einem Bogen um seine Lagerstelle stehen sah. Eigentlich sah er ja nur ihre Augen. Sie wurden immer brennender, diese Augen, von Tag zu Tag.

Die Brust des Jungen zog sich zusammen bei solchem Erwachen. Der Atem wurde pfeifend aus den Lungen gepreßt, – röchelnd. Und er warf sich auf die Seite, um nicht den vielen Augenpaaren begegnen zu müssen.

Wenn die Augen ins Dunkel zurücksanken, wurde auch der Atem wieder freier und kräftiger. Eine Riesenlast schien sich von seiner Brust zu wälzen.

Erst heute Nacht sind sie wieder dagewesen. Alle auf einmal. Nicht mal Knud fehlte. War seltsam, daß Knud den weiten Weg von der Mitte der Grönlandsee bis zur Küste fand. Knud – – und der Smutje. Die reine Flagge Norwegens trägt er über seine Brust gebreitet. Zitternde rote Farben. So, wie er unters Eis glitt damals, so steht er jetzt hier, der Smutje.

»Bist du auch da?« fragt Ragnar, obwohl er sieht, daß der Smutje da neben seinem Lager steht und Seewasser von seinen Kleidern auf den Kojenrand niedertropft. Der Smutje schweigt.

»Bist du auch – –« will der Einsame nochmals seine Frage wiederholen, – – da erwacht er vom Klang seiner eigenen Stimme. Und die andern sind weg.

Ragnar ist nun wach. Man würde glauben, er sagte zu sich selbst: »Ein Alp hat mich geritten. War ein Alp!«

Aber er redet überhaupt nichts. Er denkt auch nichts dergleichen. Weiß er überhaupt noch, was nun Traum ist und was Wirklichkeit? Die Nacht wischt alle Grenzen aus. Weiß er, ob er nun wach ist oder ob er noch schläft? Selbst wenn er nun den Kojenrand entlangfährt mit seinen steifen Fingern. Das tut er vielleicht nur im Traum. Wie soll er sich überzeugen, daß er wirklich mit den Fingern am Kojenrand entlangtastet.

Im Zeitlosen hängt er. Selbst gegenstandslos. Seinen eigenen Sinnen traut er nicht mehr. Die Sinne können einen betrügen. Schwindel! Alles. – – Was soll man nun glauben?

Ein Wegweiser ist da. Ein Wachtposten!

Der Hunger!

Wenn nicht der Hunger wäre, hätte Ragnar längst vergessen zu leben. Aber der Hunger zwingt die Hand ans Messerheft und an den Griff der Pfanne. »Leg ein Stück Fleisch in die Pfanne – – und Talg.« Das befiehlt der Hunger. Und die Hände gehorchen. Der Hunger herrscht über die Nacht.

Wenn der Hunger sonst das Leben zerstört, – hier rettet er das Leben. Solange bohrt er in den Gedärmen, bis der müde Körper vom Lager hochfährt und sein Verlangen erfüllt.

 

Die Nächte reihen sich aneinander – die Nacht.

Wochen – wieder ein Monat.

Wenn der Mond ein Viertel gewachsen ist, schneidet man eine neue Kerbe in die Tischkante. Eine grobe Rechnung. Aber sie muß stimmen. Kein Zweifel, daß sie stimmt. Selbst wenn die Kerbe ein paar Tage später nachgetragen werden muß, weil der Mond oft lange Zeit nicht sichtbar ist hinter dem Gewölk. Dann trägt man eben zwei Kerben nach – einen halben Monat.

 

Vom Proviant, den Ragnar vorgefunden hat im Verschlag, ist nur noch ein geringer Bruchteil vorhanden.

Eigentlich nur noch Gewürz, Pfeffer und Salz, – da sind ja noch zwei kleine Säckchen mit Erbsen, – sechs Mahlzeiten. Dann ist Schluß.

Man kann im Notfall den Mageninhalt eines Moschusochsens zu Gemüse verarbeiten, so wie es der Beisar als erster machte. Das soll ein Weg sein, den Skorbut zu schwächen. Grünzeug. Auch während der Polarnacht ist ja das Moschusrind ständig auf Nahrungssuche. Unter dicken Schneelagen scharrt es die paar Pflänzchen frei, die Flechten und Gräser – – man meint, es müßte verhungern – und doch hat der Jäger niemals ein Tier erlegt, das nicht einen prall gefüllten Magen gehabt hat. Stinkt scheußlich, der Mageninhalt. Aber man kann sich die Nase zuhalten beim Essen. Und er ist ein Mittel gegen Skorbut, voll von grünen Pflanzen.

Das Blut kann man auch trinken. Wie im Packeis. Das ist schon seit langem Sitte an Bord der Robbenfangschiffe. Braucht noch lange kein Nahrungsmangel zu herrschen. Frisches Seehundsblut schmeckt wie Milch, – süß und warm, wie vom Euter einer Kuh. Und es macht kräftig, widerstandsfähig. Tierblut ist eine Kraftquelle. Ebenso wie das dampfende Fleisch, das man vom erlegten Tier schneidet und roh verschlingt. Eine warme Mahlzeit.

Wenn das Licht kommt, liegen die Mahlzeiten nur so auf dem Eis herum. Bis dahin muß man sich zusammennehmen, auch wenn die Zähne sich im Mund lockern, – auch wenn man fühlt, wie sich der Skorbut langsam im Körper vorfrißt. Langsam. Man kann sich ungefähr den Zeitpunkt errechnen, an dem er mit seiner Arbeit zu Ende sein wird.

Wie erzählte Jon damals von seiner Svalbardüberwinterung? Von seinem toten Kameraden, – Hjalte hieß er. Ja. Er schlief mit Hjalte zusammen in der Koje, weil er einen Kameraden brauchte. Einen Menschen. Und war er auch tot. Hat Jon nicht erzählt, daß der Tote ihm das Leben gerettet hätte? Eben weil er tot war. Hjalte hat seinem Kameraden gezeigt, wie der Tod aussieht, – dann konnte Jon wählen, ob er auch sterben wollte, von innen her, von der Seele her, – oder ob er nicht lieber am Leben bleiben wollte.

Nun liegt auch Jon draußen vor der Hütte. Freilich, er ist schon begraben. Nun wird Jon die Rolle übernehmen müssen, die Hjalte für ihn übernommen hat. Also, – hier ist ein Toter, – hier ist ein Lebender.

Das Licht kommt nun bald zurück, – Ragnar muß dann auf die Bai gehen und Robben jagen, – in warmem Fleisch wühlen, warmes Blut auf die Hände bekommen. Das gibt das Leben zurück.

Jon hat es gesagt, als er zuletzt da war. Heute morgen!

Ragnar schlug die Augen auf, wollte aufstehen. Aber als er zum Tisch hinüberblickte, saß da Jon und legte Patience, ob das Licht bald käme. Es dauerte eine gute Weile, bis er damit fertig war. Mäuschenstill blieb Ragnar in der Koje liegen indessen. Nachher drehte sich Jon um und meinte: »Wird bald kommen, das Licht. Noch zwei Wochen!«

Sicher, da stimmte die Rechnung, die sich Ragnar gemacht hatte. Beruhigt schlief er wieder ein, – – als er aufwachte – – war es nicht, als wäre die Nacht heute nicht so dunkel wie sonst? Wie ein leichtes Dämmern kam es aus Südost.

Ragnar schlüpft in den Pelz und läuft um die Hütte herum. Er läuft immer um die Hütte herum. »Ja, es ist heller als sonst, – die paar Sterne, die am Himmel sind, können das nicht schaffen, – Teufel, – wenn es wirklich heller wäre. Wenn nun wirklich die Sonne bald wieder kommen würde?«

Schlafen! Man muß schlafen bis morgen, wenn wieder der Mittag da ist. Einprägen muß man sich, wie die Helle heute aussieht, – vergleichen, morgen, – vielleicht ist es morgen noch etwas deutlicher zu sehen. Schlafen! Nicht denken. Vielleicht steht morgen die Nacht draußen tiefer als jemals – und die Sonne kommt überhaupt nicht wieder. Nicht daran denken!

Am anderen Mittag zieht wirklich eine leichte Dämmerung für wenige Minuten über das Tal. Alles liegt dann wieder grau und dunkel. Verliert sich in tiefem Nachtblau. Aber die vereiste Bai scheint einen leichten Schein zu bewahren von der Dämmerung. Immer noch kann man die einzelnen Formen der Kalbeisblöcke unterscheiden, die der Gletscher bis Wintereinbruch von sich abgestoßen hat. Und den großen Eisberg, der seit dem Herbst gestrandet in kurzem Abstand vom Ufer liegt. Das Eis hält den Schein der Dämmerung am längsten, sieht es aus.

Immer noch steht der Fänger am Ufer und blickt über die Ebene von Eiswülsten und Schollen hin. Zu seinen Füßen ächzt und stöhnt es. Ankommende Flut, die das Eis gegen den Strand preßt. Manchmal ein hartes Knacken, ein Riß birst durch die weiße Decke.

»Recht so! – – recht!« murmelt Ragnar vor sich hin. Im Augenblick kann er noch gar nicht fassen, was um ihn vorgegangen ist. Und daß er Licht gesehen hat. Nur ein ärmliches, ersticktes Leuchten überm Land, – kaum wahrnehmbaren blassen Schimmer um die Bergspitzen. Und doch der Vorbote der leuchtenden Sonne.

Man hat nun die Gewißheit, daß die Sonne wiederkehren wird. So gut, als ob sie schon selbst am Himmel gestanden hätte. Denn eine Täuschung ist jetzt nicht mehr möglich. Kein Nordlicht war heute zu sehen und kein Mond. Die Wolken liegen in bald tausend Metern Höhe, kleine überall verteilte Wolkenstückchen, hinter denen das tiefe Blau des unendlichen Weltenraums liegt.

Die Wolken, – – die Wolken! Erst jetzt fällt es Ragnar auf, daß auch sie viel heller sind als sonst. Einen weißlichen Hauch tragen sie über ihre weichen Felder und die Kanten gegen West sind von irgendwoher beleuchtet.

»Nun kommt die Sonne.«

Ragnar sieht ihren roten Ball, der um diese Zeit hinter den hohen Bergen umherwandert, langsam höher steigen – wieder sinken. Einen vollen rotglühenden, satten Ball, eine leuchtende Kugel, die Leben in den Weltraum hinaussprüht. In Milliarden von Strahlen die die Gestirne übersättigen mit Wärme, mit der lebengebenden Wärme, und mit Licht.

Man nimmt die Sonne als etwas ganz Selbstverständliches. Oh, – – die Sonne ist eine Göttin. Man müßte sich der Sonne zu Füßen werfen, die Licht ausschüttet über Wesen, welche die Nacht in düstere, enge Höhlen verbannte.

»Ja, – die Sonne!«

Aber als der einsame Jäger ein paar Stunden vor Mitternacht auf seinem Lager erwacht, – »haha, wie war das doch? Die Sonne, ja!« da fällt ihm ein, daß die Sonne doch nicht mehr wiederkehren kann. Ist nicht der Alte im Zimmer und bohrt wieder seine Augen in Ragnars Gesicht, – »hoi, die Sonne!«

Ragnar springt von seinen Fellen auf und macht die Lampe in Ordnung, – holt den Kalender von der oberen Koje herab. Hastig zählt er die Striche, die der andere, Oien, vor ihm durch die Tageszahlen gemacht hat, vergleicht mit den Kerben am Tisch.

Der Alte neben ihm schüttelt den Kopf, – Ragnar sieht ihn zwar nicht, denn jedesmal, wenn er Licht macht, ist Jon verschwunden, – aber er weiß, daß Jon jetzt den Kopf schüttelt. Wieder wendet er sich den Kerben an der Tischkante zu, zählt nochmals durch. Stimmt nicht, – die Sonne kann noch nicht kommen.

Hat er sie nun wirklich heute nachmittag gesehen? Oder hat er sich das alles gedacht? Hat er sich gedacht, daß nun wohl die Sonne irgendwo hinter den Bergen leuchtet oder hat sie ihn wirklich beschienen? Aber wärmer war es nicht gewesen als sonst. »Das war es nicht gewesen!« bestätigt sich der Junge. Also ist sie nicht dagewesen. Denn Sonne wärmt doch. Sie brennt förmlich auf die Haut mit ihren gleißenden Strahlen. Heller ist es gewesen, – so? Heller! Wenn der Mond nun zufällig hinter einer Wolke stand und sein Licht nicht geradenwegs auf den Boden sandte, sondern auf Umwegen, – dann hielt man das für Sonnenlicht. War noch keine Sonne da!

Ratlos hockt Ragnar am Tisch, stemmt die Finger gegen das verreiste Fensterbrett. Die kleine Tranlampe läßt ihr Licht flackern, – nur eine kleine Ritze in der Wand, durch die der Wind von außen hereinkommt, – – aber Ragnar dreht sich um, als stehe jemand hinter seinem Rücken, ein Mensch, durch dessen Atem die Flamme zum Blaken gebracht wird. Der dunkle Raum hinter Ragnars Rücken ist leer, man sieht nur schwach die Umrisse vom erloschenen Ofen. Aber schließlich treten natürlich Menschen in diesen Raum, wenn man mit Ragnars Augen in ihn hineinstarrt.

Schwerfällig rücken sie näher und näher, bis man ihre Gesichter unterscheiden kann. Was nützt Ragnar eine Gestalt, deren Gesicht man nicht deutlich erkennen kann.

Nun, der Schiffer ist als erster zu erkennen, – muß ja so sein, denn der Schiffer ist immer der gewesen, der als Erster unter den Leuten stand. Darum tritt er auch hier als Erster aus dem Dunkel heraus.

Die Balken der Hütte beginnen zu ächzen unter den Schritten der Leute. Sie müssen alle da sein heute, die Kameraden, daß unter ihrem Gewicht die Balken und Bodenbretter stöhnen. Unwillkürlich weicht Ragnar auf seinem Sitz etwas nach hinten. Und die Front der Besuchenden rückt näher, – näher.

Da klirrt etwas ans Fenster, das dick verschneit ist. Wie ein Pochen ist es bald, die Schneelage fällt stellenweise vom Glas davon. »Will noch einer herein, – noch einer, wer das wohl ist. Sicher Knud, der den weiten Weg hat.« Aber Ragnar rührt sich nicht von seinem Sitz. Von den Beinen herauf fühlt er Kälte und Starre in den Oberkörper kriechen, breit und schwer legen sich Blutwellen durch den schmerzenden müden Kopf. Und der Puls schlägt langsam, – er zögert, als könnte das Herz nur mühsam mit dem dicken Brei in den Adern fertig werden.

»Da ist er, der Skorbut, – nun kommt er«, denkt man, – »wie wunderlich matt man ist. So müde.«

»He, Jon, – nun kommt der Skorbut auch zu mir.«

Gleichgültig! Der Skorbut macht gleichmütig. Man will ihm eigentlich gar nicht entfliehen. Man kämpft nicht gegen ihn. Die Hand fällt schlaff zurück, die man an das Kojengestell legen wollte, um sich beim Aufstehen zu helfen.

»Ich habe tagelang Schnee geschaufelt, um dem Skorbut zu entgehen«, hört Ragnar den Alten sagen, – den alten Jon.

Ragnar wundert sich, daß man tagelang Schnee schaufeln kann, um der Müdigkeit zu entgehen. Man wird noch müder vom Schneeschaufeln, – wird man nicht?

»Und dem Wahnsinn!« fügt Jon hinzu.

»He, Storm!« ruft der Fänger dazwischen. »He, Storm! Hieher!«

Der Hund steht langsam vom Boden auf, wächst ins Riesengroße, – streicht auf Ragnar zu. Kalte Luft weht von ihm weg, weht dem Jäger ins Gesicht, daß ihm die blonden Strähnen in die Stirn flattern. Doch, wo der Hund eben noch stand, ist nur ein dunkler Fleck, denn die kleine Tranlampe ist zitternd verlöscht.

»Na, das Licht ist ausgegangen.«

Eine der Türen schlägt im Wind, – knallt zu.

»Teufel, – wer dachte, daß hier Menschen sind!«

Ragnar fährt herum, starrt in den Raum hinein.

Das ist nicht Knud, der gekommen ist. Knud ist nicht so breit und groß. »Menschen – – –!« echot Ragnar. »Du bist nicht Knud?«

An der Tür flammt grell ein Streichholz auf.

Ein hartes, klobiges Antlitz leuchtet aus der Nacht. Der Pelz, der es umrahmt, ist verschneit, – – Teufel, so deutlich kam noch nie einer von den andern aus dem Dunkel hervor – – »he, wer bist du?«

»Warte, ich mache gleich Licht, – – – «

Ragnars Muskeln straffen sich zum Zerreißen, – mit vorgebeugtem Kopf hockt er da, vor dem Unbekannten, der näher kommt.

»Ah, – Teufel!«

Er hat ihn gefaßt. – Haut ihm das Licht aus der Hand, – »ah!« – – Ragnar faßt zum Gürtel, reißt das Messer los. »Ah! Du bist der Teufel! Warte – –«

»Loslassen – – verrückt, – oder. Ja! Hier! So! Wenn du es nicht anders haben willst.«

Ragnar taumelt, – fällt lang nach hinten, – »eh, der Teufel!« Dann ist er ausgelöscht. Taucht wieder unter in einer schweren, blutigen Müdigkeit. In der Nacht, die kein Denken duldet. Die den leisesten Gedanken gleich beim Entstehen festnagelt.

 

Als er aufwacht, ist Stille. Es ist, als ob Sonnenschein im Raum ist, gleißend und hell. Grell beleuchtet ist die Wand, das spürt Ragnar durch die geschlossenen Augenlider hindurch. Sonderbar, wie das gleich die Stimmung besser macht, wenn man weiß, daß nun die Sonne da ist.

Da flattert plötzlich ein Heulen auf vor der Hütte. Ein Wolf, der lauthals in die Einsamkeit hineinschreit. Viele Stimmen folgen, überschlagen sich.

»Wölfe!« Ragnar greift nach der Wand, an der die Rifle hängt. Aber die Rifle ist weg. »Ah, – wo ist die Rifle?«

»Die Rifle ist weg!« sagt eine Stimme neben ihm.

Mühsam richtet sich der Fänger hoch, – starrt in ein gleißendes Licht. Schatten stehen an den Wänden. Schwarze Schlagschatten. Und ein Mann hockt am Tisch. Das Gesicht ihm zugewandt.

»Ah, – – wer bist du?« ächzt der Jäger.

»Wer bist du?« brüllt er mit vollen Lungen hinterher. »Wer? – –«

»Telegrafist Oien! Oien fra Tromsö.«

Ragnar sackt zurück.

»Oien! – – Oien! Auch Oien ist nun tot. Wie könnte er sonst hier sein?« murmelt Ragnar vor sich hin. »Ich dachte, er würde mich im Sommer hier vielleicht holen – im Sommer!«

Von neuem fällt draußen das Geheul der Wölfe ein. Und wieder fährt Ragnar instinktiv nach der Büchse. Reißt sich den Mittelfinger am leeren Haken blutig.

»Keine Wölfe sind es. Sind meine Hunde!«

»Hunde, – deine Hunde? – – Wer bist du?«

»Telegrafist Oien.«

»Telegrafist Oien, Tromsö, – 14. April 1928«, wiederholt Ragnar die Worte, die er im Kalender gefunden hat; die er viele hundert Male seitdem vor sich sah, dachte und vor sich hinsprach.

»Jaha!« sagt der andere, »und wer bist du?«

Der Jäger fährt wieder von seinem Lager hoch, schaut aufmerksam in das Gesicht, das da vor ihm in einem grellen Lichtkreis leuchtet. Seine Augen springen beinahe aus den Höhlen. Aber da ist noch immer der dunkle rote Brei, der im Gehirn liegt. Wellen, die durch den Kopf wogen, – ein Bild von drinnen mal, – ein Bild von außen steht dagegen. Welches ist das richtige. Welches ist drinnen und welches draußen, im Licht? Denn wo das Licht ist, muß ja auch die Wirklichkeit sein, – das wahre Bild. Dann kommt der Schlaf wieder über den Jäger, reißt ihm den Kopf nach achtern, ins Genick. Ragnars Kopf fällt wieder aufs Lager.

»Liegt da ein Kalender auf dem Tisch?« fragt er nach einer Weile, heftet seine Blicke angestrengt auf den Mann, der da plötzlich mit ihm spricht. »Haben denn die andern so laut mit mir gesprochen? Ob er mir den Kalender geben wird, wenn ich ihn darum bitte?«

Unvermittelt sind die Wellen, die das Gehirn an seiner Tätigkeit hinderten, abgerissen. »Ob er mir den Kalender gibt?«

Eine Hand kommt ihm entgegen, auf ihrer Innenfläche liegen die Kalenderblätter.

Ragnar reißt die Augen auf. Vergißt, die Blätter an sich zu nehmen. Ein erregtes Zucken fliegt über seine Gesichtsmuskeln. Und plötzlich brüllt er wieder los, mit schriller, überschnappender Stimme.

»Oien, Oien – – Oien – – –«

»Jaha, Junge!«

Oien hockt unbeweglich am Tisch. Das muß herausgeschrien werden. All der Dreck muß heraus. Vorher wird der Kranke nicht klar werden im Kopf.

Dann denkt er an seine Spritflasche, läuft mit einigen schnellen Schritten vor die Hütte, wo die Hunde nun wieder ruhig neben dem überschneiten Schlitten liegen und mit einem freudigen Winseln seine Wiederkunft begrüßen. Er schiebt die Plane hoch, holt seinen Proviantsack aus der Last hervor, verschwindet wieder drinnen in der Hütte. – –

»Einen Toddy, – willst du einen Toddy haben?«

Und er setzt die Spritflasche auf den Tisch.

»Einen Toddy? – – willst du einen Toddy haben?« wiederholt Ragnar ungläubig. »So, jetzt hau ab, –« schreit er plötzlich wieder los, macht Miene, aus der Koje zu springen. »Ich hab' jetzt genug! Genug hab' ich. – – Kannst den andern sagen, sie brauchten auch nicht wiederzukommen, – so, so – – –!«

»Verschwind!« sagt Ragnar nochmals, fast beschwörend, – aber es ist schon wieder ein klareres Bild vor seinen Augen. Die klaren Bilder, – die wirklichen, gewinnen doch die Oberhand in seinem Kopf. Er richtet die Augen wieder auf den andern, hängt sie drauf an die Spritflasche.

»Ist das wirklich Sprit?«

»Sechsundneunziger!« bestätigt Oien, »trink!«

Begierig setzt Ragnar die Flasche an den Mund, nachdem er zuerst sie abgetastet hat, als fürchtete er, sie könnte ihm unter den Händen verschwinden.

»Nicht zuviel!« hört er Oien sagen, – setzt erstaunt ab und schaut wieder den andern an.

Sein Schlund brennt höllisch, – er hustet, greift sich an den Hals. »Das ist wirklich Sprit. Donnerwetter, – ich glaubte, ich hätte geträumt, – – sag mal, bist du Oien? – – Ich war doch bis jetzt allein.«

Oien reibt sich die Hände.

Das hielt schwer. Aber der andere scheint jetzt so langsam wieder vernünftig zu werden. Sprit kann Wunder vollbringen. Er kann auch einem Verrückten den Verstand wiedergeben, wenn nicht die Nacht schon endgültig ist, die sich über das Gehirn gelegt hat. Der Kerl schien zu sich zu kommen.

»Wie kommst denn du hierher?«

Ragnar starrt ihn immer noch mißtrauisch an.

»Ich bin vom ›Polarwolf‹!«

»Vom ›Polarwolf‹?« stößt Oien hervor, springt auf. Aber sofort setzt er sich wieder auf den Hocker. Man darf den Kranken nicht unnütz erregen. »Vom ›Polarwolf‹!« stammelt er, – denkt an die unzähligen funkentelegrafischen Anfragen, die im Sommer seine Station erreichten. Im August der erste Anruf. »Motorkutter ›Polarulf‹, Schiffer Hjalmar Isachsen aus Ibestadt, zuletzt gesichtet von M. K. ›Kolibri‹ südlich Spitzbergen, Fangfelder Wester-Eis – – – ist überfällig. Das Boot hatte Proviant für eine Dreimonatsreise an Bord. Nachrichten dringend erbeten.«

Im September! »Die Telegrafenstationen an der Ostküste Grönlands, auf Jan Mayen, – Bären-Insel, Svalbard, werden gebeten, sämtliche Fangstationen von dem nunmehr als sicher anzunehmenden Untergang des ›Polarulf‹ zu benachrichtigen. Die betreffenden Stationen oder Expeditionen sollen ihre Distrikte nach eventuellen Schiffbrüchigen absuchen.«

Im Oktober kam dann die einfache Meldung, daß der Untergang des »Polarulv« ein Totalverlust sei. Es folgten die Namen der Besatzungsmitglieder.

»Vom ›Polarulf‹?« sagt Oien am Ende nochmals. »Totalforlis! – Wie heißt du?«

»Ragnar. – – Ragnar Hoel. Zweiter Schütze an Bord.«

»Und die andern?«

»Warte bis morgen, – sie kommen jede – –«, aber Ragnar unterbricht sich, beißt sich auf die Lippen. Ragnar ist endgültig zur Wirklichkeit zurückgekehrt. Was sollen da die andern?

»Wir haben uns von den andern getrennt. Bärenjagd. Schneesturm mit Eisversetzung. Wir trieben voneinander.« Ragnar wundert sich. Er kann nicht glauben, daß er da redet, als wäre die ganze Nacht nicht gewesen. Nur weil plötzlich ein Mensch vor ihm sitzt, ein Kamerad, – einer wie die, die im Eis geblieben sind.

»Wir? – Wer war denn noch dabei?«

»Der alte Jon, – Jon Björvik, Hammerfest!«

»Wo ist er? –«

»Skorbut«, sagt Ragnar lakonisch.

»Soso, – jaha! Wo liegt er?«

»An der Küste draußen, wo wir unser erstes Lager hatten, – bevor ich diese Hütte fand und mich hier festsetzte.«

»Das hier ist eine unserer Nebenstationen. Kommen selten hierher. Sag mal, hast du einen Hund, – schwarz?«

»Hast du einen gesehen?«

»Er läuft bei uns im Revier, zusammen mit einer Wölfin. Vielmehr, er lief mit ihr. Denn mein Überwinterungskamerad hat sie vor einigen Wochen abgeknallt. Sie war schon trächtig.«

»Ein schwarzer Hund? Und eine Wölfin. Das war Storm! Ich dachte, die Wölfe hätten ihm den Garaus gemacht in jener Nacht.«

»Er war bis zuletzt in der Nähe unserer Hütte geblieben, – kam aber nicht so nahe, daß wir ihn fangen konnten. Und auf unsere Rufe hörte er nicht. Die Wildnis hat ihn verdorben. Kommt nicht selten vor, daß sich Hund und Wolf paaren. Gute Rasse gibt das. Aber schwerhörig, wenn sie einem Befehl folgen sollen. Zu viel Wildblut.«

»So, du hast Storm gesehen.«

Ragnar stützt den schweren Kopf in die Hand. Seine Augen werden wieder verschleiert und starr. Die Nacht steigt nochmals vor ihm auf, alle die dunklen Tage und Nächte. Wie er die Augen abwendet von dem Gegenübersitzenden, kommt die Nacht wieder an ihn heran. Und die Müdigkeit, die für wenige Minuten verscheucht wurde durch die Erregung, kommt wieder. Die bleierne Müdigkeit, die den Körper schon seit Wochen beherrscht. Die Vorgängerin des Skorbuts. Nach einer Weile ist er eingeschlafen.

Der Telegrafist nickt mit dem Kopf.

»Kann nicht anders sein, – das ist Skorbut!« Nach einem solchen Winter, ohne genügenden Proviant – das stumpfe Alleinliegen. Kein Kamerad, mit dem man Worte austauschen kann, mit dem er Pläne machen konnte, – Hoffnungen auffrischen. Die Hoffnung ist alles in der Polarnacht, – und der Gedanke an den Augenblick, wo der Fuß von Bord auf den Landungskai tritt, drunten in der Heimat. Er bückt sich über Ragnar, betrachtet seine gelben Augen, den Schweiß auf der Stirn, der in seinen Tropfen steht. »Wenn man wüßte, wie weit das schon gediehen ist?« Ob Bewegung und Arbeit noch hilft.

Schwerfällig geht er zur Tür, tritt in die Nachtluft hinaus, zu seinen Hunden, die reglos am Boden kauern. »He, Palo, – alter Junge, – nun gibt es Fleisch. Keine Sorge, – nun kommt ihr endlich dran. He, ssst – – Ruhe, Ruhe – ja, – Palo. Man muß immer schön warten können!« Eifrig drängen sich die kräftigen Tiere um die hohe Gestalt des Telegrafisten, springen im Geschirr. Oien holt einen hartgefrorenen Fleischklumpen aus einer Kiste, die er achtern aufgezurrt hat. Nimmt die kleine Holzaxt und läßt sie auf die Keule niedersausen. Walroßfleisch. Es dauert eine gute Zeit, bis er mit seiner Arbeit zu Ende ist und die Fleischsplitter aufsammelt, die er losgehackt hat. Bis zu fünf Meter weit sind sie oft weggeflogen unter den Hieben seiner Axt. Kein Spaß, hartgefrorenes Fleisch zu zerkleinern. Dann koppelt er die Hunde los, wirft jedem seinen Teil zu, mit dem der Betreffende dann eiligst sich verzieht, um in sicherem Abstand von den andern seine Mahlzeit zu halten.

Lange steht der Telegrafist noch bei seinem Schlitten. Überlegt hin und her. »Man könnte sich ja mit dreißig Kilometern am Tag begnügen.« Seine Fäuste, die bereits damit beschäftigt waren, die Verschnürungen vom Schlitten zu lösen, halten ein. »Eine gute Schlittenreise, – es wäre das Sicherste, – für den Mann in der Hütte. Nur, – ob er noch Kraft genug hat, um auf den Skiern zu stehen? – – Pah, das kommt wieder!«

Er sucht rundum den Horizont ab, horcht auf das Knarren und Knirschen im Bai-Eis. Das Wetter hält wohl noch an. Aber es sind an zweihundertfünfzig Kilometer, bis sie zu Hause sind. »Nun, das Wetter! Natürlich kriegt man zwischendurch mal eine Ordentliche aufs Dach. Aber man hat dann sein Zelt. Oder ein Schneehaus, das irgendwo aus schweren Platten Harschschnee aufgebaut wird.«

Unschlüssig steht er noch immer. »Teufel, – was kann das schon viel Überlegungen brauchen. Wir hauen ab, – basta!«

Na, da bleibt der Schlitten gelastet. Der Proviantsack ist schon in der Hütte. »Well, wollen sehen, daß wir uns was Gescheites in den Magen legen! He, Palo, – so, oder willst du lieber an der Kette liegen bis morgen? Alter Bursche, wer wird denn gleich raufen, wenn einer ein wenig mehr Fleisch bekommen hat. So, – Ruhe!«

Dann drückt er die Hüttentür nach innen, verschwindet im Gang.

 

Nach einer Stunde brodelt ein Kessel auf dem kleinen Ofen. Oien geht zum Tisch und schneidet Scheiben von einer saftigen Moschuskeule, Zwiebel, Pfeffer, – wirft alles zusammen in das kochende Wasser. Fleischduft legt sich durch den Raum. Nach einer zweiten Stunde schüttet der Telegrafist die Grütze dazu, – legt einige der Eisenringe wieder auf, damit das Gericht langsam garkochen kann. Dann hockt er sich beim Ofen nieder, steckt sich die Pfeife ins Gesicht.

Ragnar wälzt sich unruhig auf seinem Lager. Hebt schließlich den Kopf, blickt mit blinzelnden Augen um sich, in das Licht, das die Lampe ausstrahlt. Erstaunt bleiben seine Blicke an Oiens Sachen hängen, die teils auf dem Tisch, teils am Boden herumliegen. Der Telegrafist beobachtet ihn gespannt aus seiner Ofenecke. Die Augen des Erwachten suchen im Zimmer rund, treffen schließlich auf ihn, weiten sich.

»Was! Du bist wirklich da. Bist du immer noch da? – – Ich dachte, du wärest gegangen. Bist du nicht fortgewesen?«

»Hab nur den Hunden ihre Ration gegeben.«

»Du bist also da. Willst du immer hier bleiben?«

»Du wirst mit mir reisen – morgen. Wir reisen zur Hauptstation. Bist du ein guter Skiläufer?«

»Du willst reisen? Morgen?«

Ragnar gähnt, wieder kommt die Müdigkeit. Er schlägt die Brustdecke des Schlafsacks um sich, ist schon wieder weg.

»He, – – raus aus der Koje! Essen gibt es. Sollst mal sehen!«

»Jaha, –« brummt Ragnar im Halbschlaf.

Aber er kommt diesmal schnell auf die Beine. Oien ist nicht von Pappe. Hat Muskeln wie ein Bär. Ragnar ist im Handumdrehen hoch, wie gesagt. Einen Löffel kriegt er zwischen die Fäuste geklemmt. Das übrige tut der Duft des frischgekochten Fleisches.

»Ein Essen ist das!« sagt er anerkennend zum Telegrafisten, zwischen Kauen und Schlucken. »He, das ist ein Essen!«

Oien schmunzelt. Das schien nochmal gut zu gehen. Hier hatte der Skorbut nicht das letzte Wort zu reden. Das war wohl meist der Kopf, der bei Ragnar gelitten hatte.

»Wo bist du denn zu Hause, in Norwegen drunten?«

»Ibestadt!«

»John Meyr wohnt dort, der Schiffer der ›Norland‹. Ein richtiger Kerl. Kennst du ihn?«

»Mein Nachbar ist er.«

Dann stockt er plötzlich im Essen, schaut vor sich hin. Da kam mit einem Satz die Heimat herangesprungen, – lag da nicht der Hof seiner Eltern, ein rotgemaltes Holzgebäude mit niedrigem Dach, von grünen Matten umgeben.

Blakken, das Pferd, lief mit langsamen Schritten über die Weide, hob zuweilen den Kopf, wenn der kleine Lappenhund in die aufkreischende Hühnerschar stob. Und hohe Felsen zeichnen sich hinter dem kleinen Fischerdorf gegen den Himmel ab. Schären liegen in der See, von den blauen Wellen umbrandet, – grüne Inseln, auf denen Fische zum Trocknen ausgebreitet liegen.

»Das schadet nichts«, denkt Oien. »Schadet nichts, wenn einer hier droben plötzlich die Heimat sieht.«

Was Ragnar für Bilder im Kopf hat, sieht jedes Kind. Nicht schwer zu erraten. Wird wohl ein Mädel dabei noch eine Rolle spielen. Mit blonden Haaren, jaha. Gute Hilfstruppen, diese Bilder, für die schwere Reise zur Hauptstation, die morgen beginnt.

 

Sie haben schon einige Einbuchtungen des Fjords hinter sich gebracht, zur selben Stunde des andern Tags. Der Schlitten poltert nun über die Bai hinaus, aufs Alteis, das schon den ganzen Winter hindurch gelegen hat. Mächtig legen sich die Hunde in die Riemen. Ragnar hat sich ein Tau um die Faust gewickelt, das am Schlitten befestigt ist, muß seine ganze Aufmerksamkeit auf die Verwehungen und Eisklötze richten, die im Kurs liegen, und sich den Skiern in den Weg stellen. Grätschen, Klettern, Laufen, Springen! Das wechselt blitzschnell, – stundenlang. Der Schnee stäubt unter den Kufen des Schlittens nach achtern. Oien läuft weiter vorn, kurz hinter den Hunden. Die Augen bei den ziehenden und keuchenden Tieren. Die Unebenheiten der Bai scheinen für ihn nicht vorhanden zu sein. Ganz selten schaut er mal zu seinen Skiern hinab oder auf einen Eiswulst hin, der besonders grobschlächtig daliegt und sorgsameres Gehen erfordert. Sonst saust er unbekümmert drauflos, feuert die Hunde an, ruft sie beim Namen, gibt ihnen die Richtung an, die sie nehmen sollen. »Hoire – – Palo, – so weiter, – – venstre, – rechts, links. Marsch, – marsch up. So, das war gut! Willst du nicht gleich loslegen, Jumbo! Oder willst du vielleicht auf dem Schlitten sitzen. Marsch up! Paß auf, Junge, – weißt du, was eine Peitsche ist. – – – Nun, geht es nicht fein?« fragt er zu Ragnar zurück, schickt ein helles Lachen zu dem neuen Kameraden hin, – der Schweiß rinnt ihm unter den Zotten der dicken Pelzmütze hervor über die Stirn. »He, ein wenig grob, das Eis, im Augenblick! Aber Jung, – wir machen gute Fahrt!«

Ragnars erste Fahrt hinter dem Schlitten. Er hat keine Zeit, das Gesicht vom Boden zu nehmen, auch nicht für eine Sekunde. Seine Wangen sind rot von der raschen Arbeit, und die Augen strahlen in bläulichem Feuer. Die Jagd hinter den Hunden läßt keine blödsinnigen Gedanken mehr aufkommen. Ragnar ist hundemüde. Was macht's. Er preßt die schmerzenden Knie und die Beine, an denen Bleiklumpen zu hängen scheinen, dennoch in den Gang hinein. Was schadet es schon. Das Gift, das in den Knochen sitzt, muß herausgepreßt werden aus dem Körper. Daß das nicht ohne Grimmen geht, ist klar. Aber er ist gute Medizin, – der Langlauf hinter dem Schlitten. Der Skorbut macht keine gute Miene dazu. Er merkt wohl, daß er seine Klauen von der Beute wieder lösen muß.

Die Nacht hat einer kleinen Dämmerung Platz gemacht, um die Mittagshöhe. Fahl schimmert das Eis vor den Hunden. Grauweiß. Die Unterlage, auf der sie sich bewegen, tritt ganz deutlich hervor. Für drei oder fünf Minuten steigert sich das Licht beinahe zur Tageshelle.

»Es wird Frühling! Das Licht kommt!«

Ragnar weiß nichts drauf zu sagen. Aber seine Augen saugen die kärglichen weißen Lichtschleier in sich hinein. Das war das Licht. Ragnar hatte nicht geglaubt, daß er noch einmal Licht um sich sehen würde. Es war schon alles zur endlosen Nacht geworden.

»In drei Wochen haben wir schon die Sonne«, fährt Oien fort, »he, Palo, – Hoire – rechts! – Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis sie den ganzen Tag über dem Eis leuchtet! So, marsch up. Weiter, los!«

Wenn der Schlitten auf schwächeres Eis einfährt, knirscht es in der weißen Fläche. Man hört Grollen aus der Tiefe. Die Hunde straffen die muskulösen Körper in den Tauen, gleiten schattenhaft durch das Gewirr von Spitzen, Banken und Flächen, das manchmal mit Spalten und Rissen durchzogen ist. »Noch eine Stunde! Dann sind wir auf der Walroß-Insel. Morgen überqueren wir die andere Hälfte des Fjords.«

Ragnar beißt sich auf die Zähne, – noch eine Stunde lang. Bis der Schlitten aufwärts poltert, die Hunde keuchend verhalten, der Schlitten auf dem Strand zum Halten kommt. Noch ein paar hundert Meter landein. So! Nein, drüben, in Lee eines Blocks aus Granit, der schwärzlich aus dem Schnee taucht. »So, stop! Rrrrrrrr! Stop, Palo! – Ein feiner Platz bis morgen. Zurr die Verschnürung vom Schlitten, Ragnar. Sind soweit!«

Der Telegrafist kümmert sich um die Hunde, die mit vereisten Masten und Flanken auf dem Schnee hocken. Löst die Bauchgurte, – koppelt jeden Hund, den er aus dem Geschirr befreit hat, an eine lange drahtdurchwobene Leine. In der Nähe einer Hütte kann man die Hunde frei laufen lassen. Hier im Eis ist das etwas anderes. Leicht, daß die hungrigen Tiere versuchen, auf Seehund oder Moschus Jagd zu machen und sich dabei auf Tage oder gar Wochen vom Lager entfernen. Mit einem raschen Griff zieht Oien dann ein Bündel vom Schlitten. Das Zelt! »Nicht mal das Zelt hoch! Zeltstange und Pflöcke liegen in dem kleinen Sack achtern auf dem Schlitten. Bin gleich fertig mit den Hunden!«

Die Kälte beißt nun, nachdem die fliegenden Körper zur Ruhe gekommen sind, scharf durch das Zeug. Die Finger fühlen sich unter den dicken Pelzhandschuhen wie erstorben an. Steif, ungelenk. Jede kleine Bewegung muß man ausnützen, ausbauen, damit der Körper wieder warm wird. Unablässig rennen, trampeln.

Der Telegrafist wirft jedem der Schlittenhunde seinen Teil Fleisch zu. Balgen, Knurren. »Nun, noch die Zeltstange hochrichten, – die Schnüre straffen! Hier ist der Primus! – – Ah! Feines Zelt, was? Nachher müssen wir noch die Schlafsäcke vom Schlitten nehmen.«

Die Nacht liegt über dem Lager.

Gehören schon gute Augen dazu, um es zwischen den hohen Steinblöcken und Schneewehen zu entdecken. Manchmal jault einer der Hunde auf, dreht sich in seinem Schneegrab, das er sich für die Rast ausgescharrt hat und in dem er gegen den Wind geschützt liegt.

Rieselnd streicht Firnwind das Zeltleinen entlang, über die Köpfe der Hunde hin. Palo späht manchmal aufmerksam durch die Dunkelheit, hebt die Lauscher, steckt dann wieder den Kopf zwischen die warmen Innenschenkel, wird vom Schnee überdeckt, warm, behaglich. Palos Zelt ist seine dicke, filzige Unterwolle, die nun, im Winter, bald bis zu den Haarspitzen seines zottigen Fells reicht.

*


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